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Worin man die dritte Rolle oder den »Verräther« dieser tragikomischen Geschichte verschwinden sehen wird.
So viel Erregung, Angst und Qual, Wechsel zwischen Furcht und Hoffnung, war entschieden mehr, als Meister Antifer aushalten konnte. Körperliche und seelische Kräfte, sogar die eines Kapitäns der Küstenfahrt, haben schließlich eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Der zu hart geprüfte Onkel Juhels mußte das Bett hüten, als man ihn ins Hotel zurückgeführt hatte. Er verfiel in ein Fieber mit Irrereden, das recht ernste Folgen haben konnte. Die schrecklichsten Bilder erfüllten sein Gehirn, jetzt, wo seine Fahrt nach dem Glück statt zu endigen, nur unterbrochen worden war, die Nutzlosigkeit weiterer Nachsuchungen, der ungeheure Schatz, dessen Versteck niemals bekannt werden sollte, jenes dritte, in unbekannter Gegend verlorene Eiland, das einzige Schriftstück, das dessen genaue Lage enthüllen konnte, zerstört, vernichtet, verbrannt von diesem entsetzlichen Clergyman, jene Breite, die selbst die Tortur ihm nicht entreißen würde, weil er sie freiwillig, verbrecherischer Weise vergessen hatte! ... Ja, es war zu befürchten, daß der erschütterte Verstand des Malouin diesem letzten Schlage nicht widerstehen würde, und auch der eiligst herbeigezogene Arzt hielt es nicht für unmöglich, daß er bald einer Geistesstörung verfallen könne.
Jedenfalls sollte es ihm an keiner Pflege mangeln. Sein Freund Gildas Tregomain und sein Neffe Juhel verließen ihn keinen Augenblick, und wenn er sich wieder erholte, hatten sie gewiß auf seine Dankbarkeit Anspruch.
Nach der Rückkehr ins Hotel hatte Juhel den Notar sofort benachrichtigt, und von diesem erfuhr wieder Saouk von der Weigerung des Reverend Tyrcomel. Die Wuth des falschen Nazim kann man sich da wohl vorstellen. Diesmal kam es aber zu keinem äußern Ausbruche – diesen gewaltthätigen Handlungen, die immer auf den unglücklichen Notar zurückfielen. Alles concentrierte sich auf ihn selbst, und vielleicht bildete er sich ein, daß es ihm besser als dem Meister Antifer gelingen werde, hinter das Geheimniß zu kommen und dieses dann zum eignen Vortheile auszunützen. Dahin ging also sein ganzes Streben, und man konnte beobachten, daß er sich weder diesen Tag noch an den folgenden im Hotel wieder blicken ließ.
Der Frachtschiffer hatte nach Anhörung des Juhel'schen Berichts über den Besuch bei dem Clergyman einfach gesagt:
»Ich glaube wohl, daß die Geschichte nun so gut wie begraben ist ... Ist das nicht auch Deine Ansicht, mein Junge?
– Ja freilich, Herr Tregomain, es erscheint mir ganz unmöglich, einen solchen Starrkopf zum Reden zu bewegen ...
– Ein schnurriger Kauz ist er doch, dieser Tyrcomel, dem man Millionen ins Haus bringt ... und er schlägt sie ab!
– Millionen bringt? ... erwiderte der junge Kapitän, den Kopf schüttelnd.
– Du glaubst nicht daran, Juhel? ... O, Du hast doch wohl Unrecht!
– Wie haben Sie sich verändert, Herr Tregomain!
– Sapperment, seit Auffindung der Diamanten, ja! Ich sage natürlich nicht, daß sich deshalb Millionen auf dem dritten Eiland befinden, und doch, sie könnten ja da liegen. Da der Clergyman sich aber zu nichts verstehen will, wird die Lage desselben ja niemals bekannt werden! ...
– Und ich sage Ihnen, Herr Tregomain, trotz der beiden Diamanten von Ma-Yumba wird mir nichts die Ueberzeugung rauben, daß der Pascha uns ungeheuer an der Nase herumführt ...
– Jedenfalls droht das Deinem armen Onkel theuer zu stehen zu kommen, Juhel. Jetzt gilt es vor Allem ihn abzulenken, wenn er immer noch bei der Sache beharrt. Wir wollen ihn pflegen wie barmherzige Schwestern und wenn wir ihn wieder auf den Füßen und genügend bei Kräften haben, um reisen zu können, so denk' ich, wird er zustimmen, nach Frankreich heimzukehren, um dort das alte ruhige Leben wieder zu beginnen ...
– Ach, Herr Tregomain, warum befindet er sich nicht in dem Hause der Rue des Hautes-Salles?
– Und Du bei unsrer kleinen Enogate, mein Junge! Doch, wirst Du ihr nicht schreiben?
– Noch heute, Herr Tregomain, und diesmal glaub' ich ihr unsre bestimmte Rückkehr ankündigen zu können!«
Einige Tage verstrichen. Der Zustand des Kranken hatte sich nicht verschlimmert ... Das Fieber nahm langsam ab. Der Arzt zeigte sich aber ziemlich beunruhigt wegen des Verstandes des Patienten. Sein Kopf war noch immer nicht ganz klar. Er erkannte jedoch seinen Freund Tregomain, seinen Neffen Juhel und seinen zukünftigen Schwager ... Schwager? ... Unter uns, wenn eine Vertreterin des schönen Geschlechts Gefahr lief, für immer alte Jungfer zu bleiben, war das nicht das an den Grenzen der Fünfzig stehende Fräulein Talisma Zambuco, die in ihrem Jungfernstübchen in Malta das Erscheinen des versprochenen Gatten nicht ohne Ungeduld erwartete? Denn, kein Schatz – kein Ehemann, weil das eine nur das andere vervollständigte.
Weder der Frachtschiffer noch Juhel konnten, da der Kranke ihrer Gegenwart bedurfte, das Hôtel unter diesen Verhältnissen verlassen. Jener verlangte, daß sie Tag und Nacht in seinem Zimmer blieben und seine Klagen, seine Vorwürfe und vorzüglich seine Drohungen gegen den schrecklichen Clergyman anhörten. Er sprach von nichts anderem, als diesen gerichtlich verfolgen zu lassen, ihn vor den Friedensrichter oder die Sherifs, ja bis vor den hochnothpeinlichen Criminalgerichtshof, den Justitiary Court von Edinburg zu schleppen. Die Richter würden ihn dann zum Reden bringen – es war gesetzlich nicht erlaubt zu schweigen, wenn man durch ein einziges Wort dem Geldverkehr des Landes eine Summe von hundert Millionen zuführen kann ... Für ein solches Verbrechen muß es Strafen, schwere, schreckliche Strafen geben, und wenn für solche Verbrecher nicht die hanfene Halskrause oder etwas ähnliches vorgesehen ist, wer verdient dann überhaupt noch gehenkt zu werden?
Vom Morgen bis zum Abend fand Meister Antifer kein Ende. Gildas Tregomain und Juhel wachten abwechselnd bei ihm, wenn sie wegen einer Krisis nicht beide an seiner Seite bleiben mußten. Der Kranke wollte dann aus dem Bett springen, aus dem Zimmer und zum Reverend Tyrcomel laufen, ihm mit dem Revolver den Schädel zertrümmern – so daß der Frachtschiffer alle Gewalt anwenden mußte, um ihn zurückzuhalten.
Trotz seines lebhaften Wunsches, die schöne Stadt Edinburg, die aus Steinen und Marmor erbaut ist, zu besichtigen, mußte Gildas Tregomain auf dieses Vergnügen vorläufig verzichten. Später, wenn sein Freund der Genesung entgegenging, oder wenn er wenigstens erst wieder ruhig geworden wäre, wollte er sich dafür schadlos halten ... Dann gedachte er den Holyrood-Palast, die alte Residenz der schottischen Herrscher, zu besuchen, die Königszimmer, das Schlafgemach der Maria Stuart, im gleichen Zustande, wie es zur Zeit der unglücklichen Königin aussah. Er wollte die Canongate bis zu dem, so stolz auf seinem Basaltfelsen liegenden Schlosse hinaufwandern, wo das Zimmer noch gezeigt wird, in dem das Kind zur Welt kam, das einst Jacob VI. von Schottland und Jacob I. von England werden sollte. Er nahm sich vor, den »Arthur seat« zu besteigen, der, von Westen aus gesehen, einem ruhenden Löwen gleicht, und von dem aus man in der Höhe von zweihundertsiebenundvierzig Metern über dem Meere die ganze Stadt übersehen kann, die Stadt mit den vielen Hügeln, wie die der Cäsaren an der Tiber, und weiterhin bis nach Leith, dem eigentlichen Hafen Edinburgs an der Bai des Forth, bis zur Küste des Ben Lomond, des Ben Ledi, des Lammermoor – bis hinaus nach dem grenzenlosen Meere ...
Wie viele natürliche Schönheiten und solche, die des Menschen Hand geschaffen, gab es da, die der Frachtschiffer, trotz seines Kummers über den durch die Hartnäckigkeit des Clergymans verlornen Schatz, so gern bewundert hätte und an deren Besuch er nun gehindert war, durch die traurige Pflicht, die ihn ans Krankenlager des befehlerischen Kranken fesselte!
So sah sich der vortreffliche Mann darauf beschränkt, durch das Hôtelfenster zu schauen, wobei er das berühmte Monument Walter Scott's erblickte, dessen höchste Pinaceln sich fast zweihundert Fuß hoch erhoben, in Erwartung, daß sich alle seine Nischen mit den sechsundfünfzig Helden, die die Phantasie des großen schottischen Romanciers erschuf, besetzt würden.
Ließ Gildas Tregomain den Blick dann die lange Prospective der Princes-Street nach dem Calton-Hill hinunterschweifen, so erkannte er die große, vergoldete, an einem Maste auf der Sternwarte aufgezogene Kugel, deren Herabsinken genau den Moment anzeigt, wenn die Sonne durch den Meridian der Landeshauptstadt geht.
Ja, das blieb aber immer ein und dasselbe.
Inzwischen hatte sich ein Gerücht verbreitet – erst in der Canongate und allmählich in der ganzen Stadt – das recht dazu geeignet war, die Popularität des Reverend Tyrcomel nur noch zu steigern. Man erzählte sich, daß der berühmte Kanzelredner, als ein Mann, der seine Handlungen und seine Reden in Uebereinstimmung hielt, eine Erbschaft von ungeheurem Werthe abgeschlagen habe. Erst sprach man von mehreren Millionen, dann gleich von mehreren hundert Millionen, die er der menschlichen Habgier entziehen wolle. Vielleicht half der Clergyman zur Verbreitung dieser ihm dienlichen Gerüchte selbst mit, indem er nicht darauf ausging, dieses Geheimniß zu bewahren. Jetzt bemächtigten sich die Journale der Angelegenheit, setzten sie des weiteren auseinander, und bald war nur noch von dem Schatze Kamylk-Paschas die Rede, der unter dem Felsen eines unbekannten Eilands verscharrt lag. Was die Bezeichnung der Lage desselben betraf, so hing das, wenn man den öffentlichen Blättern, die der Reverend Tyrcomel nicht dementierte, glauben durfte, nur von ihm ab, obwohl in Wirklichkeit auch die beiden andern Erben dazu unumgänglich nöthig waren. Uebrigens kannte man die Einzelheiten der Geschichte keineswegs und selbst der Name des Meister Antifer wurde dabei gar nicht genannt. Selbstverständlich billigten einige Zeitungen das würdige Auftreten eines der Doctoren der Freien Kirche von Schottland, während andre ihn wieder tadelten, denn eigentlich hätten ja diese Millionen, wenn sie Edinburg zu gute kamen, das Loos der vielen, vielen Armen der Stadt erleichtern können, statt daß sie nun, ohne jemand zu nützen, in ihrem Loche schlummern sollten. Der Reverend Tyrcomel freilich kümmerte sich weder um Lob noch um Tadel, und blieb entschlossen, sich dadurch zu nichts bestimmen zu lassen.
Man kann sich vorstellen, welchen Erfolg seine erste Predigt in der Tron Church nach dem Bekanntwerden dieser Vorgänge hatte. Am Abend des 30. Juni strömten die Gläubigen in hellen Haufen nach dieser Kirche. Im Innern derselben drückte man sich halb todt, und nicht weniger auf den Straßen, die vor ihrer Façade mündeten.
Als der Prediger auf der Kanzel erschien, erscholl ein donnernder Applaus. Man hätte sich im Theater zu befinden geglaubt, wenn hier gerade der Vorhang aufgeht und ein berühmter Künstler von dem begeisterten Hurrah der Zuschauer empfangen wird. Hundert Millionen, zweihundert Millionen, dreihundert Millionen – schließlich ging's bis an die Milliarde – stellte dieser wunderbare Tyrcomel vor, und der blies sie von sich wie ein Federflöckchen! Dann fing er sein gewöhnliches Thema an, wobei man eine Bemerkung hörte, die eine außerordentliche Wirkung hatte:
»Einen Mann giebt es, der aus den Eingeweiden des Bodens mit einem einzigen Worte die Millionen hundertfach hervorlocken könnte; dieses einzige Wort spricht er aber nicht aus!«
Diesmal befanden sich Meister Antifer und seine Gefährten aus wichtigen Gründen nicht unter den Zuhörern. Hinter einem Pfeiler des Schiffes hätte man aber einen Zuhörer von fremdländischem Aussehen wahrnehmen können, den niemand kannte, einen Mann von fünfunddreißig Jahren, mit schwarzem Haar und Bart, harten Zügen und wenig beruhigendem Aussehen. Daß er von der Rede des Reverend Tyrcomel etwas verstand, möchten wir nicht behaupten. Jedenfalls starrte er von seinem Standpunkt im Halbschatten aber den Prediger unausgesetzt an. Seine flammensprühenden Augen wandten sich niemals von ihm ab.
Dieser Mann blieb bis zum Schluß der Predigt unbeweglich stehen, als aber deren letzten Worte unter dem Beifallsrufe der Zuhörer verklungen waren, drängte er sich durch die Menge, um sich dem Clergyman zu nähern. Wollte er ihn aufhalten, ihn aus der Kirche mit hinaus und bis nach seinem Haus in der Canongate begleiten? Das schien beinahe so, denn er arbeitete rücksichtslos mit den Armen, um den Prediger zu erreichen.
An diesem Abend sollte der Reverend Tyrcomel nicht allein nach seinem Hause zurückkommen. Gegen tausend Personen gaben ihm das Geleite und hätten ihn am liebsten auf den Schultern weggetragen. Die genannte Persönlichkeit hielt sich dicht hinter ihm, ohne jedoch in die Rufe der andern einzustimmen.
Vor seinem Hause angelangt, erstieg der populäre Kanzelredner die Stufen vor demselben und richtete noch einige Worte an die Gläubigen, die eine Salve von Hurrahs und Hipps hervorriefen. Dann verschwand er in der dunkeln Hausflur, ohne zu bemerken, daß ein anderer im nachfolgte.
Die Menge zerstreute sich nur langsam und weithin dröhnten ihre Rufe durch die Straße.
Während der Reverend Tyrcomel die schmale Treppe hinaufging, die zum dritten Stockwerk führte, erstieg sie auch der Unbekannte mit so unhörbaren Schritten, als wenn nur eine Katze über die Stufen geschlüpft wäre.
Auf seinem Vorsaal angelangt, begab sich der Clergyman in sein Zimmer, dessen Thür er zumachte.
Der andre blieb auf dem Vorraume in einer dunkeln Ecke stehen und wartete.
Was mochte er vorhaben?
Am nächsten Morgen waren die andern Bewohner des Hauses nicht wenig verwundert, den Clergyman nicht zu gewohnter Stunde ausgehen zu sehen. Sogar den ganzen Morgen blieb er unsichtbar. Mehrere Leute, die zu ihm eilten, klopften vergeblich an seine Thür.
Das erschien verdächtig, und am Nachmittage begab sich einer der Wohnungsnachbarn zur Polizei. Mehrere Constabler erschienen im Hause des Clergyman, klopften ebenfalls an dessen Thür, und da sie keine Antwort erhielten, drückten sie diese mit den Schultern in der Weise ein, die für die Organe der öffentlichen Gewalt specifisch zu sein scheint.
Welch ein Anblick! Hier hatte Jemand die Thür mit einem Dietrich geöffnet ..., war in das Zimmer gedrungen und hatte dieses von oben nach unten durchwühlt. Der Schrank war aufgerissen, daraus fehlten verschiedene Kleidungsstücke, die auf der Erde verstreut umherlagen, der Tisch war umgeworfen ... die Lampe lag zertrümmert in einer Ecke ... Bücher und Papiere bedeckten den Fußboden, und dort ... neben dem Bette, dessen Decke weggerissen war, lag festgebunden und mit verstopftem Munde ... der Reverend Tyrcomel.
Man beeilte sich, ihm zu helfen. Kaum athmete der arme Mann noch; das Bewußtsein hatte er gänzlich verloren ... Seit wie langer Zeit? Das konnte er nur allein sagen, wenn er überhaupt wieder zu sich kam ...
Man mußte ihn tüchtig frottieren, ohne daß es nöthig gewesen wäre, ihn erst zu entkleiden, denn er war halb nackt, das Hemd aufgerissen, und Brust und Schultern zeigten sich völlig entblößt.
Eben als die Constabler anfangen wollten, ihn nach den Regeln der Kunst abzureiben, konnte einer derselben einen Ruf der Verwunderung nicht unterdrücken. Der Mann hatte auf der linken Schulter des Reverend Tyrcomel einzelne Ziffern bemerkt.
In der That zeigte sich, in ihrer braunen Farbe von der weißen Haut des Clergyman scharf abstechend, eine leicht erkennbare Tättowierung ... Sie bestand aus folgendem:
77° 19' Nord
Der Leser weiß schon, daß das die so ersehnte Breite bezeichnete. Ohne Zweifel hatte sie der Vater des Clergyman, um sicher zu sein, daß sie nicht verloren ginge, auf der Schulter seines damals noch jungen Sohnes angebracht. Ein Stück Papier kann ja verloren gehen, eine Schulter niemals!
So besaß denn der Reverend Tyrcomel, der den Brief Kamylk-Paschas an seinen Vater wirklich verbrannt hatte, diese eigenthümlich angebrachte Inschrift, die er übrigens, was ja mit Hilfe eines Spiegels leicht genug gewesen wäre, noch niemals gelesen hatte.
Sicherlich hatte sie aber der Uebelthäter gelesen, der, während der Clergyman schlief, in dessen Zimmer eingedrungen war. Letzterer mochte den Elenden, als er seinen Schrank durchwühlte, seine Papiere überflog, überrascht und vergeblich mit dem Schurken gekämpft haben, der ihn schließlich knebelte und, ihn halb erstickt zurücklassend, die Flucht ergriff.
Das war es, was man aus des Reverends Munde vernahm, als diesen durch die Hilfe eines schnell gerufenen Arztes die Erinnerung an das Vergangene wieder kam. Seiner Ansicht nach war dieser Ueberfall nur erfolgt, um ihm das Geheimniß bezüglich der Insel mit den Millionen, das er nicht verrathen wollte, mit Gewalt zu entreißen.
Den Verbrecher hatte er, während beide miteinander rangen, wenigstens soweit sehen können, daß er ein recht genaues Signalement zu liefern vermochte. Dabei erwähnte er auch den Besuch, den er von den zwei Franzosen und einem Malteser erhalten hatte, die eigens nach Edinburg gekommen waren, um ihn bezüglich des Vermächtnisses Kamylk-Paschas zu befragen.
Das war ein Fingerzeig für den Beamten, der sofort die Nachforschungen begann. Zwei Stunden später hatte die Polizei es ausgekundschaftet, daß die betreffenden Fremden vor einigen Tagen in Gibb's Royal-Hotel abgestiegen waren.
Ein Glück für Meister Antifer, den Banquier Zambuco, Gildas Tregomain, Juhel und Ben Omar, daß sie ein unanfechtbares Alibi beibringen konnten. Der Malouin hatte sein Bett nicht verlassen, der junge Kapitän und der Frachtschiffer waren nicht aus ihrem Zimmer gekommen, der Banquier Zambuco und der Notar hatten keinen Schritt aus dem Hôtel gethan. Uebrigens entsprach auch keiner von ihnen dem vom Clergyman gegebenen Signalement.
Unsere Schatzgräber blieben denn auch unbehelligt, und es ist ja bekannt, daß die Gefängnisse des Vereinigten Königreichs die nicht gern wieder loslassen, denen sie Wohnung und Nahrung unentgeltlich gewähren.
Nun war ja noch Saouk ...
Gewiß war dieser der Urheber des Ueberfalls. Er hatte den Streich geführt, um dem Reverend Tyrcomel sein Geheimniß zu stehlen, und jetzt war er, Dank den Ziffern, die er auf der Schulter des Geistlichen lesen konnte, völlig Herr der Lage. Da er andrerseits schon die auf dem Document von dem Eiland der Ma-Yumbabai angegebene Länge kannte, besaß er die nöthigen Elemente, um die Lage des dritten Eilands bestimmen zu können.
Unglücklicher Antifer, das fehlte noch, um Dir den Verstand vollends zu rauben!
Nachdem jenes Signalement in den Zeitungen erschienen war, konnten Meister Antifer und seine Begleiter nicht mehr in Zweifel sein, daß es Nazim, der Schreiber Ben Omar's, gewesen war, mit dem der Reverend Tyrcomel zu thun gehabt hatte. Und als sie gar von seinem Verschwinden hörten, da hielten sie für ausgemacht: Erstens, daß er von den Ziffern der Tättowierung Kenntniß genommen hatte, und zweitens, daß er nach dem neuen Eiland zu entflohen sei, um den ungeheuern Schatz zu heben.
Am wenigsten erstaunt zeigte sich Juhel, dessen Verdacht gegen Nazim der Leser kennt, und nach ihm Gildas Tregomain, dem dieser Verdacht vom jungen Kapitän übertragen worden war. Die Wuth Meister Antifer's und Zambuco's, die jetzt den schlimmsten Grad erreichte, fand noch zum Glück einen Ableiter in der Person des Notars.
Selbstverständlich war Ben Omar mehr als jeder andre von der Schuld Saouk's überzeugt. Wie hätte dies auch ein andrer sein können, da er dessen Pläne und ihn selbst als einen Mann kannte, der gewiß vor keiner Schandthat zurückschreckte?
Das gab aber einen Auftritt für den armen Notar! Auf Befehl des Meister Antifer mußte Juhel ihn aufsuchen und in das Zimmer des Kranken führen. Krank! Ist man das jemals ... kann man es bleiben angesichts einer solchen Lage? Und da der Meister Antifer nach Aussage des Arztes an einem Gallenfieber litt, ei, da bot sich ja die schönste Gelegenheit, sich seiner überflüssigen Galle zu entledigen und dadurch wohl gar gesund zu werden.
Wie es dem unglücklichen Ben Omar erging, darüber wollen wir lieber schweigen. Er mußte zunächst bekennen, daß das Attentat auf den Geistlichen, der Diebstahl ... ja, elender Omar! ... der Diebstahl das Werk Nazim's sei! ... Also solche Leute erwählte sich der Actenwurm für seine Schreibstube! ... Das war der Mann, den er sich zur Unterstützung bei seiner Thätigkeit als Testamentsvollstrecker mitgebracht hatte! Den Spitzbuben, den Schurken, den Wicht ... den wagte er dem Meister Antifer und seinen Begleitern als Gesellschaft aufzuzwingen? ... Und jetzt war diese Canaille ... ja, diese Canaille gar entflohen, der Mensch kannte die Lage des Eilandes Nummer drei und würde sich der Millionen Kamylk-Paschas bemächtigen, ohne daß es möglich wäre, ihn dabei zu hindern! Mag einer nur einem solchen ägyptischen Banditen nachlaufen, der dann solche unsinnigen Summen zur Verfügung hat, um sich in Sicherheit zu bringen und seine Straflosigkeit zu garantieren.
»Ach ... Saouk! ... Saouk!«
Dieser Name entfloh jetzt dem niedergeschmetterten Notar. Der Verdacht Juhels war also begründet ... Nazim war gar nicht Nazim ... Es war Saouk, der Sohn Murad's, den Kamylk-Pascha zu Gunsten der beiden Legatare enterbt hatte.
»Wie ... das war Saouk?« rief Juhel.
Ben Omar wollte dem ihm entfallnen Namen eine andre Bedeutung geben ... Seine Verlegenheit, seine Hilflosigkeit, sein Schreck zeigten aber nur zu deutlich, daß Juhel sich nicht täuschte.
»Saouk!« wiederholte auch Meister Antifer, der mit einem Sprunge aus dem Bette war.
Und bei der heftigen Bewegung der Kinnladen, als er den verhaßten Namen aussprach, flog sein Kiesel dem Notar wie eine Flintenkugel gegen die Brust.
Und wenn auch dieses Projectil ihn nicht zu Boden warf, so erzielte das wenigstens ein kräftiger Fußtritt ... ein Fußtritt, wie ihn ein ägyptischer Notar wohl noch nie in die Gegend dicht unter den Nieren bekommen hatte. Da lag nun Ben Omar so glatt auf dem Boden, wie das nur ohne gänzliche Zermalmung möglich war.
Nazim war also jener Saouk, der geschworen hatte, sich des Schatzes auf jede denkbare Weise zu bemächtigen, derselbe, dessen verbrecherisches Eingreifen Meister Antifer hatte fürchten sollen!
Doch nach Entladung aller der Seemannsflüche, die das Repertoire eines Kapitäns der Küstenfahrt nur enthält, fühlte Meister Antifer eine wahre Erleichterung, und als Ben Omar vor Beschämung geduckt aus dem Zimmer schlich, um sich in das seinige einzuschließen, da war ihm schon merklich besser. Vollends auf die Beine brachten ihn aber die Mittheilungen, die sich in den nächsten Tagen in den Blättern der Stadt fanden.
Den spürnasigen Reportern und Interviewern ist bekanntlich alles möglich. Jener Zeit begannen sie gerade, sich mit einem Eifer, einem Scharfsinn und einer Kühnheit in öffentliche und private Angelegenheiten einzumischen, die aus ihnen eine neue öffentliche Gewalt gemacht haben.
Einem von ihnen gelang es, die Tättowierung, mit der der Vater des Reverend Tyrcomel diesen gezeichnet hatte, in Augenschein zu nehmen. Es ließ davon ein Facsimile anfertigen und dieses erschien in einem Tageblatt, dessen Absatz für die betreffende Nummer von zehntausend auf hunderttausend Exemplare stieg.
Damit erhielt Schottland, später Großbritannien, das ganze Vereinigte Königreich, ganz Europa, ja schließlich die ganze Welt Kenntniß von der Breitenlage des dritten Eilandes: 77° 19' nördlicher Breite.
Damit kamen die Neugierigen auch nicht viel weiter, und niemand wäre im Stande gewesen, das zu lösen, was man bereits das »Problem des Schatzes« nannte, weil ihnen von den beiden nothwendigen Elementen eines ... die Länge fehlte.
Er besaß sie aber diese Länge, er, Meister Antifer, – übrigens ganz so wie Saouk – und als ihm Juhel das genannte Journal brachte, als er das Facsimile erblickte, da warf er die Decke weg und sprang aus dem Bette. Er war geheilt! ... Geheilt, wie niemals ein Kranker durch die Aerzte des College Royal oder durch die Doctoren der Universität von Edinburg geheilt war.
Der Banquier Zambuco, Gildas Tregomain und der junge Kapitän hatten vergeblich ihre Kräfte vereinigt, den Meister Antifer im Bette zurückzuhalten. Man sagt ja, daß ein tiefinniger, religiöser Glaube das häufiger bewirken könne ... weshalb sollte der Glaube an den Gott des Goldes nicht ähnliche Wunder bewirken können?
»Juhel, hast Du wieder einen Atlas gekauft?«
– Ja, lieber Onkel.
– Die Länge des dritten, auf dem Document von der Ma-Yumbabai bezeichneten Eilands betrug doch fünfzehn Grad elf Minuten östlich von Paris.
– Gewiß, lieber Onkel.
– Schön; nun suche nach, wo das Eiland Nummer drei liegt!«
Juhel holte den Atlas, schlug die Karte des nördlichen Europa auf, bestimmte mit dem Zirkel genau den Kreuzpunkt der beiden Linien und sagte:
»Spitzbergen, südlich von der großen Insel.«
Spitzbergen? ... Wie ... in der Nachbarschaft dieses hyperboräischen Landes hatte Kamylk-Pascha das Eiland gewählt, wo seine Diamanten, seine Edelsteine, sein Gold ruhten ... wenn das überhaupt das letzte war ...
»Vorwärts, rief Meister Antifer, und wenn wir ein abfahrendes Schiff treffen, gleich heute!
– Liebster Onkel ... begann Juhel bittend.
– Wir dürfen dem elenden Saouk nicht Zeit lassen, uns zuvorzukommen!
– Du hast Recht, alter Freund! sagte der Frachtschiffer.
– Vorwärts!« wiederholte Piere-Servan-Malo in befehlerischem Tone.
Dann setzte er hinzu:
»Melde es jemand dem Schwachkopf von Notar, da es Kamylk-Pascha einmal gewollt hat, daß er der Hebung des Schatzes beiwohne!«
Dem Willen Meister Antifer's, den Zambuco getreulich unterstützte, mußte man sich wohl oder übel fügen.
»Es ist ein wahres Glück, bemerkte der junge Kapitän, daß dieser Possenreißer von Pascha uns nicht gleich nach den Antipoden schickt!«