Jules Verne
Reisen und Abenteuer des Kapitän Hatteras. Zweite Abtheilung
Jules Verne

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Zweiundzwanzigstes Capitel.

Annäherung an den Pol.

In dieser spannenden Ungewißheit verfloß die Zeit. An dem so klar gezeichneten Umkreis ließ sich nichts wahrnehmen: Nichts als Himmel und Meer; nicht einmal auf der Oberfläche des Wassers ein Hälmchen von Landgewächsen, wie es einst Columbus das Herz erfreute.

Hatteras schaute unablässig.

Endlich, gegen sechs Uhr Abends, zeigte sich über dem Meeresspiegel ein Dampf von unbestimmter Gestalt, aber merklich hoch aufsteigend, fast wie eine Rauchsäule. Bei völlig reinem Himmel konnte man's nicht für eine Wolke halten; mitunter verschwand er, dann kam er wieder zum Vorschein, wie in heftiger Bewegung.

Hatteras beobachtete die Erscheinung zuerst, richtete sein Fernrohr auf den unerklärlichen Dampf und beobachtete ihn eine volle Stunde unausgesetzt.

Plötzlich kam ihm vermuthlich ein sicheres Kennzeichen zur Anschauung; er streckte den Arm nach dem Horizont aus, und rief mit lauthallender Stimme:

»Land! Land!«

Bei diesem Wort sprang Jeder auf, wie von einem elektrischen Schlag getroffen.

Eine Art Rauch stieg merklich hoch über der Meeresfläche auf.

»Ich sehe es! Ich seh's! rief der Doctor aus.

– Ja! Gewiß! ... Ja, fiel Johnson ein.

– Eine Wolke, sagte Altamont.

– Land! Land!« erwiderte Hatteras mit unerschütterlicher Ueberzeugung.

Die fünf Seemänner fuhren fort, mit gespanntester Aufmerksamkeit zu beobachten.

Aber wie es oft geschieht, wenn man der Entfernung wegen Gegenstände unbestimmt sieht, der beobachtete Punkt schien wieder verschwunden. Endlich konnten die Blicke ihn von Neuem wahrnehmen, und der Doctor glaubte sogar zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen weit nordwärts einen flüchtigen Schimmer zu erkennen.

»Es ist ein Vulkan! rief er aus.

– Ein Vulkan? fragte Altamont.

– Ganz gewiß.

– Unter so hohem Breitegrad!

– Und warum nicht? fuhr der Doctor fort; ist nicht Island ein vulkanisches Land, und so zu sagen durch Vulkane entstanden?

– Ja! Island, versetzte der Amerikaner; aber so in der Nähe des Pols!

– Nun, hat nicht unser berühmter Landsmann, der Commandeur James Roß, festgestellt, daß es auf dem Südpol-Land unter 170° Länge und 78° Breite zwei Vulkane, Erebus und Terror, in voller Thätigkeit giebt? Warum sollten nicht ebenso am Nordpol Vulkane existiren?

– Wohl möglich, erwiderte Altamont.

– Ei! Nun sehe ich's deutlich, rief der Doctor, es ist ein Vulkan!

– Nun denn, sagte Hatteras, steuern wir gerade darauf los.

– Der Wind fängt an widrig zu werden.

– Ziehen Sie das Focksegel bei, so nahe wie möglich.«

Aber dieses Manöver führte die Schaluppe nur von dem beobachteten Punkt ab, und man konnte ihn mit den achtsamsten Blicken nicht wieder zu sehen bekommen.

Doch war an der Nähe der Küste nicht mehr zu zweifeln. Hier lag also das Reiseziel vor Augen, wenn es auch noch nicht erreicht war, und es sollte wohl keine vierundzwanzig Stunden mehr dauern, bis dieser neue Boden von eines Menschen Fuß betreten ward. Nachdem die Vorsehung den kühnen Seeleuten so nahe zu kommen gestattet, würde sie ihnen doch wohl das Landen nicht versagen.

Dennoch gab unter den gegenwärtigen Umständen Niemand eine solche Freude kund, wie sie solch' eine Entdeckung hervorrufen mußte; Jeder verschloß sich in seinem Innern, und fragte sich, was es wohl mit diesem Pol-Land für eine Bewandtniß habe. Die Thiere schienen es zu meiden; am Abend sah man die Vögel, anstatt daselbst eine Zuflucht zu suchen, raschen Flugs nach dem Süden eilen! War's denn ein so ungastliches Land, daß eine Möve oder ein Ptarmigan daselbst keine Zuflucht fanden? Selbst die Wallfische sah man in den durchsichtigen Gewässern eilig von dieser Küste flüchten. Woher kam das Gefühl des Widrigen, wo nicht des Schreckens, wovon alle lebenden Wesen in dieser Weltgegend beseelt waren?

Unsere Seefahrer theilten die allgemeine Empfindung; sie gaben sich den Gefühlen ihrer Lage hin, und allmälig fand sich der Schlaf ein, ihre müden Augenlider zu schließen.

Hatteras hatte Wache zu halten. Er faßte das Steuer; der Doctor, Altamont, Johnson und Bell schliefen, auf die Bänke gelagert, einer nach dem andern ein, und waren bald in's Reich der Träume versenkt.

Hatteras bemühte sich, dem Schlaf zu widerstehen; er wollte nichts von dieser kostbaren Zeit verlieren; aber die langsame Bewegung der Schaluppe wiegte ihn allmälig ein, und er sank trotz aller Anstrengung in unwiderstehlich bewältigenden Schlummer.

Inzwischen kam das Fahrzeug kaum vorwärts; der Wind vermochte das ausgespannte Segel nicht zu schwellen. In der Ferne warfen einige unbewegliche Eisblöcke im Westen die Lichtstrahlen zurück, und bildeten auf dem Ocean glühende Streifen.

Hatteras versank in Träume. In raschem Flug schweifte sein Gedanke über sein ganzes Dasein; er durchlief seine Lebensbahn mit der den Träumen eigenthümlichen Schnelligkeit, welche sich jeder Berechnung entzieht, dann warf er einen Rückblick über die letztverflossene Zeit, sein Winterlager, die Bai Victoria, das Fort Providence, das Doctors-House, das Auffinden des Amerikaners unter'm Eis.

Darauf kehrte er weiter in die Vergangenheit zurück; träumte von seinem Schiff, dem verbrannten Forward, seinen Genossen, den Verräthern, welche ihn im Stiche gelassen. Was war aus ihnen geworden? Er dachte an Shandon, an Wall, den brutalen Pen. Wo mochten sie jetzt sein? War es ihnen gelungen, über die Eisflächen bis zum Baffins-Meer zu dringen?

Sodann schweifte seine träumende Phantasie noch weiter hinauf zu seiner Abfahrt aus England, seinen früheren Fahrten, seinen mißlungenen Versuchen, seinen unglücklichen Erlebnissen. Da vergaß er seinen gegenwärtige Lage, sein nahes Gelingen, seine schon halbverwirklichten Hoffnungen. Aus der Freude verfiel er in Besorgnisse.

In solchen Träumen lag er zwei Stunden lang, dann führte ihn der Schwung seiner Gedanken wieder dem Pol zu, wie er endlich dieses englische Land betreten und die Flagge des Vereinigten Königreichs aufpflanzen sollte.

Während er so in träumendem Schlummer lag, stieg am Horizont ungeheures, olivengraues Gewölk auf und verdüsterte den Ocean.

Man kann sich kaum eine Vorstellung machen, wie blitzschnell in den arktischen Meeren die Orkane entstehen. Wenn die in den Gegenden des Aequators entstandenen Dünste über den unermeßlichen Eisflächen sich verdichten, strömen die zu ihrem Ersatz dienenden Luftmassen mit unwiderstehlicher Gewalt heran. Daraus erklärt sich das energische Auftreten der Polarstürme.

Beim ersten Windstoß raffte sich der Kapitän mit seinen Genossen aus dem Schlaf auf, zum Manövriren bereit.

Die Wellen thürmten sich hoch auf schwach entwickelter Basis; die Schaluppe, von heftigem Wogendrang hin- und hergeworfen, sank bald in tiefe Wasserschlünde hinab, bald schwebte sie oben auf spitzen Wellen in Winkeln von mehr als fünfundvierzig Grad geneigt.

Hatteras ergriff mit fester Hand das Steuer, das aber mitunter in Folge heftigen Gierschlags ihn zurückwarf und wider Willen krümmte. Johnson und Bell waren unablässig bemüht, das in die Schaluppe gedrungene Wasser wieder hinaus zu schaffen.

»Eines solchen Sturmes hatten wir uns doch nicht versehen, sagte Altamont, an seine Bank sich klammernd.

– Hier muß man auf Alles gefaßt sein«, erwiderte der Doctor.

So sprachen sie mitten unter'm Zischen der Luft und dem Getöse der Wellen, welche vom Sturm gepeitscht in Staub zerstoben; es wurde fast unmöglich sich zu verstehen.

Es war schwer, die nördliche Richtung zu halten; die dichten Staubregen gestatteten kaum einige Klafter weit den Blick über das Meer; jedes Merkzeichen verschwand.

Dieser plötzliche Sturm im Moment, wo man sich am Ziele sehen konnte, schien ernste Mahnungen zu enthalten; er erschien den aufgeregten Gemüthern wie ein Verbot, weiter vorzudringen. Wollte die Natur den Zugang zum Pol verwehren?

Doch sah man das energische Antlitz dieser Männer, so begriff man, daß sie Sturm und Wogen zu trotzen verstanden, um bis an's Ende auszuhalten.

So kämpften sie den ganzen Tag lang, jeden Augenblick dem Tode trotzend, ohne weiter nördlich zu kommen, aber auch nicht zurückgeworfen, vom Regen durchnäßt und von entgegenspritzenden Wellen triefend; durch die pfeifenden Lüfte vernahm man unheimliches Vogelgeschrei.

Endlich, gegen sechs Uhr Abends, legte sich plötzlich der Sturm, und das Meer zeigte sich so ruhig und eben, als wäre es seit zwölf Stunden nicht aufgeregt worden.

Der Grund dieses plötzlichen Wechsels lag in einem außerordentlichen Phänomen, wie es einst der Kapitän Sabine in den Meeren Grönlands erlebte.

Der Nebel ward, ohne aufzusteigen, in seltsamer Weise von Licht durchdrungen.

Die Schaluppe fuhr in einem Streifen elektrischen Lichtes; einem ungeheuren Sanct Elmsfeuer voll Glanz, aber ohne Wärme. Der Mast, das Segel, das Takelwerk hob sich schwarz auf dem phosphorescirenden Hintergrund des Himmels mit unvergleichlicher Klarheit ab. Die Schiffenden waren rings von durchsichtigen Strahlen umspielt, und ihre Gesichter färbten sich in feurigem Reflex.

Die plötzlich eintretende Windstille an dieser Stelle des Oceans rührte ohne Zweifel von der aufsteigenden Bewegung der Luftsäulen her, während der Sturm als eine Art Wirbelwind mit reißender Schnelligkeit rings um dieses stille Centrum fortwüthete.

Aber diese feurige Atmosphäre regte bei Hatteras einen anderen Gedanken an.

»Der Vulkan! rief er aus.

– Ist's möglich? sagte Bell.

– Nein! Nein! entgegnete der Doctor; solche Flammen würden, wenn sie bis hierher drängen, uns ersticken.

– Vielleicht ist's sein Widerschein im Nebel, äußerte Altamont.

– Ebensowenig. Man müßte denn annehmen, wir seien nahe dem Lande und in diesem Falle würden wir das Getöse des Ausbruchs vernehmen.

– Aber dann? ... fragte der Kapitän.

– Es ist ein kosmisches Phänomen, erwiderte der Doctor, welches bis jetzt noch wenig beobachtet worden ist! ... Fahren wir weiter, so werden wir bald aus dieser erleuchteten Sphäre heraus- und wieder in das Dunkel und das Sturmwetter hineinkommen.

– Wie dem auch sein mag, vorwärts! versetzte Hatteras.

– Vorwärts!« stimmten seine Gefährten ein, und dachten nicht einmal daran, an dieser ruhigen Stelle sich zu erholen.

Das Segel mit feurigen Falten hing am funkensprühenden Mast herab; die Ruder tauchten in glühende Wogen und schienen Wellen von Funken aufzurühren, die aus hellleuchtenden Wassertropfen bestanden.

Hatteras schlug nach Maßgabe des Compasses wieder die nördliche Richtung ein; allmälig verlor der Nebel seinen Lichtgehalt, dann seine Durchsichtigkeit; man hörte in der Nähe Windessausen, und bald kam die Schaluppe wieder in die Zone der Stürme.

Aber der Wind schlug glücklicher Weise südwärts um, und das Fahrzeug konnte mit dem Wind gerade auf den Pol zufahren, zwar mit Gefahr zu scheitern, aber mit unsinniger Schnelligkeit; jeden Augenblick konnte es auf eine Klippe, Felsen oder eine Eismasse stoßen, wodurch es unfehlbar in Stücke gehen mußte.

Inzwischen wurde die Nähe der Küste merkbar; es ergaben sich dafür auffallende Anzeichen. Plötzlich spaltete sich der Nebel wie ein Vorhang, den der Wind zerriß und man konnte einen Moment am Horizont eine ungeheure Flammensäule himmelwärts aufsteigen sehen.

»Der Vulkan! Der Vulkan! ...«

So rief's aus allen Kehlen, aber die phantastische Erscheinung verschwand wieder; der Wind schlug in Südost um, faßte das Fahrzeug quer, und trieb sie nochmals von diesem unnahbaren Lande zurück.

»Verdammt! rief Hatteras, und zog sein Segel ein; wir waren nur noch drei Meilen von der Küste!«

Hatteras vermochte der Gewalt des Sturmes nicht zu widerstehen; aber, ohne zu weichen, lavirte er im Wind, der mit unbeschreiblichem Ungestüm tobte. Mitunter ward die Schaluppe auf die Seite gelegt, daß zu befürchten war, ihr Kiel möge völlig emportauchen; doch gelang es mit Hilfe des Steuerruders, sie wieder aufzurichten.

Hatteras, mit flatternden Haaren, die Hand wie an's Steuerruder geschmiedet, schien die Seele der Barke zu sein.

Mit einem Mal bot sich ein schrecklicher Anblick seinen Augen dar.

Keine sechzig Fuß weit entfernt schaukelte ein Eisblock auf der Spitze hochgethürmter Wellen; gleich der Schaluppe wogte er auf und nieder; er drohte herabzustürzen, wobei er sie dann schon bei einer Berührung zertrümmern würde.

Aber neben dieser Gefahr, in den Grund hinabgerissen zu werden, zeigte sich noch eine andere, nicht minder schreckliche; denn dieser auf's gerathewohl treibende Block war mit weißen Bären besetzt, die wider einander gedrängt vor Schrecken betäubt waren.

»Bären! Bären!« rief Bell mit stockender Stimme.

Und Jeder sah mit Entsetzen dasselbe.

Der Eisblock schwankte erschrecklich; mitunter neigte er sich in so spitzen Winkeln, daß die Thiere in wildem Durcheinander wider einander rollten. Dann stießen sie ein Gebrumm aus im Wettstreit mit dem Toben des Sturmes, und es ließ sich ein furchtbares Concert von dieser schwimmenden Menagerie aus vernehmen.

Wenn dieses Eisfloß umstürzte, so würden die dem Fahrzeug zugeworfenen Bären auf dasselbe zu klimmen versuchen.

Eine volle Viertelstunde lang wogten dergestalt die Schaluppe und der Eisblock neben einander, bald zwanzig Klafter weit auseinander weg geschleudert, bald nahe zum Zusammenstoßen; bald ragte der eine, bald der andere in die Höhe, und die Ungethüme brauchten nur sich fallen zu lassen. Die grönländer Hunde zitterten; Duk blieb unbeweglich.

Hatteras und seine Gefährten verhielten sich stumm; es kam ihnen gar nicht in den Sinn, mit Hilfe des Steuers aus dieser gefährlichen Nachbarschaft wegzukommen, und sie hielten unabänderlich strenge ihre Richtung ein.

Ein unbestimmtes Gefühl, mehr Staunen wie Schrecken, hielt ihren Geist befangen.

Endlich kam der Block allmälig weiter ab, da der Wind ihn schneller trieb, als die Schaluppe.

Jetzt erhob sich der Sturm mit doppelter Wuth zu einer unbeschreiblichen Entfesselung der Atmosphäre; das Fahrzeug, aus den Wogen gehoben, fing an mit schwindelhafter Schnelligkeit sich im Kreise zu drehen; sein Focksegel wurde losgerissen und entflatterte, wie ein Vogel; im Wirbel der Wellen bildete sich ein rundes Loch gleich einem Maelstrom; die Schiffenden wurden in diesen Wirbel hineingezogen und fuhren mit solcher Schnelligkeit, daß trotz dieser ihre Wasserlinien unbeweglich schienen. Allmälig wurden sie hineingedrängt. Im Mittelpunkt des Schlundes bildete sich eine mächtige Anziehung, die sie lebendig hinabzuziehen drohte.

Alle Fünf sprangen sie mit verstörtem Blick auf. Schwindel erfaßte sie mit unbeschreiblicher Gewalt. Plötzlich stellte sich die Schaluppe senkrecht auf. Ihr Vordertheil ward der Wirbelbewegung Meister; die eigene Geschwindigkeit warf sie aus dem Kreis der Anziehung heraus, und sie ward mit der Schnelle einer Kanonenkugel weggeschleudert.

Altamont, der Doctor, Johnson, Bell, wurden auf ihre Bänke niedergeworfen.

Als sie wieder aufstanden, war Hatteras verschwunden.

Es war um zwei Uhr früh.


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