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»Braza«, Glut, ist ein Wort, das sich schon im 12. Jahrhundert in der spanischen Sprache findet. Aus ihm ist das Wort »Brazil« gebildet worden, mit welchen gewisse, eine rote Farbe liefernde Holzarten bezeichnet werden: und daher stammt der Name Brasilien für dieses Riesengebiet Südamerikas, unter der Aequinoctial-Linie, in welchem dieses Holz vielfach vorhanden ist. Schon zur Zeit der Normannen war dieses Holz übrigens ein bedeutender Handelsartikel. Obwohl es in seiner Heimat »Ibirapitunga« heißt, hat es doch den Namen »Brazil« erhalten, und diesen Namen hat auch das Land erhalten, das unter den Strahlen der Tropensonne in der Tat eine unermeßliche Glutfläche ist.
Die Portugiesen haben es zuerst besetzt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ergriff der Seefahrer Alvarez Cabral Besitz davon. Wenn sich später auch Frankreich und Holland an einigen Punkten niederließ, so blieb es doch portugiesisch und besitzt alle Vorzüge, die dieses tapfere Völkchen auszeichnen. Jetzt ist es der größte Staat Südamerikas, dem der kluge und kunstsinnige König Don Pedro Seit 21. Februar 1891 ist Brasilien ein Staatenbund unter einem auf 4 Jahre gewählten Präsidenten. In der Nacht vom 15. bis 16. Nov. 1889 wurde Don Pedro gezwungen, nach Europa abzureisen. vorsteht.
Der Krieg war bekanntlich lange Zeit das sicherste und schnellste Verbreitungsmittel der Zivilisation. Die Brasilianer verteidigten mit der Waffe in der Hand ihren Besitz, erweiterten ihn und stehen jetzt auf einer hohen Stufe der Zivilisation.
Im Jahre 1824, sechzehn Jahre nach der Gründung des portugiesisch-brasilianischen Kaiserreichs proklamierte Brasilien durch Don Juan, den die französischen Heere aus Portugal vertrieben hatten, seine Unabhängigkeit.
Nun mußte die Grenze zwischen dem neuen Kaiserreich und dem benachbarten Peru festgesetzt werden.
Das war nicht leicht.
Während Brasilien sich nach Westen bis zum Rio Nago ausdehnen wollte, beabsichtigte Peru, sich bis zum Ega-See, das heißt um 8 Grade nach Osten, zu vergrößern.
Aber mittlerweile mußte Brasilien zu den Waffen greifen, um einen zu Gunsten der spanisch-brasilianischen Missionen angezettelten Aufstand der Indianer des Amazonenstromes zu unterdrücken. Es konnte zur Wahrung seiner Interessen nichts Besseres tun, als die Insel de la Ronde ein Stück oberhalb von Tabatinga durch einen militärischen Posten zu besetzen.
Hiermit war zugleich eine Lösung der Grenzfrage gegeben, und seit dieser Zeit geht die Grenze beider Länder mitten durch diese Insel.
Oberhalb der Grenze ist der Strom peruanisch und heißt, wie schon erwähnt, Maranon.
Unterhalb ist er brasilianisch und führt den Namen Rio das Amazonas.
Am 25. Juni abends machte die Jangada vor Tabatinga Halt. Diese erste brasilianische Stadt liegt am linken Ufer an der Mündung des Rio, nachdem sie benannt ist.
Joam Garral hatte beschlossen, 36 Stunden hier zu bleiben, um seinem Personal etwas Ruhe zu gönnen. Die Abfahrt sollte mithin erst am 27. morgens stattfinden.
Diesmal sprachen auch Yaquita und ihre Kinder, weniger bedroht vielleicht als in Loreto, den Moskitos des Landes anheimzufallen, die Absicht aus, an Land zu gehen und das Städtchen zu besichtigen.
Man schätzt die Bevölkerung auf 400 Einwohner, die fast alle Indianer sind, rechnet dabei aber ohne Zweifel die Nomaden mit, die lieber unstet umherziehen, als daß sie sich am Strom und seinen kleinen Nebenflüssen ansiedeln.
Vor einigen Jahren ist der Posten der Insel De la Ronde aufgehoben und nach Tabatinga selbst versetzt worden. Man kann die Stadt daher eine Garnison nennen, aber die Garnison besteht aus 9 Soldaten, die auch alle Indianer sind, und einem Sergeanten, der der wirkliche Ortskommandant ist.
Eine Anhöhe von 30 Fuß, zu der die Stufen einer nicht sehr standfesten Treppe hinaufführen, bildet den Wall der Esplanade, auf der die kleine Festung liegt. Die Stadt befindet sich am jenseitigen Abhang dieser Anhöhe. Ein Weg – eigentlich nur eine von Feigenbäumen und Miritis beschattete Schlucht – führt in wenigen Stunden dorthin. Hier erheben sich ein Dutzend mit Palmenblättern gedeckte Häuser, die um einen in der Mitte befindlichen Platz gruppiert sind.
Dies alles ist nicht sonderlich sehenswert, aber die Umgebung von Tabatinga ist reizend, besonders an der Mündung des Yavary, in der der Archipel der Aramasa-Inseln liegt. Dieser Punkt ist einer der malerischsten am obern Amazonas.
Tabatinga dürfte übrigens in kurzer Zeit ein wichtiger Platz werden und wird sich ohne Zweifel schnell entwickeln. Hier werden die brasilianischen Dampfer auf ihrer Fahrt stromauf und die peruanischen Dampfer auf ihrer Fahrt stromab halten müssen. Hier werden die Ladungen ausgetauscht und die Passagiere umgebootet werden. Eine englische oder französische Stadt würde unter solchen Umständen in wenigen Jahren zu einem der bedeutendsten Handelszentren werden.
In diesem Teil seines Laufs ist der Strom sehr schön. Ebbe und Flut ist selbstverständlich in Tabatinga noch nicht zu spüren, da es noch 600 Meilen vom Atlantischen Ozean entfernt ist. Anders verhält es sich jedoch mit der »Pororoca«, dieser Art Springflut, die zur großen Syzygien-Flut drei Tage lang das Wasser des Amazonas mit einer Schnelligkeit von 17 Kilometer in der Stunde zurücktreibt. Man behauptet in der Tat, daß diese phänomenale Flut sich bis zur brasilianischen Grenze erstrecke.
Am 26. Juni bestieg die Familie Garral die Boote, um die Stadt zu besuchen.
Wenn auch Joam, Benito und Manuel schon in mehreren Städten des brasilianischen Reiches gewesen waren, so hatten doch Yaquita und ihre Tochter noch keine gesehen. Wenn andererseits Fragoso in seiner Eigenschaft als wandernder Barbier schon durch die verschiedenen Provinzen von Mittelamerika gekommen war, so hatte doch Lina wie ihre junge Herrin überhaupt noch nicht brasilianischen Boden betreten.
Aber ehe sie die Jangada verließen, war Fragoso zu Joam Garral gegangen und hatte mit ihm folgende Unterredung gehabt.
»Herr Garral,« sagte er, »seit dem Tage, wo Sie mich auf der Fazenda von Iqitos aufgenommen, beherbergt, gekleidet, beköstigt, mit einem Wort so gastfreundlich bewirtet haben, schulde ich Ihnen –«
»Sie schulden mir absolut nichts, mein Freund,« antwortete Joam Garral. »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf.«
»O beruhigen Sie sich,« rief Fragoso, »ich bin gar nicht in der Lage, mich bei Ihnen abzufinden. Ich füge noch hinzu, daß Sie mich mit an Bord genommen und es mir so ermöglicht haben, den Amazonas hinunter zu fahren. Aber wir befinden uns jetzt auf brasilianischem Boden, den ich aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Haar überhaupt nicht wiedergesehen hätte. Wäre die Liane nicht gewesen ...«
»Dafür haben Sie Lina zu danken, Lina allein,« sagte Joam Garral.
»Ich weiß,« antwortete Fragoso, »und werde nie vergessen, was ich schuldig bin, wie was ich Ihnen schuldig bin.«
»Es sieht fast so aus, Fragoso,« versetzte Joam, »als wollten Sie sich von mir verabschieden. Haben Sie die Absicht, in Tabatinga zu bleiben?«
»Keineswegs, Herr Garral, da Sie mir erlaubt haben, Sie bis Belem zu begleiten, wo ich, wie ich wenigstens hoffe, meinem früheren Gewerbe wieder nachgehen kann.«
»Nun, wenn Sie diese Absicht haben, was haben Sie dann für ein Anliegen?«
»Ich möchte Sie darum bitten, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, daß ich dieses Gewerbe unterwegs ausüben darf. Meine Hand darf nicht einrosten, und ein paar Handvoll Reïs tun meiner Tasche auch keinen Schaden, zumal wenn ich sie verdient habe. Sie wissen, Herr Garral, ein Barbier, der gleichzeitig ein bißchen Friseur ist und, aus Respekt vor Herrn Manuel wage ich es nicht zu sagen, auch ein bißchen Doktor, findet in diesen Städten am obern Amazonas immer Kunden.«
»Besonders unter den Brasilianern,« sagte Joam Garral, »denn die Eingeborenen –«
»Ich bitte um Entschuldigung!« antwortete Fragoso. »Eben gerade vor allem unter den Eingeborenen. Freilich zu rasieren gibt's nichts, denn im Punkte dieser Manneszierde hat sich die Natur geizig gegen sie gezeigt, aber immer gibt es Haar zurechtzustutzen nach der neuesten Mode! Das lieben diese Wilden, Männer wie Frauen. Ich werde kaum zehn Minuten mit der Brennschere in der Hand auf dem Platze von Tabatinga zu stehen brauchen – die Brennschere lockt sie am meisten, und ich spiele damit verführerisch – so wird sich auch schon ein Kreis von Indianern und Indianerinnen um mich gebildet haben. Man reißt sich darum, von mir frisiert zu werden. Wenn ich einen Monat bliebe, hätte sich der ganze Stamm der Tilunas von mir frisieren lassen. Rasch würde sich die Nachricht verbreiten, daß das »Kräuseleisen« – so nennen sie mich – wieder nach Tabatinga zurückgekehrt ist! Ich bin schon zweimal hier durchgekommen, und meine Schere und mein Kamm haben Wunder verrichtet. Man darf freilich nicht zu oft an denselben Platz kommen. Mesdames die Indianerinnen lassen sich nicht alle Tage frisieren wie die feinen Damen in den brasilianischen Städten. Nein, wenn es einmal gemacht ist, reicht es für ein Jahr, und ein Jahr lang nehmen sie sich aufs äußerste in acht, damit sie das Kunstwerk, das ich – ich wage es zu sagen – mit so viel Talent errichtet habe, nicht zerstören. Es ist bald ein Jahr her, daß ich in Tabatinga gewesen bin. Jetzt werde ich daher alle meine Monumente in Trümmern finden, und wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Garral, möchte ich mich noch einmal des Rufes würdig zeigen, den ich in diesem Lande erworben habe. Vor allem lockt mich die Aussicht auf Verdienst, glauben Sie mir, und nicht die Eigenliebe.«
»Tun Sie es, mein Freund,« antwortete Joam Garral, »aber halten Sie sich dazu. Wir dürfen nur einen Tag in Tabatinga bleiben und reisen morgen bei Tagesanbruch weiter.«
»Ich werde keine Minute verlieren!« antwortete Fragoso. »Nur mein Handwerkszeug holen, und dann fort!«
»Gehen Sie, Fragoso,« sagte Joam Garral, »und möge es Reïs in Ihre Taschen regnen!«
»Ja, das wäre ein wohltuender Regen, der sich allerdings noch nie als Wolkenbruch über Ihren ganz ergebenen Diener ausgeschüttet hat!«
Mit diesen Worten eilte Fragoso davon.
Kurz darauf stieg die Familie mit Ausnahme Joam Garrals an Land. Die Jangada hatte so nahe am Ufer vor Anker gehen können, daß die Boote ohne Schwierigkeit hinüber kamen.
Yaquita und die Ihren wurden von dem Kommandanten des Forts empfangen – einem armen Teufel, der jedoch die Gebote der Gastfreundschaft kannte und ihnen ein Frühstück in seiner Behausung anbot. Anstatt aber das Frühstück des Sergeanten anzunehmen, lud Yaquita im Gegenteil den Kommandanten und seine Frau zu Tisch auf die Jangada. Das ließ sich der Kommandant nicht zweimal sagen, und man verabschiedete sich um elf Uhr.
Yaquita, ihre Tochter, die junge Mulattin und Manuel gingen um das Fort herum spazieren, während Benito mit dem Sergeanten, der zugleich Chef der Zollstation war, die Angelegenheit der Durchfahrtsbestimmungen regelte.
Als dies erledigt war, begab Benito sich gemäß seiner Gewohnheit auf die Jagd in den nahen Wäldern. Diesmal hatte Manuel sich geweigert, mit ihm zu gehen.
Inzwischen hatte auch Fragoso die Jangada verlassen. Anstatt aber zu dem Militärposten hinaufzugehen, begab er sich gleich nach der Stadt durch die rechts sich öffnende Schlucht. Er rechnete mit Recht mehr auf die Kundschaft der Eingeborenen in Tabatinga als auf die der Garnison. Ohne Zweifel hätten die Frauen der Soldaten sich auch nur zu gern seiner geschickten Hand anvertraut, aber die Soldaten hatten keine Lust, ein paar Reïs für die Liebhabereien ihrer koketten Ehehälften auszugeben.
Bei den Eingeborenen war es ganz anders. Männer und Frauen würden ihn – der vergnügte Barbier wußte es wohl – mit Freuden begrüßen.
So begab sich denn Fragoso auf dem von schönen Feigenbäumen beschatteten Wege nach Tabatinga.
Kaum war er auf dem Platze in der Mitte der Stadt angelangt, so wurde er als der berühmte Barbier erkannt und umringt.
Alle Eingeborenen waren da, Männer, Frauen, Greise, Kinder, in ihrem ein wenig primitiven Kostüm, mit offnen Augen sahen sie zu, mit gespannten Ohren lauschten sie. Halb in portugiesischer, halb in Ticuna-Sprache pries der liebenswürdige Haarvirtuos im Tone seines lustigsten Humors ihnen seine Künste an.
Was er zu ihnen sagte, war das, was alle Marktschreier sagen, die ihre Dienste der Menge zur Verfügung stellen, ob sie nun spanische Figaros sind oder französische Friseure. Es war im Grunde dieselbe Dicktuerei, dieselbe Kenntnis der menschlichen Schwächen, dasselbe Spiel mit abgedroschnen Witzen, dieselbe belustigende Gewandtheit, und auf seiten der Eingeborenen dieselbe glotzende Erstauntheit, dieselbe Neugierde, dieselbe Leichtgläubigkeit, wie bei den Maulaffen der zivilisierten Welt.
Binnen kurzem war denn auch das Publikum Feuer und Flamme und drängte sich um Fragoso, der in einer Loggia auf dem Platze – einer als Schenke dienenden Butike – seinen fliegenden Laden aufgemacht hatte.
Und nun nahmen Männer und Frauen auf dem Barbierschemel Platz. Fragosos Scheren feierten freilich, da das ebenso reiche wie feine Haar nicht zu verkürzen war; aber desto mehr kamen Kamm und Brenneisen zur Anwendung!
Ohne Unterlaß sprach der Haarkünstler der Menge zu.
»Seht, seht,« sagt er, »wie das festsitzen wird, verehrte Kunden, wenn Ihr nicht direkt drauf schlaft. Das hält für ein Jahr, und diese Mode ist die neueste in Belem und Rio de Janeiro. Die Ehrendamen der Kaiserin werden nicht von kundigerer Hand bedient, und Ihr seht, ich geize nicht mit der Pomade.«
Nein! damit geizte er nicht! Es war freilich nur ein bißchen Fett, dem er ein wenig Blumensaft beimischte, dafür kleisterte das Zeug aber wie Zement.
So hätte man auch diese Monumente, die von der Hand Fragosos errichtet wurden und alle Verschiedenheiten der Architektur aufwiesen, in der Tat Haargebäude nennen können. Ringellocken, Röhrchen und Flechten und Zöpfchen, Kräusel und Schnörkel, Spiralen und Wickel – alles wurde angebracht. Dabei nichts Falsches – wie etwa ganze Touren oder Genicklöckchen oder bloß eingefügte Partien. Dieses Eingeborenen-Haar war kein durch Durchforsten oder Abschlag gelichteter Wald, sondern ein Urwald in all seiner ursprünglichen Jungfräulichkeit. Fragoso verschmähte es jedoch nicht, ein paar natürliche Blumen hinzuzutun, ein paar lange Fischgräten und schönen Schmuck aus Horn oder Kupfer, den ihm die Modedämchen des Ortes herbeibrachten.
Und nun regnete es Vatems und Händevoll Reïs – einzig gegen diese Münze geben die Eingeborenen ihre Waren ab – in Fragosos Tasche, der mit sichtlicher Befriedigung das Geld kassierte. Aber sicher mußte es Abend werden, ehe er die Wünsche einer stets sich erneuernden Kundschaft hätte befriedigen können. Denn nicht nur die Einwohner von Tabatinga drängten sich an der Pforte der Loggia, die Nachricht von Fragosos Ankunft hatte sich rasch verbreitet. Die Eingeborenen strömten herbei: Ticunas vom linken Ufer, Mayorunas vom rechten, ebenso die, die am Ufer des Cajuru wohnten, wie die aus den Dörfern am Yavary.
Eine große Schar Wartender stand aus dem Platz in der Mitte. Die so glücklich waren, schon frisiert worden zu sein, spazierten stolz von einem Hause zum andern und brüsteten sich. Freilich wagten sie dabei nicht, sich allzu sehr zu bewegen.
Als es daher Mittag geworden war, hatte der sehr geschäftige Coiffeur nicht Zeit gefunden, zum Frühstück an Bord zurückzukehren. Er mußte sich mit etwas Assai, Maniokmehl und Schildkröteneiern begnügen.
Kurz, die Ankunft des berühmten Fragoso war ein Ereignis für die Stadt Tabatinga!