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Wo das Venndorf zu Ende geht, fängt das Venngras an zu wehen. Es weht immer; Lüfte fahren über die moorige Heide, frisch und scharf wie Seebrisen. Und mit klagendem, möwengleichem Schrei segelt ein Raubvogel.
Hinter Hainbuchen, die seltsam ihre Äste ineinander schlingen und knoten zu undurchdringlichen, bis zum Giebel reichenden, beschorenen Hecken, ducken sich die Dorfhäuser.
Aber ganz oben, zuhöchst auf dem Venn, preisgegeben allem Schnee des Winters, allen Stürmen von Frühling und Herbst, allem Brand des Sommers, liegt ein Haus ohne allen Schutz. Ohne den Schmuck der Hecke, – nackt, aus dunklen Balken gerichtet – ein Blockhaus. Nur sein rotes Dach gibt lebendige Farbe; wenn die Sonne darauf scheint, schreit das in die Weite.
Aber es schreit wie ein Blutfleck, und die es von weitem sehen, haben keine Freude daran. Die Fenster sind vergittert; und die Gesichter, die sich hinter den Eisenstäben zeigen – kommt wirklich einmal eine Menschenseele vorüber – sind auch nicht vertrauenerweckend. Frech schielen sie; oder sie starren düster in die tiefblaue Ferne, die, ewig weit, sich vennabwärts auftut. –
Hier hauste Simon Breuer, der Aufseher der Strafkolonie, mit vierzig Strafgefangenen. Immer trug er den geladenen Karabiner über der Schulter; aber er verließ sich nicht auf den. Mochten die Kerle innen im winterdunklen Haus Körbe flechten, Tag für Tag, endlose Wochen, oder bei besserer Jahreszeit draußen schuften: immer war sein Auge über ihnen. Sein wachsames, scharfäugendes Falkenauge von hellem Grün-grau mit dem seltsam dunklen Ring um die Iris, das taugte am besten. Simon Breuer wußte es wohl: nur Courage, sonst hätten die Vierzig ihn schon längst totgeschlagen!
Er war ganz allein mit ihnen. Nur alle vierzehn Tage, Sonntags, oder auch zuweilen an einem Abend in der Woche, kam ein Ersatzmann herauf, der Hilfsaufseher, der im Venndorf wohnte. Dann schloß Simon Breuer seine Horde in den Schlafsaal ein, legte die eiserne Querstange vor die Tür und stellte den Ersatzmann mit geladener Flinte draußen auf Posten. Er selbst lief hinab zum Dorf; und die Vierzig sahen ihm nach, wie er eilte, und stießen sich die Köpfe an den Eisenstäben und stierten und stierten: der rannte zu seiner Frau!
Die Frau hatte sich Simon Breuer nachkommen lassen und unten bei der Möhn Tante einlogiert, bald nachdem er oben mit seinen Vierzig angerückt war. Das Haus hatten sie bauen müssen auf sein Kommando, während schon die Herbststürme sausten; er hatte sie getrieben von früh bis spät, bald war er hier, bald dort, und müde schien er trotzdem nie zu sein, denn manchen Abend lief er noch hinunter durch Schlamm und Schnee. –
Jetzt war's Frühling, und sie begannen das Venn urbar zu machen. Stählern hallte die Stimme des Aufsehers, weithin getragen vom Wind; ohne einen Zug des energischen braunen Gesichts zu regen, kommandierte er, genau wie zu seiner Unteroffizierszeit zwischen den Kasematten von Köln am Rhein. Eiserne Zucht. Was wußten denn die Gefängnisverwaltung zu Aachen, die Herren am grünen Tisch, wie man's macht, der Bestie so zu imponieren, daß sie nicht wagt, nach dem Fuß zu schnappen, der ihren Nacken tritt?!
Die Sträflinge waren weit übers Venn verteilt; hier ein Trüppchen, dort ein Trüppchen. Sie jäteten und hackten und schaufelten und gruben, zogen Gräben und rodeten Ginstergestrüpp aus. Ein schwelender, stinkender Rauch kroch langsam über den Boden hin – das war ersticktes Feuer, was da um sich fraß und Heidekraut und Wurzelwerk verzehrte.
Scheinbar frei, allen offen, lag das ganze weite, gewaltige Venn mit dem unbegrenzten Horizont, den unruhige Wolken bewegten. Aber niemand dachte an Flucht.
Vergangenen Herbst, gleich ein paar Tage nach der Ankunft, hatte es einer riskiert; Nr. 6 war ausgebrochen, mitten aus der Kolonne heraus, am helllichten Nachmittag, und war ins Venn hineingerannt mit der Flüchtigkeit eines Hirsches. Der Aufseher hatte den Karabiner von der Schulter gerissen, angelegt, und ihn dann doch wieder sinken lassen – wozu schießen?! Nr. 6 würde nie die Baraque Michel erreichen, in deren Turm ein zitterndes Licht selbst bei Nacht und Nebel die belgische Grenze weist. Nur drei, vier Stunden waren's bis dahin. Aber man muß den Weg kennen, den selten betretenen Pfad, sonst tun die Sümpfe des Venn ihr Maul auf und verschlucken den Unkundigen.
Simon Breuer kannte das Venn, war er doch von hier zu Haus, im Venndorf geboren, einst, barfüßig, beerensuchend durch Moor und Heide gelaufen. Er wußte, wo man sicher tritt, und wie man springt von Moospolster zu Moospolster und die Lachen meidet, die selbst im Sommer der kalte Odem der Vennnacht mit leichten Eiskristallen überkrustet. Ihn schreckte auch kein Dunkel; ein schwarzes Föhrengestrüpp, ein Wachholderstäudchen, ein Ginsterbusch waren ihm Wegweiser genug.
Noch krähten die Hähne nicht unten im Dorf dem grauenden Morgen entgegen, da hatte er Nr. 6 schon wieder eingebracht; immer in der Runde war der Flüchtling gelaufen, verwirrt vom immer gleichen Einerlei, von der starrenden Öde der grenzenlosen Einsamkeit. Alle Schrecken der Vennnacht hatten ihn überfallen; schwach um Hilfe rufend, steckte er in einem Wasserloch, und die gurgelnde schwarze Tunke hatte ihm schon den Mund stopfen wollen.
Jetzt war niemand mehr da, der auf Weglaufen rechnete. Sie hatten die Hoffnung aufgegeben.
Sie fürchteten das Venn.
Abergläubisch horchten sie den klagenden Tönen der Nacht, dem Unken und Uhuhn, dem Raunen und Rauschen, dem Grauen und Brauen: das sind die Geister des Venn, die eine Schuld ruhelos umtreibt! Aus den Mooren steigen sie, in weiße Sünderhemden gewandet, und wen sie packen mit gespenstischen Händen, dem drehen sie 's Genick um!
Aber den Simon Breuer fürchteten sie noch mehr als das Venn.
Zwischen den arbeitenden Gruppen ging er unaufhörlich hin und her, umkreiste sie wie ein Schäferhund die Herde. Sie sollten sich eilen. Heute noch mußte der Graben fertig sein, da gab's kein Mattwerden. Immer voran – Spatenstich auf Spatenstich – und dann die nasse Moorerde auf Karren gepackt und fort damit!
Und morgen wurden die Röhren zur Entwässerung gelegt – dort lagerte ihrer schon ein Haufe – und bald würde sich hier ein Saatfeld breiten und die zartgrünen Halme im Vennwind wiegen!
Nur voran, voran! Simon Breuer konnte es gar nicht abwarten; der Bauernsohn war lebendig geworden im Unteroffizier. Und würde das Stroh auch niedrig stehen, der Körnerertrag gering werden, wer hatte es je bislang erlebt: ein Kornfeld auf dem hohen Venn?!
Schon stand der Sonnenball tief unten über der Richelsley und ließ das Riesenkreuz schimmern, das sich dort auf haushohem Felsblock aus tiefdunkeln Föhren erhebt. Und noch immer arbeiteten sie; sie waren hundemüde, ihre Hände geschwollen vom Spatenstiel, aber sie wagten kein Verschnaufen, denn Simon Breuer stand dabei.
Jetzt sank der rote Ball in die Föhren, und wie mit Zauberschnelle war jede Spur von Wärme verschwunden. Schaurig wehte es übers Venn, feuchtkalt rieselte es über die von der Arbeit erhitzten Körper.
Die geringe Sträflingskleidung: das grobleinene graue Hemd – das über der blautätowierten Brust offen steht und auch die tätowierten Arme freiläßt – die dünne Hose, die nackten Füße waren naß vom schnell fallenden Tau. Fröstelnd wollte es die Vierzig schauern, aber sie unterdrückten es, denn Simon Breuer stand dabei.
Nr. 30, ein hagerer, großer Mensch mit tief in die Stirn gewachsenen Haaren und eingesunkenen Augen fror noch mehr als die anderen; er war die freie Luft nicht gewöhnt und nicht der Hände Arbeit. Er ließ den Spaten fallen und sah verstört um sich; aber ein Blick des Falkenauges traf ihn und, sich duckend, nahm er den Spaten wieder auf und stieß ihn von neuem ins zähe Erdreich.
Endlich trotteten sie heim, immer paarweise, zwei und zwei, die Spaten geschultert. Der Aufseher trieb sie vor sich her zur Suppe.
Heut war es an Nr. 30, die Erbsensuppe in die Blechnäpfe auszuteilen, er selbst kam zuletzt an die Reihe. Ausgehungert, das starke Gebiß vor Gier fletschend, stürzte er sich kaum über seine Portion, da hieß es auch schon: ›Näpfe zusammenstellen! Weggetreten! Zu Bett!‹
Ein tückisches Funkeln glomm auf in des Hungrigen tiefliegenden Augen, aber er wagte keinen Laut, ließ gehorsam den Löffel fahren und trottete gesenkten Kopfes den anderen nach in den Schlafsaal.
Dort brannte kein Licht; im schwachen Schimmer, den Mond und Sterne durch die Ritzen des Gebälkes sandten, suchten sie ihre Betten, die, wie in Kasernen und Schiffskojen, immer zwei und zwei übereinander standen.
Da lagen sie nun, endlich allein, aber sie wagten doch nicht zu sprechen. Nur ein Flüstern ward hier und da gewagt.
Simon Breuer war auch hier über ihnen. Die Tür seiner Schlafkammer, gegenüber am Flur, hatte er offen stehen lassen, sie hörten seinen starken, gleichmäßigen Atem, und das Flüstern verstummte scheu. –
*
Das Frühjahr schritt voran. Wenn die Vierzig jetzt auf dem Venn arbeiteten, hörten sie ab und zu eine Lerche trillern, sahen sie emporwirbeln wie ein Bällchen und sich verlieren in freien Lüften.
Frei sein, frei – sie dachten gar nicht mehr daran. Sie begehrten nicht mehr auf in innerlicher Wut, in stumm-trotziger Widerspenstigkeit wie in der ersten Zeit; sie waren stumpf geworden im öden Einerlei der Tage.
Kein Blick mehr schweifte vennabwärts in die blaue Ferne, wo die Städte lagen, in deren Straßen sie sich umhergetrieben, in deren Schlupfwinkeln sie oft der Polizei ein Schnippchen geschlagen hatten.
Sie sahen nicht, daß das Venn jetzt blühte. Und das war jetzt schön. Aus dem braunen Moorboden, der, von weitem gesehen, als öder Strich den Horizont säumt, war das Heidekraut aufgeblüht, jene wundersame Vennheide, deren Glocken groß und blaßrosa sind und den schwärmenden Bienen den duftigsten Honig bieten. Kleine blaue Falter gaukelten darüber hin und genossen im Liebesspiel ihren, ach, so kurzen Sommertraum. Die Rauschbeere zeigte schon die blaue, Schlehen ähnelnde duftbehauchte Frucht, und die Preißelbeere, das köstlichste Obst des Venn, streckte überall ihre myrtengrünen, glänzenden Büschelchen. Leichte weiße Flöckchen auf schwanken Stengeln übernickten die Sumpflachen; und am Himmel, der großen tiefblauen Glocke, stand die Sonne, heiß-glühend am Mittag, aber am Abend rot-verträumt, und verklärte das weite Meer des Venn.
Allnächtlich erhuben die Frösche einen leidenschaftlichen Chor, und hinterm Hahnheisterbusch schlief der Mond und warf ein verträumtes Leuchten auf das einsame Haus.
Die Vierzig schliefen nicht. Sie waren todmüde vom schweren Tagewerk, von dem prallenden Sonnenfeuer des Mittags, von dem Odem des Venn – trotz Sommerzeit ist der hart und bleibt hart – aber sie fanden doch keine Ruhe. Rastlos warfen sie sich, halb entblößt, des feinen Zugwinds nicht achtend, der von Wand zu Wand strich und doch den stickigen Dunst nicht klären konnte, der im Schlafsaal braute. Die Nacht war schwül.
Gestern war des Aufsehers junge Frau zum ersten Mal hier oben gewesen, ihren Mann zu besuchen. Die Arme hatte sie um seinen Hals geschlungen, und er hatte sie geküßt; vor dem Haus war es geschehen. Die Vierzig hatten es mitangesehen. Im Schlafsaal waren sie gerade gewesen; an den Gitterfenstern hatten sie sich gedrängt und gepufft und auf die Zehen gereckt: ein Weibsbild! Die Köpfe hatten sie gegen die Eisenstäbe gestoßen: ein Weibsbild! Zum ersten Mal wieder eins! Ein Weibsbild!
Die Augen waren ihnen fast aus den Höhlen gedrungen.
– – – – – Und heute, jetzt war er schon wieder herunter zu ihr – – –!
Eingeschlossen hatte er sie. Sie hatten ihn mit dem Hilfsaufseher kurz ein paar Worte wechseln hören, und dann seinem Tritt gelauscht, dem raschen, trabenden. Der hatte Eile! Der lief nun durch den Mondschein, immer Trab, bis näher und näher das Licht im Haus hinter der Hecke winkte!
Unruhig sielten sich die Vierzig umher. Heiß war es ihnen, zum Ersticken – sie verfolgten den Mann weiter auf seinem Weg.
Nr. 30 lag in seinem Bett, platt auf dem Rücken, und stierte ins Mondlicht, das durch eine Luke im Dach mit schwertbreitem, blankem Strahl hereindrang. Seine Augen schwammen; träg, wie gelöst, hingen ihm die Glieder. Er träumte.
Plötzlich überlief seinen Körper ein Schauern, seine abstehenden Ohren zuckten, die niedrige Stirn zog sich in Falten, seine Nüstern bebten, die Augen preßte er zusammen, sein Mund verzerrte sich – das war kein Lächeln, das war eine Fratze. Die Brust keuchte; er bäumte sich, riß das harte Polster an sich und preßte es mit wilder Kraft. Und dann krallte er die Finger ins kurzgeschorene Haar und rupfte sich die Borsten aus. Der Schweiß rann ihm, er war wie gebadet. Die nackten Arme streckte er vor sich und biß hinein, schlug die starken Zähne ins eigene Fleisch, daß Blut kam. Das Weiß in seinen Augen unterlief rot. Wie ein Krampf hatte es ihn gepackt, rüttelte ihn, zerschüttelte ihn, erpreßte ihm Tränen; zäh sickerten sie aus den Augenwinkeln. Er ballte die Fäuste und steckte sie ins Maul, um nicht laut aufzuheulen vor Ausgehungertheit, vor ungestillter Gier. Er röchelte, wie jemand, dem es ans Leben geht, und stieß dann, ermattet, heisre Seufzer aus, denen ein Chor von Seufzern antwortete.
Wie ein Winseln stieg's auf unter dem weltfernen Dach, das sich im keuschen Mondlicht badete. –
*
Simon Breuers junge Frau kam nun öfters herauf, nun, da die gute Jahreszeit herangelebt war. Es wanderte sich jetzt gemächlich übers Venn. Das Blumenpflücken verkürzte den Weg – und dann die Freude, ihn bald zu sehen! Sie waren knapp ein Jahr verheiratet und noch in der ersten Verliebtheit.
Die Möhn unten schüttelte oft den Kopf, wenn sie sich so zärtlich umhalsten. Die hatte nicht mehr Sinn für so was, die war alt und dürr, und ihr Mann war längst tot. Wenn sie das junge Weib zuweilen ein Endchen Weg hinauf begleitete, und die lebenslustige Kölnerin allerhand verliebte ›Stückskes‹ trällerte, ging sie zehn Schritt hinterher, schlug ein Kreuz und betete ihren Rosenkranz.
Noch nie war sie bis oben zum Haus mitgegangen; sie hatte, wie alle im Dorf, eine gewisse Scheu vor der Strafkolonie und vor den Kerlen in der Sträflingskleidung. Die Nichte lachte sie darum aus: die taten einem doch nix, die waren ja froh, wenn man ihnen nix tat!
Einzig die Preißelbeeren verlockten jetzt die Möhn dann und wann weiter mitzugehen; sie reiften und glänzten herrlich wie Korallen. Das alte Weiblein hatte ein Auge auf sie geworfen, gaben sie doch, mit ein wenig Zucker eingekocht, eine leckere Zukost an Fasttagen.
Der Jungen wurde in letzter Zeit das Bücken mühselig, so machte sich denn die Alte heute allein auf, von den Beeren zu sammeln, denen der leichte Reif der vergangenen Nacht und der Sonnenbrand des Mittags besondere Süße verliehen haben würde. Außer dem Rosenkranz nahm sie noch einen Korb mit.
Hinter dem letzten Gehöft fingen schon die Korallen an im Venngras zu blinkern, jedoch erst vereinzelt. Aber nun, weiter hinaus, da standen sie in Masse. Hastig steckte die Möhn den Rosenkranz in die Tasche – hier war noch niemand vor ihr gegangen, ei, hier gab's eine Ernte! Emsig sammelte sie. Hier war ein Platz wie ein rotes Tuch – und dort ein noch röterer!
Als sie endlich einmal aufblickte, lag der Hahnheisterbusch längst zwischen ihr und dem Dorf, und ganz nah schimmerte das Dach der Strafkolonie. Die losen Hemden der Sträflinge blähten sich im Wind; wie hellere Flecke waren sie übers Venn verstreut. Da und dort ließ einer für Augenblicke den Spaten fahren, zog die heruntergerutschte Hose mit beiden Händen herauf und stierte nach der Beerensucherin.
Aber dem Weiblein war's heute gar nicht bange – die Nichte hatte schon recht, die waren froh, wenn man ihnen nix tat! Und was sollten sie ihr wohl auch antun, ihr, einer gebrechlichen Alten?! Schätze hatte sie nicht. Zudem war der Himmel noch freundlich, und sie hörte die kommandierende Stimme ihres Schwestersohns schallen.
So fuhr sie ruhig fort, weiter zu sammeln, bückte und bückte den alten Rücken, bückte ihn so tief, daß die goldene Abendsonne ihren roten Friesunterrock beglänzte und die blaubestrumpften dürren Wädchen.
Ganz still war's ringsum. Nichts als das Summen der Bienen zu vernehmen. Da – plötzlich ein Schnaufen wie das eines wilden Tiers ihr im Rücken! Ein Fauchen. Ein glühender Atem hauchte sie ins Genick – es sprang ihr was an – es packte sie – es riß sie nieder – – – – –
*
Simon Breuer ließ einen neuen Brunnen ausschachten oben auf dem Scheitel des Venn – das Wasser im alten roch faulig, sie waren alle davon krank geworden – das war knifflige Arbeit.
Er stand vornübergebeugt und guckte, ganz bei der Sache, zu den Arbeitenden hinunter in den Schacht.
Die übrigen karrten, hackten, rodeten nicht weit davon.
Die sinkende Sonne verklärte das Venn; es war eine friedliche Stunde.
Doch jetzt ein Schrei! So ward noch keiner hier gehört. Ein schriller, zeternder Weiberschrei! Und jetzt wieder einer – schon halb erstickt, hervorgestoßen aus gewürgter Kehle!
»Zackerment!« Blitzschnell fuhr der Aufseher herum und riß den Karabiner von der Schulter.
– – – Da – in der Senkung, keine hundert Schritt weit – etwas Rotes! Ein Weiberrock!
Und zappelnde, blaubestrumpfte Beine!
Ein Kerl drüber her, im Sträflingshemd, mit kurzgeschorenem Kopf!
»Halunke, zurück! Hierher!«
Der im Sträflingshemd mußte den Aufseher hören, aber er drehte nicht einmal den Kopf. Kein Appell. Kein Hören, kein Sehen. Blind, taub, toll.
»Bestie, verdammte!« Der Aufseher hob den Karabiner und schoß.
Dann stürmte er zur Stelle.
Aus dem zertretenen Heidekraut erhob sich zitternd und zeternd die Frauensperson. Vor Entsetzen schlugen ihr die paar wenigen Zähne im Munde, das welke Kinn wackelte ihr.
Simon Breuer fuhr zurück: »Donner und Doria – die Möhn –?!«
Da lag ihr Korb, und die roten Beeren hatten sich daraus ergossen wie ein Strom von Blut.
Die Alte war ganz von Sinnen. Jammernd kniete sie nieder und las ihre Beeren auf, immerfort blöd lallend: »Ene Wolf! Jessesmaria, ech han gedaach: ene Wolf, ene Wolf!«
Fast scheu betrachtete Simon Breuer den Toten. Dann kraute er sich nachdenklich hinter den Ohren; er verstand die ganze Sache nicht recht.
– – – – – Um das alte Weib?! Und sozusagen ihm vor der Nase?! War's möglich?! Und noch dazu Nr. 30, das feigste Luder von allen!