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Ernst ist das Venn, und die es nicht genau kennen, nennen es trostlos.
Aber wenn der Wind es überheult, Regen oder Schnee die lauernden Tiefen der Sümpfe noch tiefer gemacht haben, dann ist es eine Lust für den Jäger. Dann wandert kein anderer da oben; scheu verkriecht sich der einsamkeitgewohnte Dörfler in sein hinter hoher Hainbuchenhecke verstecktes Haus, kein Torfkarren schwankt ächzend in tief ausgefahrenen, moorigen Geleisen, keine Beerensammler stören mit Zuruf und Menschenlaut die feierliche Stille. Nur der Sturm orgelt. Nur die zierlichen Rehe und die stolzen Vierzehnender äsen friedlich unter den vereinzelten Buchen, die hier nicht schlank in die Höhe ragen wie anderswo, sondern niedrig und rund, in die Breite gegangen, ein schützendes Dach bilden wie ein sicheres Zelt, unter dem's immer noch etwas Grünes zu finden gibt, auch zur rauhesten Zeit. Und in den dicken, dunkelen Tannenschonungen grunzen die Wildschweine dreist, und langsam flattern, als ruderten sie in der Luft, die schottischen Grouse von Lache zu Lache.
Ein herrliches Revier für den, der Wasserstiefel hat bis zum Bauch, ein dickes Lodenwams auf Brust und Rücken, eine sicher treffende Flinte im Arm trägt und die Furten kennt. Der kann dann hier oben schreiten wie der Mensch am ersten Schöpfungstag durch den Garten Eden – ganz frei, ganz Herr.
Aber wenn heiße Sonne die Tümpel ausleckt, daß die vertrocknete Moorerde berstet und das smaragdene Sumpfgrün fahl wird, dann haben die recht, die da sprechen: ›Es ist uns zu traurig hier.‹ Wenn der Himmel noch so heiter blaut und sein Licht noch so strahlend blitzen läßt und die Sonne noch so purpurn sinkt in glanzvoller Herrlichkeit, wenn der Preißelbeere Korallen noch so blank aus dunklem Moose lachen und die sammelnden Kinder noch so hell darüber jauchzen – das Venn lacht nicht mit. Es kennt kein Lachen.
Und die Männer, die dann auf ihm arbeiten, roden und brennen, schaufeln und karren, graben und jäten, Gräben ziehen und Zäune richten, ackern und eggen und schneiden, was sie gesäet haben, und ernten, was ihnen doch nicht gehört, die des Landmannes friedliches Geschäft betreiben ohne Frieden in der Brust – Unfreie, Unfreiwillige – die lachen auch nicht.
Nur einer von ihnen, die da oben hausen in dem Holzbau mit dem roten Ziegeldach, den der Staat gesetzt hat für seine Gefangenen, daß sie das Venn urbar machen und mit schuldbeladenen Händen die Wüste der Hochfläche vorbereiten zum gesegneten Ackerfeld des schuldlosen Ansiedlers, nur einer von ihnen, die an Sonntagen, an denen der Aufseher nicht zur Arbeit treibt, hinter den Eisenstäben ihrer Fensterchen gierig hinausstieren in die blaue Ferne der Freiheit, – nur dieser eine war zufrieden.
Es war Nr. 40 und hieß früher: Simeon Schalkenbach.
Er dachte sich so: schliefen sie vierzig Kerle denn nicht ganz gut in dem scheunenartigen Raum mit den nackten Dachsparren und den winzigen Lichtluken, waren sie drinnen nicht gut geschützt, sowohl gegen Regen wie gegen Wind und den Nebel, der nächtens das Venn weiß behaucht?! Er hatte weniger gute Nachtlager gekannt. Und schmeckte die Suppe – die immer wechselnde Erbsen-, Bohnen- oder Linsensuppe – mit dem Stück Brot dazu und dem Klecks Schmalz denn nicht sehr gut?! Er hatte härteres Brot gekannt und noch dazu ohne Schmalz.
Nr. 40 konnte es gar nicht begreifen, daß die anderen alle etwas zu tadeln fanden. Laut wagten sie das freilich nicht zu tun, denn da war gleich der Aufseher bei der Hand und gebot Ruhe, und wer dann noch wagte, das Maul aufzutun, der kam ins Kaschot, in den stockdunklen Verschlag mit der starken Bohlentür und den eisernen Riegeln davor; und das Essen mußte er missen, das war die härteste Strafe.
Daß viele Sehnsucht nach Hause hatten, Nr. 7 zum Beispiel – der rote Fuchs, der wegen Sittlichkeitsverbrechen zwei Jahre gekriegt – daß der so großes Verlangen trug nach Weib und Kind, das begriff Nr. 40 erst recht nicht. Wie sollte er auch? Ihm hatte schon lange keine nachgestellt, und Weib und Kind hatte er nie besessen.
Mit einem Grinsen beschmunzelte er sein Glück. Ja, es war ein Glück, daß ihn der Gendarm im richtigen Moment abgefaßt hatte, gerade als er beim Rentner Hückges, der so fett war wie lauter Speck, die Speisekammer geleert hatte! Und wie gut, daß er, da er sich trotz seiner Dürre nicht durchs Fensterchen hatte zwängen können, die Tür erbrochen hatte – Diebstahl mit Einbruch – sonst hätte es ja kein Jahr gegeben!
Ach, nur ein Jahr! Das war ja viel zu wenig! Wenn er doch dieser Katze, dieser Magd vom Rentner, die ihm barbeinig und im Hemde, wie sie aus dem Bett gesprungen war, entgegenfaucht und dann so durchdringend gemauzt hatte: ›Zu Hilf'! Räuber, Mörder! Zu Hilf'!‹ – wenn er doch diesem barbeinigen Frauenzimmer eins mit der Weinflasche versetzt hätte, oder eins mit der Likörkruke, die er in der Linken trug, oder auch nur einen Wuchtigen mit dem Schinken, den er unterm rechten Arm hatte, oder einen noch Wuchtigeren mit dem Buttertopf, den er links untergeklemmt hielt!
Ach, dann wäre die nicht mehr aufgestanden, und dann hätte er viele, viele Jahre gekriegt! Denn – o weh – ein Jahr, nur ein einziges Jahr, das ist gar so bald um!
Mit einer förmlichen Angst sah Nr. 40 die langen Tage sich kürzen und immer früher und früher den roten Sonnenball in den Wellen des Heidekrautes ertrinken. Wenn er nun herauskam, wo sollte er hin?! Arbeit fand er gewiß nicht – jetzt erst recht nicht – hatte er doch schon lange keine gefunden, selbst wenn er sie gesucht hatte. Seit er damals die vielen Wochen bei den barmherzigen Brüdern im Spital gelegen, hatte er eben gar kein Glück mehr mit Arbeit; nirgendwo kam er an, so oft er's auch versuchte. Selbst in der Fabrik beim Lumpensortieren hatten sie ihn gleich wieder entlassen. Warum nur? Hatte er seine Arbeit denn nicht gemacht ebenso recht und schlecht wie die fluddrigen Mädchens und die Rotznasen von Jungens, die sich immer anstießen und nach ihm hinguckten, als hätten sie noch nie ein Gesicht gesehen?!
Jetzt – hier – hatte er Arbeit, und er konnte sie tun, ganz ungestört, und eine Menge fertig bringen. Er arbeitete gern; es lag ihm was dran.
Wenn die andern Sträflinge, die starken Kerle in den ungebleichten Leinenkitteln – die haarige Brust entblößt, die wie mit blauem Netzwerk besponnenen, über und über tätowierten Arme auch nackt – in der Hitze der Schattenlosigkeit heimlich fluchten und ächzten und, ließ sie der Aufseher mit der Flinte – wie der bissige Schäferhund seine Herde umkreiste er sie – nur einen Moment aus den Augen, gleich die Arbeit einstellten, blieb er emsig dabei.
Sein dürrer Arm schwang die Sense mit Macht; in Schwaden fielen das zähe Gras, der härtliche Halm, um ihn lagen die Haufen. Und er schritt drüber hin mit langem Schritt, mähte weiter und weiter mit Eifer, mit Gier. Seine magere Gestalt reckte sich hoch, wurde noch länger, bog sich nach rechts, bog sich nach links, schwankte vorwärts und schwankte rückwärts, folgte allen Schwingungen der blitzenden Hippe, mähte in unermüdlichem Gleichmaß, als gelte es, alles zu mähen, was an Gras, an Halmen zu finden war auf dem Venn.
Dann grauste es die anderen. Und sie sahen scheu nach dem langen Gestell, das sich unter den Binsenhut noch zum Schutz gegen Sonne und Mücken einen linnenen Lappen gelegt hatte, der ihm lang in den Nacken flappte, sich bei jedem Schwung der Sense um die fleischlosen Wangen lüftete und sehen ließ, daß da nichts Schönes war.
Es waren ein paar junge kräftige Burschen, die kommandiert waren mit Nr. 40 die Wiese zu mähen. Aber sie zogen sich, sobald sie sich unbemerkt glaubten, langsam und vorsichtig von ihm zurück und verkrochen sich hinter die Schutzhecke, die die Wiese umzäunte. Er merkte es nicht; und wenn er's gemerkt hätte: die Arbeit schaffte er schon allein! Er spuckte in die Hände und faßte den Stiel der Sense fester. Er war fast ärgerlich, daß der Aufseher die Genossen ihm wieder zutrieb mit rauhem Kommando.
Groß reckte sich seine schwanke Gestalt in die flimmrige Helle des Äthers; um die stöckernen Lenden hing die Hose schlotternd weit, die Brust, die der Kittel freiließ, zeigte nur Rippen, aber gleichmäßig atmete sie wie im Takt – auf, ab – ab, auf. Es war ihm eine Lust, zu mähen, zu schneiden. Ein freundliches Grinsen zeigte sich im hohlwangigen Gesicht. –
Wenn die Vierzig zur Mahlzeit heimgetrabt kamen in den hölzernen Bau und die Blechnäpfe klapperten, waren sie alle hungrig wie Wölfe; mit Hast fuhren ihre Löffel in die Suppe, sie konnten es kaum erwarten, zu schlürfen, zu schlucken. Aber denen, die neben Nr. 40 zu sitzen kamen oder gar gegenüber, eilte es nicht. Sie rückten ab auf der Bank, rutschten verlegen und wandten die Augen fort; oder sie erwischten eine Gelegenheit, machten sich in einen Winkel und verschlangen da lieber ihre Mahlzeit stehenden Fußes.
Keiner setzte sich freiwillig in seine Nähe. Aber Nr. 40 merkte das nicht. Mit Behagen hing er über seinem Blechnapf – kein Tröpfchen blieb darin und auch kein Krümchen vom Brot übrig. Und gab es an Sonn- und Festtagen ein Endchen geräucherter Blutwurst oder Speck, dann freute er sich, daß man seine gelben Zähne fletschen sah, alle, die er noch hatte.
Und daß sie sogar im Schlafsaal ihn mieden, in dem ewig verdunkelten, durch die vergitterten Lichtluken nur wenig erhellten Raum, das merkte er auch nicht. Er schlief immer gut; er war müde von der Arbeit und wußte sich geborgen. So geborgen hatte er sich nicht mehr gefühlt, seitdem er nicht mehr an seiner Mutter, der struppigen Besenbinderin, Rock rheinauf, rheinab lief.
Ach, wenn das gute Leben nur nicht so bald schon ein Ende hätte!
Die letzte Zeit, bevor er herauskam, fühlte Nr. 40 etwas wie Schmerzen. War er krank? Er konnte lange nicht mehr so tüchtig essen; nur halb brachte er den Blechnapf leer. Und nachts hörten ihn die, die mit dem Rücken gegen ihn lagen, um ihn selbst im Traume nicht anzusehen, jämmerlich seufzen und sich rastlos werfen von der Linken zur Rechten.
Hohlwangiger noch als sonst, aber emsig wie sonst arbeitete das lange Gestell auf dem Moor. Um ihn war keine flimmernde Sommerhelle mehr, in der er es wohlig warm hatte rieseln fühlen durch seine starren Glieder; aber auch die Nebelbrisen des Herbstes, in denen die anderen husteten, taten ihm wohl. Freie Luft – ah, so viel gute freie Luft – ach, und nun sollte er bald freikommen!
Daß doch die Herren vom Gericht ein Einsehen hätten und ihm erlaubten, noch ein Jährchen hier oben zu bleiben! Neulich abends, als die anderen alle sich um den Herd drängten, in dem jetzt schon lange tüchtig gefeuert ward, war es ihm geglückt, den obersten Aufseher für einen Moment unter vier Augen zu sprechen. Ach, hatte er da gesagt, wenn man ihn doch noch ein bißchen hier behalten möchte! Die Angst hatte seine ungefüge Zunge, die schwer wie ein toter Klöppel in der Höhlung lag, in Bewegung gesetzt; er hatte gestammelt und gestottert, fast gelallt wie ein Kind, wenn auch mit rauher Stimme: Ach, raus mochte er nicht, nein, gar nicht, was war es doch so gut hier! Wenn doch der Herr Oberaufseher mal ein Wörtchen reden möchte mit der Verwaltung!
Der Oberaufseher hatte gelacht – ›verrückter Kerl‹ – aber gelacht hatte er doch! Wer weiß, der setzte es durch, und sie ließen ihn bleiben. Der Winter sollte garstig sein hier oben; Nebel und Regen und soviel Schnee, daß das Haus darin versank bis ans Ziegeldach, und auch das nicht mehr leuchtete mit seinem munteren Rot, sondern weißgrau und schmutzig ward wie die Erde rundum und wie der Himmel darüber; scheußlicher wäre es dann, noch schrecklicher als zu anderer Zeit, so hatten abends im Schlafsaal Nr. 3 und Nr. 4 einigen Neulingen flüsternd erzählt.
Was die sich zusammenlogen! Garstig – scheußlich – schrecklich?! Garstig war's, wenn man durch die Straßen lungerte, keinen warmen Bissen im Leib und auch keine Aussicht hatte, einen zu kriegen. Scheußlich, wenn man an den Häusern anklingelte, und jeder einem rasch die Tür vor der Nase zuschlug! Schrecklich, wenn man ausspionieren mußte, bei Tag und bei Nacht, wo's was zu klemmen gab!
Nein, an der Dieberei hatte er eigentlich gar kein Vergnügen, es war ein miserabliges Gewerbe – arbeiten war besser!
Und er warf sich mit einer Wucht auf sein Grabscheit, daß der derbe hölzerne Stiel fast unter ihm zusammengebrochen wäre. Diesen Graben hier mußte er noch fertig kriegen – nein, wenn den ein anderer fertig machen sollte – nein, das gönnte er einem anderen nicht! Und die Schaufeln lehmiger Erde flogen, dumpf klatschten die nassen Schollen mit ihrem schweren Gewicht. Bis an die Knöchel stand Nr. 40 mit seinen nackten Füßen, an deren Dürre die Holzpantoffeln keinen Halt fanden, im Schlamm. Das machte ihm nichts – überall war es ja moorig jetzt, das Wasser quoll wie aus Löchern.
Aber wie konnten sie nur sagen, im Winter sei's schrecklich hier oben?! Und langweilig wär's, zum Sterben öde, nichts als Körbe flechten und Besen binden! Ha, mußte das fein sein, Besen binden unter Dach und Fach, beim Erglühen der schwarzen Torfstücke und beim leckeren Geruch, der dem riesigen Suppenkessel entstieg! Ei, Besen binden, das war ja seine Lieblingsbeschäftigung! Und seine Mutter fiel ihm ein.
An die hatte er lange nicht gedacht. Wo die jetzt wohl sein mochte? Er wußte nicht, wo sie geblieben war. Nun, die war sicher tot; er selber sollte ja schon an die Fünfzig sein – so hatten's wenigstens die Herren aus ihren Akten vorgelesen – freilich, er fühlte sich noch nicht wie ein Fünfziger, trotz seiner grauen Haare. Oho, er nahm's noch mit allem auf, hatte Kraft in den Knochen – wenn er nur hier bleiben durfte!
Der Blick aus seinen rotplierigen Augen, die den wimperlosen Rand der Lider nach außen kehrten, wulstig und vereitert, schweifte mit Hingabe über des Hochlandes weite Fläche, dessen Heide verblüht war, dessen Beeren erfroren waren, das so braun und still jetzt lag unterm hängenden Wolkenhimmel. Der Herbst war da – wenn die ersten Schneeflocken fielen, wo würde er dann sein?!
Oh, noch hier, noch hier! Das gebe die heilige Gottesmutter, die Jungfrau Maria! Sagten sie nicht, die sei eine Schutzpatronin für Leute seines Gewerbes?!
Und er faltete, einem tiefinneren, unbewußten und doch heiß empfundenen Instinkt folgend, seine verklammten Hände um den Spatenstiel. Sie hatten sich lange nicht zum Beten zusammengelegt, seit frühester Kindheit nicht mehr; seitdem er nicht mehr mit der Mutter, landstreichend und bettelnd, gezogen war und sie ihn geheißen hatte, niederknieen und die Hände falten vor jedem Heiligenhäuschen am Weg. Nun wußte er nicht, was man beten soll in solcher Lage; aber er faltete die Hände. Und das war ein Gebet.
Vom Hahnheisterbusch kam ein Duften her, von der blauenden Tannenlinie des Hargard ein stärkendes Wehen. Das Venn war mild geworden, weich in allen seinen Linien, und die Brust dehnte sich in so tiefem Atemzug, als wäre sie zu eng, all das Wohlbehagen zu fassen. –
*
Es war am ersten Tag des Oktober, daß der Schnee fiel, und daß sie ihn herausließen. Er war nun ein freier Mann. Er hatte sich nur noch zu stellen bei der Gefängnisverwaltung in Aachen und dort seine bürgerliche Kleidung in Empfang zu nehmen – den zerschlissenen Rock, die zerlumpte Hose, den verbeulten Filz und die durchlöcherten Stiefel, – die er getragen hatte an jenem denkwürdigen Tag, als sein Leben sich auf die Sonnenseite kehrte. Denn schlecht hatte sich auch das erste halbe Jahr nicht versessen in Aachen, wenn's freilich mit der Hälfte hier oben sich nicht vergleichen ließ. Ach, wie gut hatte er's hier doch gehabt!
Wie ein Stumpfsinniger hatte Nr. 40 dreingestiert, als ihn der Oberaufseher auf die Schulter getippt hatte: ›No, morgen geht's raus!‹ Was, er – wirklich, er sollte weg?! Es sollte nun wirklich zu Ende sein?! Er konnte es nicht fassen.
Seine Augen hatten gezwinkert, sein Gesicht hatte eine Grimasse geschnitten. Wollte er lachen oder weinen? Die Sträflinge wurden nicht klug daraus. Heute sahen sie ihn an; heute beneideten sie ihn, den sie verabscheuten – denn morgen kam er ja 'raus!
Abends im Schlafsaal, wo es ihnen vergönnt war, ohne die Augen und Ohren des Wächters über sich, leise Worte zu tauschen, machten sie sich an Simeon Schalkenbach heran. Er war ja nun frei, er konnte ihre Aufträge ausrichten an den und jenen, an diese und jene. Ihrer viele hatten etwas zu bestellen.
Nr. 7, der rote Fuchs, faßte sogar seine Hände und beschwor ihn hoch und teuer, bei seiner ewigen Seligkeit, zum Trautchen hinzugehen, – da und da wohnte sie, er beschrieb's ganz genau – und ihr zu sagen, was zu schreiben er sich nie getraute – denn dann hätte ja der Inspektor seine Schuld herausgelesen, die er immer noch ableugnete – ihr zu sagen, daß sie ein Leben haben sollte wie die Engel im Himmel, daß er ihr ein besserer Mann werden wollte als bisher, sie nie mehr so unglücklich machen, kam er nur erst wieder 'raus zu ihr!
Es schmeichelte Simeon Schalkenbach gewaltig, daß er also erkoren ward zum Liebesboten.
Würde er auch alles behalten?!
»Sicher un jewiß!« Er legte die knöcherne Hand aufs Herz und grinste dabei, daß die, die um ihn standen, zu anderer Zeit entsetzt zurückgefahren wären. So aber bezwangen sie sich: Gott sei Dank, er war ja nun bald weg, bald konnte man wieder mit Appetit essen! –
Als er am nächsten Morgen das Haus mit dem roten Ziegeldach verließ, durch dessen Tür er hundertundachtzig Tage ein- und ausgegangen war zu friedlicher Arbeit, fühlte er etwas Nasses in den wirklichen Weinens unkundigen Augen – seine Augen weinten sonst nur, wenn sie tränten vor bösartiger Entzündlichkeit – soviel gute Freunde ließ er hier zurück! Ach, so viele gute Freunde!
Langsam trottete er neben dem Aufseher her, der ihn nach Aachen zu eskortieren hatte. Der rannte, denn es eilte ihm; Regen und Schnee fielen gemischt, und der Wind peitschte die wenigen Blätter der ragenden Hainbuchen, die – Flaggen, in der Not gehißt – die Nähe von Mützenich anzeigten.
Simeon Schalkenbach eilte es nicht; er hinkte und stolperte, als könnte er gar nicht vorankommen. Wie mit Klammern hielt ihn die Vennheide fest, in Klößen hing sich die moorige Erde schwer unter seine groben Schuhe.
Nein, wahrhaftig, er konnte nicht weg von hier – horch! – und trillerte da nicht leise eine verborgene letzte Lerche?! Die Kehle schnürte sich ihm zusammen, eine Angst kam ihn an, als ginge es zum Hängen: wann, wann hörte er diese Lerche wieder einmal?!
Er hatte immer ein Vergnügen daran gehabt, die Lerchen zu behorchen; es gab deren manche auf dem Venn. Besonders morgens, wenn das Kraut noch so taufrisch war, wie bereift, hatten sie sich hören lassen – ›tirili‹ – so was Pläsierliches! In den Straßen von Aachen oder gar im großen Köln, wohin er sich nun wohl aufmachen würde – vielleicht, daß es ihm da gelang, bei irgend einer Arbeit anzukommen – gab's keine Lerchen. Da pfiffen nur die verflixten Straßenjungen, drehten sich nach ihm um und johlten laut: ›Huh, wat siehste schläch uhs!‹
Ein grenzenloses Heimweh kam schon jetzt über ihn nach dieser stillen braunen Heide, auf der man nichts hörte als das Kommando des Aufsehers, das Rammen von Pfählen, das Knarren von Achsen, das Klirren von Ketten, das Sägen von Bohlen, das Schollern von Erdmassen, das Klappern von Drainröhren und ab und zu einen Jägerschuß; nichts als das Trappsen ungefügiger Holzpantoffeln und einen Raubvogelschrei aus dem unermeßlichen Luftmeer herunter. Ihm wurde so sehnsuchtsvoll, daß er am liebsten Kehrt gemacht hätte und zurückgerannt wäre zu der länglichen Holzbaracke, deren Wände und auch deren Dach jetzt hinter einer Bodenerhebung verschwanden.
»Voran!« sagte der Aufseher grob. »Dat is kein Wetter für stillzustehen un Maulaffen feilzuhalten!«
Mützenich, das lange Dorf, nahm sie auf; sie mußten es ganz zu Ende gehen – fast eine Stunde dauerte das – bis sie an die Eisenbahn kamen. Und obgleich das Wetter so schlecht war, Kinder waren doch auf der Straße, Jungen und sogar auch Mädchen; und sie alle gafften neugierig, stoben dann auseinander wie in tödlichem Schreck, um sich dann wieder in Trupps zusammenzuschließen und laut hinterdrein zu heulen: »Huh, wat sieht de uhs!« –
Das war Simeon Schalkenbachs Eintritt wiederum in die Welt, in die Freiheit.
*
Der Winter war übers Venn hingegangen, so langsam, so lautlos, wie nur ein Vennwinter schleichen kann. Nun war der Schnee geschmolzen; meterhoch hatte er gelegen, die Leute von Mützenich hatten tagtäglich immer von neuem zu tun gehabt, sich ein Pfädchen zu schaufeln. Oben in der Baracke waren sie bis zum Dach eingeweht gewesen, tagelang hatten sie nicht hinausgekonnt, nicht vor die Tür, und die Trostlosigkeit hatte auf dem First gehockt, und die ödeste Stumpfsinnigkeit hatte drinnen Platz genommen. Ohne Unterhaltung, fast ohne Worte hatten die Eingeschlossenen im Fachwerk zusammengehockt, Körbe geflochten und Besen gebunden und nicht gewußt, ob es noch Mittag war oder schon Abend, ob die Welt draußen noch lebte, oder ob sie vergangen war, gestorben im lautlosen Schnee wie alles.
Spät erst begann es droben zu lenzen. Nicht alle Sträflinge waren mehr oben, und diese nur mit einem Aufseher – es tat keine Not, wegrennen konnte keiner um diese Zeit – aber nun kam durch den zerflossenen Schnee der zweite Aufseher von Aachen wieder an mit einem neuen Schub. Und aus den neuen Gesichtern heraus grinste ein altes, ein nur zu wohlbekanntes: Nr. 40 war wieder da – o weh!
Sie hatten sich alle nach dem Lenz gesehnt, nach ihm verlangt, wie sie sonst nach nichts verlangten als nach ihrer Freiheit; nun aber verwünschten sie ihn: wenn der ihnen solch einen Vogel brachte! Den Winter über hatte ihnen wenigstens das Essen geschmeckt, dieser einzige winzige Genuß, der ihnen geblieben war, – nun sollten sie auch auf den verzichten, sich das bißchen wieder hereinschlagen mit Grausen, geschüttelt von einem Ekel, der jeden überkam, sobald er den da ansah?! Den da – den da! Blicke, in denen sich keine Wiedersehensfreude malte, nur Abwehr – verdrossene Abwehr, Widerwillen und Schreck –, begrüßten den alten Bekannten.
Der merkte das nicht; der war ja so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Sein Gesicht, dem die Nase fehlte, abgefressen vom Knochenfraß, dessen Mund auch keine Lippen mehr wies, nur ein Loch mit fletschenden Zähnen, dieses Gesicht, das so scheußlich war mit den rotwülstig geränderten Augen und der genarbten, nur über Knochen gespannten Pergamenthaut, wurde noch scheußlicher in einem Lachen triumphierenden Glückes. Das hatte er aber mal klug gemacht, mächtig klug! Die heilige Jungfrau, die gute Patronin, sei gelobt!
Nicht gleich beim ersten Mal hatten sie ihn wieder gegriffen, so sehr er es auch darauf angelegt hatte – die waren eben doch dümmer, als wie er sie taxiert hatte –, aber das zweite Mal, zur Fastnachtszeit, da war's ihm trefflich gelungen. Da war er nachts in die Backstube eingestiegen, wo der übermüdete Geselle bei seinem Teig eingenickt war, hatte sich erst ordentlich satt gestopft an frischen Berliner Pfannkuchen, an Naunzen und Muzenmändelchen und hatte dann, als der durch das schmatzende Geräusch erweckte Geselle schlaftrunken auffuhr, demselben eins gehörig mit der Backmulde auf den Kopf gegeben. Es hatte ihm eigentlich leid getan, den armen Kerl, der so lecker backen konnte, so zuzurichten, aber was sollte er machen?! Wo kriegte er denn sonst die gewünschte Strafzeit – zwei Jahre zum mindesten – her?!
Und wirklich, zwei Jahre waren es diesmal geworden. Der gute Geselle hatte sechs Wochen im Krankenhaus liegen müssen – das war ›Körperverletzung‹ – dazu kam das ›schon vorbestraft‹.
Simeon Schalkenbach stand so wohlgemut vor dem Staatsanwalt, so freundlich grinsend, daß dieser sich rühmen konnte, noch von keinem Verbrecher so angesehen worden zu sein, und machte beim Schlusse der Verhandlung so viele dankerfüllte Kratzfüße vor dem hohen Gerichtshof, daß die Herren ein Lächeln kaum unterdrücken konnten. Ihm war sehr hoffnungsfreudig. Nur die eine Besorgnis hatte er: ob man ihn auch wieder verschicken würde zur Strafkolonie?! Aber richtig, auch dieses Glück wurde ihm zuteil!
Eine nie vormals empfundene, nicht einmal vormals geahnte Freude überkam ihn mit schier herzsprengender Fülle, als die Tür der Holzbaracke mit dem roten Ziegeldach sich ihm wieder auftat. Er war so ganz dieser Freude voll, daß er den Schrecken nicht wahrnahm, das Entsetzen nicht, das die Gesichter vor ihm starr machte. Geredet durfte hier nicht werden, hier hieß es: stumm sich in die Tagesordnung einfügen; er tat das auch – nun war er wieder wie vordem Nr. 40, die letzte Nummer hatte er wieder bekommen –, aber der Blick seiner roten Augen sagte jedem einzelnen der alten Freunde mit sprechender Deutlichkeit: ›Da bin ich wieder, sei mir gegrüßt!‹–
Von diesem Tage an war es merkwürdig, daß von der Suppe, die sonst immer bis zum letzten Tropfen verbraucht worden war, ganze Portionen unberührt übriggelassen wurden. Und eine Verdrossenheit war unter den Sträflingen, eine Unzufriedenheit, eine Mürrischkeit, wie sie in den schlimmsten Wintertagen nicht zu bemerken gewesen war. Ein paar Mal sogar mußte der Aufseher energisch eingreifen; es kamen ihrer welche ins Kaschötchen. Und immer wieder welche kamen hinein. Aber auch das nützte nichts, und nichts die verdoppelt strenge Zucht, nichts die auf die Hälfte herabgeminderten Rationen; wie Flügelschlag des Aufruhrs wehte es durch die Baracke. Wo kam dieser schlechte Geist nur auf einmal her?!
Der oberste Aufseher, der eine lange Praxis hinter sich hatte, sah sich seine Leute scharf an. Und dann nahm er sich Nr. 7 vor, den roten Fuchs; der war eine Intelligenz, der sollte beichten. Streng nahm er ihn ins Verhör: »Was ist los mit euch? Worüber habt ihr zu klagen? Warum seid ihr so rappelköpp'sch, he?«
Da brach es los wie ein Ungewitter. Der rote Fuchs zitterte vor Erregung: man war doch ein anständiger Mensch, der die Nase noch hatte und im Gesicht nicht nur ein Loch wie ein hohles Tor, ums Essen einzufahren, – und man sollte mit so einem essen?! »Pfui Deiwel!« Und er spuckte aus, gegen alle Disziplin, erbleichend vor Ekel.
»No, no,« brummte der Aufseher, aber weiter sagte er nichts. Still sah er sich Nr. 40 an; und da mußte er sich's eingestehen: die anderen hatten nicht unrecht.
Als es zum Essen ging und Nr. 40 sich wohlgemut auf die lange Bank schieben wollte, hieß er ihn aufstehen und mit seinem Napf draußen vor die Tür hingehen. Mochte er da essen!
Mit einigem Erstaunen folgte Nr. 40 dem erhaltenen Befehl; aber dann gewöhnte er sich rasch daran, seine Morgen-, Mittag- und Abendsuppe draußen auf der Schwelle zu verzehren. Wenn man Hunger hat, schmeckt's ja auch da sehr gut.
Aber die drinnen waren doch noch nicht zufriedengestellt. Lange genug hatte man sich's gefallen lassen müssen, schon den ganzen verflossenen Sommer hindurch, murrten die Alten, mit so einem zusammen zu sein, zusammen zu arbeiten, zusammen zu schlafen, aber nun wollte man das nicht mehr! Das Recht wenigstens hatte man zu verlangen, nicht mit Ekel Erregenden zusammengepfercht zu sein!
Und die neu Dazugekommenen, sie, die noch nicht an den Anblick gewöhnt waren, murrten erst recht: das war ja noch schlimmer als arbeiten und Freiheitsberaubung, das war gemein, einen mit solchem Greuel zusammenzusperren!
Wütende Blicke flogen; Blicke, die zuerst nur Abwehr gezeigt hatten, Grauen und Widerwillen, wurden jetzt Blicke des Hasses. Die guten Freunde wandten sich von der letzten Nummer; da war keiner, der abends im Schlafsaal ein Wörtchen mit ihm getauscht hätte.
Einer redete den anderen auf: pfui, dieses lange Gestell, dieses Scheusal, dieses Gerippe ohne Nase und Lippen! Sie alle, die hier zusammensaßen, verziehen sich ihre Sünden untereinander: was war denn da auch weiter dabei, ein bißchen Diebstahl, Meineid und Hehlerei, Kuppelei, Totschlag und Vergehen gegen die Sittlichkeit?! Aber ein Mann ohne Nase, mit einem Gesicht wie leibhaftig der grinsende Tod, nein, den wollte man nicht unter sich dulden!
Im Schlafsaal rottete man sich zusammen. Es war zuweilen dort nachts ein Tumult, daß der Aufseher mit dem Knüttel und der Pistole hineinging; aber es half ihm nichts, daß er mit beiden Ruhe gebot, am anderen Abend erneuerte sich der Spektakel. Und es half ihm auch nichts, daß er Nr. 40 aus dem allgemeinen Schlafraum heraustat und ihn hieß, neben dem Haus im Torfstall schlafen. Gutwillig tappte der Schlafselige da hinein und ließ den Riegel hinter sich vorlegen; nun war er nicht mehr zu sehen und zu hören.
Aber sein Anblick foppte die anderen im Traum. Und wenn sie auch nicht träumten und ihn auch nicht mehr neben sich atmen hatten unter dem gleichen Dach, sie sahen ihn doch noch sich dicht vor Augen stehen in der Schwärze des nächtlichen Dunkels. Und wie sie sich auch drehten und wendeten und die Augen schützten hinter dem vorgehaltenen Arm – er blieb stehen, und sie sahen ihn, wie am Tage so auch jetzt. Wie immer. Sie wurden den Anblick nicht mehr los, wie sie auch die Fäuste ballten und mit den Füßen stießen und dumpfe Verwünschungen auf ihn schleuderten. Verflucht! Das Venn war groß und weit, aber das lange Gestell ging überall um. Es verfolgte sie; es war bei der Arbeit, beim Essen, beim Schlafen; es war überall. In ihm stierte der Tod sie an. Seine Hand schwang die Sense – die mähende Hippe – lang flappte unterm Binsenhut das linnene Tuch und zeigte, sich lüftend, knöcherne Wangen und fletschende Zähne. Und es machte sie rasend, verzweifelt, diesen Tod eine Grube graben zu sehen – wer kam da hinein?!
Der Oberaufseher mußte Nr. 40 eine Arbeit anweisen ganz weitab von den anderen, ganz für sich allein; er konnte das ja getrost tun, bei dem harmlosen Kerl war nichts zu befürchten, der rannte nicht fort. Und wär's selbst ein Risiko, er mußte es wagen, um die anderen zu beruhigen, denn sonst warfen sie die Werkzeuge hin und verweigerten ihm den Gehorsam. –
Der harmlos Glückliche merkte von all diesem nichts. Daß er allein arbeiten mußte, war ihm gerade recht. Auf dem weiten Venn aus der tiefen Grube Torf zu stechen, hei, war das eine Lust! Wenn er am Abend heimging von fleißiger Arbeit, unterm Frühlingshimmel voll gemütlicher Sterne dahintrabte, dann spitzte er wohl, den Spaten geschultert, tief innerlich befriedigt, den lippenlosen Mund. Er konnte nicht mehr pfeifen, aber er war doch so froh, als hätte er gepfiffen, so hell und voll, wie die Amsel im Frühling pfeift.
Schon begann das Heidekraut grüne Spitzchen schießen zu lassen aus seinem dürren Braun, und die Sumpfdotterblumen und gelben Narzissen lachten wie Sterne an den Rändern der Lachen. Überall waren die Gruben gefüllt, aber ihr Wasser hatte nicht mehr die schaurige Kälte geschmolzenen Schnees; schon hatte der Himmel warme Maitränen hineingeweint, und die Sonne hatte es mit ihren Strahlen geküßt.
Nr. 40 kam eines Mittags nach Hause – er hätte sich am liebsten den Leinenkittel schon angezogen, den Binsenhut aufgesetzt und das mückenscheuchende, lappende Tuch daruntergelegt, so wohlig war's ihm heute – einen Kalmusstengel im Munde. Aus solchem Kalmus hatte er sich als Knabe eine Pfeife geschnitten und darauf lustig geblasen – warum sollte er's heute nicht ebenso tun? Aber statt zwischen Lippen hielt er jetzt den Kalmus nur zwischen den Zähnen, lutschte mit der Zunge daran und versuchte vergebens, ihm einen Ton zu entlocken. Er war vergnügt, aber es war ein furchtbarer Anblick.
Und so trat er in den Eßraum, wo sie schon alle bei der Suppe saßen; man hatte ihn heute vergessen, darum ging er hinein, sich selber seinen Blechnapf herauszuholen.
Sie sahen ihn alle, starrten entsetzt und ließen ihre Löffel fallen.
»'eraus!« schrie einer auf.
Und da Nr. 40 verdutzt stand, nicht wissend, ob es ihm galt oder einem anderen, schrieen sie alle empört: »'eraus!«
Der Aufseher schrie es, die Sträflinge schrieen's, und der rote Fuchs, den der Ekel würgte, stieß seine Schüssel von sich, daß die Suppe auf die Erde schwappte, und brüllte wie ein verzweifeltes Tier, brüllte zwischen Würgen und Heulen, ringend nach Atem: »Jeh, mach dich ab! Du Ekel – du Scheusal – du fiesen Kerl! Ba, wat siehste uhs!«
Und alle brüllten nach: »Du Ekel, du Scheusal, du fiesen Kerl, mach dich ab!«
Und er fühlte sich vom Aufseher an den Schultern gepackt und hinaus vor die Tür geschoben.
Da stand er. Und als niemand den Arm herausstreckte, ihm seinen Suppennapf zu reichen, ging er. Erst zögernd, sich ab und zu umsehend, dann rascher und rascher.
Bei der tiefen Grube, weit draußen im Venn angelangt, fand er seinen Spaten in der moorigen Erde stecken, wie er ihn vor einer Stunde – nein, so lange war's ja noch nicht einmal her – mit kräftigem Stoße hineingetrieben hatte.
Und er ergriff ihn. Seine Hände umklammerten das Werkzeug, mit dem er voller Lust gearbeitet hatte, als müsse er sich an ihm halten. Hier war die Arbeit – aber die Lust war vergangen.
›– – – Du fiesen Kerl – du Ekel – du Scheusal – wat siehste uhs!‹ – – – das hörte er immerfort und sehr deutlich.
War er denn wirklich so scheußlich?!
Einen Spiegel hatte er nie besessen, auch nie daran gedacht, sich zu bespiegeln. Nun bückte er sich über die Grube, sich an ihrem Rande auf den Spaten stützend, den langen Oberkörper ragend und fragend weit vornüber gebeugt.
Das tiefe, glatte Wasser, das unterm Sonnenglanz ganz still in der Grube stand, gab spiegelnd sein Bild zurück. Nun sah er sich. Und er erschrak.
Ja, sie hatten recht, sie waren wahrhaftige Freunde, er sah scheußlich aus! So scheußlich hätte er sich's doch nicht gedacht – huh! Es überlief ihn ein Frost, die fletschenden Zähne schlugen ihm aufeinander.
»Ba, wat siehste uhs!« Er sagte es laut zu sich selber. Und dann nickte er langsam und ernsthaft mit dem Kopf: mach dich ab – ja, das war ganz recht so!
Nun wußte er auf einmal, daß sie ihn mieden, daß alle ihn mieden. Und auch warum sie ihn mieden. Warum sich alle Türen so schnell vor ihm schlossen, warum die Kinder johlend hinter ihm dreinschrieen, und warum er keine Arbeit bekam. Nicht einmal beim Lumpensortieren mochten sie ihn. Er mochte sich selber nicht.
»Mach dich ab!« Er sagte es ganz gelassen.
*
Und dann stieg das lange Gestell, der leibhaftige Tod in die Grube hinab, die er sich selber gegraben hatte.
Sein Anblick schreckte fortab niemand mehr. –
Sie fanden die letzte Nummer nicht, obwohl sie nach ihr suchten.