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Das Dorf ist nicht wie andere Dörfer. Durch seine Mitte führt keine holprig gepflasterte Hauptstraße, an der die Weiber, Kartoffeln schälend und, schwatzend, auf ihren Türschwellen sitzen und die vielen Kinder lustig miteinander lärmen; über die der Hirt wenn die Morgensonne das Leben weckt, mit Tuten und Tröten die Gemeindeherde austreibt und sie wieder eintreibt, wenn in der Abendsonne die glatten Rücken der braunen Rinder rötlich spiegeln; auf der am Sonntag die kichernden Mädchen lustwandeln, in langer Reihe, Arm in Arm, und die grinsenden Jungen, die Mütze schief auf dem Ohr, die neumodische Zigarre im Mundwinkel, hinter ihnen drein klabastern.
Das Venndorf ist ungesellig. Kein Haus lehnt sich ans andere. Verstreut liegen die Gehöfte, jedes für sich, auf Rufweite voneinander geschieden.
Und um jedes Haus herum ragt die hohe Hainbuchenhecke, dieser Stolz des Besitzers, dieser Schutz gegen Sturm, dieser Wall gegen Schnee, diese Mauer gegen die Welt da draußen. – – –
Lennert Leis hatte die schönste Hecke im Dorf; die zeigten die Kutscher, wenn sie einmal einen Fremden durchfuhren. Die hatte dem Leis sein Ur-Urgroßvater schon angelegt. Sie war so hoch wie das Dach und fein gerade beschoren, auf den Strich; nur an den Ecken waren kleine Bäumchen stehen geblieben und rund gezogen wie grüne Kugeln, und die Einfahrt war ausgeschnitten zu einem schöngerundeten Torbogen. Sonst zeigte die ganze Hecke aber auch keine Lücke; mauerfest, schier hundertjährig, wehrte sie mit ihrem dicht verknoteten Astgefüge den Vennwind vom Haus ab. Aber auch keine Sonne ließ sie in die Fenster; dämmerig war's immer innen in den alten Stuben.
Lennert Leis machte den Beschluß im Dorf; gleich hinter seiner Hecke fing das Venn an.
Wenn die Sonne schien, saß hier der kleine Gerret. Er saß da im kargen Schatten, den die Hecke warf, und starrte mit blinzelnden Augen aufs weite, weite Venn, das keine Grenzen hatte, das so fortging in die Ewigkeit.
Er sah am Sommermittag die Heupferdchen hupfen, und dann streckte er sehnsüchtig seine Hände aus und rief, wie er die anderen Kinder hatte rufen hören: »Heusprenger, wahr jeiste? Heusprenger, jank hönger dich, 'schwind, hol mer en Schwester! Heusprenger, Heusprenger!«
Der Heuspringer machte einen Satz – fort war er – aber er brachte dem Knaben keine Schwester. So sehr Gerret auch wartete – geduldig, stundenlang – er blieb allein.
Das große Venn war auch einsam, aber das reckte und dehnte sich in geheimnisvoller Freude ob der eigenen, einsamen Größe, während der kleine Junge erschauerte und ganz in sich zusammenduckte.
Gerret verstand nicht die Musik der Winde, die jauchzend die offene Brust des Venn zerwühlen, verstand nicht den stummen Kuß der Sonne, die in kurzer und desto glühenderer Liebeshast fast schmerzhaft brennt. Er sah nicht die Regenbogen vom endlosen Hochland aufstehen und sich verdoppeln in der unbegrenzten Weite, sah nicht das Kreuz auf der Richelsley rot flammen im Abendstrahl, wie ins Blut Christi getaucht.
Gerret war nicht von hier zu Haus.
Unten am sonnenfrohen Rhein war er geboren. Da hatte seine Mutter, ›das Drück‹ die Jüngste vom Lennert Leis, im Dienste gestanden und sich dann hinverheiratet. Es war ihr nicht wohl bekommen. Ihr Mann war ein Bahnschaffner gewesen, der jahraus, jahrein durch die Welt fährt, aber allzu früh hatte er ganz aus der Welt herausfahren müssen. So kam die junge Witwe wieder herauf zu den Eltern und brachte ihren Einzigen mit, den Gerhard; vier Jahre war der.
Viele Worte wurden nicht gemacht, als die Tochter heimkam. Die Mutter vergoß wohl ein paar Tränen, als sie das neue Trauerkleid des Drück befühlte, aber im Grunde sagten sich beide Eltern, daß es nun, da sie anfingen alt zu werden, doch gut sei, wieder eine Hilfe im Haus zu haben; auf die beiden Söhne, den Jöpp und den Bärtes, war sowieso nicht zu rechnen, denen war die Vennerde zu mager gewesen, und sie waren nach Amerika gefahren, um reich zu werden.
Drück fand gleich ihre Arbeit. Den Jungen aber nahm der Großvater an die Hand und führte ihn hinter die Hecke aufs Venn; da sollte er spielen. Jedoch der kleine Kerl im Botzekleidchen Jacke und Hose aus einem Stück, hinten mit Knöpfen geschlossen. spielte nicht. Er stand wie ein Pünktchen, verloren in der großen Weite, und sah sich verlegen um.
Unten am Rhein, in der Stadt, wo Gerret zu Hause gewesen war, da hatten die Menschen dichter beisammen gewohnt, so dicht, daß man sich nicht zu fürchten brauchte. Und viele Wagen waren da gefahren; er und andere Buben hatten sich hinten angehängt und waren mitgesaust, so lustig, hast du nicht gesehen.
Hier rollte keine Kutsche.
An den Schaufenstern hatten sie miteinander geguckt und, mit den Fingern die Scheiben betupfend, sich das Schönste dahinter ausgesucht.
Hier gab's keine bunte Pracht.
Und in den Rheinanlagen hatten sie sich auf den Bänken gesonnt unter Kastanien und Linden und sich süß umduften lassen von Nägelchen und Jasmin.
Hier roch's herb.
Von der Böschung hatten sie weiße Kiesel herunterflitschen lassen übers Wasser und die milde Luft, geschwängert von Tang und Teer und köstlicher Feuchte, eingeatmet.
Hier oben bekam Gerret gleich im ersten Winter einen Husten, und den kriegte er immer wieder, sobald nur die Erika auf dem Venn braun ward und die Vorläufer der Herbststürme die wenigen hochragenden Hainbuchen im Dorf entblätterten. Gleich Besen standen dann die Bäume, emporgereckt aus dem Grau des Venn zum Grau des Himmels.
Großvater Leis konnte es nicht begreifen, daß der Junge seine roten Backen verlor, die er doch mit heraufgebracht hatte.
»Wat fehlt dem Könkd?« fragte er wohl einmal an Sonntagen, denn Wochentags hatte er keine Zeit dazu; da trieb er sein Vieh aufs Venn, überallhin, wo nur ein Hälmchen Futter zu holen war, trug Milch und Butter hinunter nach Montjoie, der Stadt, und bastelte sorglich an seiner Hecke. »Haste Penkd, Jong?« Und stellte sich den Jungen zwischen die Kniee und besah sich kopfschüttelnd das blasse Kindergesicht. Unwirsch zog er dann die Dose von Birkenrinde und stopfte sich eine Prise in die Nase: der Gerret war ja gar kein richtiger Eifeler Jung, der war ›en doof Ühl‹!
Ja, was fehlte dem Jungen?! Drück wußte es auch nicht: der Wind ging hier so stark, vielleicht, daß er sich erst daran gewöhnen mußte!
Sie selbst hatte sich rasch wieder oben eingelebt; sie war ja hier geboren. Sie blühte noch einmal auf, und ihre Gestalt, zwar hager und nicht zur Fülle neigend, gewann an Kraft.
Wenn sie, die Ärmel aufgestreift, das Gedruckskleid hochgeschürzt, die nackten Füße in Holzklumpen, das Haar verweht, die Melkkübel und die Buttergefäße scheuerte und auf der Eimerbank an der Hecke zum Trocknen umstülpte, dann sah ihr Gerret fröstelnd zu.
Ihm wurde nie warm, selbst wenn er im Winter dicht beim Herd hockte; dann erst recht nicht. Dann heulte der Wind so schaurig im Rauchfang, wie die armen Seelen heulen draußen auf dem Venn, die da jagen müssen, immer jagen, und winselte, wie der Mann ohne Kopf winselt, der unten auf der Monschauer Burg spazieren geht.
Angst überfiel ihn in der dunklen Stube, vor deren Fenster die Hecke aufragte, so hoch, daß man kein Stückchen Himmel sah. Er lief hinaus vor das Haus; aber auch hier hinderte die Hecke. Er stellte sich ins Heckentor – nun sah er. Huh, eine Riesenweite, in der sich Nebel, lauter Nebel wälzten, und Wolken, mit denen der Sturm Ball spielte. Auch hier war kein Stück Himmel, auch hier war kein helles Licht. Und aus dem Grau rieselte es; es rieselte von der Hecke, es rieselte am Boden, die Erde zerfloß unter den Füßen wie Brei. Der Wind holte aus und gab ihm einen Stoß, daß er umfiel, sich nur mühsam wieder aufrichtete und weinend zurück in den Schutz der Hecke torkelte.
Es war das beste, er kroch ins Bett. Da lag er, das Federbett bis an die Nase gezogen, ins Kissen eingewühlt und hielt sich das mit beiden Händen fest gegen die Ohren gedrückt. Wie es draußen tobte, gellte, schrillte, brüllte! Das Venn, o das Venn, wenn das nur nicht hereinkam!
Seine Mutter teilte mit ihm das Bett, aber wenn sie sich am Abend bei ihm niederlegte, schlief sie gleich ein und schnarchte mit offenem Munde. So lag er denn stumm und allein und schwitzte und fror doch. –
»De Jong moß en de Scholl, dat hä alert wierd,« sagte Lennert Leis, führte den Enkel zum Herrn Lehrer und meldete ihn an.
Die andern Kinder im Dorf scheuten die Schule; sie mochten lieber bei den Kühen auf dem Venn lungern oder im Winter mit dem Handschlitten herunterglitschen bis zum Lauscherbüschel und sehen, wie der Eisenbahnzug mühsam auf Station Montjoie zukeuchte. Gerret dagegen freute sich auf die Schule: da waren ja so viele seinesgleichen! Er nahm's gar nicht übel, daß die anderen ihn gleich am ersten Schultag auf dem Nachhauseweg prügelten.
»Haste de Huck jeschurt krigge?« fragte der Großvater, als der Enkel mit rotgeschwollenen Ohren heimkam, und lachte. Ei, die würden ihn schon munter kriegen!
Gerret lachte auch, sein seltenes, leises Lachen. Wo er früher gewohnt hatte – ach ja – da hatten sich die Jungens auch immer gehauen! Wenigstens etwas war hier so wie da!
Aber Freunde gewann er darum eigentlich doch nicht. Im Winter mußte er auch zu oft in der Schule fehlen, denn wenn das Wetter wild war, kam er nicht durch. Das Haus seines Großvaters war das letzte im Dorf, kein anderer hatte einen so weiten Weg zur Schule wie er – wenigstens dünkte ihn das so.
So entwöhnte er sich des aufmerksamen Lernens und Zuhörens, und in der ewigen Winterdunkelheit der Stube fiel es auf seine Seele wie ein Schleier. –
Drück sorgte sich darum: ihr Gerret war doch früher so ein lustiges, dickes Jüngelchen gewesen, der mußte Würmer haben! Oder war er am Ende gar behext?! Zu dieser letzteren Ansicht neigte die Großmutter: hatte man denn nicht schon ganz seltsame Beispiele erlebt?!
Aber der Großvater wollte so was nicht hören, er war ein ganz Aufgeklärter und hielt mehr von den Würmern. So zog er eines Tags, als er, wie gewöhnlich, Butter und Milch zur Stadt trug, einen schwarzen Sonntagsrock unter seinen blauen Kittel, hieß Drück den Jungen ›staats‹ machen und führte ihn an der Hand hinunter gen Montjoie.
Gerret war noch nie so weit gekommen. Also das war Monsche, die Stadt?! Eingeklemmt, klein und eng, fand sie mit ihren grauen Häusern kaum Platz zwischen den grauen Felsen; kaum hoben sich ihre dunklen Dächer vom dunklen Gestein. Und keine Gärten waren da. Grüne Fleckchen nur hingen schwindelhoch an den Felsen, nur durch Treppchen und Pfädchen erreichbar, vor denen es Gerret grauste. Die Straßen waren so schmal, daß sich zwei Wagen nicht ausweichen konnten. Und unheimlich sah die große Burgruine herunter auf das Häuserklümpchen. Und drüben der alte Wachtturm war noch trotziger und unfreundlicher!
Eine große Enttäuschung kam über Gerret, hatte er sich doch so sehr gefreut, als es hieß: ›zur Stadt.‹ Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Eine dunkle Erinnerung war in ihm ausgestiegen an ein Städtebild von heiterer Schönheit; beschreiben hätte er dies freilich nicht mehr können, aber er fühlte es noch. Sein Blick suchte bunte Schaufenster voll aller möglichen Pracht – er fand keine – und dort am Fluß, der rauschend und brausend dahinstürmte im felsigen Bett, blühten keine freundlichen Anlagen! Nicht einmal Platz hätten die da gehabt neben dem ungebärdigen Wasser.
An der gelben, mit weißen Schaumköpfen wie beperlten Roer entlang, vorbei an uralten Häusern, die, von Pfählen gestützt, sich weit über den Fluß vorneigen, führte der Großvater den Knaben zum Doktor.
»Herr Dokter, dä Jong hat Wörm!« Damit betrat er die Studierstube.
Der Doktor kannte den Lennert Leis vom Vennhof, war der doch seiner Frau Butterlieferant. Er untersuchte den Knaben gründlich, beklopfte ihn hier, behorchte ihn da und schüttelte zuletzt den Kopf: »Mit Euren Würm, Unsinn! Der Junge hat nicht die richtige Konstitution für Euch da oben! Vennluft – hm, hm! Gesund ist er soweit; no, ich denke, er wird sich schon nach und nach eingewöhnen!«
Nun natürlich, das meinte der Großvater auch. Wenn's weiter nix war! Zufrieden zog er ab, aber entschlossen, doch noch in der Apotheke Wurmsamen zu kaufen – eßlöffelweise zu nehmen zwischen Sirup gemischt – und einen Tee von Pfefferminzkraut und Stiefmütterchen für alle Fälle.
Der Doktor sah den beiden nach, wie der kantige Bauer dahinschob, weitausholenden, aber bedächtigen Schrittes, und den Knaben mit der gesenkten Stirn und den festgeschlossenen Lippen hinter sich drein zog. Der Junge tat ihm leid. Und doch hätte er eigentlich nicht sagen können: warum.
*
Gerret half nun schon seinem Großvater das Vieh hüten. Bald überließ ihm das der Alte ganz selbständig.
Viehhüten war das Amt aller Jungen im Dorf; ihrer zwei, drei taten sich immer zusammen, lagen auf dem Bauch im harten Venngras, spielten Karten oder rauchten eine ›Pief‹, während das Vieh rundum suchte, wo es etwas fand.
Gerret gesellte sich zu keinem von ihnen. Er mochte nicht sprechen. Wenn seine Kühe schwammen im endlosen Meer des Heidekrautes und er ihnen langsam folgte, am Stengel einer der zähen Farren nagend, die unfruchtbar das Gras des Venn untermengen, war immer etwas um ihn, über ihm, das hob den Finger und sagte: ›Sei still!‹
Das war das Venn, das machte ihn stumm. Das kam auf ihn zu – ein Gewaltiges, Übermenschliches – das rückte ihm immer näher, immer näher. Das bedrückte ihn; das erdrückte ihn schier. Er rang nach Luft, aber wehren konnte er sich nicht. Ganz still saß er, wie gebannt, starren Blickes.
Und raffte er sich endlich auf, riß sich gewaltsam los, lief davon und trieb seine Kühe heimwärts, und saß er dann bei den Großeltern am Tisch oder beim Lehrer in der Schule, auf derselben Bank mit den anderen Kindern, oder lag er bei seiner Mutter im Bett – nirgends, nie mehr vergaß er das Venn.
Er fühlte dumpf: sie, die da wohnte, draußen in der ungeheuren Weite, die mit den schweren, nachtdunklen Flügeln, die senkte sich auf ihn.
Er hätte gern geklagt, aber er wußte nicht, was er klagen sollte. – –
Jetzt war die schönste Zeit fürs Venndorf gekommen: die Heide blühte, und dazwischen reiften die Preißelbeeren. Die Schule hatte Ferien gegeben, damit alle, alle hinauslaufen konnten und von dem köstlichen Obst einsammeln. Trüppchen von Kindern und Alte, die nichts Rechts mehr daheim nutzten, und auch Weiber, die sonst wacker in Haus und Hof schafften, alle zogen aus.
Das Gras war noch taubeperlt, die schwarzen Ginsterstauden trugen noch Schleierhauben von silberigem Reifgespinst, kühles Wehen jagte die Nebelfetzen, die noch überm Moor lungerten, vor sich her und hängte sie niederwärts den dunklen Tannen der Richelsley zwischen die Äste. Mit nackten Füßen gingen die Beerensucher ins feuchte Kraut: nur Beeren finden, Beeren, das Holzmaß voll, das ihnen am Halse hängt, die Eimer voll, die sie mitschleppen! Der Herr Lehrer drüben von Kalterherberg schickte die Vennbeeren in die ganze weite Welt, und sie kriegten's Geld dafür.
Weit über das Venn hin sah man die halbgebückten Gestalten der Weiber sich scharf abheben vom helllichten Äther, der sie umfloß. Und in der Mittagssonne, die so mörderisch brennt, weil kein deckender Bergrücken, kein schattender Wald ihre Strahlen auffängt, hockten die Kinder am Boden, mit beiden Händen reife und unreife Beeren der roten Träubchen abstreifend und in ihr Mäßchen raffend.
Großmutter Leis hatte dem Gerret auch ein Maß umgehängt und ihn zum Sammeln ausgeschickt. Aber er kam ohne Beeren zurück. Das Venn hatte im Sonnenglast seltsam geflimmert; und als er ein Stück hineingeschlichen war, so weit, daß die Schornsteine der Gehöfte hinter den Hecken versanken, als er nichts mehr sah als Venn, Venn und den leeren Himmel darüber, da hatte er sich nicht weiter getraut. Da war er stehen geblieben und hatte die Beeren nicht gesehen, die am Boden blinkten. Gestarrt hatte er, immer gestarrt, bis das Sonnenlicht vor seinen Augen schwarz wurde. Und dann hatte er Fersengeld gegeben und war zurückgerannt bis zu seiner Hecke, hatte sich dort niedergeworfen und die Augen fest zugekniffen. Und doch zwang es ihm wieder die Augen auf – er mußte sehen, unverwandt hinsehen auf diesen grausamen Glanz und Glimmer.
Nun sollte er mit den anderen Kindern gehen, und zwar am Nachmittag, wenn die Sonne nicht mehr so brannte. Der Huppert und der Karel wußten eine gute Stelle; sie nahmen Gerret in die Mitte. Ein ganzer Schwarm folgte noch hintennach: der Klos und die Lies, die Zuphie und die Anne-Kathreng.
Auf Kaiser Karls Bettstatt zu ging der Marsch, eine halbe Stunde weit. Der Huppert führte nicht immer gerade den besten Weg, den kenntlich-getretenen Pfad zwischen den Mooren; rechts und links ab schweifte er, und sie patschten und quatschten. Aber lustig war das, selbst Gerret lachte; die fröhlichen Kinderstimmen verscheuchten das Grauen.
Ihre Maße waren bald voll. Da krochen sie auf den großen Stein, der, breit und massiv, mitten im Venn hingelagert, der Sage nach einst Karl dem Großen, als der sich auf der Saujagd im wilden Moor verirrt, zur Bettstatt gedient hatte. Nun hockten die Dorfkinder darauf und baumelten mit den bloßen Beinen.
Sie schrieen, als sie den Sonnenball wie ein ungeheures Feuer im tiefen Violett des Venn verlodern und das Blau des Himmels und die weißen Wolkenschiffe von züngelnden Flammen verzehrt sahen, jenes uralte Lied in den Abend hinein, das gesungen wird, wenn man am ersten Fastensonntag die Strohpuppe verbrennt:
»Strüh, Strüh –
Die Ahlt öss verbrannt,
Die Neu könnt ent Land!«
Alle rutschten vom Stein herunter, faßten sich an den Händen und tanzten einen mutwilligen Ringelreihen um den langsameren Gerret. Der Huppert packte ihn bei den Schultern und drehte ihn herum, so geschwind, so rasend rasch, daß ihm Sehen und Hören verging, daß er schwindelig wurde und, halb lachend halb zeternd zu Boden taumelnd, die Augen schloß.
Als er wieder klar sehen konnte, waren die Kinder fort. Er rief nach ihnen – ein Kichern antwortete. Dann hörte er nichts mehr. Ihre Maße hatten sie mitgenommen; auch sein Maß. Und nun war es auf einmal Nacht.
Gerret fühlte seinen Atem stocken, aber er schrie noch, schrie: »Huppert! Klos! Karel! Ka–rel!«
Ein langes Hallen echote nach.
War da jemand?! Er rannte um den Stein herum – huh, da war das Grauen, das Venn selber! Und es sagte: ›Still!‹
Der Knabe wagte keinen Laut mehr. An die steinerne Bettstatt gedrückt, kauerte er sich nieder und riß die Augen weit auf.
Seine Gedanken jagten: wenn er jetzt fortliefe, rasch, rasch?! Ach, er konnte ja nicht! Eine Faust reckte sich aus dem Boden und hielt ihn fest. Wild pochte sein Herz gegen den harten Fels. Und wie kalt war der!
Gerret fror, daß ihm die Zähne klapperten. Seine nackten Füße waren ganz erstarrt und seine Hände auch.
Ob sie ihn nicht vermissen würden zu Haus? Ob sie ihn nicht suchen würden, holen kommen würden, der Großvater oder die Mutter?!
Ein Schluchzen würgte ihn, aber er traute sich nicht, laut herauszuweinen; nur seine Lippen zitterten.
Jetzt konnte er gar nichts mehr denken; alles war weg. Nur nicht das Venn, das Venn.
Unermeßlich war das, größer als die ganze Welt. Immer sah er's, auch wenn er die Augen schloß – nein, nicht zumachen, lieber sehen, sehen, was da geschieht!
Die Fledermäuse huschten auf; aus den Ritzen und Spalten der Bettstatt flatterten sie und streiften dem Knaben das Gesicht. Aber die schreckten ihn nicht – die waren ja lebendig – nur das Starre, das Tote, das vor ihm lag, entsetzte ihn. Es war tot und hatte doch eine Stimme – es war ein Gespenst!
»Gerret! Gerret!«
Er glaubte flüstern zu hören; durch die Nacht ging ein Raunen.
Jetzt hörte er's noch deutlicher: »Gerret! Gerret!«
Er machte sich so klein, als er nur konnte, zog die Beine ganz unter sich und quetschte den schlanken Körper in eine Rinne des Gesteins. Daß es ihn nur nicht fand – weh, o weh!
Weiße Nebel rückten heran und streckten die Hände nach ihm aus. In höchster Not irrten seine Augen empor. Am gleichmäßig dunklen Himmel, schwarz gefärbt wie ein Trauertuch, flinzelten Sterne. Und ihrer immer mehr kamen; in einer ungeahnten Pracht, in einer wunderbaren Fülle, in goldenem Reichtum lächelten sie nieder. Aber die tückischen Nebel nahmen auch diesen Trost. Sie reckten sich empor und rissen die Sterne herunter und vergruben sie in die schmutzigen Wasserlöcher des Moorlandes.
Die armen Sterne, konnten die auch nicht entfliehen?! Hier – da – dort blinkte ihrer noch einer auf, huschte hin und her, tauchte unter, tauchte wieder empor, wandte sich nach rechts, nach links, vor, zurück, unruhig-zuckend, zittrig-züngelnd – weh, das waren die Treulichter, die den Wanderer in den Sumpf locken! Die schickte das Venn nach ihm aus, die sollten ihn holen!
Gerret warf sich zu Boden und krampfte sich mit beiden Händen in die zähen Sträuchlein des Heidekrauts. Nein, nein, er ging nicht mit, er wollte nicht kommen!
Jetzt schrie ein Nachtfalke, nun ein Uhu. Der Knabe fühlte ein Wehen über sich von schweren Flügeln; lautlos senkten sie sich herab. Kein Entrinnen – schon fühlte er ihre Last – nur ein weniges noch, jetzt – jetzt schlugen sie über ihm zusammen.
»Hilf!«
Die Angst des Todes öffnete Gerrets stumme Lippen, sein verzweifelter Hilfeschrei gellte übers Venn.
*
Lennert Leis, der ausgezogen war, den Enkel zu suchen, als der mit den andern Kindern nicht heimgekommen war, hörte den Schrei von Kaiser Karls Bettstatt her schallen und im spottenden Echo des nächtlichen Venn widerhallen. War das Gerrets Stimme oder war sie es nicht?! So hatte der Junge noch nie geschrien. Der Großvater tappte noch einmal zum Stein zurück, sich mit der Stalllaterne leuchtend, und suchte, wo er schon einmal gesucht hatte, und rief, wie er schon vorhin gerufen hatte.
Jetzt fand er den Knaben endlich, platt auf den Boden hingestreckt, ganz vergraben im Heidegestrüpp.
»Du Necksnotz, du Döppe, du Killefitz, du jrueß Kalleb, kannste net Antwort jöwen?!« Großvater gab dem Jungen einen gehörigen ›hinten vor‹; er wollte es ihm wohl austreiben, alte Leute zu vexieren! Aber dann mußte er ihn sich doch auf den Rücken laden, denn Gerret war nicht imstande zu gehen. Seine Füße waren wie gelähmt. Er weinte nicht, er sagte kein Wort, aber aus seinen weit aufgerissenen, starren Augen sprach eine solche Angst, daß er zu Hause die Prügel nicht bekam, die ihm eigentlich noch zugedacht waren. –
Nun ging Gerret nicht mehr Preißelbeeren suchen. Er war nicht gerade krank, aber auch nicht gesund und noch stiller als zuvor. Die Großmutter ließ sich's nicht nehmen: dem war was angetan! Da sie das zum Manne nicht sagen durfte, sagte sie es zur Tochter; und Drück lachte jetzt auch nicht darüber, wie sie vielleicht unten in der Stadt darüber gelacht haben würde, sondern sie machte ein ganz betroffenes Gesicht. Aber dann faßte sie eine ärgerliche Scham: so ein Schlappjeh, wie kam sie nur zu dem?!
Die Großmutter machte es sich jetzt zur Pflicht, alle Wochen mindestens einmal mit dem Gerret beten zu gehen, niederwärts nach der Richelsley, dem Riesenstein im Venn, wo – größer als ein Mensch – das wundertätige Muttergottesbild in bunten Gewändern im Felsspalt steht.
Es war ein weiter Weg dorthin, und sie hatten nicht einmal Schatten. Das Heidekraut war auch schon verblüht, dürr und braun raschelte es um ihre Füße, und die harten Farne färbten sich bereits gelb. Nur die Tannen um die Ley waren noch grün, aber so dunkelgrün, daß sie fast schwarz, wie in Trauer standen. Das Kind empfand nicht den heimlichen Zauber, der sich zwischen ihnen spann, zarter als die weißen Fäden, die der scheidende Sommer ihnen an die Nadeln hängte. Das Kind fürchtete sich vor diesen einsamen Bäumen, die nicht mit Blättern rauschten; vor diesen stummen Wächtern einer ungeheuren Einsamkeit.
Den ganzen Weg betete die Großmutter, leis murmelnd, an ihrem Rosenkranz, Kügelchen rollte auf Kügelchen; wenn sie mitunter, sich verpustend, stehen blieb, drängte sich Gerret dicht an ihren Rock. Und wenn sie ins nächtige Dunkel der Tannen eintraten, dann faßte er ihre Hand und ließ sich, stolpernd, mit widerstrebenden Füßen, voranziehen. Und wenn ihn dann die Großmutter neben sich knieen hieß auf das schmale Betbänkchen, das vor dem von frommen Händen mit Papierrosen umkränzten Felsspalt angebracht war, und wenn dann die Muttergottes auf ihn niederschaute mit ihren großen blauen Augen und das sternbesäte Gewand ihr schön auf die Füße fiel, so fand er doch kein Gebet. Die Heilige stand in einem starren Felsen, der sich wie eine schwarze Grabesgruft über ihr wölbte, und die Rosen, die in jedem Windhauch knisternd raschelten, dünkten ihn Totenblumen.
Regungslos kniete Gerret neben der emsig betenden Großmutter. Er hielt wohl auch die Hände, zum Gebet zusammengelegt, an die Lippen, aber keine Andacht kam in seine Seele, obgleich die Tannen rundum herrlicher dufteten als all die Altarkerzen droben zu Kalterherberg im Eifeler Dom. Verloren blickten seine Augen. Und wenn ihn dann die Großmutter am Ärmel zupfte oder ihn anstieß, zum Aufbruch mahnend, dann erschreckte er sich so, daß er lallte.
Die Bittgänge zur Richelsley nutzten nichts; nun würde auch die Muttergottes im Stein bald zugeweht werden von Schnee. So gaben sie das Beten auf; wenn's wieder lenzte, würde man auch wieder damit anfangen. Ein paar alte kluge Frauen sprachen von Echternach, drüben im Luxemburgischen, wo sie zu Pfingsten springen gegen allerlei Not, vorzüglich gegen die fallende Sucht bei Mensch und Vieh; aber Drück eiferte dagegen: ihr Gerret war doch kein Epileptischer oder ein mit dem Veitstanz Behafteter! Die frommen Brüder zu Mariawald im Trappistenkloster, die das Gelübde ewigen Schweigens abgelegt haben, die würden gewiß ihren stummen Gerret am besten verstehen! Dahin wollte sie ihn denn auch bringen, wenn das Frühjahr kam. Deren Segen würde ihn schon auferwecken!
Und Gerret, der von der Wallfahrt nach Mariawald sprechen hörte, öffnete diesem Gedanken sein Herz. Er fühlte etwas wie Hoffnung aufsteigen in der dumpfen Schwere seiner Tage. Wenn der Winter doch erst vorbei wäre! Dann zog er an der Mutter Seite gen Mariawald – er lispelte das Wort in seinen Träumen: ›Mariawald, Mariawald‹ – dahin konnte ihm das Venn nicht nach!
Aber vorerst gab's Schnee. Und der lastete auf dem Venndorf so schwer wie seit Jahren nicht. Man konnte nicht zueinander gelangen; nicht bis zum nächsten Hof. Inseln gleich schwammen die einsamen Gehöfte im uferlosen Schneemeer des Venn. Die Kinder konnten nicht zur Schule gehen. Da gewöhnte sich Gerret das Sprechen ganz ab. Es hatte auch niemand Muße, ihm die Worte herauszuziehen; die Großmutter hatte Gliederweh, lag im Bett mit doppelt und dreifach umwundenem Kopf, und Lennert Leis und seine Drück hatten genug zu tun, um bei dem harten Winter das alltägliche Leben zu beschaffen. Oft brüllte das Vieh vor Hunger; denn allnächtlich verschneite immer wieder das Pfädchen, das mit Mühe vom Haus zum Stall gebahnt worden war, und vor den Türen türmten sich Wälle.
Jetzt war auch die Hecke kein allmächtiger Schutz mehr; das Venn mit seinen Schrecken war hereingekommen, noch dichter zu den Menschen.
Und Gerret zitterte. Er wagte nicht laut aufzutreten: daß es ihn nur nicht hörte, daß es ihn nur nicht hörte! Er wagte nur noch zu schleichen, den Rücken gebückt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Die Furcht verließ ihn einzig und allein, wenn er schlief; und wenn's nur ein Duseln war, in das er versank, so tat das doch auch schon gut. So schlief er mit offenen Augen, beim Gehen und Stehen, beim Essen und Trinken – schlief immer.
Als der Winter endlich vorbei war, wachte Gerret noch einmal auf. Die erste Lerche schwang sich vom tauenden Vennrain trillernd in die Höhe, und: ›Mariawald, Mariawald‹ das war das Wort, das ihn weckte. Das war wie der Gruß des Lenzes, der die erstarrte Erde zum Leben ruft.
Nach Ostern, am ›Weißen Sonntag‹, hätte Gerret eigentlich wie seine Altersgenossen zur ersten heiligen Kommunion gehen sollen – das Alter dazu hatte er – aber der geistliche Herr stellte ihn noch um ein Jahr zurück. In einem Jahr war's vielleicht besser mit ihm geworden! Jetzt war er noch gar zu unverständig, zu wenig reif für die heilige Handlung, auf keine Frage wußte er zu antworten, saß immer als Letzter auf der letzten Bank und kaute an seinen Nägeln. –
›Mariawald, Mariawald!‹ Sprach die Mutter hiervon, so röteten sich des Knaben Wangen. Großvater kaufte ihm zu Montjoie einen staatsen Anzug aus Buckskin, dem besten Tuch, das daselbst fabriziert wird; und auch Drück legte ihr bestes Gewand – das Trauerkleid war's um ihren Mann selig, das sie sonst nur zum Hochamt trug – zur Wallfahrt an. Essen und Trinken nahmen sie mit, denn der Fußpfad längs der Roer ist einsam, und einkehren wollten sie nur bei der Möhn zu Wollseifen, wenn der Gerret etwa gar zu müde werden sollte vom vielstündigen Marsch.
Aber Gerret brauchte keine Rast. Er eilte, er lief, daß die Mutter kaum Schritt halten konnte; er sehnte sich so nach Mariawald. Da würden die frommen Mönche schon wissen, was ihn krank machte, besser, als es einstmals der Herr Doktor zu Montjoie gewußt hatte!
Als sie im Kermeter wanderten, dem großen Forst, der Kloster Mariawald umschließt, versuchte er ein Pfeifen. So hell war ihm noch nie eins geglückt. Die Mutter horchte verwundert auf: war's möglich, ihr Gerret konnte so schön pfeifen?! In steigenden und fallenden Rhythmen schwebte eine heilige Weise empor zu den vielhundertjährigen, nun neu knospenden Buchenwipfeln. Da wollte auch sie nicht zurückbleiben, ließ das murmelnde Rosenkranzbeten und erhob ihre Stimme zu dem Pilgerlied, das die Prozessionen singen.
Also singend und flötend erreichten sie rasch die Klosterpforte. Da waren noch andere Bittgänger, die draußen lagerten. Drück wollte anschellen, aber die andern unterwiesen sie: jetzt sei nicht die Stunde für Pilger, jetzt beteten die da drinnen in ihren Zellen in stiller Andacht. Um sieben Uhr abends erst werde wieder aufgetan. Und Weibspersonen sei überhaupt der Eintritt verboten, die dürften nur in der Kirche hinter dem Gitter des Vorraums knieen!
Drück ergoß sich in Klagen: erst um sieben wurde wieder aufgemacht?! Jesus, da war's ja schon Abend, wie fand sie dann im Dunkel des Waldes zur nächsten Ortschaft zurück?! Aber was half's, sie mußte doch warten, ihrem Jungen zuliebe.
Ratlos irrte sie mit dem Knaben um die Klostermauer. Sie kamen auch an die Kirchenpforte. Die war offen, aber ein dichtes Gitter entzog das Innere neugierigen Blicken. Und so still war's, so totenstill, daß man den eigenen Atem, schreckhaft laut, hörte. Kein Mensch war zu sehen. Drück bekreuzte sich: hier wars wie ein Kirchhof! Auch der Wald rundum rührte sich nicht; er hatte noch keine Blätter und streckte die zartgrauen Äste und Ästchen der Wipfel wie Silberfiligran regungslos in den regungslosen Äther.
Gottlob, endlich was Lebendiges! Dort auf dem Acker, den man dem Wald abgewonnen hatte, dort, hinter dem Pflug her, ging eine Gestalt in brauner Kutte, barhaupt und barfuß. Das war einer aus dem Kloster! Schnell ging Drück auf ihn zu, aber der Schweiger wandte noch schneller sein Haupt und zeigte sein Antlitz nicht.
Da hieß Drück ihren Gerret hinlaufen und dem heiligen Bruder die Hand küssen. Und der Knabe lief.
Nun hatte er ihn erreicht – nun war er dicht vor ihm – beugte die Kniee, stammelte atemlos sein frommes: »Gelobt sei Jesus Christus!« – blickte bebend und rot, heiß vor Erwartung, klopfenden Herzens, voll seliger Spannung dem Helfer, dem Retter, dem Erlöser entgegen – da – ein stummer Gruß! Und jetzt – ach, jetzt ein Angesicht, das Gerret nur zu genau kannte.
Da war dieselbe unermeßliche Einsamkeit, die ihn immer anstarrte, alltäglich, stündlich. Dieselbe starre Öde. Dieselbe ewige Traurigkeit.
Zitternd fuhr Gerret zurück von dem Antlitz des Mönches – weh, auch hier war das Venn, das Venn! – – – – – – – – – – – – –
Die Wallfahrt nach Mariawald hatte nichts genutzt, ebensowenig wie die Bittgänge zur Richelsley. Der Junge war womöglich noch schlimmer heimgekommen. Und Drück hatte sich's doch nicht verdrießen lassen, bis zum sinkenden Abend zu warten, inbrünstig betend; und hatte dann den Knaben segnen lassen und eine Spende in die Büchse bei der Pforte – ›fromme Gaben für das arme Kloster Mariawald‹ – gesteckt, eine Spende, fast über ihre Kraft. Kaum heimgebracht hatte sie den Gerret am anderen Tag. Führen hatte sie ihn müssen den ganzen Weg; er hatte die Füße gesetzt wie ein kleines Kind, das erst das Gehen lernen soll, oder wie ein ganz Alter, der das Gehen schon wieder verlernt hat.
Und so blieb es mit ihm. Er wurde nicht mehr munter. Als der Großvater an seiner Hecke schaffte, die jetzt in neuer Lebensfülle trieb und schoß, sah der Enkel stumm dabei zu. Und als der Großvater fertig war mit Schneiden und Binden und Ausholzen und Basteln, und als die Hecke über und über grünte, fein sorglich beschoren auf den Strich, setzte sich Gerret wieder in ihren kargen Schatten, wie einst im ›Botzekleid‹, und starrte mit blöden Augen aufs weite, weite Venn, das kein Ende hat, das sich streckt bis in die Ewigkeit.
Und sie, die da wohnt auf dem Venn, die mit den schweren, schwarzen Flügeln, nahm des Kindes Seele.
Und das Venn tat bald sein Maul auf und nahm auch des Kindes Leib.
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