Alfred de Vigny
Die Abendunterhaltung in Vincennes
Alfred de Vigny

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2. Über die Liebe zur Gefahr

Für Menschen, die ich weiß nicht welcher Teufel mit den Illusionen der Poesie verfolgt, kann die Einsamkeit niemals still genug sein.

Das Schweigen war tief und dichter Schatten lag auf den Türmen des alten Vincennes. Auf Trommelzeichen hin waren um sechs Uhr alle Feuer ausgelöscht worden. Man hörte nur die Stimme der Wachtposten, die auf dem Walle standen und sich nacheinander ihren langgezogenen und melancholischen Ruf: »Wache hab' Acht!« zuriefen und wiederholten. Die Turmraben antworteten noch trauriger, und da sie sich dort oben nicht mehr in Sicherheit wähnten, flogen sie noch höher, bis auf den massiven Hauptturm. Nichts vermochte mich mehr zu beunruhigen, und doch beunruhigte mich etwas, das weder Geräusch noch Licht war. Ich wollte und konnte nicht schreiben. In meinem Innern fühlte ich etwas wie einen Flecken in einem Smaragd; es war der Gedanke, daß jemand in meiner Nähe auch wachte und ohne Trost, tief gequält, wachte. Das peinigte mich. Ich wußte genau, daß er sich gern anvertrauen wollte, und war sein Vertrauen doch rauh geflohen in dem heißen Wunsche, mich meinen Lieblingsgedanken zu widmen. Daß meine Gedanken wirr durcheinander gingen, war meine Strafe dafür. Sie flogen mir nicht frei und in Fülle zu und ihre Flügel schienen schwer zu sein; vielleicht waren sie naß von der heimlichen Träne eines verlassenen Freundes.

Ich stand vom Sessel auf, öffnete das Fenster und atmete still die balsamische Nachtluft ein. Ein Waldduft mit etwas Pulvergeruch vermischt drang zu mir über die Mauern; das erinnerte mich an den Vulkan, auf dem dreitausend Menschen in völliger Sicherheit lebten und schliefen. Auf der dicken Mauer des Forts, welches durch einen höchstens vierzig Fuß breiten Weg vom Dorfe getrennt wird, bemerkte ich den von der Lampe meines jungen Nachbars geworfenen Schein; sein Schatten ging und kam auf der Mauer, und ich sah an seinen Achselstücken, daß er nicht einmal ans Entkleiden gedacht hatte. Es war Mitternacht. Hastig ging ich aus meinem Zimmer und trat bei ihm ein. Mein Anblick erstaunte ihn gar nicht und er erklärte sogleich, wenn er noch auf sei, komme das daher, daß er noch eine Xenophonlektüre, die ihn sehr fessele, beendigen wolle. Da es aber kein einziges aufgeschlagenes Buch im Zimmer gab und er seinen kleinen Frauenbrief noch in den Händen hielt, ließ ich mich nicht von ihm anführen, wenn ich mir auch den Anschein gab. Wir stellten uns ans Fenster und, um meine Gedanken seinen näherzubringen, sagte ich zu ihm:

»Ich meinerseits arbeitete auch noch und suchte mir Rechenschaft abzulegen über die Art Magnet, den für uns der Degenstahl bildet. Eine unwiderstehliche Anziehungskraft hält uns unwillkürlich im Dienste fest und sorgt dafür, daß wir immer auf ein Ereignis oder einen Krieg warten. Ich weiß nicht (und kam deshalb, um mit Ihnen darüber zu reden), ob es der Wahrheit nicht mehr entspräche, wenn man sagte und schriebe, daß es in den Armeen eine Leidenschaft gäbe, die ihnen zu eigen ist und Leben verleiht; eine Leidenschaft, die weder mit Ruhmsucht noch Ehrgeiz etwas zu schaffen hat; es ist etwas wie ein Kampf Leib an Leib wider das Schicksal, ein Kampf, der die Quelle von tausend für die anderen Menschen unbekannten Wollüsten ist und dessen innere Triumphe voller Herrlichkeit sind, kurz, es ist die Liebe zur Gefahr.«

»Das stimmt«, sagte Timoléon; und ich fuhr fort:

»Was würde denn den Seemann auf dem Meere aufrecht erhalten ? Wer würde ihn über den Verdruß eines Mannes, nur Männer sehn zu müssen, trösten? Er fährt ab und sagt der Erde Lebewohl, dem Lächeln der Frauen Lebewohl, ihrer Liebe Lebewohl, den erwählten Freundschaften und zarten Lebensgewohnheiten Lebewohl, den guten alten Eltern Lebewohl, der schönen Natur der Gefilde Lebewohl, den Bäumen, den Rasenflächen, den Blumen, die so schön duften, den düsteren Felsen, den melancholischen Wäldern voll schweigender und wilder Tiere, den großen Städten Lebewohl, dem ständigen Schaffen der Künste, der köstlichen Beschwingtheit aller Gedanken in der Muße des Lebens, den eleganten, geheimnisvollen und leidenschaftbeseelten Beziehungen der Welt; er sagt allem Lebewohl und fährt ab. Drei Feinde wird er finden: Wasser, Luft und Menschen; und in jeder Minute seines Lebens wird er mit einem von ihnen zu kämpfen haben. Solche herrliche Unruhe erlöst ihn von der Langeweile. Er lebt in ewigem Siege; einer besteht darin, über den Ozean dahinzufahren, ohne scheiternd zugrunde zu gehn; einer darin, daß man hingelangen kann, wohin man will und in des widrigen Windes Arme sinkt, einer darin, vor dem Sturme herzueilen und ihn sich wie einen Diener folgen zu lassen; noch ein anderer, auf ihm zu schlafen und sich seinen Arbeitsraum auf ihm einzurichten. Im Gefühle seiner Königswürde legt er sich auf dem Rücken des Ozeans wie Sankt Hieronymus auf seinem Löwen schlafen und er genießt der Einsamkeit, die auch seine Gattin ist.«

»Das ist groß«, erklärte Timoléon; und ich bemerkte, daß er den Brief auf den Tisch legte.

»Und die Liebe zur Gefahr, welche dafür sorgt, daß er nie einen müßigen Augenblick hat, daß er sichern Kampfe fühlt und ein Ziel schaut, nährt ihn. Ja, des Kampfes bedürfen wir stets; wenn wir im Felde ständen, würden wir nicht so viel leiden.«

»Wer weiß?« sagte er.

»Sie sind so glücklich, wie Sie's zu sein vermögen; in Ihrem Glücke können Sie nicht avancieren. Dies Glück ist wirklich eine Sackgasse.« »Zu wahr! Zu wahr!« hörte ich ihn murmeln.

»Verhindern können Sie es nicht, daß sie einen jungen Gatten und ein Kind besitzt, und Sie können nicht mehr Freiheit erobern, als sie schon errangen; das ist Ihre Qual.«

Er drückte mir die Hand: »Und immer lügen müssen!« sagte er...

»Meinen Sie, daß es Krieg geben wird?«

»Mit keinem Worte glaub' ich das«, entgegnete ich.

»Wenn ich nur wissen könnte, ob sie heute abend auf jenem Balle ist! Ich hatte ihr so streng verboten hinzugehn.«

»Ohne daß Sie mir das sagen, würde ich gar nicht einmal gemerkt haben, daß es Mitternacht ist,« sagte ich zu ihm; »Sie haben kein Austerlitz nötig, mein Freund, Sie sind hinreichend beschäftigt; Sie können noch viele Jahre über heucheln und lügen. Guten Abend.«


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