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Was ich von meinem Begleiter erfahren wollte, mußte ich ihm mühsam abfragen. Denn so bereit er gewesen, mir die väterliche Gastfreundschaft anzubieten, so scheu und schweigsam verhielt er sich jetzt. Er sprach den sabinischen Dialekt; aber er drückte sich gut aus, knapp und klar. Bisweilen gebrauchte er Redewendungen, die einen klassisch gebildeten Lateiner in Entzücken versetzt hätten. Hier war also uralte Stammesart.
»Du hast mir noch nicht deinen Namen gesagt.«
»Ich heiße Cesare Latini.«
»Dein Vater ist Hirte?«
»Wir haben Ziegen und Schafe.«
»Aber ihr seid doch nicht aus dieser Gegend?«
Er stieß einen Ausruf der Verachtung aus. Dann erklärte er mir: »Aus dieser Gegend ist niemand. Das ist wildes Land. Wir sind aus Val di Pietra.«
»Wo ist das?«
»Dort drüben.«
Er deutete mit dem Kopfe nach der Sabina hinüber.
»Weshalb bleibt ihr nicht an euerm Ort?«
»Was sollen wir dort?«
»Eure Herde weiden.«
»Dort ist alles Stein. Wir müssen weit von Hause fort, um Weide zu finden.«
»Und ihr kommt mit euren Herden bis hierher?«
»Bis ins Molarathal.«
»So heißt es hier?«
»Nun ja.«
»Kommt ihr oft her?«
»Jedes Jahr.«
»Du und dein Vater?«
»Mein Bruder ist in Rom. Ja, und in Rom ist Fiammetta.«
Er sagte das letztere so eigentümlich, mit solchem tiefen leidenschaftlichen Tonfall, daß ich, nur um etwas zu sagen, ihn fragte: »Ist Fiammetta deine Schwester?«
Er blieb plötzlich stehen. Die Nacht war so sternenhell geworden, daß ich sein Gesicht sehen konnte. Es war ein schönes, aber in diesem Augenblick durch seinen leidenschaftlichen Ausdruck fast verzerrtes Gesicht. Und mit vor Leidenschaft bebender Stimme stieß er hervor: »Meine Schwester? Nein! Nein!«
Und nach einer Pause noch einmal: »Fiammetta meine Schwester? Fiammetta!«
Dann, als schämte er sich, wendete er sich ab und beschleunigte seinen Schritt. Ich hörte seine schweren Atemzüge.
Neugierig geworden, forschte ich nach einer Weile: »Was macht dein Bruder in Rom?«
»Modell,« lautete die lakonische Antwort.
»Und Fiammetta?«
»Auch Modell.«
Als müßte ich über diese Mitteilung höchst erstaunt sein, suchte er mir die merkwürdige Sache, daß auch Fiammetta in Rom Modell »mache«, in kurzen abgerissenen Sätzen zu erklären.
»Was wollt Ihr? Sie ist arm. Sie braucht Geld, Denn wir wollen uns heiraten. Bald! Aber wir wollen selbst eine Herde haben. Dazu brauchen wir Geld. Woher sollen wir es nehmen. Und heiraten wollen wir bald. Ja, das wollen wir.«
»Du scheinst sie sehr zu lieben?«
Er murmelte statt aller Antwort: »Und wir wollen bald heiraten.«
»Sie ist gewiß sehr schön, deine Fiammetta?«
»O sie!«
Es klang wie ein Aufschrei. Der ganze Mensch zitterte vor verhaltener Erregung. Dann fuhr er fort: »Auch sie will mich bald heiraten. Jawohl; auch sie! Sie sagt: sie wolle nicht länger warten. Im Sommer kommt sie zurück.«
»Hierher?«
»Aus Rom ins Molarathal. Im Sommer hat sie in Rom nichts zu thun. Dann verdient sie kein Geld. Dann kommt sie mit meinem Bruder her.«
»Hat sie denn keine Eltern, daß sie im Sommer zu euch kommt?«
»Ihre Eltern sind tot.. Mein Vater nahm sie zu sich, als sie noch ein Kind war, ein ganz kleines Kind. Ihr Vater war meines Vaters Brudersohn. O sie – Fiammetta!«
Aber jetzt hatten wir die Hütte des sabinischen Hirten erreicht. Das war nun ein gar seltsames Haus: ein antiker Grabtumulus. Er lag mitten in einem öden Felde und mochte zu der tusculanischen Villa irgend eines römischen Reichen oder Großen gehört haben, der seine Gruft für sich und die Seinen in seinen eigenen weiten Gärten so größenwahnsinnig aufmauern ließ. Ich bemerkte, daß das Grab von seiner prächtigen Marmorbekleidung fast vollkommen entblößt stand und sah die gewaltigen Quadern in dem duftenden Kraut der Menthe und des Thymian ringsumher liegen. Beim Sternenschein las ich auf einem der Gebälkstücke in tief gegrabenen schönen Lettern die Namen Marcus Mucius Furius.
Eine hohe, vom Blitz zersplitterte Cypresse stand totenhaft neben dem Grabmal.
Der jetzige Eingang war nicht mehr derselbe, der ehemals in die Grabkammer geführt hatte; sondern er war an irgend einer andern Stelle in die meterdicken Wände gebrochen worden. Aus dem Innern leuchtete Feuerschein gastlich in die Nacht hinaus.
Die Hunde stürzten voraus und gleich darauf erschien in der Maueröffnung die Gestalt eines älteren Mannes, wie der Jüngling Sandalen an den Füßen, zottiges Ziegenfell um die Beine und über dem groben grauen Hemde eine Art Weste aus Schaffell.
Das war mein Wirt, Lorenzo Latini, der mich mit einigen rauhen, aber wohlgemeinten Worten zum Eintreten einlud.
Das Feuer erhellte den Raum. Es brannte auf einem Boden, auf dem noch Überreste von Mosaik vorhanden waren: ein anmutiges Ornament in Schwarz und Weiß. Die Wände des kreisrunden Baus waren mit ägyptischem gelbem Marmor ausgelegt gewesen und die Decke zeigte eine vollkommen erhaltene Stuccatur, vom Rauch der Hirtenfeuer geschwärzt. An der Einrichtung dieser eigentümlichen Wohnstätte fielen mir zuerst zwei grell kolorierte große Lithographien in die Augen. Sie hingen in einer Nische, in welcher der Sarkophag des Familienoberhauptes gestanden haben mochte; das eine stellte die Madonna, das andre Giuseppe Garibaldi vor.
Das Bild des letzten alten Romantikers und großen Volkshelden war mit frischen Blumen bekränzt: mit blutroten Anemonen!
Die wenigen Geräte waren möglichst primitiv. Getrocknetes, stark duftendes Steppengras bildete für Vater und Sohn die Lagerstätte. Unter den Geschirren fiel mir ein altertümliches schönes Gefäß aus Kupfer auf und einige nach antiken Vorbildern verfertigte Thonkrüge.
Die Hirten, bei welchen in den Tibersümpfen das Zwillingspaar aufwuchs, hatten kaum anders sich gekleidet, noch anders gelebt als diese Sabiner zur Zeit des Königs Umberto ...
Inzwischen hatte Cesare – oder Cé, wie sein Vater ihn rief – das verheißene fette Lamm geschlachtet. Während er das Tier vor der Hütte abhäutete und ausweidete, versuchte ich mit meinem gastfreundlichen Wirt nähere Bekanntschaft zu machen, was bei seinem schweigsamen Wesen freilich nicht leicht war.
Ich erfuhr, daß meines Gastfreundes Frau gestorben: am Fieber. Es starben so viele daran! daß er schon als Knabe mit dem Vater und dessen Herde ins Molarathal gekommen sei. Die meisten aus Val di Pietra waren Hirten, die nur im höchsten Sommer für kurze Zeit zu ihrem Heimatsort, zu ihren Frauen und Kindern zurückkehrten; und alle Leute von dort oben hielten ein solches Leben für durchaus naturgemäß, ohne darüber jemals Klage zu führen, oder Sehnsucht nach einem andern, besseren zu fühlen. Die Malaria konnte sie in Scharen dahinraffen, wenn nur ihre Herden gediehen, welche ihr ganzes Vermögen, also ihr ganzes irdisches Glück ausmachten.
Je nach der Jahreszeit trieb mein Wirt seinen lebendigen Reichtum – derselbe schien nicht groß zu sein – zu den verschiedenen Grasplätzen des ausgedehnten Hochthals: im Sommer in die Berge von Tusculum; im Winter auf die tiefer gelegenen Weiden gegen Grottaferrata hinab. Entweder er bezog irgend eine antike Ruine oder er baute aus Ginstergestrüpp eine runde hohe Hütte mit steilem Dach, eine sogenannte Capanna. Während der heißesten Zeit pflegen die sabinischen Hirten im Freien zu nächtigen.
Im Winter mußten sie die Herden gegen die hungernden Wölfe verteidigen, die aus dem nahen Apennin herüberkamen; im Sommer galt es des Nachts durch stetig brennende Feuer das eigene Leben gegen die mörderisch wütende Malaria zu schützen.
Alle Monat begaben sie sich des Sonntags nach der nächsten Ortschaft, um eine Messe zu hören, ihre Einkäufe an Salz und Mehl zu machen und einmal alljährlich unternahmen sie eine Wallfahrt, um bei einem gnadenreichen Muttergottesbilde für das Gedeihen der Herde: für die Vermehrung der »Quattrini«, eine leidenschaftliche Fürbitte zu thun und nötigenfalls eine Wachskerze zu opfern, damit sie die Hilfe der Heiligen bezahlten, diese also als ihr Recht fordern konnten.
So ist das Leben dieser Hirtenvölker seit Urväterzeit.