Richard Voß
Die Rächerin und andere römische Novellen
Richard Voß

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6.

Er unternahm eine Wallfahrt zur schwarzen Maria von Genazzano.

Die schwarze Maria von Genazzano war weit und breit die größte Wunderthäterin. Im Herbst strömten zu ihrem Feste aus allen Himmelsgegenden Scharen und Scharen nach der berühmten Gnadenstätte, die auf steiler Höhe in einer schönen, waldreichen Schlucht, zwischen den Bergen von Palästrina und Olevano liegt. In diesen Tagen erschallen die Lüfte von dem wilden Bußgeschrei der Wallfahrer. Der gellende Ruf: »Grazie, Grazie, Maria!« ertönt auf allen Straßen und Wegen, die zu dem palastähnlichen Heiligtum der Himmelskönigin führen. Wenn die Heranziehenden es zuerst gewahr werden, fallen sie auf die Kniee, strecken flehend beide Arme aus, küssen den Staub der Landstraße, schlagen sich wütend an Haupt und Brust, stoßen fort und fort ihren fanatischen Schrei aus:

»Grazie, Maria! Grazie!«

Auf den Knieen kriechen sie den Berg hinauf, auf den Knieen kriechen sie über den Felsstufen bis zur Kirche und hinein bis zum Gnadenbilde. Viele erreichen es blutüberströmt.

Sie bringen der schwarzen Maria ihre Opfergaben dar, die Spenden ihrer bitteren Armut: Kerzen und geweihte Blumen, wächserne Gliedmaßen, wächserne Herzen ...

Vico brachte der Gottesmutter nur sein eigenes, in den Flammen seiner Leidenschaft loderndes Herz. Er kniete mit den anderen, schrie mit den anderen. Aber seine Stimme übergellte den wütenden Chorus und mit zerschundenen Knieen, blutigem Gesicht, fieberglühenden Augen brach er in der Kirche vor dem Gnadenbilde zusammen.

Stöhnend murmelte er die üblichen Bitten, stöhnend stammelte er: »Gieb mir Gold! Ich will die Romana heiraten! Gold gieb mir! Die Romana will mich küssen! Gold mußt du mir geben! Denn ich muß der Romana den Goldschmuck kaufen. Gold! Gold! Gold! Laß mich im Lotto gewinnen. Eine Quaterne! Dann kauf' ich ihr den Goldschmuck; dann werde ich von ihr geküßt; dann will ich dir danken, schwarze Maria!«

Und als die Tausende von Pilgern anhuben, ihr rasendes: »Grazie! Grazie!« zu schreien, heulte Vico wie in ausbrechendem Wahnwitz:

»Gold! Gold! Gold!«


Spät in der Nacht näherte er sich dem Lagerplatz, wo am Feuer seine Mutter schlief. Er war so erschöpft, daß er schwankte wie ein Trunkener.

Wo der Weg von der großen römischen Landstraße nach dem Albanergebirge und dem Molarathal abzweigte, kauerte unter einem hohen blutrot angestrichenen Holzkreuz eine kleine hagere Gestalt, die aufsprang, als Vico mit wankenden Schritten herankam. Sie eilte auf ihn zu und blieb vor ihm stehen, so dicht, daß ihr heißer Atem wie Scirokko über sein Gesicht strich. »Hast du ein Gelöbnis gethan? Wirst du von der Madonna Geld bekommen? Wirst du den Goldschmuck für mich kaufen? Es muß gelbes Gold sein! Und an der Halskette will ich blutrote Steine haben. Mit dem gelben Gold und den blutroten Steinen will ich mich schön machen.«

Während seine Augen sie verschlangen, stieß er mit erstickter Stimme hervor:

»Die Madonna wird mir das Geld geben. Du bekommst den Goldschmuck; aus gelbem Gold und mit blutroten Steinen,«

Sie that einen Laut wie ein Raubtier, das sich auf seine Beute stürzt. Beide Arme warf sie über den Kopf und umschlang ihren zukünftigen Verlobten wie eine junge Mänade.

Ein totenhaftes Morgengrauen dämmerte auf, eine blutrote Mondsichel ging über Rom unter.

Aber sie hatte ihn nicht geküßt ...


Das Feuer war erloschen!

Vico kauerte neben seiner Mutter, die im Schlafe murmelte und stöhnte, schwer atmete, als drückte sie der Alp. Regungslos, mit verzerrtem Gesicht starrte er auf die erloschene Glut und dachte, daß er bald im Lotto setzen, daß er bald gewinnen würde.

Vier Nummern würde er wählen: Malaria, Agonie, tote Mutter und die Zeit der Sterbestunde. Alle vier Nummern würden herauskommen, mit allen vier Nummern würde er gewinnen – eine ganze Quaterne! Die schwarze Maria von Genazzano war ihm gnädig gewesen.

»Dank dir, Maria!«


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