Richard Voß
Die Rächerin und andere römische Novellen
Richard Voß

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Santa Maria di Galera

Scirokko! Seit Wochen Scirokko! Dazu Sommergluten ... Scirokko und Sommer in Rom!

Nachts keine Stunde Schlaf, tagsüber niemals Erquickung. Dabei eine Mattigkeit, eine Erschlaffung aller Lebensgeister, eine Hoffnungslosigkeit, jemals wieder herauszukommen aus diesem Zustand von Dumpfheit, Betäubung, von Aufgehen in Nichtsthun und Nichtsdenken, von Auflösung in Schweiß und Gluten.

Und Tag für Tag dieser mörderische Südwind!

Wie in einem Opiumrausch lag ich auf meiner Matratze, fühlte den Samum durch die doppelt verwahrten Fenster dringen und von seinem sengenden Odem mich angeweht. Draußen auf der Straße die brutalen Stimmen der Scharen von Ausschreiern, die kein Scirokko zum Schweigen brachte. Jeder Laut bohrte sich in mein schmerzendes Hirn. Und es war ein endloses Meer von gellenden Tönen, das mich umbrauste.

Endlich raffte ich mich auf. Mit nackten Füßen schlich ich auf den Steinfliesen, die ich jede Stunde mit frischem Wasser besprengen ließ, hin und her, hin und her. Aber es kühlte nicht. Ich entschloß mich zu der Anstrengung, eine Jalousie aufzustoßen. Doch das gelbe grelle Tageslicht traf meine Augen wie ein glühender Pfeil. Ich ließ nur einen Spalt offen und versuchte zu lesen: »Gregorovius, die Geschichte des römischen Mittelalters« ... Am neunzehnten August starb Alexander Borgia, und die Parteien entwickelten eine ungeheure Thätigkeit, um den todkranken Cesare zu stürzen und einen neuen Papst zu erwählen.

Mitten im August! Und sicher auch bei Scirokko!

Ich verfiel in dumpfes Staunen. Wie konnte man im Sommer, bei Scirokko, in Rom etwas thun? Irgend etwas! Ganz gleich, ob Schuhe flicken, ob Weltgeschichte machen. Alle Weltgeschichte müßte bei Scirokko aufhören. Man sollte eine Geschichte Italiens schreiben, vom Standpunkte des Scirokko aus.

Und dann verdrehen diese unausstehlichen Italien-Schwärmer vor Entzücken die Augen, wenn es heißt: Sommer in Rom! Nichts als Heuchelei.

Abends, spät abends, mit Aufbietung aller Kräfte erhebe ich mich, kleide ich mich an. Ich schleppe mich aus dem glühenden Hause, durch die glühenden Straßen. Ich atme die glühende Luft.

Wochenlang währender Scirokko als Selbstmordsmotiv – ich finde das durchaus begreiflich. Ich wundere mich nur, daß die Zeitungen von Selbstmordsberichten nicht erfüllt sind. Wahrscheinlich ist im Tiber das Wasser zu heiß. Die Römer erzählen sich: in der Fontana auf dem Barbariniplatz hätte man mittags Eier gesotten.

Ein Regentag! Ein Königreich für einen einzigen grauen, kalten, niederträchtigen deutschen Regentag!

Ich schleiche abends über die Piazza Colonna, wo der bronzene Heilige auf der Säule Marc Aurels noch immer nicht herabgeschmolzen ist, schleiche durch den Korso die dreißig Schritt bis zum Café Aragno. Weiter komme ich nicht. In diesem Asyle aller Mühseligen und Beladenen Roms sinke ich auf einen Sessel, verschmachtend nach Kühlendem, Gefrorenem, Eisigem.

Halb zehn! Und das Pflaster speit eine Schar heulender Teufel aus, die alle Straßen durchrasen!

»Tribuna! Eccola Tribuna!«

Geschrei und Scirokko, Musik auf Piazza Colonna und Scirokko; Menschengewühl und Scirokko! Es ist, um den Verstand zu verlieren.

Fort! Ums Himmels willen nur schnell fort!

Aber nicht fort nach Deutschland, zu frischer Luft in Tannenwäldern und auf Bergeshöhen ... Um solchen Entschluß fassen zu können, dazu klebt auch meine arme Seele viel zu fest an der großen ewigen Leimrute, genannt Rom.

Noch vor Mitternacht lasse ich mir ein Pferd satteln und reite zum nächsten Stadtthor hinaus. Es ist die Porta del Popolo.

Die neue flaminische Straße hinunter zur alten milvischen Brücke, für die welthistorische Ereignisse alltägliche Dinge sind.

Ich sitze mit schlaffen Zügeln, lasse meinen Gaul gehen, wie er will, wohin er will. Er geht geradeaus, die Via Cassia hinauf.

Eine Mondnacht in der Campagna im Hochsommer, bei Scirokko. Es ist wie ein Geisterritt.

Fahler Qualm am Himmel und über der Erde, die Luft ein wahrer Höllenbrodem, noch glühender, noch satanischer als in der Stadt.

Durch den Dunst des Südwinds kaum noch erkennbar an der Straße ein verlassenes Landhaus, eine einsame Pinie, eine trauernde Cypresse. Feuer flammen auf. Dort schlafen Hirten. Den Brand haben sie angezündet, um den Würgegeist des Landes, das Fieber, von ihrer Ruhestätte zu scheuchen. Aber früher oder später wird der mordende Engel doch vorübergehen und den Schlafenden anhauchen. Dann muß er sterben.

Ich bin toll, mitten in der glühenden Sommernacht durch die Campagna zu reiten. Der Scirokko hat mich toll gemacht.

Mir ist, als müsse ich das Gespenst leibhaftig sehen. Es ist ein gewaltiges Weib mit glühenden Augen und weißen Lippen. Wie ein schrecklicher Schatten schwebt es über Rom und allem römischen Land. Es schwebt zum Grabe Hadrians, entreißt dem erzenen Engel das richtende Schwert, stößt den Seraph hinab, stellt sich selbst auf den Sockel und spricht: »Ich bin der ewige Dämon der ewigen Stadt! Kein heiliger Papst kann mich bannen, kein mächtiger König mich vertreiben. Ich bin der Genius des Ortes!«

Das sind Fieberphantasien. Ein kalter Schauer überläuft mich ... Mit kalten Schauern fängt es an, mit kaltem Sterben endet es.

Ich treibe mein Pferd an, wild und wütend. Es jagt mit mir dahin.

Welche Einsamkeit! Je weiter ich in die Steppe vordringe, um so seltener werden die Hirtenfeuer. Selbst die fremden Arbeiter, die im Winter, Frühling und Herbst diese öden Gegenden spärlich genug bevölkern, verlassen sie im Sommer. Denn ihr Bleiben bedeutet für die meisten sichern Tod.

Mir wird unheimlich zu Mut. Aber zur Umkehr ist es zu spät. Ich muß bis La Storta. Das ist der erste Ort, wo ich Menschen finden werde. Diese werden mir Wein und Chinin geben, welches Mittel gegen die Malaria um diese Jahreszeit hier auch der ärmste Hirte besitzt.

Ich hetze mein Pferd. Es ist schweißbedeckt wie ich, ermattet wie ich. Nirgends ein Haus oder eine Capanna. Nur hier und da Ruinen. Ich jage an Schluchten vorüber, mit hohem Röhricht gefüllt. Bisweilen eine Gruppe von Steineichen. Dann wieder ein antikes Grabmal, eine zerfallende Marienkapelle ... Jetzt nichts als Wüste und Wildnis, unter fahlem Mondlicht, von Scirokkonebeln umbraut.

Ich lausche auf die Stimme der Nacht: auf das Gekläff eines verwilderten Wolfshundes, den Schrei einer Eule.

La Storta! Häuser, Menschen! Ich springe vom Pferd. Ich klopfe, schreie. Niemand hört, niemand antwortet. Ich gehe von Haus zu Haus, keines wird mir geöffnet: des Fiebers wegen ist auch La Storta verlassen!


Was thun?

Nicht zurück! Vorwärts! Nach Bracciano muß es näher sein als zurück nach Rom; und in dem hochgelegenen Bracciano ist es gewiß kühler. Also vorwärts nach Bracciano!

Wiederum ein Ritt durch ein weites Totengefilde ... Er mochte eine Stunde gedauert haben, als mein erschöpftes Tier den Kopf hob, gierig die Luft einsog, lautes Wiehern ausstieß und mit belebten Kräften die Straße verließ und auf einen Seitenweg einbog. Ich dachte:

Der Braune hat Kameraden gewittert, die in der Nähe weiden werden. Vielleicht lagern dort auch Hirten.

Der Weg verlief in eine enge waldige Schlucht, in der Tiefe mit dichtem Buschwerk, höher hinauf mit mächtigen Steineichen bestanden. Es duftete stark nach Menthe, diesem Würzekraut der römischen Campagna, das mir lieber ist, als alle Wohlgerüche Arabiens.

Ein Gewimmel tanzender Funken füllte die Schlucht: Johanniswürmer! Der im Glanze ihrer Liebesgluten strahlenden Käfer gab es eine solche Menge, daß es war, als müßte ich mir einen Weg hindurchbahnen. Sie gaukelten über mir, unter mir, mit ihrem Gefunkel Erde und Himmel verhüllend.

Dann hörte ich lautes Rauschen: Wasser! Es mußte ein schäumender tosender Waldbach sein. Mein Pferd jagte dem fröhlichen Geräusch zu. Schon längst hatte jeder Weg aufgehört. Ich ritt durch mannshohes Gras. Um mich mußte eine Wildnis von Blumen und duftenden Kräutern sein. Über alles legten sich die Mengen der hin und her gaukelnden Johanniskäfer.

Jetzt hielt ich am Bache, und mein Pferd setzte sogleich mitten hinein in die rauschende Flut. Das Wasser sprühte zu mir auf, spritzte über mein glühendes Gesicht. Es war wonnevoll.

Ich ließ mein Tier trinken, trieb es wieder ans Ufer, sprang ab, entkleidete mich, stürzte mich in den Bach, begrub mich in den Wellen. Wenn ich auftauchte, schwebten wie ein Strahlenschleier die Myriaden der Glühwürmer über mir.

Auf einmal begann das leuchtende Gewebe, wie von einem Lufthauche bewegt, hin und her zu wallen, sich zu heben, zu zerreißen. Ich sah es plötzlich nach allen Seiten frei.

Mir gegenüber auf steiler Felsenhöhe, aus dunkeln Eichenwipfeln aufsteigend, vom Mondlicht umflossenes mächtiges Mauerwerk. Ich sah in dem schimmernden Dunst einen Bau, trotzig wie eine Festung. Ich sah eine Kirche und daneben, schlank und hoch gleich einer Riesenblume, den Glockenturm. Aus der tiefen Waldschlucht, die der Bach durchschäumte, mußte ein Weg emporführen.

Noch starrte ich auf das überraschende Nachtbild, als der schimmernde Vorhang vor der schönen Scene sich wiederum schloß; die Lichtwellen der Johanniskäfer schlugen von neuem darüber zusammen.

Ich stieg aus dem Wasser, warf mich in das Kraut der Menthe, ließ mich überströmen vom Duft und ruhte eine Weile unter der Blütendecke und dem Strahlengewimmel. Dann fühlte ich, daß der Schlaf sich mir näherte wie eine heißersehnte Geliebte. Es mußte köstlich sein, einzuschlafen; köstlich, aber auch tödlich.

Gewaltsam riß ich mich in die Höhe, fühlte meine Glieder bereits schwer, mein Haupt bereits schmerzend. Mit Anstrengung kleidete ich mich an, schwang mich aufs Pferd und lenkte es der Stelle zu, wo ich den Weg vermutete, der emporführen mußte. Ich fand ihn aber nicht. Ich fand überall nur Gras und Menthe, überall nur Wildnis.

Der Tag dämmerte. Die verliebten Käfer verblaßten zugleich mit dem Mondschein. Aber was ich vorhin wie eine Erscheinung erblickt hatte, war kein Traumbild gewesen: über mir ragten Schloß, Kirche und Glockenturm. Bei dem ungewissen Morgenlicht sah ich die Mauern dicht mit Epheu umsponnen, dessen Rankenflut über den Dächern zusammenschlug.

Immer noch fand ich keinen Pfad. So ritt ich denn durch die Gebüsche den Felswänden zu.

Hier endlich stieß ich auf die Spur eines Weges ... Seltsam! Er war verwachsen, als hätte ihn seit einem Jahrzehnt kein Fuß beschritten. Und doch leitete er aufwärts zu einem kriegerisch gezinnten Thor zwischen zwei gewaltigen mittelalterlichen Türmen.

Ich ritt hinauf. Unter mir ruhte in dem heiligen Frieden der Frühe die Waldschlucht, über mir ragte die Herrenburg.

Das Thor stand weit offen. Lose hingen die mächtigen Flügel, und kein Wächter hütete den Eingang mit dem Wappenschilde darüber. Wind und Wetter hatten den Stein zernagt und die Embleme verwischt. Doch erkannte ich noch Stern, Schlange und Löwen der Orsini.

Auch hier nur Gras, Blumen, Kräuter, Buschwerk – Wildnis.

Also eine Ruine!

Ich ritt weiter. Ein Hof, eine Halle. Viele Höfe, Säle, Gemächer. Ein wahres Labyrinth! Dann ein Platz, daneben Kirche und Glockenturm. Auch hier offene Thore, Verfall und Öde; auch hier als einzige Gebieterin die Wildnis.

Immer seltsamer!

Ich ließ mein Pferd weiter trotten, ich ritt durch eine Straße. Zu beiden Seiten Häuser. Grasplätze das Pflaster, wilde Gärten die Höfe, Bollwerke von Epheu alle Mauern.

Wiederum ein Platz, wiederum Kirche und Glockenturm. Und Gasse auf Gasse, eine ganze Stadt! Eine ganze Stadt liegt verlassen, ausgestorben, in Schutt und Trümmer gesunken!

Nie vorher sah ich solche geisterhafte Stätte! Wo war ich? An welchem verzauberten, verschwundenen Ort? Wer hatte hier gelebt? Welches Schicksal hatte die Bewohner vertrieben: Herren, Diener, Bürger, Bauern?

Ein fahler Morgenhimmel ruhte über der toten Stadt. Dichte Dünste quollen auf, krochen über den Boden hin, wälzten sich wie geisterhafte Ungetüme durch die Straßen, in die Häuser, die Höfe, die Wohnungen; hüllten alles in giftigen Nebel.

Malaria!

Der ganze Ort eine Beute des Dämons.

Ich wendete mein Pferd. Ich jagte zurück durch die totenstillen Gassen, durch die verödeten Höfe des Fürstenhauses, durch das Thor und hinunter den Felsenweg. Ich jagte weiter und immer weiter, nicht wissend, wohin.

Plötzlich Glockengeläut.

Menschen! Menschen!

Ich ließ mich von den frommen Klängen leiten und bald war ich da: mitten in der Wildnis ein Heiligtum, ein Kloster.

»Santa Maria di Galera« stand über dem Thor.

Ich sprang vom Pferd, schwankte zur Pforte, sank dagegen mit schwindenden Sinnen, zog den Glockenstrang ... Es ward mir aufgethan – einem Todkranken.


Im Heiligtum von Santa Maria di Galera lag ich Tage und Wochen. Die guten Mönche pflegten mich. Sie leisteten mir Samariterdienste, so gut man sie in der Wildnis eben leisten kann. Dennoch retteten sie mir mit ihrem Chinin, mit ihren in Wein gekochten Zitronen und Eukalyptustränken das Leben.

Der Himmel konnte auf Erden keine treueren Diener und kein ärmlicheres Haus besitzen. Es lag mitten im Fieberland, in einem Ozean vergifteter Luft. Die ganze Stätte war verseucht. Fast jedes Jahr mußten von Rom aus neue Brüder dorthin geschickt werden; denn fast jedes Jahr starben die Bewohner aus.

Jetzt lebten nur noch drei Mönche im Hause des Friedens, und alle drei hatten das Fieber.

Sicher starben sie früher oder später daran. Was that das? Sie litten hienieden eine Spanne Zeit und gewannen dafür in einem besseren Jenseits das ewige Leben. Die Glücklichen!

So klagten sie denn nicht, sie harrten. Kaum daß sie selbst die Mittel nahmen, die sie ihren Kranken reichten. Wozu für sie Arzneien? Wollte sie der Herr vom Fieber befreien, so bedurfte es für die Seinen keiner Medikamente. Der Herr wollte jedoch, daß sie Fieber hatten.

Ich lag in einer Zelle, die einer Gruft glich. Aber das Fenster hatte keine Gitter und führte auf den Garten, darin in einer Wildnis von Rosmarin und Rosen hochstämmige Orangen wuchsen. Als es etwas besser mit mir stand, führte man mich in der Frühe hinaus, setzte mich unter einen der schönen Bäume, an dessen Stamm ich mich lehnte, und ein Bruder blieb zur Pflege bei mir.

Dem Tod entronnen, empfand ich eine leidenschaftliche Sehnsucht nach Leben und nach den Stimmen Lebendiger. Also sprach ich mit meinem Wärter. Ich saß zwischen Rosmarin und Rosen, schaute auf das tragische Landschaftsbild der sonnenverbrannten leblosen Campagna und lauschte auf die Worte meines Gefährten, der einer andern Welt angehörte als ich.

Mit der Stimme eines Abgestorbenen erzählte mir, dem Auflebenden, der junge Mönch Generoso da Frascati die Geschichte der Letzten von Galera, die ohne das Wunder, welches die Madonna für sie gethan, unrettbar dem Dämon der Stätte zum Opfer gefallen wären.


... Ich liebe allein Gott, die himmlische Jungfrau und die Heiligen. Also weiß ich nicht, wie es ist, wenn ein Mensch den andern liebt. Ich weiß auch nicht, wie man sein Herz an Dinge hängen kann, die von der Erde und dem vergänglichen Leben sind. Ich darf nicht Heimat, nicht Vaterhaus und Vaterland lieben. Meine Heimat, mein Vaterhaus und mein Vaterland sind nicht von dieser Welt.

Es soll Menschen geben, die sich für ihr Vaterland würden kreuzigen lassen wie Christus für die unsterblichen Sünden der Menschheit gethan hat.

Das verstehe ich nicht.

Das darf ich nicht verstehen!

Und es soll Menschen geben, die ihre Heimat mit solcher heißer Inbrunst lieben wie wir Söhne des Himmels nur Gott, den allmächtigen Herrn, lieben dürfen und nicht einmal unsere süße himmlische Frau.

Solche Menschen leiden um ihrer Heimat willen, begehen um sie Heldenthaten, vergießen ihrethalben das Blut ihrer christlichen Brüder; und werden sie aus ihrer Heimat vertrieben, so sterben sie daran, so welken sie hin gleich einer Pflanze, die aus dem Erdreich gerissen und fortgeworfen wird.

Solchen Menschen ist ihre Heimat teurer als Vater und Mutter, als Weib und Kind, als Gott der Vater und der Sohn. Wer aber seine irdische Heimat heißer liebt als seine himmlische, der begeht eine Todsünde.


Die Leute von Galera liebten ihre Heimat mehr als Vater und Mutter, Weib und Kind, Gott und Christus. Und deshalb mußten sie für ihre sündige Liebe dem Himmel schwere Buße zahlen.

Bereits in alten Zeiten, wo noch zu Rom in strahlenden Tempeln goldene Götzenbilder angebetet wurden, erlitten die Leute von Galera wegen ihrer Liebe zur Heimat ein Martyrium, wie solches der Christ nur für seinen allerheiligsten Glauben erleiden soll. Die Römer kamen immer von neuem zu dem Ort Careiae, wie er im Altertum hieß, überzogen ihn mit Krieg, stürmten die festen Mauern, töteten Greise und Kinder, entführten Weiber und Jungfrauen, machten die Männer zu Sklaven und verbrannten Häuser und Tempel. Aber wen die Schlacht verschonte, wer der Gefangenschaft entrann, der kehrte zurück, siedelte sich zwischen den Ruinen an; und es geschah immer wieder, daß aus den Trümmern des zerstörten Careiae eine neue Stadt sich erhob. So ging es fort durch Jahrhunderte und Jahrhunderte. Die Heidentempel sanken in Schutt, blieben als Schutt liegen. Es sanken die Heidengötter. Christus ward Gott und seine Kirche die triumphierende auch über die Leute von Careiae, die von allen am längsten sich sträubten, von ihren Göttern und Altären zu lassen. Trotzdem wurde aus dem heidnischen Careiae allmählich das christliche Galera. Doch dieses war Gott nicht wohlgefällig; denn mehr als Gott liebten die Leute ihren wilden Felsen, ihre schwarze Waldschlucht, den Sonnenschein, der ihre Stätte beschien, und das winzige Stücklein Himmel, das darüber strahlte.

Da ergrimmte der Herr, und er sprach in seinem Zorn:

»Ich will den Leuten von Galera einen Dämon schicken, der dieses Volk von seiner irdischen Heimat hinweg zu seiner himmlischen führt.«

Und Gott suchte den Ort Galera heim mit dem Fluch der Malaria.

Es war längst keine blühende Stadt mehr, als der furchtbare Engel des Herrn seine schwarzen Fittiche darüber ausbreitete und den Ort mit dem Odem seines Mundes vergiftete. Und Gott vermeinte: nun würden die Leute von Galera bald von ihrer verpesteten Heimat lassen und nur noch ihm anhangen. Er wollte ihnen dafür auf den Höhen der Berge von Albano, die zu ihrem Felsen hinüberleuchteten, eine Stätte bescheren, wo Wein und Oel floß wie im Land der Verheißung.

In Galera starben die Leute. Sommers zur Fieberzeit gab es kein Haus, das nicht seinen Toten hatte. Oft waren viele Tote in einem Hause. Die Leute von Galera schrieen den Himmel an: »Herr, Herr, was thaten wir dir, daß du uns züchtigst mit deiner schrecklichen Geißel?!«

Sie fürchteten Gott und dienten ihm auch; jedoch sie fuhren fort, seinen Zorn zu erregen, indem sie ihre Heimat mehr liebten als ihn.

So elend diese Heimat auch war, ein Sterbe- und Siechenhaus, liebten sie sie doch.

Es war, als wüchse zugleich mit ihrem Elend ihre Liebe.

In ihrer Blindheit begriffen sie nicht den Willen des Himmels, Sie riefen: »Wie kann bei uns Malaria sein? Wir hausen auf hohem trocknem Fels; ringsum ist Weide und Wald; in der Schlucht tollt und tobt unser überlustiger Arrone; nirgends giebt es Sumpf und Fäulnis; wir dienen Gott, beten zu seinem Sohn, verehren die Jungfrau Maria, lieben die Heiligen; und doch sind wir mit Weib und Kind dem Tode verfallen, Herr, warum?!«

Und sie wehrten sich gegen den Willen des Himmels, lehnten sich dawider auf, wurden Empörer und Sünder.

Wie in alten Heidenzeiten die gewaltigen Römer den Ort bezwungen und niedergeworfen hatten, so geschah es jetzt durch den Dämon der Seuche. Es kam vor, daß Galera nur hundert, nur fünfzig, nur zwanzig Bewohner besaß. Vielleicht blieben deren nur fünfzehn am Leben. Aber diese fünfzehn Verschonten ließen nicht von der verfluchten Stätte.

Sie machten alles Weideland ringsum zu Feld, das sie im Schweiß ihres Angesichts bebauten. Sie gruben und pflanzten; sie düngten die vergiftete Scholle mit der Arbeit ihrer Hände und mit der Liebe ihrer Herzen.

Aber der Dämon wollte und wollte nicht weichen!

Es kamen Zeiten, wo sie ihre Stadt bereits zu Anfang des Sommers verlassen mußten. Der ganze Ort wanderte aus. Unter wildem Wehklagen sammelten sich die Leute auf dem Platz vor ihrer Marienkirche und zogen davon wie zu der Bußfahrt nach einem Wallfahrtsort.

Ihre Kirchen und Kapellen ließen sie unverschlossen, ebenso Häuser und Höfe. Sie wußten: kein Dieb und Räuber würde der Stätte sich nähern, davor der Dämon des zürnenden Gottes die Wache hielt.

Sie zogen in das Gebirge, wo sie den Sommer über Knechtsdienste thaten. Um sie her reiften die Ähren des Feldes, reifte die Traube und die Ölfrucht; es war ein Segen des Himmels ohne Ende. Die Leute von Galera aber standen an den Feierabenden und spähten über das leuchtende römische Land hinweg, wo sie es inmitten des weiten goldigen Gefildes aufdunkeln sahen: der Fels von Galera – ihre Heimat!

Die Bewohner der Berge wollten die guten Arbeiter gern bei sich behalten, boten ihnen Grund und Stätte. Aber die Leute von Galera mochten nicht bleiben: sie wollten zurück in ihre Heimat! Von der Welt und vom Himmel wollten sie nichts andres, als diese. Und konnten sie in ihrer Heimat nicht leben, so wollten sie doch darin sterben und begraben werden.

Unter Wehklagen waren sie fortgezogen, unter lautem Jubel kehrten sie wieder, sobald die ersten Herbstregen gefallen waren.

Ihre Heimkehr war ein Fest, Wohl feierten sie auch Feste Gottes, der Jungfrau und der Heiligen. Aber kein Fest war für sie so groß wie das ihrer Heimkehr auf den Fels des Fiebers, zu der Stätte des Todes.

Ihre Sünde war immer noch riesengroß: immer noch mußte der Herr strafen.


Bereits vor zwei Jahrhunderten war Galera eine tote Stadt, die Burg der Orsini eine Ruine. Die meisten Häuser waren ohne Thüren: kein Fuß überschritt mehr die Schwelle. Die Gassen erschienen mit ihren epheuumsponnenen Mauern wie düstere, feuchte Hohlwege, die ein Schlupfwinkel für Skorpionen und Nattern waren.

Die Orsini, die ihr Eigentum gegen jeden Feind behauptet hatten, mußten es einer Macht überlassen, der selbst dieses gewaltige Fürstengeschlecht nicht gewachsen war: dem Fieber.

Sie verkauften den verrufenen Ort um einen Spottpreis an den einzigen, der darum sich bewarb.

Dieser war aus dem alten und edeln, aber völlig herabgekommenen Hause der Anunziaten, die einstmals in der römischen Campagna viele Kastelle und große Güter besessen hatten.

Bereits verfiel in Galera das letzte Gotteshaus. Die Tiere der Wildnis hatten darin ihre Lagerstätte und auf dem Altar der Himmelskönigin nisteten Wildtauben. Nur ein junger Priester harrte noch aus, um das letzte Herrengeschlecht von Galera begraben zu helfen. Aber das Fieber raffte ihn vor den übrigen hin.

Jetzt wollte kein Priester mehr kommen ... So geschah es, daß in Galera das Wort des Herrn verhallte wie ein Ton im Winde. Am Altar wurde keine heilige Messe mehr gelesen, kein gekreuzigter Leib des Gottessohnes mehr verehrt. Es konnten in Galera weder Sünden gebeichtet noch im Namen des Herrn vergeben werden; und wer starb, empfing nicht den letzten Trost in der Todesnot. So schrecklich erfüllte sich der Zorn Gottes an jenen, die einen trostlosen Fleck Erde mehr liebten, als das ganze glückselige Himmelreich.

Dennoch wollten auch die Anunziaten von ihrer Heimat nicht lassen!

Da geschah es am Anfang des vorigen Jahrhunderts, daß der Dämon von Galera nur einige am Leben ließ. Diese waren Avenzino d'Anunzio und seine Frau Ersilia, nebst einer Magd Agnese und einem Knecht Ettore. Also bestand die ganze Bevölkerung Galeras damals nur aus vier Personen.

Avenzino und Ersilia hatten ihre sämtlichen Kinder: Söhne und Töchter, am Fieber verloren. Als nun Ersilia wiederum ein Leben unter dem Herzen trug, erfaßte die arme Mutter Verzweiflung. Sie flehte ihren Mann an, den Ort des Fluches zu verlassen und müßten sie auch fortan heimatlos sein.

Aber Avenzino konnte von der Heimat nicht lassen.

Nun gab es in Galera ein uraltes Bildnis der Gottesmutter, das über dem Altar gestanden. Die Leute hatten das Bild verehrt, ohne daß die Fürbitte der Madonna den Zorn Gottes gegen ihre Stadt zu mildern vermocht hätte. Seit dem Aussterben des Ortes ward auch des Bildnisses nicht mehr gedacht. Es blieb vergessen an seiner Stelle und Rosen, Epheu und Brombeeren webten einen dichten Teppich davor.

Obgleich in dem verödeten Gotteshause kein Priester mehr waltete, konnte die gute Ersilia es doch nicht unterlassen, morgens, mittags und abends die süße Gottesmutter an der Stelle anzurufen, wo immer noch ihr Altar stand. In brünstigem Flehen lag sie auch jetzt auf den Stufen unter Gras und wilden Blumen und hörte nicht auf, der Madonna ihr Leiden zu klagen und sie für das Ungeborene um Schutz und Hilfe anzuflehen.

Als sie ihre Stunde nahen fühlte, suchte sie mit letzten Kräften noch die einst geweihte Stätte auf, warf sich nieder, hob die Arme und rief:

»Erlöse uns von dem Fluche! Das Kind, dem ich jetzt in Schmerzen das Leben geben werde, soll nicht seinen Eltern, sondern dem Himmel gehören. Nur laß es mich nicht auch zu Grabe tragen! Mutter Gottes, hilf einer Mutter!«

Als die Frau noch lag und in heißem Gebet rang, sah sie über sich aus dem Gewebe von Ranken und Blüten zwei Turteltauben flattern. Dabei schob sich der grüne Vorhang um ein weniges auseinander, und die Betende vermeinte, einer Erscheinung gleich, ein himmlisches Antlitz zu sehen, welches gar holdselig auf sie herunterlächelte. Sie rief ihren Mann und dieser entdeckte hinter dem Teppich der Ranken, darein Hunderte von blühenden Rosen gewirkt waren, wohlverwahrt und vollkommen unversehrt, in frischen Farben leuchtend, das Bildnis der heiligen Jungfrau.

Sie war dargestellt inmitten eines Haines schneeweißer Marienlilien, die ihr bis zur Brust reichten. In den Armen hielt sie das göttliche Kind. Es faßte mit beiden rosigen Händlein nach den schimmernden Kelchen. Darüber lächelte die schmerzlichste aller Mütter glückselig.

Von dem Lächeln der Gottesgebärerin schien sich eine Welle von Glanz nicht nur über das ganze Bildnis zu ergießen, sondern auch über alle, die es sahen.

Mit Hilfe der Magd und des Knechtes schaffte Avenzino das Gemälde sogleich aus der Ruine fort und in den armseligen Raum, den er mit seinem Weibe bewohnte, und den das Bildnis fortan mit seiner Glorie durchleuchtete. Unter dem Lächeln der Madonna gab Ersilia andern Tages einem Knaben das Leben und hauchte dabei das ihre aus, vollkommen schmerzlos und mit einem Strahl des himmlischen Lächelns auf ihrem Antlitz. Sie hatte ihrem Manne nicht einmal sagen können, daß sie das Leben ihres Kindes dem Himmel gelobt. Nur die Madonna wußte darum, und diese betrachtete fortan den Knaben als ihr Eigentum.

Avenzino verfertigte seiner entschlafenen Gattin selber die letzte Behausung, bettete sie in Menthe und Thymian, bahrte die Leiche vor dem Madonnenbild auf und entzündete zu Häupten der Toten ein dreiarmiges Lämplein.

Dann sattelte er sein Pferd, gebot dem Knechte, auf dem Kirchhof das Grab zu schaufeln, übertrug die Sorge für die Gestorbene und für das Lebende der getreuen Agnese und ritt nach Formello zu dem Priester, dessen er für Mutter und Sohn bedurfte. Er fand den Diener Gottes, ließ ihn auf sein Pferd sitzen und schritt in schweren Gedanken neben dem geistlichen Reiter einher ... Jetzt war seine Frau tot. Aber das Kind lebte! Wenn das Fieber auch diesen letzten Sohn – diesen letzten seines Hauses hinwegraffen würde?! Die bleiche Frau, die jetzt so still dalag, hatte ihn angefleht, den verseuchten Ort zu verlassen und das Leben seines Kindes zu retten. Zu keiner Bitte konnte sie mehr die Hände falten, aber dennoch baten ihn diese regungslosen Hände: »Geh fort! Mir zuliebe!« Und Avenzino fühlte, daß er dieser letzten stummen Bitte seines Weibes keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochte.

Unter dem lächelnden Madonnenbilde tauften sie das Kind. Dann wurde die Tote davongetragen und hinabgesenkt. Hierauf gab es in Galera den Taufschmaus, der zugleich das Leichenmahl war. Agnese hatte Oelkuchen gebacken, der Knecht im Arrone ein Gericht Forellen gefangen und Avenzino ans Formello etwas Wein mitgebracht. Da kein Geld vorhanden war, erhielt der Geistliche seine Tauf- und Leichengebühren in Honig, Hühnern und Eiern reichlich ausgezahlt. Ettore geleitete den Priester zurück und trug die Gaben für die Kirche in Körben wohlverpackt, das gackernde Federvieh an den Beinen zusammengebunden.

Nun sollte Avenzino der letzten stummen Bitte seines Weibes willfahren und Galera verlassen. Er war dazu bereit. Jede Woche nahm er sich vor: in der nächsten ziehst du fort! Dann gab es zuvor noch dieses und jenes zu thun und ein neuer Termin wurde bestimmt, wo es dann genau ebenso kam. Jetzt war das beste Stück der Herde erkrankt, oder die Wiesen standen voll des herrlichsten Grases; jetzt begann der Schnepfenstrich, und jetzt wollte Agnese wissen, daß die Bienen noch in keinem Jahr so viel Honig zusammengetragen, oder Ettore mußte im Arrone einer Biberfamilie auflauern. Überdies behaupteten beide, so gesund wie in diesem Jahr hätten sie sich in Galera noch niemals gefühlt! Gewiß würde in diesem Sommer keine Malaria sein; man konnte mit der Auswanderung wenigstens bis zum nächsten Jahre – bis zur nächsten Fieberzeit warten.

Und dann, wenn sie fortzogen, wohin?

Der Malaria wegen war Galera allmählich ein Ort geworden, für den sich kein Herr mehr fand. Das Ackerfeld hatte sich von neuem in Weide verwandelt. Ein einziger Weideplatz aber war um jene Zeit das ganze unabsehbare römische Land von Civita Vecchia bis zum Circekap, von der Meeresküste bis zum Sabinergebirge! Daher besaßen die Weiden auch für den fremden Pächter nur geringen Wert.

Da Avenzino für das ganze aus Stein gebaute Galera nicht einen Skudo und für die Verpachtung der Wiesen nur ein geringes Sümmchen erhalten hätte, so blieb ihm nichts anderes übrig, als mit der Herde in Gottes Namen abzuziehen, einen Teil seines Viehstandes in Rom zu veräußern und von dem Erlöse irgendwo im Gebirge ein Stücklein Landes zu erwerben, um dann dort eine neue ungeliebte Heimat und ein neues mühseliges Lebenswerk zu gründen.

Und noch niemals war ihm die alte Heimat so schön und teuer erschienen! Dieser wundersame Felsen von Galera mit der in Blumen und Ranken versunkenen Stadt über der schattigen Schlucht; mit den grünen Weiden, der ganzen herrlichen Landschaft, die der Tuffkegel beherrschte wie der Thron eines märchenhaften Königs ... Und der Herr von Galera zugleich Herrscher in dieser Wildnis, die ihm ihre Gaben wie einen Tribut zu Füßen legte: Fische und Wildpret, Honig und Früchte ... Und Avenzino fühlte sich von der Liebe zur Heimat wie durch einen Zauber gefesselt.

Inzwischen sorgte die treue Agnese nach besten Kräften für das Leben, welches die gute Erfilia der Fieberwelt von Galera zurückgelassen hatte. Das Kind gedieh, als ob die Madonna selber Mutterstelle an ihm verträte, von der Wand herabstiege, den süßen Jesusknaben unter die weißen Lilien legte und dafür den kleinen Astorre auf den Arm nähme. Wenigstens verging keine Stunde, daß das Mutterlose, dessen Bettlein dicht unter dem Bildnis stand, nach der himmlischen Frau nicht seine Arme ausgestreckt hätte, um gleich darauf glückselig zu lächeln, nicht anders, als hielte es die Madonna am Herzen. Seine ersten lallenden Worte galten der Himmelskönigin, mit seinen ersten schwankenden Schritten lief es zu dieser hin, seine ersten Spiele spielte es zu ihren Füßen. Dabei mochte der kleine Jesus von Nazareth der Spielgefährte von Astorre d'Anunzio di Galera sein.

So wuchs der Knabe auf, in solcher glückseligen Jugend, als wäre der verseuchte Ort der Garten des Paradieses, darin er von einem Engel des Herrn gegen Gottes Dämon geschützt wurde.

Es kamen Zeiten, wo sowohl Avenzino wie Agnese und Ettore am Fieber litten. Aber kein Hauch der giftigen Luft streifte die blühenden Wangen des Knaben, dessen weiche Schönheit etwas von der Holdseligkeit eines Seraphs hatte.

Es war ein überaus träumerisches Kind, welches stundenlang im hohen wehenden Grase liegen und mit weit offenen Augen zum Himmel aufschauen konnte, mit einem Blick, als sähe es über sich die leuchtende Unendlichkeit von seligen Gestalten erfüllt, die ihm zuwinkten und ihn anlächelten ... Oder der Knabe durchstreifte die Wildnis rings um den heimatlichen Fels und jedesmal fand oder sah er, was sonst noch kein Mensch gefunden oder gesehen hatte: Blumen und Vögel von wunderbarer Farbenpracht, große leuchtende Schmetterlinge und seltsam schimmernde Steine. Hatte er sich müde gelaufen, so warf er sich an das Ufer des rauschenden Arrone unter die blühende Menthe achtlos an verseuchten Stellen nieder, wo sich jeder andre sichern Tod geholt hatte.

Sein Hauptspielplatz war die verlassene Stadt, die ein einziger künstlicher Garten erfüllte. Denn die Natur schmückte diese Stätte des Sterbens, als wäre sie ihr liebstes Kind. Gleich einer der großen funkelnden Eidechsen schlüpfte Astorre durch die Blütendickichte, welche Blaudrosseln, Nachtigallen und Turteltauben bewohnten. Keine Schlange biß, kein Skorpion stach den Knaben und die Wildnis enthüllte ihm alle ihre Geheimnisse, so daß sie für Astorre zu einem Buche ward, welches die Herrlichkeit Gottes verkündete.

Während die alte Agnese dem Liebling der Menschen und des Himmels die Leidens- und Sterbegeschichte unseres Herrn und Heilands und die Legenden der Heiligen erzählte, unterwiesen Avenzino und Ettore den Knaben in allerlei irdischen Dingen, als da sind das Verfertigen und Stellen von Vogelfallen und Fischnetzen, das Einsammeln von Beeren, Kräutern und Pilzen und die Kunst der Bienenzucht. Denn weil auf und um Galera ein üppiges Blühen war, so gab es jedes Jahr eine Menge Schwärme wilder Bienen, die von Avenzino eingefangen wurden. Überall standen Bienenstöcke, aus hohlen Bäumen verfertigt. Ein ganzer Wald solcher belebten summenden Bäume, voll des süßesten Inhalts war ringsum zu finden und die Honigernte gehörte zu den heitersten Festen des Jahres.

Astorres liebste Beschäftigung war die der Königssöhne des alten Rom: das Weiden der Herden seines Vaters. Seiner Hut wurden denn auch die Schafe und Ziegen anvertraut. Er führte seine blöckenden und meckernden Schutzbefohlenen an Stellen, wo die saftigsten Gräser, die kräftigsten Kräuter wuchsen; und die Seinen waren voll Staunens, wie herrlich das Vieh auf diesen Weideplätzen gedieh.

Aber das Hirtenleben nährte des Knaben Hang zu Einsamkeit und Träumerei. Während er im Schatten einer Steineiche oder auf sonniger Flur lag, lauschte er auf das Rauschen des Windes, auf die Stimmen der Wildnis, beobachtete er den Zug der Wolken und den Flug der Vögel. Er machte sich über alles Gedanken und schaute die ganze Natur voller Wesen und Leben.

Der alte Ettore schüttelte häufig den Kopf und meinte mißbilligend: »In dem Jungen steckt ein Klosterbruder!«

Als wüßte Astorre, daß seine Mutter kurz vor ihrer Todesstunde ihn dem Himmel gelobt, betrieb er von frühester Kindheit an einen inbrünstigen Madonnenkult. Jeden Tag schleppte er die schönsten Blumen zusammen und häufte sie vor dem Bildnis unsrer lieben Frau; und jeden Abend, wenn sie in La Storta das Ave Maria läuteten, steckte er der Mutter Gottes eine dreiarmige Lampe an. Als er größer ward, fing er Wachteln und Wildtauben, die Ettore mit anderm gefangenen und gejagten Gevögel, mit Wildpret, Forellen, Honig, Eiern und Fellen Sonntags in Formello verkaufte. Für den Erlös mußte der Knecht dem kleinen Herrensohn hohe prächtige Wachskerzen einhandeln, und fortan brannte stets eines dieser frommen feierlichen Lichter vor der heiligen Jungfrau unter den Lilien. Oder sie erhielt gar Räucherwerk angezündet, so daß die Himmlische aus einer Wolke Weihrauchs auf ihren jungen Diener herablächelte.

Agnese erzählte dem gierig lauschenden Knaben von den Marienandachten, die im wonnigen Mai in vielen Kirchen und Kapellen der ganzen Christenheit gehalten werden. Die lebhaften Schilderungen der lieblichen Feier machten auf Astorres Gemüt mächtigen Eindruck. Als der erste Mariensonntag kam, fand man ihn unter Blüten vor dem Madonnenbildnis stehen, eine weiße Decke als Chorhemd umgethan und leuchtenden Auges, in stiller Verzückung die Holdseligkeit und himmlische Güte der Gottesgebärerin preisend; und das mit Worten, die durch den Mund des Kindes ein seliger Geist zu sprechen schien.

Astorres Vater ward durch seines einzigen Sohnes leidenschaftliche Neigung zum geistlichen Wesen mit Trauer erfüllt und wenn die Zeit des Fiebers kam, pflegte der Mann in seiner Blindheit zu sagen:

»Meines Sohnes willen wollte ich Heimat und Haus verlassen; aber er wird Heimat und Vater verlassen, um Mönch zu werden. Nicht das Fieber bringt ihn in ein frühes Grab, sondern seine eigne Seele. Wenn der Dämon Galeras auch mich gewürgt hat, so wird Gottes Zorn gegen diese Stätte gestillt sein; denn auch der letzte der Anunziaten ist alsdann ein Gestorbener, ein Mönch.«

Astorre wurde ein schöner und frommer Jüngling. Wer ihn sah, vermeinte von seiner Stirn einen Glanz ausgehen zu sehen, nicht anders, als ob der Schein des Madonnenlächelns seine Züge erhellte.

Er war neunzehn Jahre alt, als sein Vater starb: am Fieber, wie es einem der Leute von Galera nach uraltem Brauch geziemte. Sein Sohn zimmerte den Sarg, holte für ihn aus Formello den Geistlichen und half ihn mit heißem Schmerz an der Seite der Mutter begraben. Jetzt war er der letzte Sproß seines Hauses und der letzte Herr von Galera.

Der Kirchhof dieses Ortes liegt noch heute mitten auf freiem ödem Felde, ohne Baum und Strauch, an der Landstraße nach Bracciano. Ein mächtiges schwarzes Kreuz erhebt sich darauf. In den heißen Sommernächten der Fieberzeit öffnen sich die Gräber: die Leute von Galera steigen heraus und wallen in langen langen Scharen durch das schöne Thal des Arrone und den braunen Felsen hinauf in ihre Stadt, die so tot ist wie sie selbst. Die Leute von Galera können auch im Tode von ihrer Heimat nicht lassen.


Astorre verfiel in Schwermut.

Nun sein Vater tot war, kannte er auf Erden nichts Schöneres als seine einsame, wilde, verpestete Heimat, besaß er unter dem Himmel nichts Teureres als sie. Als einstmals sein Vater in einem besonders bösartigen Fieberjahr ihn mit Agnese in das Gebirge senden wollte, hatte sich der Knabe auf den Boden geworfen, die Scholle seiner Heimat mit beiden Armen umfangend, sein kleines Herz dagegen pressend, als wäre die Erde von Galera ein heißgeliebter Mensch. Der Schmerz über die drohende Abreise hatte damals das Kind krank gemacht, so daß Avenzino es dabehalten.

Und doch wollte Astorre jetzt sein Schönstes und Teuerstes auf der Welt hingeben, um durch dieses Opfer den Fluch von der Heimat zu nehmen, den Gottes Zorn darauf gelegt.

Denn seines ganzen Menschen hatte sich der Glaube bemächtigt, daß, wenn er sein Leben Gott und der heiligen Mutter des Heilands weihte, Galera von der Heimsuchung befreit werden und den geliebten Ort einstmals ein neues gesundes und glückliches Geschlecht bevölkern würde. In solcher Weise hatten die letzten Gedanken seiner frommen Mutter sich in der Seele des Knaben umgebildet.

Avenzino jedoch hatte auf dem Sterbebett seinen Sohn beschworen, nicht in ein Kloster zu gehen; und der arme Astorre hatte dem Vater gelobt, in Galera zu bleiben.

Darum nun: weil er als guter Sohn den Wunsch des Vaters freudigen Herzens erfüllen wollte und sein Gelöbnis an diesen ihn hinderte, die Heimat zu verlassen und Mönch zu werden – wie er es doch hatte werden sollen – so verdüsterte sich in solchem Zwiespalt sein Gemüt mehr und mehr.

So geschah es, daß eine tiefe Trauer über diesen jungen schönen und reinen Menschen kam, den Gott so recht nach seinem Bilde geschaffen.

Er arbeitete im Schweiße seines Angesichts, verwandelte ein großes Stück Weide von neuem in Ackerland, baute Korn und erntete in schweren Weizenähren goldenen Himmelssegen. Er pflegte seine Herden und Bienen, dem alten Ettore die Jagd und Fischerei überlassend. Nach wie vor betrieb er einen überschwenglichen Marienkult, also daß die Madonna nicht aufhörte, dem Jüngling zuzulächeln, als ob er ihr getreuer Unterthan und Vasall wäre, über dessen Leben sie zu gebieten hatte – und nicht Gott, der allmächtige Herr! Ihr Lächeln schien zu sagen: »Jetzt hause ich mit dir auf dem Fels von Galera. Fürchte dich nicht. Ich werde zur rechten Zeit schon alles zum guten Ende führen.«

Und der Dämon von Galera bekam nach wie vor über diesen letzten Anunziaten keine Gewalt.

Astorre wurde ein leidenschaftlicher Reiter, der tagelang zu Pferde saß und ohne Ziel und Zweck die Steppe durchraste, als ob er verfolgt würde von seinen eignen Gedanken, Wünschen und Begierden, die ihn hin und her trieben, von der Erde auf zum Himmel und wieder zur Erde herab.

Er konnte aber auch, grade wie in seinen Knabenjahren, am Rande des Felsens von Galera ruhen und stundenlang starren Auges in die endlos scheinende Ferne schauen, van einer Sehnsucht erfüllt, dafür er keinen Namen wußte. Während der langen Regenzeit und im Winter, wenn um das zerstörte Haus der Orsini und Anunzii die Stürme brausten, als wollten sie die geborstenen Mauern niederreißen, verträumte der Jüngling manchen Abend in der großen Halle, in deren gewaltigem Kamin ganze Lorbeerbäume verkohlten. Er faß und starrte in die knisternden Flammen, lauschte auf die alten Geschichten und Legenden der die Spindel werfenden Agnese und hörte doch von allem kein Wort. Zuzeiten war er todesmatt, als verzehrte ein Fieber seine Seele.

Und die Sehnsucht in ihm wuchs und wuchs. Doch er wußte noch immer nicht, wonach er sich sehnte.

Tag für Tag sprachen die alten und getreuen Dienstleute über ihren lieben traurigen Jüngling. Agnese behauptete:

»Er muß eine Wallfahrt thun. Das wird ihm helfen!«

Aber Ettore murmelte: »Was da, Wallfahrt! Er muß sich ein Weib nehmen. Das wird ihn heilen!«

»Damit ihm Weib und Kind am Fieber sterben? Ich sage, es muß eine Wallfahrt sein.«

Astorre, nach seiner Gewohnheit, vertraute sich der Madonna an:

»Ich weiß nicht, was mir fehlt. Du weißt es. Hilf mir, heile mich!«

Und die heilige Jungfrau lächelte ihm zu:

»Das will ich!«

Dieselbe Nacht erschien sie ihrem inbrünstigen Verehrer im Traum. Und sie sprach zu Astorre mit einer Stimme, lieblicher als das Säuseln des Sommerwindes im blühenden Menthekraut, als die Lieder der Amsel in den Rosenbüschen am Arrone:

»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Ziehe aus und hole dir die Gefährtin.«

Astorre fühlte sich von heißen Schauern überrieselt; und er fühlte sein junges Blut wie eine himmlische Glut. Dennoch erwiderte er der heiligen Jungfrau:

»Wenn ich auch nicht Mönch werden darf, so möchte ich doch keinem Weibe angehören als dir, der ich mich von Jugend an zugelobt habe.«

Nach Frauenart schaute die Himmlische voll Wohlgefallens auf ihren treuen Diener. Da sie jedoch mit ihm Besonderes im Sinne hatte; und da selbst die heiligste Frau das Ehestiften nicht lassen kann, so sagte sie abermals:

»Hole dir die Gefährtin.«

Astorre, mit wild pochendem Herzen, entgegnete:

»Ich versprach meinem sterbenden Vater, in Galera zu bleiben. Wie kann ich mir hierher ein junges Weib holen, das doch nur hinsiechen und sterben würde? Denn da ich nach meines Vaters Wunsch nicht Mönch werden soll, so will ich wenigstens von meiner Heimat nicht lassen, auch nicht um eines hübschen und guten Mädchens willen.«

Etwas ärgerlich über solche unritterliche Gesinnung gegen eine ihres Geschlechts, sprach die Madonna zum drittenmal:

»Astorre, ziehe aus!«

Darauf verschwand das Traumbild ... Astorre erwachte mit einer Empfindung, als ob von Stund' an für ihn ein neues Leben begänne. Sein elendes Zimmer erfüllte der wonnige Duft der Marienlilien und eine breite Bahn lichten Dunstes war durch die Luft gezeichnet wie ein Streifen Sonnengoldes. Sie führte aus seinem Gemach bis in jenen Raum, wo an der Wand das Gemälde der Jungfrau hing.

Am Morgen kündigte der Herr von Galera seinen beiden Dienstleuten an:

»Ich ziehe aus.«

Beide fragten:

»Wohin?«

Aber das wußte Astorre selbst nicht und jetzt war guter Rat teuer. Um den beiden Alten nicht thöricht zu erscheinen und um einen Zweck für sein ungewöhnliches Vorhaben anzugeben, sagte er:

»Die Madonna gab mir heute nacht im Traum einen guten Rat; darum will ich zur Madonna del buon' consiglio wallfahrten.« Jetzt triumphierte Agnese, daß Astorre das Rechte thäte. Aber Ettore grollte:

»Das sind Weibergeschichten!«

Nun giebt es in Italien keine Stadt oder Flecken, der nicht ein Heiligtum der Madonna vom guten Rat besäße. Und da der Mensch in seinen Irrtümern, Ängsten und Nöten zu jeder Stunde des Lebens eines guten Rats bedürftig ist, so wird kein andres Bildnis der heiligen Frau so hoch verehrt und von ratsuchenden bedrängten Sündern so umlagert wie dieses. Agnese zählte sogleich ein halbes Hundert solcher Heiligtümer auf, so daß Astorre die Wahl schwer wurde.

Da er von seinem Felsen aus immerwährend das Albanergebirge vor sich hatte, wonnig und leuchtend wie ein schönes schimmerndes Gewölk, welches auf der wilden Steppe ruhte, so entschied er:

»Ich will zu dem Madonnenbilde unsrer lieben Frau, welches die Kapuziner in ihrer Kirche oberhalb Frascati verehren.«

Nun erteilt aber grade dieses Bildnis – wie jeder fromme Christ im römischen Lande weiß – besonders in Sachen sehnsüchtiger und bedrängter Herzen guten Rat, weshalb es denn auch besonders hoch in Ansehen und Ehren steht und einen gewaltigen Zulauf liebeskranker Jungfrauen und Jünglinge hat ...


An dieser Stelle unterbrach der Bruder, der mir das Schicksal der letzten Leute von Galera bald im Ton einer alten Legende, bald wie eine moderne Dorfgeschichte berichtete, seine Erzählung mit einem schweren Seufzer. Es klang gleich einem erstickten Stöhnen, als erführe er die Versuchungen jenes allerärgsten Höllengeistes häufig an sich selber; und seine Seele trüge von dem grimmigen Ringen mit dem Bösen blutige Wunden, ohne daß es ihr gelungen wäre, den Feind zu besiegen und in das Friedensreich aller Entsagung einzugehen.

Ich sah ihn an.

Es war ein schöner Jüngling, das Gesicht bleich vom Leben in der Fieberwüste, die Züge starr durch Askese. Er preßte die jungen Lippen, die den verräterischen Schmerzenslaut sich hatten entschlüpfen lassen, fest zusammen, senkte die dunkeln leidvollen Augen, die selbst im Traum die Schönheit der Welt nicht schauen durften und in denen noch immer ein Strahl heißen irdischen Verlangens glühte, tief zu Boden; und ich bemerkte, wie er mit blassen zitternden Händen heimlich nach dem Agnus an seiner Seite tastete, daran der Gekreuzigte hing. Diesen hielt er umkrampft.

Um den Mönch nicht erkennen zu lassen, daß ich seine heimliche Qual ahnte, bemerkte ich:

»Ihr scheint Ärgernis daran zu nehmen, daß die Madonna den guten Astorre, anstatt ihm zu gebieten, vor allen Dingen das Gelöbnis seiner Mutter zu erfüllen, auf die Brautfahrt ausschickte?«

Mit abgewendetem Gesicht murmelte der Bruder:

»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.« Alsdann etwas lauter: »Astorre d'Anunzio war ein glückseliger Mann; denn ihm zuliebe hat die Madonna von Santa Maria di Galera ein Mirakel gethan.«

Ich rief:

»Die Madonna von Santa Maria di Galera! Also heißt dieses Heiligtum nach jenem Bildnis, zu dem Astorre im Hause der Orsini gebetet?«

»Es befindet sich in der Kirche unsers Klosters, welches Astorre d'Anunzio gegründet hat.« »Er lebte hier?«

»Er war der erste Wächter des heiligen Bildnisses.«

»Astorre d'Anunzio wurde Mönch?!«

»Ihr könnt sein Grab sehen. Er starb als Bruder Felice da Galera.«

»Demnach hat er die Braut, die er auf Geheiß der Madonna suchte, nicht gefunden? Oder er fand sie, nahm sie zum Weibe, brachte die Arme nach seinem verseuchten Galera und ließ auch sie vom Dämon des Ortes dahinraffen?«

»Astorre d'Anunzio war ein glückseliger Mann,« wiederholte mein Gefährte. Dann erzählte er, der den guten Astorre um die Mittlerschaft der heiligen Jungfrau heimlich beneidete, gelassen weiter:

... »Also ging denn Astorre wallfahrten zum Gnadenbilde der Madonna vom guten Rat bei den Kapuzinern in Frascati.

Gewiß hätte die Madonna unter den Lilien von Galera nicht erst nötig gehabt, ihren guten und frommen Jüngling zu der Himmelskönigin im Alvanergebirge zu schicken. Aber mochte sie nun der Frascatanerin Grüße bestellen wollen, oder mochte es selbst der Madonna schwer fallen, Astorre in dem verrufenen verseuchten Galera eine passende Braut finden zu lassen – genug, sie schickte ihn auf die Pilgerfahrt.

Die alte Agnese begleitete ihn. Wenn sie vor ihrem sicherlich baldigen Fiebertode noch einmal eine weite und mühselige Wallfahrt unternahm, so würde sie in Frieden die Augen schließen können, ohne der letzten Ölung zu bedürfen, die in Galera nur schwer zu beschaffen war. Zu ihrer Betrübnis ging die Pilgerfahrt nicht nach dem heiligen Hause von Loretto oder wenigstens zu der schwarzen Madonna von Genazzano; und die Frascataner Himmelskönigin, die hauptsächlich in Liebesnöten guten Rat erteilt, war auch nicht grade geeignet, ihr sonderlich zu helfen. Aber sie tröstete sich mit der Vorstellung von all' den Kirchen und Kapellen, an denen ihr Weg sie sicher vorüberführte. Und erst in Rom! Es hätte der Wanderung eines Jahres bedurft, um in Rom von Heiligtum zu Heiligtum zu kommen. Wie schön die Welt doch war!

Und Greisin und Jüngling zogen aus ... Agnese trug auf dem Kopf ein gewaltiges Bündel frischgebackenes Brot und Ziegenkäse, und Ettore mußte eine junge Steineiche schneiden, die ihr als Stab zu dienen hatte. Astorre war in sein bestes Gewand aus dunkelblauem Linnen gekleidet. Die gute Ersilia hatte dazu noch den Faden gesponnen, gefärbt und gewebt; und ihm war, als ob seiner Mutter Segen ihn auf diesem Wege begleitete.

Es war im Juni und die Zeit des Schreckens und des Fiebers für das römische Land noch nicht gekommen. Die Wiesen leuchteten von Blüten. Bald war ein weites Feld purpurrot, bald goldgelb oder himmelblau. Wohlgeruch und Lerchengesang erfüllten die Luft; und die Welt erschien Astorre jung und schön wie am ersten Schöpfungstag.

Die beiden wanderten über La Storta und Isola Farnese. Sie beteten eifrig zu unsrer lieben Frau und redeten vertraulich mit der Madonna, als schritten sie zu dreien. Gegen Abend sahen sie von einer Anhöhe aus unter sich ein leuchtendes Meer von rosenrotem Dunst und mitten in dem Glanz ein flammendes Gewölbe, das zwischen Himmel und Erde zu schweben schien. Es war die Peterskuppel, erleuchtet von den Gluten der untergehenden Sonne.

In Rom wohnten sie bei einer Verwandten der Agnese. Am ersten Tage besuchten sie einige der sieben hochheiligen Kirchen; am zweiten beteten sie auf der heiligen Treppe beim Lateran; den dritten pilgerten sie weiter.

Es war aber grade der Tag des Fronleichnamsfestes, an dem sie in der glückseligen Weinstadt Frascati anlangten. Auf den Plätzen standen blumengeschmückte Altäre errichtet, grüne Pforten waren aufgebaut und Gewinde spannten sich über die Gassen, die mit Rosmarin und Rosen bestreut waren. Rote Vorhänge und buntfarbige Teppiche hingen aus den Fenstern und überall wurde dem Himmel mit großer Freudigkeit gedient.

Astorre und Agnese kamen auf den Platz vor dem Dom und stellten sich hier auf, um die Prozession zu erwarten.

Die Glocken läuteten, Böller wurden gelöst. Es krachte und knatterte. Die Orgel spielte und eine rauschende Musik ertönte. Vor den geöffneten Pforten der Kirche wich ein dunkler mächtiger Teppich zurück. Kerzenglanz strömte aus der Dämmerung der Gewölbe in die grelle Helle des Sommertags und in Pracht und Herrlichkeit wurde des Heilands gekreuzigter Leib dahergeführt. Mit allem Volk warf sich Astorre auf die Kniee, beugte sein Haupt und stand auf, nachdem das Allerheiligste vorübergetragen worden.

Da sah er im Zuge zwei alte schöne Frauen. Sie waren feierlich in scharlachrote Seide gekleidet, trugen hohe brennende Wachskerzen und führten zwischen sich ein Mädchen, jung und zart wie ein Kind. Dieses holdselige Wesen, auf das aller Augen sich richteten, trug ein orangefarbenes Gewand und war vom Kopf bis zu den Füßen schwarz verschleiert. Durch den Flor vor ihrem Antlitz erblickte Astorre lilienweiße Wangen, ein feines Näschen, einen kleinen roten Mund und lange, dunkle, tiefgesenkte Wimpern.

Diese hoben sich, gerade als die Liebliche an ihm vorbeischritt. Es war nicht anders, als würde ihr Blick durch eine geheimnisvolle Gewalt emporgezogen und auf ihn gerichtet. Große strahlende Augen sahen ihn staunend an. Gleich darauf war die schöne Erscheinung vorübergeglitten.

Der gute Astorre empfand einen heißen Schrecken bis in sein Herz hinein. Nie zuvor hatte er Derartiges gefühlt, etwas so Wundersames! Es wollte ihm erscheinen, als gliche das süße Kind dem Bildnis der Madonna von Galera; aber die Sünde dieses Gedankens entsetzte ihn. Trotzdem sah er von diesem Augenblick an von der ganzen Welt nichts mehr als dieses holdselige verschleierte Antlitz, gerade als hätte eine göttliche Hand für ihn alle übrigen Menschengesichter von der Erde weggelöscht.

Wie träumend begab er sich mit Agnese in eine Herberge, wo sie Wein tranken, der eine süße köstliche Glut hatte, und wo sie aus den Gesprächen der Leute erfuhren: das Mädchen im gelben Kleide sei eine arme Waise, von so sittenreinem und frommem Lebenswandel, daß sie – einem uralten Gebrauche gemäß – von der Gemeinde ausgesteuert und dem Volke als die Tugendreichste am Corpus-Dominifest gezeigt worden.

Nachmittags stiegen die Leute von Galera durch hochstämmigen Ölwald den Berg hinauf, an dessen von Fruchtbarkeit strotzenden Abhängen das Kapuzinerkloster hoch über dem wonnigen Frascati liegt.

Agnese konnte sich nicht genug über die Herrlichkeit des Landes verwundern, wo jede Scholle zwei- und dreifachen Himmelssegen trug. Und was am erstaunlichsten war: hier hatte kein Mensch das Fieber! Wenn die Wandrer zurückschauten, so gewahrten sie unter sich das römische Land. Sie erkannten, wo ihre Heimat lag und vermochten sich des Gedankens nicht zu erwehren: warum ist bei uns Wildnis und Fieber, und warum ist hier die Welt voller Wonne, Gesundheit und Reichtum? Gleichsam, als hätte er seiner über alles geliebten Heimat ein schweres Unrecht abzubitten, wiederholte Astorre im Herzen sein dem Vater gegebenes Versprechen, der Stätte, gegen welche der Himmel so ungerecht war, dennoch getreulich anzuhangen; »und,« so fügte er dem Gelübde bei, »und sollte auch ich dem Fluch, der auf ihr ruht, zum Opfer fallen.«

Da er im Kloster allein beten wollte, schickte er seine Gefährtin voraus. Er selbst warf sich neben der zum Heiligtum emporführenden hohen Treppe in dichtes Ginstergebüsch. Der schöne Strauch umstrahlte mit seiner blühenden Glorie ein Bildnis der Himmelskönigin, das in einem vergitterten Schrein an der Mauer des Klostergartens die Pilger am Eingang zum Asyle des Friedens begrüßte. Astorre achtete des Bildes nicht, auch ward es ihm durch die langen goldigen Blütenzweige zur Hälfte verborgen. Die Hitze des Sommertags, der Duft des Ginsters schläferten den Wallfahrer ein. Er verfiel in einen leichten Schlummer, darin er wie im Traum das Summen der Bienen und eine leise süße Frauenstimme vernahm. Er vermochte nicht, sich zu regen; aber er verstand jedes Wort. Es war eine inbrünstige Bitte an die Madonna, einem Mädchen zu einem braven Mann zu verhelfen.

Astorre dachte in seinem Halbschlaf: »Einen Mann für dich wüßte ich schon! Aber ich muß die suchen, welche ich finden soll ...« Und er träumte von dem lieblichen Mädchenbilde, das die rotgekleideten Frauen in der Prozession einherführten. Da mußte er voll heftiger Sehnsucht tief aufseufzen.

Darüber schlug er die Augen auf, glaubte jedoch weiter zu träumen. Denn die holdselige Gestalt aus dem Corpus-Dominizuge stand leibhaftig vor ihm. Nur deuchte sie ihn noch um vieles reizender; und er freute sich, so armselig sie auch gekleidet war; sie nicht mehr in dem gelben phantastischen Prunkgewande zu sehen, darin sie dem versammelten Volk wie ein Beutestück gezeigt worden war.

Sie hatte vor dem Madonnenbild gebetet, die Sorge ihres unschuldigen Herzens ausgeschüttet, hatte dabei eines blassen schönen Jünglingsantlitzes gedacht, welches ihr heute von einer göttlichen Hand während der Prozession gewiesen worden, hatte plötzlich einen lauten Seufzer vernommen, war erschrocken aufgesprungen und – und jetzt standen die beiden jungen Menschen einander gegenüber in solcher Verwirrung und Scham, als wären ihre Seelen nackend; und zugleich voll solch jauchzender Glückseligkeit, als trügen sie den Himmel, der über ihnen strahlte, auch in ihren Herzen.

Aber die Madonna trat unsichtbar zwischen sie, faßte sie bei den Händen und führte sie bis zu den Stufen vor ihrem Bildnis, auf welche sie das hübsche Pärlein sanft niederzog – und zwar gar nicht sehr weit voneinander entfernt. Darauf blieb sie ruhig hinter ihnen stehen; denn sie wußte, daß sie jedes Wort, welches die beiden miteinander redeten, hören durfte, und daß jetzt die ganze Angelegenheit so gut wie in Ordnung wäre. Denn in Liebessachen, meinte sie, komme es nur auf den richtigen ersten Anfang an; und der sei, gottlob, gemacht.

Also fingen die beiden an zu schwatzen.

Zunächst von diesem und jenem, was man eben so spricht. Dabei redeten sie so leise und ihre Herzen schlugen so laut, daß jedes vermeinte, das andre könnte darüber kein Wort hören. Plötzlich fiel Astorre ein, er müßte ihr sagen, wie er heiße und auch sie nach ihrem Namen fragen Der war: Maria. Von hundert Mädchen heißen neunzig Maria. Daß aber grade diese eine den heiligen Namen der Gottesmutter führte, deuchte den inbrünstigen Marienanbeter gleich einem wunderschönen Mirakel.

Und wie sie sonst noch heiße?

Frascatani. Maria Frascatani! Und sie erzählte, was sie von der Geschichte dieses Namens wußte ... Über dem wonnigen Frascati, auf hohem, weit sich hinziehendem Hügelrücken, liegen die Ruinen Tuskulums, dieser schönsten Villenstadt des Altertums. Schon im frühesten Mittelalter wurde Tuskulum von den Römern zerstört. Nur wenige Bewohner retteten ihr Leben. Einer darunter konnte von seiner Heimat nicht lassen und siedelte sich unterhalb seiner eingeäscherten heißgeliebten Vaterstadt in den Ruinen einer antiken Villa an. Er baute für sich und die Seinen zunächst Hütten aus Zweigen: frasche. Nach und nach sammelten sich um diese Laubzelte andre Vertriebene. So entstand ein Ort, der seinen Namen nach den ersten luftigen Bauten erhielt; desgleichen wurde der erste Ansiedler so genannt, um ihn als den Gründer Frascatis schon durch seinen Namen zu ehren. Der letzte der Anunzii konnte also um ein Mädchen aus altem Geschlecht werben.

Sie hatte weder Vater noch Mutter gekannt, die auch nur ein armseliges Weib war, und außer einer Gevatterin keinen Menschen gehabt, der sich um sie gekümmert hatte, und ohne den Schutz ihrer heiligen Namenspatronin wäre sie sehr bald wie ein Stein auf der Straße gewesen. Aber die Madonna hatte es mit der Marietta gut im Sinn, führte sie von der Gevatterin fort in ein Kloster, wo sie zuerst von den guten Schwestern wohl etwas herumgestoßen ward, später jedoch bessere Zeiten erlebte. Denn die heilige Jungfrau verlieh ihr eine große Geschicklichkeit, in Gold und Seide zu sticken; und so saß sie seit ihrem zehnten Jahre und stickte mit feinen flinken Fingern, zum Ruhm und Verdienst des Klosters, Altardecken und Priestergewänder. Vor allem jedoch fertigte sie mit ihrer Kunst Mäntel und Kleider für die heiligen Bildnisse Unsrer himmlischen Frau. Letztere Arbeit war Mariettas freudigstes Tagewerk. Sie war unermüdlich, schimmernde Ranken und goldige Blüten auf den blauen Sammet und die weiße Seide der frommen Prachtgewänder zu sticken. Dafür erwies die holdselige Mutter des Herrn der letzten aus dem Geschlechte der Frascatani sich dankbar; und da die guten Schwestern die geschickte Stickerin gern im Kloster behalten und zur Braut des Himmels gemacht hätten, so nahm sich die heilige Jungfrau hingegen vor, die kleine Marietta lieber einem hübschen und braven Mann zum Weibe zu geben.

So geschah es, daß das Mägdlein mit seinem achtzehnten Jahre aus dem Kloster entlassen und zum zweitenmal aus Barmherzigkeit von der Gevatterin aufgenommen wurde. Jetzt hätte Marietta einen Mann nehmen können; und es fand sich auch sogleich mehr als ein hübscher brauner Jüngling, dem das schlanke Figürchen und blasse Gesichtchen mit den roten Lippen und dem leuchtenden Augenpaar zum Sterben wohlgefiel. Aber zur Braut gehört nun einmal eine Aussteuer; und Maria hätte sich ihre kleinen hübschen Hände wund sticken müssen, um hundert oder gar zweihundert Skudi zusammenzubringen.

Dazu kam, daß sie bei der geizigen Gevatterin waschen und scheuern und grobes Linnen nähen mußte und in einem Hause wohnte, das nicht viel besser war als ein Mauerloch. Und es kam dazu eine plötzliche glühende drangvolle Sehnsucht nach Licht und Leben und Lebensfreude. Kurzum, die Madonna mußte weiter helfen! Maria bat so lange, so inbrünstig und süß, daß die Madonna auch sehr gern weiter half und ihr von der Gemeinde einstimmig den »Tugendpreis« erteilen ließ. Und zum Tugendpreis kam die Aussteuer, zur Aussteuer der Bräutigam, und mit diesem alles erdenkliche Glück unter dem Himmel.

Indessen erhob sich erst jetzt die Schwierigkeit! Denn kaum war in Frascati bekannt geworden, wer in diesem Jahre beim Corpus-Domini orangegelb gekleidet einhergehen würde, als die halbe männliche Frascataner Jugend um Marietta zu freien begann. Sogar aus dem händelsüchtigen Marino und dem wilden Rocca Priora stellten sich Bewerber ein, so daß Mord und Todschlag zu befürchten stand. Eben weil jetzt auf einmal die Auswahl so beängstigend groß war, hatte sich Marietta in der neuen Not wieder zur Himmelskönigin geflüchtet; und zwar diesesmal direkt zur Madonna vom guten Rat, oben bei den frommen Kapuzinern: die heilige Jungfrau sollte ihr zum rechten raten! Und die Madonna zeigte ihr den rechten unter blühendem Ginsterstrauch, wie der Himmel einstmals Abraham im Gebüsch als Opfer den Widder gewiesen.

Übrigens durfte Astorre nicht etwa glauben, daß sie den Ausgang zu den Kapuzinern ohne Begleitung gethan. Etwas so Unschickliches lag ihr fern – noch dazu, wo sie jetzt durch die Hilfe der Madonna die Aussteuer erhalten: bare hundertundfünfzig Skudi, ein Vermögen wie das einer Prinzessin! Die Gevatterin war mit ihr gekommen, aber von ihr gleich weiter in die Kirche geschickt worden, damit sie der Madonna allein ein Stücklein vorseufzen konnte. Das hatte sie denn auch nach Kräften gethan und jetzt war sie völlig, aber völlig beruhigt und getröstet: die heilige Jungfrau würde gewiß immer noch weiter helfen.

Astorre that ganz unschuldig, mit keinem Blick und Wort verratend, welchen wunderlichen Traum er unter dem blühenden Ginster gehabt. Er begann von sich selbst zu plaudern, von seinen Eltern, seiner Heimat und daß er wegen der Malaria wohl schwerlich ein Mädchen finden würde, die ihn zum Manne nähme.

Das begriff Marietta nicht. Sie begriff es ganz und gar nicht – wahrhaftig nicht! Des Fiebers wegen keine Braut zu nehmen – Marietta verstand nicht, wie man Fieber bekommen konnte. Und erst gar daran sterben?! Konnte man überhaupt sterben, wenn man jung und glücklich war?

Übrigens mußte man auch der Madonna vertrauen; sonst würde man sie kränken. Und sie war doch so gut.

Das war sie! Und Astorre schilderte mit leuchtenden Augen das Bildnis Unsrer lieben Frau unter den Lilien.

So saßen sie, schwatzten und schwatzten und vergaßen darüber die ganze Welt. Plötzlich meldete sich bei ihnen der Himmel. Die Wand mit dem Madonnenbild begann zu strahlen und zu glühen, als schlüge aus dem Ginsterstrauch eine Flammensäule auf. Es war jedoch nur die Abendröte, die einen purpurfarbenen Glanz auf das kleine Heiligtum warf.

Die schöne Glut erinnerte Astorre, daß es spät geworden und daß er hinauf zu den Kapuzinern müsse, um vor dem Bildnis der Madonna vom guten Rat ein Gebetlein zu thun; deswegen war er ja aus Galera ausgezogen! Marietta machte dazu gewaltig große Augen: sie säßen ja unter dem Bilde der Madonna vom guten Rat! Ob er alle die silbernen und goldenen Herzen nicht sähe, die hinter dem Gitterwerk das Bildnis wie ein prunkender Heiligenschein umgaben?

Aber Astorre hatte nichts gesehen, nichts als die irdische Erscheinung jener andern Maria. Und jetzt staunte er.

Also brauchte er gar nicht weiter zu gehen, um sich guten Rat zu holen, da er solchen bereits erhalten hatte: diese Maria von Frascati mußte sein Weib werden oder keine!


Dasselbe schien die Madonna anzunehmen; denn sie hielt getreulich Wächterdienst und duldete an diesem wunderschönen Sommerabend keine andern Beter, die das Pärlein von den Stufen würden fortgescheucht haben. Sie erlaubte den beiden sogar, sich noch um ein weniges näher zu rücken. Plötzlich bemerkte sie jedoch, wie die zwei, ganz gegen Brauch und Sitte, sich bei den Händen faßten. Und als sie sich erst einmal bei den Händen hielten, geschah es, daß sie sich in die Augen schauten: sehr tief und bedenklich lange! Es war ein Wunder, daß sie sich nicht um den Hals fielen und einander herzten und küßten. Aber ein Kuß vor der Hochzeit – und wäre er auch noch so sehr in Ehren gegeben – wäre dermaßen unschicklich und sündhaft gewesen, daß die Madonna solches unmöglich erlauben konnte, so gern sie gewiß in diesem besonderen Falle ein Auge zugedrückt hätte.

Um durch die Jugend, Schönheit und Unschuld der Verliebten sich am Ende nicht doch fortreißen zu lassen, schickte sie Agnese und die Gevatterin die Treppe hinab. Die beiden alten Weiblein hatten in der Kirche zuerst ein weniges gebetet, darauf Bekanntschaft gemacht und sich in einen Winkel gedrückt, wo sie eifrig zu flüstern begannen. Da sie jedoch beide schon etwas taub waren, hatten sie, um sich besser verständigen zu können, die Konversation schließlich vor die Kirche verlegt, wo sie nach Herzenslust laut schwatzen konnten. Um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, suchten sie dabei Cichoriensalat, zu dem die Gevatterin ihre neue Freundin auf den Abend einlud. Bevor sie noch das geliebte Gericht beisammen hatten, war von den beiden bereits ausgemacht, daß Astorre und Maria ein Paar weiden müßten. Nun kamen sie in der Dämmerung die steilen Stufen bedächtig hinunter geschlurft, fanden das Paar bereits fix und fertig und wußten zuerst nicht, sollten sie sich freuen oder ärgern, daß alles ohne ihre Mithilfe zu Stande gekommen. Da das Ärgern indessen weit angenehmer ist, so ärgerten sie sich. Sie schalten und lärmten, so lange sie daran Vergnügen hatten, und gerieten dadurch in die beste Stimmung. Seelenvergnügt machten sich die vier auf den Heimweg durch den nächtlichen Ölwald, der voller Blüten stand und den herrlichsten Wohlgeruch aushauchte. Um die Stirnen der beiden jungen glückseligen Menschen wehte es gleich Weihrauchduft ...

Die kleine Gesellschaft begab sich nach dem Hause der Gevatterin, wo sie eine Anzahl junger Leute versammelt fand, die auf die Heimkehr der Preisgekrönten und Ausgesteuerten gewartet hatten. Alle waren sie Freier. In großen roten Taschentüchern trug ein jeder eine Gabe, mit deren Hilfe er um die Gunst der reizenden Maria zu werben gedachte. Der eine brachte ein Gericht fetter Wachteln, der andre einen jungen lebenden Truthahn, der dritte gar ein pechschwarzes grunzendes Ferkel.

Es fiel der Gevatterin schwer, an dem Altar ihres Herdfeuers diese Opferspenden verliebter Herzen nicht empfangen zu sollen. Aber Astorres Schönheit und Sittsamkeit hatten es der Alten bereits angethan; sonst wäre sie der Versuchung des Augenblicks sicher erlegen, hätte sämtliche Jünglinge eingelassen und des Vertrags, den sie mit Agnese vor der Kapuzinerkirche geschlossen, nicht weiter gedacht. So aber blieb sie standhaft. Sie schloß ihre Thür auf, ließ die Gäste und Marietta eintreten, stellte sich vor den Eingang und hob an, den Bewerbern die Sachlage klar zu machen. Ein Geschrei entstand auf der Gasse, als wäre einer ermordet worden. Alle Nachbarinnen liefen zusammen und zeterten mit ... Ein Fremder sollte die Marietta heiraten? Woher er käme? Und vor allem: wie viel er hätte?!

Die Gevatterin vermochte den Sturm nur dadurch zu beschwichtigen, daß sie log. Sie log gewaltig. Astorre kam aus dem Toskanischen, wo er einen Weinberg besaß, der auch in den schlechtesten Jahren zum mindesten ein paar tausend Barile Chianti hergab.

Die Menge des Chianti schlug die werbenden Frascataner. Beschämt räumten sie das Feld und überließen es der triumphierenden Gevatterin zusammen mit dem Heer der Frauen, die jetzt ihre Zungen rührten, das unerhörte Glück der Marietta zu preisen.

Bei dem Cichoriensalat, zu welchem der fetteste Eierkuchen, das weißeste Brot und der süßeste Wein aufgetafelt wurden, machten sie es feierlich aus: in vier Wochen sollte Hochzeit sein!

Das Pärlein war über diesen Entschluß so verwirrt, als hätte die Madonna ein Mirakel gethan.


Das nächste geschah nach Brauch und Sitte, ohne daß die heilige Jungfrau nötig gehabt hätte, um die beiden sich weiter zu bemühen.

Astorre und Agnese kehrten nach ihrem Galera zurück, wo Agnese mit Hilfe des schmunzelnden Ettore das Haus nach Möglichkeit für eine junge Frau herrichtete, während Astorre an einen römischen Viehhändler die besten Stücke seiner Herde verkaufte. Denn wer eine Braut hat, muß beim Goldschmied einen Schmuck einhandeln; und wer Hochzeit machen will, muß sie auch halten können! Das heißt auf gut römisch: der junge Ehemann muß seine junge Gattin nach Rom oder Neapel führen und daselbst mit ihr in Herrlichkeit und Freuden eine volle Woche leben. So will es der Brauch! Und wer gegen den Brauch fehlt, fehlt gegen Schicklichkeit und Moral.

Ein junges Paar braucht im Römischen wenig oder gar keinen Hausrat zu besitzen; aber die junge Frau muß Sonntags beim Spaziergang ihren Schmuck leuchten lassen können. Es kümmert keine Seele, ob die Neuvermählten in ihren vier Wänden etwas zu beißen und zu brechen haben; aber die erste Woche ihrer Ehe müssen sie schwelgen und vergeuden können.

Astorre kaufte also in Rom den Schmuck, wanderte nach Frascati und dort wurde das Pärlein getraut: in frühester Morgenstunde, oben in der Kapuzinerkirche. Auf dem Weg durch den Ölwald pflückte Marietta einen gewaltigen Strauß roten Mohns, der den Boden der Olivete wie ein flammender Teppich bedeckte. Die schönen Blumen legten die beiden vor den Stufen des Madonnenbildes nieder und thaten den heißen Dank ihrer jungen glückseligen Herzen dazu. Nach vollzogener Trauung gab es im Hause der Gevatterin Chokolade mit dem üblichen Hochzeitsgebäck: Ciambelli und Amaretti. Alsdann ging es nach Rom und solange der Wagen durch die Straßen Frascatis fuhr, warf die Braut Confetti, der Bräutigam aber Bajocchi aus.

Für ihr Leben gern wären sie gleich weiter nach Galera gefahren. Doch das ging nun einmal nicht an. Sie wohnten in Rom in einer Herberge unter dem Kapitol, besuchten den Sankt Peter und möglichst viele Marienkirchen und verzehrten im übrigen den Rest von Astorres Barvermögen, ohne daß es ihnen sonderlich geschmeckt hätte. Bei jeder Mahlzeit mußten sie sich durch die Menge von Gerichten essen, wie sie nun einmal für Neuvermählte üblich sind: von der Minestra bis zu dem süßen Eiergebäck. Am letzten Tage besaß Astorre grade noch so viel Geld, als hinreichte, um für Agnese eine mächtige Schachtel Konfekt und für Ettore einige Pfunde Tabak einzukaufen. Dann waren sie nur noch reich an Liebe und Glückseligkeit! Endlich kam Ettore mit dem geliebten heimatlichen Carretto. Er bestaunte seine junge Herrin, als ob er in seinem Leben noch niemals ein Paar Frauenaugen gesehen hatte. Frau Maria lachte ihn an, wobei dem Alten vor Freude ganz wirbelig zu Sinn wurde.

Astorre hob sein junges Weib in den Wagen, ergriff die Zügel und fort sausten sie, der verpesteten Heimat zu, als ginge es in den siebenten Himmel hinein.

Und dann kamen sie an! Als hätte der Felsen für ihren Empfang sich geschmückt, so leuchtete er von den Blumen des Sommers; im Hause hatte Agnese den Fußboden mit Rosmarin und Rosen bestreut, so daß Maria allüberall nur Blüten sah, nichts andres als Blüten! Astorre führte sie sogleich vor das Bildnis unsrer lieben Frau; und die Himmlische hat wohl ihrem göttlichen Knaben nicht zärtlicher zugelächelt, als den beiden Neuvermählten in der feierlichen festlichen Stunde, wo in Galera ein neues Geschlecht seinen Einzug hielt.


Jetzt erlebte Astorre, wie glücklich ein Mensch bereits auf Erden sein kann; aber der Herr wollte seinen im Glanz der Jugend, Schönheit und Lebenswonne strahlenden Sohn prüfen und gab dem Dämon von Galera von neuem Macht über die Stätte.

Maria gebar ihrem Gatten einen Sohn und der Engel Gottes würgte ihn am Herzen der Mutter. Sie schenkte einem zweiten Kinde das Leben, und auch dieses starb.

Die Eltern hatten die süße Gottesmutter um Erbarmen angefleht; aber der Herr erlaubte ihr nicht, die demütige Bitte zu hören. Da schien das selige Lächeln aus dem himmlischen Antlitz mehr und mehr zu schwinden, der Glanz des Bildnisses zu verlöschen. Und der schwere Schatten des Trübsals legte sich über Galera wie der Fittich des Todesengels.

Und immer, immer noch liebten die Leute von Galera ihre mörderische Heimat!

Und da Maria ihrem Gatten ein drittes Kind geboren hatte, schrie Astorre die heilige Jungfrau an, wie diese einst von seiner Mutter angerufen worden, als sie ihren Sohn unter dem Herzen trug: »Hilf uns! Steh uns bei in unsrer Not! Rette uns!«

In der Nacht erschien ihnen die Madonna. Ihr süßes Gesicht war blaß und traurig und sie drückte den Jesusknaben so fest an ihr Herz, daß er sein rosiges Mündchen zum Weinen verzog. Und die Madonna sprach:

»Maria und Astorre, steht auf! Nehmt euern Knaben und begebt euch mit ihm auf die Wanderschaft. Ihr müßt fort! Anders kann ich euch nicht helfen,«

Astorre entgegnete:

»Ich soll meine Heimat verlassen? Das darf ich nicht!«

Und sein Weib stimmte ihm bei und sagte mit leiser bebender Stimme:

»Meines Gatten Wille geschehe. Wir wollen bleiben und Gottes Heimsuchung ertragen.«

Darauf die Madonna:

»Galera ist auch meine Heimat. Werdet ihr sie verlassen und ausziehen, wenn ich euch geleite?«

Sogleich erhoben sich Astorre und sein Weib ... Sie sahen das Gemach wundersam erhellt und atmeten den Duft weißer Lilien. Maria nahm den Säugling an ihr Herz und Astorre weckte die alten Dienstleute, zu denen er sprach:

»Wir verlassen Galera noch diese Nacht. Wenn wir erfahren haben, wohin die Madonna uns führen wird, sollt ihr uns folgen.«

Sie trafen keinerlei Vorbereitungen zu einer, vielleicht weiten und mühseligen Wanderung, sondern sagten nur:

»Wir sind bereit; führe uns.«

Und der lichte Nebel wallte vor ihnen her, der Lilienduft breitete sich um sie aus. Sie zogen in dem Schein und Wohlgeruch dahin, ohne müde zu werden, als würden sie von einer schimmernden Wolke getragen.

Der Säugling schlief ruhig an der Mutterbrust; und Maria erkannte bei dem Glanz, daß ihr Kind lächelte wie der Jesusknabe am Herzen der himmlischen Frau.

Mann und Weib sprachen unterwegs mit leiser Stimme von der Madonna, wie man von seinen liebsten Freunden redet; und Astorre blieb nicht ein einziges mal stehen, um nach dem zurückzuschauen, was sie verlassen hatten.

Als bei anbrechendem Tag das blasse Antlitz des Himmels sich rötete, vernahmen die Gatten die Stimme der Madonna:

»Astorre und Maria, hier sollt ihr Hütten bauen!«

Sie blieben stehen und schauten um ... Da sahen sie sich inmitten eines Feldes weißer Lilien, das sich auf freier weiter Höhe befand, schimmernd, gleich frischgefallenem Schnee. Und in einem hohen Gebüsch blühender Rosen stand das Bildnis der Madonna von Galera und lächelte auf sie herab – wie es seit länger als einem Jahr nicht mehr gethan. Doch war das Lächeln weniger strahlend, als es einst in der Heimat gewesen, was freilich die beiden nicht gewahrten.

Sie sanken auf die Kniee, beteten das liebliche Wunder an und dankten inbrünstig.

Da ging vor ihnen die Sonne auf ... Der Säugling erwachte, lachte seine Mutter an und streckte jauchzend die Händchen nach den Sonnenstrahlen aus, die gerade auf sein Gesicht fielen.


Auf freier, heiterer, gesunder Höhe, oberhalb eines schönen Waldthals im Sabinergebirge, gründete Astorre nach dem Geheiß der Madonna für sich und die Seinen die neue Heimat. Mit der Aussteuer Marias wurde Grund und Boden erworben, Ettore und Agnese kamen mit Herden und Hausrat nachgezogen, und nach dem Vorbild der Ahnen seines Weibes errichtete Astorre die erste Behausung aus grünen Zweigen.

Auch das Bildnis der Madonna erhielt zunächst und unter einem festlichen Laubzelt Unterkunft. Aber den Bau seines Hauses begann Astorre mit einer Kapelle, auf deren Altar die Himmelskönigin gestellt wurde. Um die Reihe der Mirakel, welche die heilige Jungfrau für ihren schönen und guten Jüngling that, fortzusetzen, ließ sie ihr Bildnis nur für Astorre und Maria sichtbar sein; da sonst der Ruf des Wunders sich verbreitet und jede friedliche Ansiedlung und ein stilles thätiges Leben unmöglich gemacht hätte.

Von neuem erblühte die irdische Glückseligkeit der beiden. Die alte Agnese wiegte noch ein halbes Dutzend kleiner Anunziaten auf den Knieen, ehe sie selber von Gevatter Tod zur letzten Ruhe eingewiegt wurde. Sie starb – nicht am Fieber, sondern an Altersschwäche und versehen mit dem letzten Sakrament, welches kurz vor ihrem Hinscheiden auch Ettore empfangen.

Astorre und Marias Söhne und Töchter wuchsen zu stattlichen und frommen Menschen heran. Nach dem Beispiel der Eltern freiten die Söhne schöne und sittsame Mädchen, die Töchter prächtige Jünglinge und es entstand ein Geschlecht, an dem Gott und Menschen Wohlgefallen hatten.

Als Maria ihrer jüngsten Tochter die Brautkrone gewunden, trat auch zu ihr der Tod. Aber bei ihrem Bett stand die Madonna und wenn sie auch den traurigen Engel des Herrn nicht fortscheuchen konnte, so nickte sie doch Astorres Weib dermaßen holdselig zu, daß dieses mit freudigem Lächeln, Gatten, Kinder und irdische Heimat verließ.


Um diese Zeit war Astorre ein Greis von sechzig Jahren. Er lebte friedlich mit Söhnen und Enkeln, als er sich bald nach der Trennung von seiner treuen Gefährtin von der leidenschaftlichen Sehnsucht eines Jünglings ergriffen fühlte. Er fand Tag und Nacht keine Ruhe, klagte sein Leid jedoch allein der Madonna.

In einer Frühlingsnacht erschien die heilige Jungfrau ihm wiederum und sprach mit ihrer leisen süßen Stimme: »Ich kenne deine Sehnsucht. Und siehe: ich teile sie! Astorre, stehe auf, nimm deinen Stab und folge mir. Denn ich will dich geleiten, wo deine Sehnsucht Frieden finden wird, und wo ich wieder lächeln kann, so glückselig wie je zuvor.«

Astorre stand auf, sah den Schein, atmete den Lilienduft, nahm seinen Stab, sagte niemand Lebewohl und verließ das Haus, darin er, so viel Glück er dort auch gefunden hatte, doch immer nur ein Fremder gewesen war.

Das himmlische Licht glitt ihm voraus durch die wundersame Maiennacht; und er wurde wie von Fittichen aufgehoben und dem Glanz nachgeführt.

Der Tag dämmerte, als der Schein auf einem Hügel still stand und verblaßte. Aber Astorre breitete die Arme aus, warf sich mit ausgebreiteten Armen nieder, schluchzte auf wie ein Kind, das sich aus Schmerz und Not an das Mutterherz gerettet, und rief jubelnd unter Thränen:

»Heimat! Meine Heimat!«

Und die Madonna sprach ihm das Wort nach, daß es wie das Echo seiner seligen Freude tönte:

»Heimat –«

Alsdann vernahm Astorre ihre göttliche Stimme zum letztenmal:

»Astorre, höre mich! Als deine Mutter dich unter dem Herzen trug, gelobte sie dich dem Himmel an und mir, der seligsten und schmerzlichsten Mutter des Herrn. Ich aber – weil ich dir herzlich zugethan war – schenkte meinen Teil an dir der Erde, deren Wonnen ich dich empfinden ließ. Aber jetzt, nachdem du sie genossen, gieb dem Himmel, was des Himmels ist, und gründe in der Fieberwildnis deiner Heimat dem Herrn des Himmels ein Haus an der Stätte, wo du mich finden wirst.«

Und Astorre schaute um und erkannte im goldenen Licht der Frühe den Ort, gegenüber dem Fels von Galera. Und er sah das Bildnis der Madonna unter den Lilien hinter sich stehen, mit einem Lächeln, dessen Glanz die Strahlen der aufgehenden Sonne verdunkelte.

Auch die Madonna von Galera war wieder zu Hause! ...


So erzählte mir der junge Mönch die Legende der Gründung von Santa Maria di Galera.

Er führte mich in die Klosterkirche und hier sah ich das Bildnis der Madonna unter den Lilien, das für Astorre d'Anunzio Wunder gethan.

Es war ein gutes Gemälde der umbrischen Schule, von solchem Schmelz der Farbe und von solchem holdseligen Reiz der himmlischen Frauengestalt, daß ich sehr wohl verstand, wie um das Bild die Sage sich weben konnte, gleich einer blühenden Ranke.

Und der Bruder führte mich an das Grab des Gründers. Auf dem Stein, der die Gruft gerade unter dem Marienbild bedeckte, stand in spätem schlechten Klosterlatein, daß der Bruder Felice da Galera das Heiligtum von Santa Maria gegründet und daselbst in seinem neunzigsten Jahre gestorben sei. Bei seinem Tode habe sich durch das ganze Kloster ein Duft wie von weißen Lilien verbreitet; und in der Nacht habe neben seinem Leichnam ein bläulicher Schein, gleich einer feinen schlanken Säule, gestanden und bei dem Toten Wache gehalten.


Ich sagte dem Mönch:

»Aber der Zorn Gottes gegen Galera scheint sich noch immer nicht gemildert zu haben; denn noch immer hat Galera den Dämon des Fiebers.«

Der blasse Bruder antwortete mir mit herber Stimme:

»Schuld daran trägt Astorre d'Anunzio! Weshalb hat er, der doch Mönch wurde, die Madonna heißer geliebt, als Gott den Herrn, neben dem wir keine andere Götter haben dürfen.«

Und er wendete sich ab, mit seinen bebenden Händen krampfhaft den Agnus umfassend und langsam davonschreitend.


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