Edgar Wallace
Der Frosch mit der Maske
Edgar Wallace

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38

Ray Bennett erwachte nach einem erquickenden Schlaf und setzte sich im Bett auf. Einer der Wärter, die die ganze Nacht bei ihm gewacht hatten, stand auf und kam zu ihm.

»Wollen Sie Ihre Kleider haben, Carter? Der Direktor meint, es würde Ihnen nichts daran liegen, die alten Sachen zu tragen.«

»Er hat recht«, sagte Ray dankbar. »Dieser Anzug sieht ganz gut aus«, sagte er, als er die Hose anzog.

Der Wärter hustete. »Ja, es ist ein guter Anzug«, stimmte er bei. Mehr sagte er nicht, aber etwas in seinem Gehaben verriet die Wahrheit. Es waren Kleider, in denen schon ein anderer Mann gehängt worden war. Und doch zitterten Rays Hände nicht, als er sie anlegte. Um sechs Uhr brachte man ihm das Frühstück.

Seine Blicke schweiften von neuem zur Schreibmappe, aber er streckte die Hand nicht nach ihr aus. Der Kaplan kam, ein ruhiger Mann, Kraft in jeder Linie seines beweglichen Antlitzes. Sie plauderten eine Weile, und dann riet der Wärter, Ray möge sich in dem gepflasterten Hofraum ein wenig Bewegung machen. Ray freute sich darüber, er wollte noch einmal den blauen Himmel sehen. Dennoch wußte er, daß dies keine selbstlose Güte war, und erriet auch wohl, warum dieser Vorzug ihm gewährt wurde, als er Arm in Arm mit dem Priester im Hofe hin und her ging. Man bereitete die Exekutionszelle neben der seinen vor und wünschte seine Gefühle zu schonen. Eine halbe Stunde später war er wieder in seiner Zelle.

»Wollen Sie noch ein Geständnis machen, Carter? Heißen Sie überhaupt so?«

»Nein, Herr«, sagte er ruhig, »aber es tut nichts zur Sache.«

»Haben Sie den Mann getötet?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Ray. »Ich wünschte ihn zu töten, daher ist es möglich, daß ich es getan habe.«

Zehn Minuten vor acht kamen der Direktor und der Sheriff in die Zelle, um ihm die Hand zu schütteln. Die Uhr in der Gefängnishalle ging langsam, aber unerbittlich vorwärts. Durch die offene Tür der Zelle konnte Ray sie sehen, und der Direktor, der dies bemerkte, schloß sie sanft, denn es fehlte noch eine Minute auf acht, und sie mußte sich bald wieder öffnen. Ray sah, wie die Klinke von außen niedergedrückt wurde, und eine Sekunde lang verließ ihn die Fassung. Er wendete sich ab, um den Mann, der jetzt eintreten mußte, nicht zu sehen. Er fühlte seine Hände von rückwärts zusammengebunden.

»Möge mir Gott vergeben! Möge mir Gott vergeben!« murmelte jemand hinter ihm, und beim Klang dieser Stimme wendete Ray sich mit einem Ruck um und sah dem Henker ins Gesicht.

Der Henker war John Bennett.

Vater und Sohn, Henker und Verurteilter, standen einander gegenüber. Mit fast unhörbarer Stimme hauchte John Bennett das Wort: »Ray!«

Ray nickte. Es war seltsam, daß in diesem Moment seine Gedanken zu den geheimnisvollen Fahrten seines Vaters zurückstreiften. Er entsann sich des Hasses, den dieser gegen seinen Beruf gehegt hatte, in den ihn Umstände gedrängt hatten.

»Ray!« hauchte der Mann nochmals.

»Kennen Sie diesen Mann?« Es war der Direktor, der so fragte, und seine Stimme zitterte vor Erregung.

John Bennett wendete sich ihm zu.

»Er ist mein Sohn«, sagte er und zog an den Fesseln, um sie zu lösen.

»Bennett, Sie müssen das Urteil vollstrecken!« Nun klang die Stimme fest und schrecklich.

»Vollstrecken? Meinen eigenen Sohn umbringen? Sind Sie wahnsinnig? Halten Sie mich für wahnsinnig?« Er schloß Ray in die Arme und drückte sein Gesicht fest gegen dessen bärtige Wange.

»Mein Junge! Mein Junge!« sagte er und strich ihm das Haar zurück, wie er es in Rays Kindheit getan hatte. Dann riß er sich plötzlich zusammen, stieß den Jungen durch die offene Tür in die Todeskammer, folgte ihm, schlug die Tür zu und verriegelte sie.

Ray sah das baumelnde gelbe Seil, das Zeichen auf der Falltür, und taumelte bebend gegen die Mauer, die Augen geschlossen.

Dann zerhieb John Bennett das Seil, zerhieb es, daß die Stücke zu Boden fielen. Es gab einen Krach, die Falltüren öffneten sich, und in die gähnende Öffnung schleuderte er das abgeschnittene Seil. Ray starrte ihn fassungslos an. Und während die Schläge gegen die Tür donnerten, kam der Alte auf ihn zu, nahm sein Gesicht in die Hände und küßte ihn.

»Kannst du mir vergeben, Ray?« fragte er gebrochen. »Ich mußte es tun. Ich verhungerte beinahe, bevor ich mich dazu hergab. Ich war gerade aus einer medizinischen Schule gekommen, und die Sache schien mir nicht so schrecklich. Ich versuchte alle möglichen Berufe, um Geld zu verdienen, und lebte mein ganzes Leben in Angst, daß jemand mit dem Finger auf mich zeigen und sagen würde: »Da geht Ben, der Scharfrichter!«

»Ben, der Scharfrichter?« fragte Ray verwundert. »Du bist Ben?«

Der Alte nickte.

»Kommen Sie heraus, Ben. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich die Hinrichtung auf morgen verschieben werde. Ihr könnt nicht hierbleiben!«

John Bennett sah auf das abgeschnittene Seil. Die Hinrichtung konnte nicht ausgeführt werden, denn es gab eine Vorschrift, die verlangte, daß ein völlig ungebrauchtes Seil vom Polizeidirektionsgefängnis geliefert werden mußte. Die gesamte Ausrüstung der Hinrichtung, bis auf das Stück Kreide, mit dem das T auf die Klappe gezeichnet wurde, auf das der Mann seine Füße stellen sollte, mußte genauestens aus dem Hauptgefängnis gebracht und ebenso genau zurückgestellt werden.

John Bennett zog den Riegel zurück und trat hinaus.

Die Gesichter der Leute in der Gefangenenzelle waren geisterbleich.

Der Gefängnisarzt schien zusammengeschrumpft, der Sheriff saß auf dem Bett und hatte das Gesicht in den Händen verborgen.

»Ich werde nach London telegraphieren und die Umstände mitteilen«, sagte der Direktor. »Ich verdamme Sie Ihrer Handlungsweise wegen nicht, Ben, es wäre ungeheuerlich, zu erwarten, daß Sie das vermocht hätten!« Ein Wärter kam den Gang herabgerannt. Hinter ihm hinkte ein barhäuptiger, staubbedeckter Mann, mit zerkratztem Gesicht, über das vertrocknete Blutstreifen hinliefen, die Augen rotgeschwollen vor Müdigkeit. Eine Minute lang erkannte ihn John Bennett nicht.

»Aufschub von des Königs eigener Hand«, stammelte Dick Gordon schwankend und überreichte das blutbefleckte Kuvert dem Direktor.


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