Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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9

»Worüber freust du dich so?« fragte Stephen, der im Augenblick allen Grund hatte, nicht sehr erfreut zu sein.

»Ich habe gerade mit meinem Bräutigam gesprochen«, sagte sie.

Bei diesen Worten klärte sich Stephens Gesicht auf.

»Ach so, den wilden Mann!« antwortete er.

Er trug einen Brief in seiner Hand. Die Morgenpost wurde in Sunningdale früh bestellt.

»Joan, ich möchte, daß du heute zur Stadt kommst und mit mir zu Mittag speist.«

Diese Einladung war eine große Überraschung für sie. Gewöhnlich nahm sie ihre Mahlzeiten allein ein, wenn sie zur Stadt kam.

»So ein nettes, kleines Essen in meinem Bureau. Ich möchte, daß du dabei einen meiner Freunde kennenlernst. Hm – ein äußerst feiner Mensch, der in Oxford sein Examen gemacht hat, dazu hat er noch eine Menge anderer Dinge gelernt.«

Das Benehmen von Mr. Narth fiel ihr noch mehr auf als seine Worte. Er sah so schlecht aus, daß sie sich wunderte, warum er so verstört war.

»Ist Letty auch dabei?« fragte sie.

»Nein, nein«, sagte er schnell. »Nur du – und ich – und außer meinem Teilhaber Mr. Spedwell noch – hm – mein Freund. Ich nehme an, daß du nicht diese dummen Vorurteile gegen – Fremde hast –«.

»Fremde? Warum? Nein! Sie wollen wohl sagen, daß er nicht Europäer ist?«

»Ja, das wollte ich«, sagte Mr. Narth und hustete. »Er ist Asiate – um es genau zu sagen, Chinese. Aber er ist eine außerordentlich einflußreiche Persönlichkeit in seinem Lande. Er ist ein Mandarin oder Gouverneur einer Provinz oder sonst etwas Hohes. Aber abgesehen davon ist er ein vollkommener Gentleman. Ich würde dich nicht bitten, mit jemand zusammenzukommen, wenn ich nicht selbst mit ihm verkehrte.«

»Aber warum, Mr. Narth. Wenn Sie doch wünschen –«

»Er heißt Grahame St. Clay und hat große Handelsbeziehungen sowohl in unserem Lande als auch über See.«

»Grahame St. Clay?«

Wo hatte sie doch diesen Namen gehört? Sie konnte sich im Augenblick nicht erinnern. Sie fragte noch, wann sie in der Stadt sein sollte, dann ging sie in das Haus und wunderte sich sehr, weshalb gerade sie als Gast von Mr. Narth geladen war, und warum er so ängstlich besorgt war, daß sie seinen neuen Freund treffen sollte. Sie hatte den Namen früher nicht gehört, bis –

Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, aber sie konnte sich nicht mehr darauf besinnen, wann ihr dieser Name genannt worden war.

Mr. Narth fühlte sich etwas erleichtert, ging zu der Bibliothek zurück und las den Brief noch einmal. Das war nun die erste Folge seiner Anleihe, und schon bedauerte er, es getan zu haben, da er dadurch dem Chinesen das Recht gab, ihn mit »Lieber Narth« anzureden. Der Brief enthielt nur ein Dutzend Zeilen in tadelloser Handschrift.

»Nachdem ich Sie heute getroffen hatte, hörte ich, daß Ihre hübsche Nichte, Miß Joan Bray, sich mit Clifford Lynne verlobt hat, den ich oberflächlich kenne. Ich würde mich sehr freuen, die Bekanntschaft dieser jungen Dame zu machen. Würden Sie so liebenswürdig sein, mit ihr zum Mittagessen zu Albemarle zu kommen oder, wenn es Ihnen besser paßt, in ein anderes Lokal in der City. Wählen Sie selbst Zeit und Ort. Arrangieren Sie bitte diese kleine Sache, und geben Sie mir durchs Telephon Antwort, sobald Sie in Ihr Bureau kommen.«

Es war ein Eilbrief, der gestern abend in London aufgegeben war. Der Ton, den St. Clay ihm gegenüber anschlug, war einem Manne wie Narth sehr zuwider. Um seinem Charakter voll gerecht zu werden, muß man zugeben, daß es ihm keine großen Gewissensbisse verursachte, Joan mit diesem Manne zusammenzubringen. In diesem Punkt war er großzügig und skrupellos. Hätte es sich um Letty oder Mabel gehandelt, wäre es etwas anderes gewesen. Aber es war ja nur Joan.

Trotzdem er sich durchaus nicht scheute, in der Öffentlichkeit mit einem Orientalen zu speisen, hatte er sich doch dafür entschieden, das Essen in dem Sitzungszimmer seines Geschäfts abzuhalten, wo er seinen Bekannten schon manches kleine Mahl gegeben hatte.

Als er an diesem Morgen ins Bureau kam, fand er dort Major Spedwell, der auf ihn wartete, und zu seinem Erstaunen war der alte Militär weniger mürrisch als sonst.

»Soeben habe ich St. Clay gesehen«, sagte er. »Haben Sie das Essen für ihn arrangiert? Er legt großen Wert darauf.«

»Warum?« fragte Narth.

Spedwell zuckte die Achseln. »Der Himmel mag es wissen – St. Clay ist ein sonderbarer Vogel. Er ist freigebig wie ein Fürst – vergessen Sie das nicht, Narth. Er kann für Sie sehr nützlich werden.«

»Womit beschäftigt er sich eigentlich?« fragte Narth.

»Sie meinen, welche Geschäfte er betreibt? Alle möglichen. Er hat eine Fabrik in Peckham, aber er hat auch noch viele andere Geschäftshäuser und Firmen, aus denen er sein Einkommen bezieht. Sie haben Glück, Narth, daß er Sie gerne mag.«

»Oh!« stöhnte der andere. Er war durchaus nicht begeistert von dieser Mitteilung.

Spedwell sah ihn mit einem seltsam trockenen Lächeln auf seinem abstoßenden Gesicht an.

»Sie haben bis jetzt doch ein ganz ruhiges Leben geführt, Narth – ich meine, das Leben eines durchschnittlichen Geschäftsmannes aus der City. Sie haben sich doch noch nie mit abenteuerlichen Unternehmungen befaßt, wobei Blut vergossen wurde, oder starke Dinge passierten?«

»Beim Himmel, nein«, sagte Stephen Narth, indem er ihn anstarrte. »Warum?«

»Ich fragte nur so«, sagte der andere gleichgültig. »Nur können Sie nicht erwarten, daß Sie Ihr ganzes Leben lang eine so friedliche Kruke bleiben werden.«

»›Kruke‹ ist ein Wort, das ich durchaus nicht liebe«, sagte Stephen scharf.

»Das dachte ich mir gleich«, gab der andere zu. »Ich möchte nur feststellen, daß man unmöglich alle geschäftlichen Schwierigkeiten dadurch überwinden kann, daß man sich in einen gepolsterten Sessel setzt und neue Schwindeleien ausheckt. Darüber brauchen Sie nicht gleich in die Luft zu gehen, Narth. Wir kennen doch die Welt und wissen ganz genau, daß die Firma Narth Brothers in den letzten zehn Jahren nur von Schwindel und Betrug lebte. Entweder kommt eine so friedliche Kruke wie Sie dabei langsam zu Vermögen – oder sie kommt ins Gefängnis – und Sie sind dabei eben niemals zu Vermögen gekommen und werden auch nie dazu kommen.«

Stephen Narth sah ihm gerade ins Gesicht.

»Was ist denn eigentlich der Sinn von all diesem Gerede?« fragte er.

Der Major drehte gedankenvoll an seinem kleinen Schnurrbart.

»Ich will Sie nur warnen, das ist alles«, sagte er. »Selbst für jeden Baumpfropfer kommt einmal der Moment, wo er etwas anderes tut als Bäume pfropfen – wenigstens versucht er es einmal – verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Ihre Worte sind heute wirklich recht unklar«, sagte Narth sarkastisch. »Zuerst haben Sie mich eine Kruke und dann einen Baumpfropfer genannt! Mir wäre es lieber, wenn Sie etwas liebenswürdiger und deutlicher sprechen würden!«

Der Major nahm einen Stuhl und stellte ihn auf die andere Seite des Schreibtischs. Dann setzte er sich und kreuzte die Arme auf der Tischplatte.

»St. Clay stellt Sie auf die Probe«, sagte er. »Und wenn er sieht, daß Sie am selben Strang mit ihm ziehen, [Zeile fehlt im Buch. Re.] kreuzte die Arme auf der Tischplatte.

Narth sah ihn an.

»Eine Million Pfund ist leicht gesagt – aber es ist eine ungeheuer große Summe«, sagte er.

»Mehr als eine Million!« antwortete Spedwell entschieden. »Das ist das größte Geschäft, in das Sie jemals hineingeraten sind, mein Freund!«

Narth war verwirrt. Eine Million – selbst wenn man sie noch nicht verdient hatte – war eine entsetzlich große Summe. Aber wozu all diese Überlegungen? War er denn nicht der Erbe von Joe Brays großem Vermögen?

»Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit Ihnen über solche Dinge unterhalte«, sagte er. »Joe Bray war doch wirklich kein armer Mann.«

Sekundenlang spielte ein Lächeln auf dem mürrischen Gesicht des andern.

»Wieviel glauben Sie denn aus der Erbschaft zu bekommen?« fragte er, fügte dann aber schnell hinzu: »Es ist schon möglich, daß Sie ein dickes Paket erhalten werden – aber wenn Sie mit St. Clay zusammen spielen, können Sie bedeutend mehr machen.«

Als der Major wegging, ließ er Stephen Narth unruhig und verwirrt zurück. Seitdem er die Nachricht von der Erbschaft Joe Brays erhalten hatte, legte er sich zum erstenmal die Frage vor, ob denn seine siegessichere Stimmung auch ganz berechtigt sei. Aber Joe war ein reicher Mann gewesen, der Inhaber äußerst wertvoller Konzessionen, ein Bankier, der mit seinem Gelde die ganze Regierung finanzierte – und wenn alles wahr war, was man sich in der City über ihn erzählte, mußte der alte Joe ein ungeheures Vermögen besessen haben, und das war doch ein beglückender Gedanke für ihn.

Ein Viertel vor eins kam Grahame St. Clay, tadellos gekleidet, in grauem Cut und spiegelblankem Zylinder. Narth hatte nun Zeit, ihn etwas näher zu betrachten. Er war ein wenig zu elegant gekleidet, die Diamantnadel in seiner Krawatte war etwas zu groß. Dabei hatte er sich stark parfümiert, und wenn er sein seidenes Taschentuch zog, verbreitete sich eine intensive Duftwolke, die Mr. Narth unangenehm auf die Nerven fiel.

»Haben Sie meinen Brief erhalten?« Der andere sprach wie der Vorgesetzte zu seinem Angestellten.

Mr. Narth ärgerte sich. Das Benehmen dieses Mannes hatte etwas aufreizend Beleidigendes für ihn. Der Chinese sah unverfroren Mr. Narth über die Schulter und las den Brief, den er soeben geschrieben hatte. Ohne Aufforderung nahm er sich einen Stuhl und setzte sich.

»Kommt dieses Mädchen?«

»Miß Bray wird mit uns speisen«, sagte Narth ein wenig steif und mit einem gewissen Unterton in seiner Stimme, der St. Clay warnte, nicht zu weit zu gehen. Er lachte.

»Mein lieber Freund, Sie schöpfen Verdacht gegen mich! Seien Sie doch friedlich! So kommen wir nicht weiter, besonders da wir uns eben kennengelernt haben! Sehen Sie, Narth, in meinem Vaterland bin ich eine Persönlichkeit von großem Einfluß, und ich habe die Gewohnheiten eines großen Herrn. Sie müssen das nicht so genau nehmen!«

Jemand klopfte an der Tür. Perkins, der Sekretär, kam herein und sah lautlos auf Stephen.

»Ist Miß Bray gekommen?«

»Jawohl«, sagte Perkins. »Soll ich ihr sagen, daß sie warten soll?«

»Lassen Sie sie hereinkommen!«

Zum erstenmal in seinem Leben wurde es Stephen Narth klar, daß Joan ein sehr hübsches Mädchen war. Sicher hatte sie noch nie so hübsch ausgesehen wie heute morgen. Sie trug ein blaues Tailormade und einen roten Hut. Das Kostüm stand ihr ausgezeichnet und hob ihren zarten Teint und ihre tiefblauen Augen.

Offensichtlich machte sie Eindruck auf St. Clay. Er sah sie mit großen Augen an, so daß sie errötete.

»Darf ich dir Mr. St. Clay vorstellen?« sagte Narth.

Sie wollte ihm eben die Hand geben, als die Tür zum Privatbureau plötzlich aufsprang und ein junger Mann hereinkam. Er war sehr gut gekleidet – das war der erste Eindruck, den Joan von dem Ankömmling hatte. Seine Kleider konnten nur in Sackville Street angefertigt sein. Er war noch jung an Jahren, aber doch kein Kind mehr. Ein leichtes Grau färbte seine Schläfen, und dünne Falten zeigten sich an seinen Augen. Mit einer faltigen Toga bekleidet, hätte man ihn mit seiner Adlernase und seinem beherrschenden Gesichtsausdruck für einen Tribunen des alten Rom halten können.

Er stand an der Tür und blickte bald St. Clay, bald Narth an – aber mit keinem Blick streifte er die junge Dame. Einen Augenblick lang war Narth bei dem plötzlichen Einbruch in sein Privatkontor wie vom Donner gerührt.

»Was wünschen Sie?« fragte er. »Sie müssen sich irren, dies ist ein Privatbureau –«

»Ich irre mich durchaus nicht«, sagte der Fremde. Bei dem Klang dieser Stimme wandte sich das Mädchen um und sah ihn mit großem Erstaunen an. »Der Irrtum ist auf Ihrer Seite, Narth, und noch nie haben Sie einen größeren Fehler gemacht, als wie Sie die Kühnheit besaßen, meine zukünftige Frau an einen Tisch mit diesem verdammten Mordbuben einzuladen! Fing-Su!«

Mr. St. Clay, B. A., bedeckte mechanisch seine Hände und verneigte sich.

»Exzellenz!« sagte er in der Mandarinensprache.

Joan seufzte verwirrt. Der schönste Mann Chinas hatte seine Wirkung auf sie nicht verfehlt – denn der Fremde in der Tür war Clifford Lynne!

 


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