Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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17

Die Schwestern gingen um sechs Uhr in die Stadt, und Joan war herzlich froh, als sie von ihrem Fenster aus die Limousine die Egham Road hinunterfahren sah. Sie aß allein zu Abend und wartete geduldig auf die Ankunft Clifford Lynnes. Sie war ein wenig enttäuscht über sein Verhalten. Die Heirat sah immer noch wie eine geschäftliche Vereinbarung aus; mit Ausnahme der kleinen Liebkosung hatte er weder Zärtlichkeit noch jene gefühlvolle Aufmerksamkeit für ihre Reize gezeigt, die man selbst von sehr beherrschten Männern erwartet. Und doch war kaum etwas Unfreundliches und Kaltes in seinem Wesen, dessen war sie sicher. Es war eine Schranke zwischen ihnen, die niedergerissen werden mußte, ein Abgrund, den nur gegenseitige Liebe überbrücken konnte. Für einen kurzen Augenblick erschrak sie vor der Aussicht auf diese kaltblütig eingegangene Heirat.

Sie stand vor der halbgeöffneten Tür des Hauses, als sie seinen schnellen Schritt auf dem Sand hörte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß die Schlüssel in ihrer Handtasche waren, schloß sie leise die Tür hinter sich und ging ihm entgegen.

Plötzlich stand sie in einem hellen Lichtkegel.

»Schade!« hörte sie Clifford sagen. »Ich war ganz sicher, daß Sie es waren, aber ich mußte mich erst überzeugen.«

»Wer sollte es denn sein?« fragte sie, als sie mit ihm fortging.

»Ich weiß nicht«, war die unbefriedigende Antwort.

Sie legte wie selbstverständlich ihren Arm in den seinen.

»Von Natur aus bin ich vorsichtig, ja sogar argwöhnisch. Das Leben hier auf dem Lande in England ist für mich noch etwas gefährlicher als für einen Reisenden, der in dem verrufenen Honan eine Kamelladung mexikanischer Dollars mit sich führt! Drüben kennt man seine Lage ganz genau – entweder lebt man im Frieden oder im Krieg mit seinen Nachbarn. Aber in England kann man die ganze Zeit mit jemand im Krieg leben und weiß es selbst nicht einmal. Stört es Sie, wenn wir in der Mitte der Straße gehen?« fragte er schnell. Sie mußte lachen.

»Ich habe unerschütterliches Zutrauen zur Polizei«, sagte sie.

Sie hörte ihn kichern.

»Zur Polizei? Ja, die ist überall auf dem Posten, besonders, wenn es sich um bekannte Verbrecher und feststehende Verbrechen handelt. Aber Fing-Su ist als Verbrecher nicht bekannt – im Gegenteil, er gilt als eine höchst achtbare Persönlichkeit. Wir müssen jetzt rechts einbiegen.«

Das hätte er nicht zu sagen brauchen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie sah die große schwarze Öffnung, die den Eingang zu dem Fahrweg nach Slaters Cottage bildete. Der früher holperige Fahrweg war jetzt ein mit Kies bestreuter, feingewalzter Weg. Ein paar Meter den Fahrweg hinunter erhob sich ein großer Kandelaber für eine Laterne.

»Ja, wir sind modern eingerichtet«, sagte er, als sie seine Aufmerksamkeit auf diese Neuerung lenkte. »Nur der Böse liebt die Finsternis. Ich gebrauche diese Tausendkerzenbogenlampe als Beweis für meine Redlichkeit!«

Plötzlich stand er still, und sie mußte notgedrungen auch Halt machen.

»Ich sagte Ihnen neulich, daß Narth eine Auseinandersetzung mit Ihnen hatte, und Sie gaben es zu«, sagte er. »Vor einigen Tagen habe ich gefunden, warum er eine Differenz mit Ihnen hatte. Ihr Bruder wurde bei einem Unfall getötet, als er das Land mit einer Summe Geldes verlassen wollte, das er aus dem Bureau von Narth gestohlen hatte?«

»Das stimmt«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Das war es also?«

Er seufzte erleichtert auf. Was anders konnte er denn vermutet haben, fragte sie sich verwundert.

»Jetzt wird mir der Zusammenhang klar«, begann er, als sie weitergingen. »Sicher sagte er zu Ihnen: ›nach allem, was ich für dich getan habe?‹ nicht wahr? Sonst wäre ich glatt von Ihnen abgewiesen worden. Ich bin froh darüber.«

Er sagte dies so schlicht und treuherzig, daß sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß.

»Ist Ihr Freund schon angekommen?« fragte sie.

»Ja«, sagte er kurz. »Vor einer Stunde kam dieser –« er murmelte einen Fluch.

»Man könnte denken –« begann sie, als er plötzlich ihren Arm umklammerte.

»Nicht sprechen!« flüsterte er.

Joan sah, wie er den Weg zurückspähte, den sie gekommen waren. Angestrengt lauschend beugte er den Kopf vor, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Dann führte er sie ohne ein Wort auf die Seite der Straße in den Schutz einer großen Fichte und schob sie hinter den Baumstamm.

»Bleiben Sie hier stehen«, sagte er in demselben leisen Ton.

Gleich darauf war er verschwunden. Geräuschlos schlich er über den Nadelteppich von Baum zu Baum. Sie blickte starr hinter ihm her, sie konnte nur den blassen Abendhimmel erkennen, der hinter einer Reihe schlanker Fichten hervorlugte. Der Reflex des Firmamentes in einer Wasserlache auf der Seite des Fahrweges sah aus wie ein matter Spiegel. Für gewöhnlich war sie nicht nervös, aber jetzt fühlte sie doch ihre Knie zittern, und ihr Atem ging schnell. Nach kurzer Zeit sah sie ihn ganz nahe wieder aus der Dunkelheit auftauchen.

»Es war nichts«, sagte er, aber er sprach immer noch ganz leise. »Ich dachte jemand zu hören, der uns folgt. Morgen werde ich diese Bäume abhauen lassen, sie geben zu gute Deckung –

Es schwirrte etwas an ihnen vorbei wie eine geworfene Waffe. Man hörte einen dumpfen Aufschlag, dann herrschte tiefe Stille. Er sagte etwas in einer fremden Sprache, dann ging er zurück und zog etwas aus dem Stamm einer Fichte.

»Ein Wurfmesser«, flüsterte er. »Ich sage Ihnen, diese Yünnanmörder sind wunderbare Schützen, und die Teufel können im Dunkeln sehen! Wo ist der nächste Polizeiposten?«

Trotz ihres Mutes zitterte sie.

»Die Patrouille wird erst nach einer Stunde wieder hier vorbeikommen«, stammelte sie. »Hat jemand mit einem Messer geworfen?«

»Erst nach einer Stunde?« sagte er fast fröhlich. »Das Geschick ist auf meiner Seite!«

Er nahm einen Gegenstand aus seiner Tasche – in dem Dämmerlicht sah es aus wie ein dicker silberner Zylinder; sie sah, wie er ihn auf den Lauf einer langen, schwarzen Pistole schob.

»Die Nachbarn sollen nicht beunruhigt werden«, sagte er. Wieder entfernte er sich von ihrer Seite und verschwand im Dunkel.

Sie wartete, ihr Herz schlug bis zum Halse herauf.

»Plob!«

Der Schall kam aus überraschender Nähe. Sie hörte auf dem Kieswege sich entfernende Schritte, die schwächer und schwächer wurden. Als man kein Geräusch mehr vernahm, kam Clifford wieder zu ihr und nahm die Silberröhre von der Pistole wieder ab.

»Ich habe ihn getroffen, aber nicht schwer«, sagte er. »Ich bin froh, daß ich ihn nicht getötet habe. Ich hätte ihn sonst im Wald begraben müssen und einen Skandal riskiert, oder ich hätte ihn zur Wache bringen müssen und damit den Zeitungen eine Sensation gegeben.«

»Haben Sie ihn verwundet?« fragte sie.

»Ja«, sagte er sorglos. »Ich glaube, er hatte keine Begleiter.«

Wieder nahm er sie am Arm und führte sie den Fahrweg entlang. Sie gingen nun schnell nach Slaters Cottage. In dem Haus zeigte sich kein Leben: hinter den mit Läden geschlossenen Fenstern war kein Licht zu sehen, und selbst der Schall der gedämpften Explosion schien den Gast Clifford Lynnes weder interessiert noch neugierig gemacht zu haben.

Er stand fast eine Minute lauschend auf der Treppe.

»Ich denke, es war nur einer,« sagte er dann mit einem Seufzer der Erleichterung, »wahrscheinlich war es ein Spion, der die Dämmerstunde zu einem kleinen Scheibenschießen benützen wollte. Sie fürchten sich doch nicht?«

»Doch«, sagte sie. »Ich bin sehr erschrocken.«

»So bin ich!« sagte er. »Ich bin mir selbst böse, daß ich diesen Gang mit Ihnen gewagt habe, aber ich wußte nicht, daß jetzt schon Gefahr drohte.«

Er schloß die Türe auf, und sie traten in einen engen Gang. Als er das Licht einschaltete, sah sie, daß zwei Türen von hier ausgingen, eine zur Rechten und eine zur Linken.

»Hier sind wir.« Er ging voran, drückte die Klinke der linken Tür nieder und öffnete.

Das Zimmer war vollständig neu und gut möbliert. Zwei in die Decke eingelassene große Lampen warfen zerstreutes Licht durch opalfarbene Gläser in den Raum.

Vor dem Holzfeuer, das im Kamin brannte, saß ein großer Mann. Sie schätzte sein Alter auf etwa sechzig Jahre. Er war merkwürdig gekleidet. Über einem Paar schön gebügelter Beinkleider trug er einen weiten, roten Schlafrock, unter dem ein weißes, steifes Oberhemd vorschaute. Er hatte weder Kragen noch Schlips an. Ein tadelloser Gehrock hing über der Sessellehne. Als sich die Tür öffnete, drehte er sich um, nahm seine kurze Tonpfeife aus dem Mund und schaute ernst auf den Besuch.

»Begrüße Miß Joan Bray«, sagte Lynne kurz.

Der große fremde Mann erhob sich schwerfällig. Er wandte sein dickes Gesicht mit dem Doppelkinn Joan zu und sah sie an wie ein Schuljunge, der bei irgendeinem dummen Streich erwischt wurde.

»Nun, Joan«, sagte Lynne finster, »sollen Sie einen Ihrer Verwandten kennenlernen. Darf ich Ihnen den verstorbenen Joe Bray vorstellen, der in China tot war und in England wieder lebendig wurde!«

 


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