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Die Einsamkeit war schlimm. Unversehens wurde das Buch, das er las, zum Feind. Die gedruckten Worte verschworen sich mit gedachten. Das aufgenommene Bild zerfloß gestaltlos in den Schatten. Zwiesprache fehlte, Deutung fehlte, naher Herzschlag fehlte. Da die Tage schwül waren, ging er vormittags und nachmittags ins Rheinbad. Unter dem Gelächter und den Scherzen der Gleichaltrigen war er ein Fremder. Kameraden von ehedem mied er. Wohlwollende Blicke junger Mädchen, die er kannte, erzürnten ihn. Spaziergänge langweilten; durch die Straßen schlendern verstimmte; so setzte er sich aufs Rad, fuhr meilenweit über die Landstraße, am liebsten der untergehenden Sonne entgegen, deren Glut er trinken zu können glaubte. Oft irrte er durch das Haus, griff nach Folianten in der Bibliothek, blätterte zerstreut, durchsuchte Schubladen und Truhen, stieg auf den Dachboden, steckte den Kopf durch die Luke, heftete den Blick gierig auf Wolken, Mauern, Fenster, die wimmelnden Menschen in der Gassenschlucht, warf sich bäuchlings in einen Winkel, wo Staub aufwirbelte und Spinnennetze rissen, fing an zu singen, endete den Gesang mit einem Gelächter, einmal auch mit einem harten Aufschluchzen, das sich zu seinem eigenen Schrecken aus der Kehle würgte wie der Laut eines in ihm versteckten andern. Und wieder einmal hörte er mit demselben Schrecken, daß seine Stimme fragte: »Wenn mir nur einer sagen könnte, wer ich bin.« Sich aufreckend, antwortete er flüsternd: »Oberlin bin ich, Oberlin bin ich.« Und er faßte seine Arme und seine Stirn an.
Da war die Mutter schon zurückgekehrt. Er nahm sich vor ihr zusammen. Er wachte über sein äußeres Gehaben, das schmiegsame, gefällige, art- und standesbewußte, das ein um ihn gezimmerter Rahmen war. Es geschah weniger in der Absicht, sich dem Scheine nach zu unterwerfen, als aus Furcht, sich zu verraten. Ihn dünkte zuweilen, er habe einen Aussatz am Leibe, der dem spähenden Blick über ihm um jeden Preis verhehlt werden mußte.
Sie kamen überein, daß er bis zum Oktober Ferien haben und sich dann das Pensum der Prima mit Hilfe privaten Unterrichts aneignen solle. Vom Besuch der Schule wollte Dorine unter Berufung auf das ärztliche Verbot nichts wissen. Dietrich, dem hieran nichts gelegen war, stimmte zu. Herbst, Winter, nächstes Jahr, das waren ungeheuer entfernte Zeiträume; schien es doch jeden Abend, als stieße man auf einem Nachen vom Ufer ab, ins Grenzenlose.
Mit Anfang Juli zogen sie in die Villa. Dietrich erinnerte Georg Mathys und Justus Richter an ihr Versprechen, zu kommen; Mathys antwortete aus Hochlinden, er sei von Lucian, der in Stuttgart weile, gebeten worden, noch sechs Wochen mit den Ferienzöglingen in der Schulgemeinde zu bleiben, dann müsse er einige Zeit mit seinen Eltern verbringen, und erst in der zweiten Septemberhälfte sei er frei. Für diesen Termin habe er sich auch mit Richter verabredet. Justus Richter schrieb in demselben Sinn.
So waren Mutter und Sohn nah aneinander gewiesen, näher als je, zumal der Aufenthalt mit tagelangem Regenwetter begann. Dorine sah sich vor der Aufgabe, Freunde zu ersetzen, Ablenkung zu schaffen, die gleichmäßigen Tage mit Bewegung und Wechsel zu füllen, wenn sie erreichen wollte, was sie sich in der Stille der Berge auf gedankenvollen Wanderungen vorgesetzt. Sie selbst brauchte die Menschen nicht, ihr Geist beschäftigte sich kaum mit ihnen, der Abschluß gegen die Welt war ihr willkommen und gewohnt, aber so viel war ihr klar, daß sie dem Jüngling Tür und Tor straflos nur verriegeln konnte, wenn sie zurückzuschenken vermochte, was sie ihm entzog. Und ihr Tun und Sein richtete sich darauf, ihn keine Entbehrung fühlen zu lassen, ihn an sich zu binden, sich ihm notwendig zu machen, zurückzuerobern, was sie verloren, neu zu erobern, was ihr bisher nicht zu eigen gewesen war. Es hielt sie in Atem, es gab ihr zu denken, es nahm ihre Gemütskräfte völlig in Anspruch, es spannte sie bis zu krankhafter Hell- und Überhörigkeit. So ists nicht gut, mahnte oft eine Stimme in ihr, zu viel, zu viel, zu heftig, zu wollerisch, zu herrisch; es ist gut und muß gut sein, antwortete sie sich unbeugsam.
Sie ordnete die Pflanzenhefte mit ihm und war bemüht, ihm ihr lebendiges Interesse einzuflößen. Er schien empfänglich, durch ihre Kenntnisse und die Liebe für das kleine Einzelne überrascht. Unter dem mitgenommenen Gepäck befanden sich in zwei Kisten die Briefe und hinterlassenen Schriften des Ratsherrn; Exzerpte, Entwürfe, Aufsätze, in denen er sich über politische und soziale wie über Lebensprobleme in seiner profunden und großen Manier ausgesprochen. Da galt es zu sichten, zu prüfen und was bewahrt zu werden verdiente, vom Flüchtigen und Gelegentlichen zu sondern. Abwechselnd lasen sie an den Abenden einander vor, es wurde nicht selten Mitternacht, ehe sie sich zur Ruhe begaben, und Dietrich, in Eifer, Teilnahme und aufgeschürter Wissenslust, brach nur widerstrebend ab.
Dorine wollte ein Verzeichnis ihrer Porzellansammlung anfertigen. Zu dem Zweck wurden die Stücke aus den Schränken genommen, katalogisiert und mit kurzen Schlagworten beschrieben. Sie machte Dietrich auf schöne Besonderheiten aufmerksam, auf die Merkmale der verschiedenen Fabriken und Stile, die Zartheit der Malerei, den Reiz der Formen, erwärmte und erhellte sich dabei so, daß ihr Dietrich mehr als einmal mit seinem hübschen Lächeln in die freundlich-strahlenden Augen blickte. Er war sehr befriedigt von ihrer Fähigkeit, sich zu entzücken und hatte sie ihr offenbar nicht zugetraut.
Desungeachtet wurde sie der Zweifel und Ungewißheit nie ledig. Er fügt sich nur, er gibt sich Mühe, rief es in ihr; es ist die wahre Natur nicht; wenn er die Tür hinter sich schließt, hat er ein anderes Gesicht. Ihr dünkte, als führe jede ihrer Anstrengungen bloß dazu, daß er Schale um Schale über sich zog, durch die sein eigentliches Wesen mit jedem Tag unzugänglicher wurde.
Sie wachte, forschte, das Blut in ihr horchte, die Haut war förmlich wund vor angespannter Wachsamkeit und Wachheit. Der verlorene Ausdruck jetzt, mit dem er die Blumen und Kräuter aus den Pressen nahm und sie zum Einkleben vor sich hinbreitete. Schatten über der Stirn, die Mundwinkel erschlafften, die Augen wurden größer, nun zuckte er zusammen, die Wangen bedeckten sich mit der kindlichen, unbegreiflichen Röte, ihr Blick umschlang ihn stumm, er warf den Blick unwillig ab, alles war Zurückweichen und Flucht.
Eines Morgens kam sie ins obere Zimmer, wo er vor den Glasschränken auf sie wartete. Er hielt eine Meißener Gruppe zwischen den Händen, eines der kostbarsten und edelsten Stücke der Sammlung. Eine hingelagerte Nymphe; der üppige Körper wollüstig gedehnt; in jeder Linie Ruf, Lockung, kicherndes Spiel, preisgegebene Heimlichkeit; hinter einem Strunk der lauernde Faun; die Gebärde: frech beschlossener Überfall; das Grinsen: Vorschmack des Besitzes; die Haltung: Lüsternheit und Stärke. Eine Sekunde, und Dorine begriff. Alles bäumte sich in ihr vor Haß und Widerwillen. Da war es wieder, das Bild aus der purpurnen Kugel, nur ins Verständlichere umgewandelt, aber deshalb nicht minder abschreckend für sie, Auflösung, früher Selbstverlust, Unfrieden und Qual der Sinne, besudeltes Herz; nicht Sohn mehr, nicht Kind mehr, nicht Werdender, nicht Schauender; Dieb und Jäger, Heimlichgeher und Abgewendeter, vom Trieb Entseelter und von Glut Entschämter. Sie sah es in seinen Mienen; er hatte sie nicht eintreten gehört und betrachtete die Figuren mit sorgenvollem, fast schwermütigen Grauen, einem wunderlichen Schmerz, den die gefesselte Vorstellung erregte, einer grabenden, scheuen Neugier. Beim Knarren der Dielen fuhr er zusammen; sein Gesicht veränderte sich mit einer Raschheit ins Gleichgültige, die ein Meisterzug an einem Schauspieler gewesen wäre. Auch das erfaßte Dorine, und es verletzte sie und stieß sie ab. Doch solche Gewalt hatte sie über sich, daß ihr Lächeln keine Zeugenschaft verriet. Unbefangen fragte sie, ob die Gruppe schon einregistriert sei und nahm sie ihm behutsam aus den Händen. Dietrich ging zum Tisch, um in der Liste nachzusehen, währenddem geschah ein Fall und gläsernes Klirren; die Gruppe lag zerschmettert auf dem Boden.
Dietrich eilte bestürzt herzu. Dorine bückte sich nach den Scherben, ließ sich auf die Knie nieder und verbarg das Gesicht, auf dem Dietrich, sehr im Gegensatz zu dem magdhaften Hinknien, eine stolze, bittere Genugtuung hätte sehen können.
»Wie ungeschickt man sein kann,« murmelte sie; »schade um das herrliche Ding.«