Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Pygmalion

Da ihm ein schlimmes Gefühl von der Szene mit Hedwig Schönwieser geblieben war, machte sich Dietrich am andern Tag ziemlich früh schon auf, sie zu besuchen und wenn auch nicht abzubitten, so doch um Finks willen, den er beleidigt glaubte, eine Versöhnung herbeizuführen. Aber alles, was er tat und sich vornahm, verwirrte ihn in gleicher Weise. Die peinigende Unzufriedenheit mit sich selbst, das leidenschaftlich friedlose Sinnen und Hinstürmen verdüsterte nachgerade sein Gemüt.

Fink und Hedwig waren noch in ihren Zimmern. Er ließ sagen, er sei da und warte. Fink schickte Botschaft, er möge hinaufkommen. Es war nicht die Rede von dem gestrigen Vorfall. Fink war ziemlich aufgeregt beschäftigt, seinen Koffer zu packen. Er habe ein Telegramm erhalten, das ihn nach München rief, erzählte er. Hedwig bleibe hier, wie lang es dauern werde, bis er sie abholen könne, wisse er noch nicht. Sie wolle nicht im Hotel bleiben, es sei ihr zu ungemütlich; das verstehe er; sie wolle nach Mannenbach hinaus, in den Pfauenhof, ganz in der Nähe der Villa Oberlin; das Haus und seine Lage überm See hätten ihr gefallen. »Weiber lieben es, sich zu verändern«, sagte Fink, der hemdärmlig hin und her rannte und was ihm gerade zwischen die Finger kam, in den Koffer warf; »du wirst dich hoffentlich ein bißchen um sie kümmern, Oberlin. Ich verlasse mich in dem Punkt ganz auf dich. Dummheiten wirst du ja nicht machen, dazu bist du zu fischblütig und natürlich auch zu anständig. Und sie, wenn sie bloß ihre Ration Amüsement hat, läßt sie sich um den Finger wickeln. Versprichst du mir, daß du dich ihrer annehmen wirst, Oberlin?« Er blieb vor Dietrich stehen, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihn treuherzig und zugleich mit kaum verhehlter Pfiffigkeit an.

»Ich bin nicht der Richtige für ein solches Amt«, erwiderte Dietrich ausweichend. Es war ihm ein ärgerlicher Gedanke, daß das Mädchen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnen sollte, und es schien ihm etwas wie Bosheit in dem Plan zu liegen, von der Zudringlichkeit abgesehen.

Fink ließ sein schepperndes Lachen hören. »Du, Hedwig,« schrie er auf einmal durch die Tür, »Oberlin kann sich gar nicht fassen vor Wonne über deine Idee mit dem Pfauenhof.«

Dietrich sagte durch die Zähne: »Fühlst du denn nicht, wie taktlos und wie geistlos du bist?«

Fink zog die Brauen in die Höhe, und in seinem Gesicht ging eine häßliche Veränderung vor. Er antwortete giftig: »Sag mir, warum du dich eigentlich so aufplusterst? Wofür hältst du dich eigentlich? Hältst du dich etwa für einen Edelmann? Wie viel Stockwerke über uns ist Euer Erlaucht geboren? Aber ohne Spaß, Oberlin, und auch ohne Groll, sag mir: was bist du für ein Mensch? Wir haben jetzt wochenlang wie zwei Kameraden verkehrt, du warst mein Gast, ich der deine, aber ich weiß wahrhaftig nicht, was du für ein Mensch bist. Ein Dummkopf oder ein Narr? Ein Schwächling oder ein Verräter? Möcht es gerne wissen. Nur damit man sich danach richten kann.«

»Ich glaube,« entgegnete Dietrich langsam, »ich glaube, daß wir zwei beide nichts miteinander zu schaffen haben sollten. Ich glaube, daß jeder von uns beiden durch den anderen schlechter wird. Ob ich ein Schwächling oder ein Verräter bin? fragst du. Beides. Ein Verräter, weil ich dich trotz unserer Intimität mit allen meinen Gedanken verabscheue und immer verabscheut habe, und ein Schwächling, weil ich zu feige und zu ehrlos war, daraus die Konsequenz zu ziehen. Somit weißt du es und darfst mich ruhig verachten. Denn siehst du, Fink, ich habe vor mir selber die Achtung verloren. Wie es zugeht, kann ich mir nicht erklären, aber ich versichere dir, daß ich es ganz gerechtfertigt finde und daß ich mich nicht einmal wehren würde, wenn mir irgend ein Mensch auf der Straße ins Gesicht spucken würde. Könnte mir nur einer sagen, was ich tun soll.« Fink hatte sich verfärbt. In seinen Augen flimmerte Wut. Aber es lag in Dietrichs Worten solche Seelenqual, daß er sein Aufbrausen zurückhielt und in wegwerfendem Ton sagte: »Du bist einfach nicht zurechnungsfähig. Sonst hättest du mir einzustehen für dein windiges Gerede. Ich halte dich für krank. Was du tun sollst? Na schön, wenn du einen freundschaftlichen Rat hören willst, so leg den Keuschheitsgürtel ab. Such dir eine barmherzige Fee, die den Schlüssel dazu verwahrt. Wir sind allesamt eines Fleisches, Mensch, und wer das Fleisch kasteien will, dem wird das Blut zu Galle. Derlei Popanze, ich kenne sie, mit ihrer Überheblichkeit und ihrer Heuchlerstrenge. Insgeheim haben sie sich dem lüsternsten von allen Teufeln verschrieben und verkohlen innerlich wie die Späne in einem Meiler. Folge mir und geh zu einem Weib.«

»Das ists nicht,« murmelte Dietrich; »nein. So simpel ist es nicht. Da bist du auf dem Holzweg.«

»Was ists denn? Gehörst du zu denen vielleicht, die das Ideal für sich verlangen?« höhnte Fink, der aus einem unklaren Grund wieder in Wut geriet; »schlechtweg und ohne Rabatt das Ideal? die Madonna? die Jungfrau mit dem Glorienschein? Möchtest du Pygmalion spielen, he? den Pygmalion des Traums, wie ich mal irgendwo gelesen habe? So siehste aus, Jungchen. Das gibt nen höllischen Kladderadatsch, sag ich dir; da häng dich nur lieber gleich am nächsten Baume auf.«

Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich, und auf die Schwelle trat Hedwig Schönwieser, mit nichts bekleidet als einem lilaseidenen Überwurf, durch den die Formen ihres stengelschlanken Körpers wie durch gefärbtes Glas sichtbar waren. Die feuerroten Haare hingen aufgelöst über die Schultern bis zu den Hüften herab. Mit beiden gekreuzten Händen hielt sie das Gewand vor der Brust zusammen, schüttelte den Kopf und fragte unzufrieden: »Was zankt ihr euch denn, ihr zwei?«

»Wir haben unsere Weltanschauung kritisch gemustert«, brummte Fink verdrossen.

Hedwig trippelte nacktfüßig bis dicht vor Dietrich hin, beugte Kopf und Hals vor und sagte: »Wirst du nett sein mit der kleinen neuen Freundin, keuscher Oberlin? Wirst du ihr manchmal ein paar Rosen aus deinem Garten schenken und ihr beim Konditor eine Schokoladetorte kaufen? Oder wirst du sie schlecht behandeln und nicht mehr kennen wollen?«

Das war nicht ohne Grazie und echte Schelmerei und hauptsächlich nicht ohne Gutmütigkeit, die Dietrich beinahe entwaffnete und ihn seinen Widerwillen vergessen ließ. Aber die Nähe ihres kaum verhüllten Leibes bewirkte, daß er darüber weghörte und es sich wie Gewölk um seine Lider legte. Etwas Schamloses in Haltung und Miene verletzte ihn; er wich zurück, einen Schritt und noch einen, Hedwig folgte ihm und brach in Gelächter aus, und während sie lachte, ob es unabsichtlich oder in dirnenhafter Berechnung geschah, war nicht zu entscheiden, schlug sie den Überwurf auseinander, und er sah einen Augenblick lang ihren Körper nackt, porzellanweiß fast; wie eine weiße Flamme kam es ihm vor.

Lachend und sich schüttelnd kehrte sie sich ab und ging in ihr Zimmer zurück; auch Fink lachte aus vollem Halse.

»Adieu, Fink«, sagte Dietrich gepreßt und stürzte zur Tür.

»Adieu, Pygmalion«, rief ihm Fink lachend nach.

Er ging zu Fuß nach Hause. So wenig achtete er auf den Weg und die Menschen, daß er sich einmal vor einem Auto stehend fand, das der greulich schimpfende Chauffeur in der letzten Sekunde noch anzuhalten vermocht hatte, das andere Mal in einer spielenden Schar zwei Kinder umstieß. Als er beim Pfauenhof vorüberkam, blieb er unwillkürlich stehen. Das Gebäude lag in halber Höhe des Hangs; der hölzerne Giebel eines langgestreckten Pavillons war von einer Girlande aus Tannenzweigen umwunden, und darunter prangte in roten Lettern auf weißer Tafel die Ankündigung: Morgen Abend findet große Tanzunterhaltung statt.

Zu Hause fand er einen Brief von Georg Mathys. Er las ihn ohne Anteil. »Ich habe erst jetzt eine annähernde Vorstellung davon gewonnen, wie viel Arbeit auf uns junge Leute wartet«, schrieb der Hemmschuh unter anderm. »Vor allem ist mir klar geworden, daß wir uns entschlossen ins Verhältnis zu den Tatsachen zu setzen haben. Das bedingt eine gewisse Härte und eine gewisse Kälte, und allerdings um die geht es. Vergangene Epochen haben mit Vorliebe das Abseitige und Irreale bewundert und gehegt, wenigstens platonisch; sie haben zum Beispiel den Träumer, oder besser gesagt, den Traumbefähigten auf ein Piedestal gehoben. Mich dünkt, daß das für lange vorbei ist. Ich meine damit nicht, daß der Traum aus der Welt geschafft sei oder der Träumer ausgerottet werden soll; ich bin sogar der Ansicht, daß es etwas gibt, was ich die Erziehung durch den Traum nennen möchte, das so tief und hintergründig ist wie die geheimnisvolle Untermalung auf manchen Meisterwerken, aber die Frage ist dann eben, ob es zur Figur reicht, ob Figur entstehen kann. Wir werden unsere Hände rühren müssen, Oberlin. Sieh zu, daß du in deiner Weise vom Fleck kommst. Neulich ging ich durch den Wald, und da hatten sie einen mehr als tausendjährigen Baum umgesägt. Herrgott, dacht ich mir, mein Leben und das von fünfzig meiner Kameraden da hinein, und es ist noch immer nicht dieses wunderbar und ungeheuer Verdichtete an Kraft, an Wuchtigkeit und an Bedeutung für das Ganze ...«

Dietrich legte den Brief mit der Empfindung beiseite: ich werde es später zu verstehen suchen.

Warum klassifizieren sie und stellen Rangordnungen auf? dachte er feindselig. Warum fordern sie, daß man gerade so und so sein soll? wenn man nun anders ist und mit dem Anderssein zu existieren hat? Ist man dann ausgestoßen aus dem wirklichen Leben? Kommt man dann nicht mehr in Betracht, wie eine Wanze, wie eine Laus? Und was ist das: das wirkliche Leben? was ist das: der Traum? Wer entscheidet: dies ist wirklich, dies ist unwirklich? Wer verwirft? wer verdammt? wer hält Gericht? Die Zeit? Was ist die Zeit? wo ist sie? Sie spricht nicht, sie kennt mich nicht, sie liebt mich nicht, ich spür sie nicht, was soll sie mir?

So sank er mit dem vergehenden Tag in Schwermut. Der Abend tröstete nicht, gab nichts. In der Nacht lag er auf dem Marmorrondell beim Springbrunnen und lauschte auf das Rieseln des Wassers. Der große Hund kauerte zu seinen Füßen, über ihm flammte, zwischen den Kronen zweier Kastanien, das Sternbild des Wagens. Es kam ihm vor, als seien seine Adern in Gold verwandelt und die Glieder verwunschen. Die Welt war ausgetilgt und ihr Süßes und Bitteres ganz in ihn hineingeschlüpft wie in einen Fruchtkern. Er schlummerte ein, aber es war kein Schlaf, es war banges Glosen in einem brausenden Element. Als der erste Tagschein rosig-kühl aufschimmerte, erhob er sich, ging ins Haus, warf sich ins Bett wie in einen Abgrund und schlief steinern bis zum Mittag.

Gegen sechs Uhr am Nachmittag saß er in dem kleinen Bibliotheksraum am Schreibtisch und versuchte seine Gedanken zu einem Brief an Mathys zu sammeln, als sich leise die Tür öffnete und Hedwig Schönwieser eintrat, lächelnd, den Finger auf dem Mund. Erst hatte sie den Kopf hereingesteckt und nachdem sie Dietrich gewahrt, hatte sie es sehr eilig gehabt, die Tür wieder zu schließen. »Es hat mich niemand gesehen,« flüsterte sie; »ich bin die Stiege herauf und habe mindestens schon in drei Zimmern nachgeschaut. Na, und da bist du ja endlich, kleiner Oberlin. Ich dachte schon, du wärst über alle Berge.«

Sie trug ein weißes Leinenkleid mit schmalen blauen Litzen; der Strohhut hing am Band an ihrem Arm. Sie schien sehr aufgeräumt, hatte die »diebische Lustigkeit« an sich, wie es ihr Freund Fink nannte, und bewegte sich mit einer ihr sonst nicht eigenen Freiheit, als wären unbequeme Fesseln von ihr genommen.

Dietrich vermochte kein Wort hervorzubringen. Er war aufgestanden, hatte sie angesehen, bestürzt, düster, beinahe hilflos, hatte sich wieder gesetzt, und sein Herz hämmerte tobend.

»Es ist dir wohl nicht recht, daß ich da bin?« fragte sie gekränkt.

Er stammelte etwas und gab sich Mühe, zu lächeln.

»Ach, es ist mir gleich, ob dirs recht ist oder nicht, ich wollte nur zu einem Menschen gehn«, sagte sie seltsam und setzte sich auf ein niedriges Bänkchen am Fenster.

»Wie schwül es heute ist,« seufzte sie; »das Blut gerinnt einem vor Schwüle.«

Und wieder: »Am Abend ist Tanzfest im Pfauenhof. Da möcht ich tanzen.«

Er sprach nicht. Sie verstummte gleichfalls. Sie schaute ihn eine ganze Weile ruhig und forschend an. Er hatte die Augen gesenkt und sein Gesicht wurde allmählich bleicher und immer bleicher. Sein Schweigen schien sie nicht zu stören, es war, als finde sie es selbstverständlich, und wie sie ihn so anschaute, wurde aus dem ruhigen und forschenden Blick ein neugieriger, ein mitleidig-messender, ein verlangender. Sie umschränkte die Knie mit den Händen, entstraffte die Muskeln des Körpers, und auf ihren Lippen war der Ausdruck von Durst. »Hast du einen Brief geschrieben?« fragte sie. »Zeig mir, was hast du geschrieben?« Sie erhob sich, trat an seine Seite, beugte sich über den Tisch und lachte. »Aber da steht ja nichts!« rief sie.

Da legte sie den linken Arm um seine Schulter und drückte die Wange auf sein Haar. In einer Mischung von Grauen, Schrecken, angstvoll lähmender Erregung und Bewußtlosigkeit verschwammen Dietrich alle Dinge ringsherum. Der Zustand eines trüben Halbgefühls von Geschehen und Sein war von dieser Minute an der herrschende in ihm. Ich muß sie erwürgen, fuhr es ihm wie kalter Stahl durch den Kopf, ich muß sie unbedingt erwürgen; zugleich erzitterte er in einer schwindelnden, erstickenden, gehaßten, häßlichen Begehrlichkeit.

Hedwig, sich dichter an ihn schmiegend, nun ohne Furcht, zurückgestoßen zu werden, ergriff mit der Rechten einen Bleistift und schrieb auf das leere Blatt: Ich erwarte dich Punkt neun Uhr bei der Kapelle.

Sie sah ihn fragend an, stieß einen Vogellaut aus, drückte seinen Kopf an ihre Brust, schrieb wieder: Wirst du bestimmt kommen?

Sie sah ihn abermals an; da sagte er mit einer ihm völlig unbekannten Stimme: »Ich werde kommen.«

»Sicher?« jubelte sie leise.

»Sicher.«

Ein gehauchter Ruf von den Lippen des Mädchens; sie richtete sich empor, Dietrich hob den Kopf: die Ratsherrin stand im Zimmer. Im Reiseanzug stand sie da, den Blick wie zerstreut in die Richtung gekehrt, wo die beiden waren, mit den Zähnen an der Unterlippe nagend, was der Miene etwas Grüblerisches gab, und scheinbar gleichmütig die Handschuhe von den Fingern streifend. Dietrich langte nach dem Blatt, auf das Hedwig ihre großen Buchstaben geschrieben, zerknüllte es krampfhaft in der Faust und wünschte, daß es drin zerschmelze oder zu Asche werde, denn ihm war, als drängen die Blicke der Mutter durch seine Hand und könnten die Worte lesen. Hedwig, in peinlicher Verlegenheit, sich scheu duckend unter den Augen dieser Frau, die sie als Luft behandelten, wußte nicht recht, was sie tun sollte, endlich faßte sie einen Entschluß, ging mit einem hastigen Knix an Dorine vorüber und huschte hinaus, was Dietrich ungeachtet seiner Verwirrung als albern und ungeschickt empfand.

Auch das Verschwinden des Mädchens schien Dorine nicht zu bemerken. Sie legte den Hut mit dem langen Schleier ab und ging lässig hin und her. Sie erzählte von der Eisenbahnfahrt, vom Baseler Haus, von einem jungen Professor, den Dietrich kannte und den sie vor der Abreise am Bahnhof gesprochen. Wie sie von allem Vorherigen keine Notiz genommen, schien ihr auch Dietrichs Stummheit nicht aufzufallen, seine Blässe und beengte Haltung nicht. Ehe sie sich in ihr Zimmer begab, um sich umzuziehen, bat sie ihn, ihr sogleich die Abschrift eines Dokuments anzufertigen, das sie aus ihrem Täschchen nahm und ihm reichte. Es war ein Gerichtsbeschluß über die Vormundschaft und über den Nachlaß des Ratsherrn, gespickt mit Ziffern und Paragraphen. Dietrichs Miene zeigte Beflissenheit; er setzte sich hin und fing an zu schreiben, ohne die Worte zu verstehen, geschweige ihren Sinn. Nur das eine begriff er, und es beunruhigte ihn fieberhaft, daß ihn die Mutter hier festhalten wollte, daß sie sein Vorhaben ahnte und nach einem bestimmten Plan handelte.

Nach einer halben Stunde kam sie wieder, rückte den Ledersessel ans Fenster, nahm ein Buch, eines ihrer pflanzenwissenschaftlichen Werke und begann zu lesen. Bis zum Dunkelwerden fiel kein Wort zwischen ihnen; nur einmal sagte sie: »Ich habe angeordnet, daß wir heute in diesem Zimmer zu Abend essen; es ist mir heimlicher als drunten im Saal.«

Dann erschien das Mädchen, räumte die Bücher und Zeitschriften vom Mitteltisch, deckte auf, machte Licht; inzwischen hatte Dietrich die Kopie beendigt; man setzte sich zum Essen, Dietrich sah auf die Wanduhr; es war zehn Minuten nach acht. Er berührte die Speisen kaum; fortwährend hämmerte tobend das Herz. Als es auf der Uhr fünf Minuten nach halb neun war, erhob er sich und sagte, er gehe jetzt.

Dorine richtete zum erstenmal den Blick voll in sein Gesicht. Mit einem sonderbar heitern Ausdruck, indem sie sich vorbeugte und die Hände flach auf das Tischtuch legte, sagte sie: »Du bleibst.«

Er erbebte. Sehr leise antwortete er: »Es wäre besser, du würdest das nicht von mir verlangen. Ich sage dir gleich, daß ich in diesem Fall nicht gehorchen kann.«

Ohne daß der heitere Ausdruck ganz aus Dorines Gesicht verschwand, schob sich der Unterkiefer langsam hervor, wodurch die Züge etwas Unerbittliches, ja Wildes bekamen, das Dietrich neu war. »Du bleibst«, wiederholte sie. Auch sie flüsterte bloß. »Du bleibst in diesem Zimmer, bis ich es für gut finde, dich zu entlassen.«

»Es tut mir leid, Mutter,« antwortete er mit der Impertinenz, die ein Gegenkrampf des besinnungslosen Blutsturms war, »ich bin dein Sklave nicht, ich habe mich verpflichtet.« Damit ging er zur Tür.

Dorine sprang auf und kam ihm zuvor. Sie stellte sich mit dem Rücken zur Tür, streckte gebieterisch den Arm aus und rief, totenfahl: »Keinen Schritt mehr und kein Wort mehr oder es ist aus zwischen uns. Sklave oder nicht, verpflichtet oder nicht, durch die Tür gehst du mir nicht. Aus dem Haus gehst du mir nicht. Keinen Schritt und kein Wort!«

Dietrich starrte wie in beizenden Rauch hinein. »Gib den Weg frei,« röchelte er; »Mutter, gib den Weg frei, oder beim allmächtigen Gott, es geschieht etwas ...«

»Du bleibst«, rang sichs als Wehschrei von ihren weißen Lippen, denn das Gräßliche war ihr schon geschehen, eh es geschah.

Im Qualm seiner Raserei stürzte er zum Tisch, ergriff das silberne Vorschneidemesser und wandte sich wider sie. Seine Lippen sprudelten sinnlose Laute. Er schleuderte das Messer zu Boden, hob die Arme, umklammerte mit den Händen ihren Hals. Da geisterte sie ihn mit entleerten Augen an; der Körper glitt am Türrahmen herab und brach zusammen, wie wenn die Knochen geborsten wären. Er hörte noch, vom Flur draußen, ein langgedehntes Aufseufzen. Dann rannte er die Stiege hinunter, aus dem Haus, aus dem Garten, die Straße entlang, den Hang hinauf, wie von Fäusten gejagt, die ihn in den Nacken hieben.

Als er die Kapelle erreicht hatte, schlug es neun Uhr von der Ermatinger Kirche.

Er stand da in der Nacht, steif und still, und ließ sein Keuchen verebben.

Schwarze Wolken, wie Klötze, hingen tief. Vom Pfauenhof herauf klang widrig die Tanzmusik. Aus einer Unterwelt. Er spähte nach den schimmernden Schatten. Keine Begierde war je so übergewaltig in seiner Seele gewesen, so flehend und alle Hüllen zersprengend wie die, daß sie jetzt kommen möge, ohne Verzug, jetzt in dieser Minute des reifen Geschicks: damit er sie vernichten konnte, an sich reißen und das Herz in ihr zermalmen. Nur das nicht, Gott, bettelte es in ihm, nur das nicht, daß sie jetzt nicht kommt!

Aber die Minute verfloß, und dann die andern Minuten; und die Viertelstunde und dann die andern Viertelstunden: kein Geräusch, kein Schritt, kein Mensch. Sie kam nicht. Er irrte am Waldesrand; sein Auge durchbohrte die Finsternis links und rechts, oben und unten; sie kam nicht. Da dünkte ihn, er werde aus einem kochend heißen Raum plötzlich in einen eisigen gestoßen. Da verdarben Blut und Hirn; da starben Stimmen in ihm und Geister; da überflutete ihn ein unsägliches Gefühl von Wesenlosigkeit. Noch irrte er herum, noch wartete er; aber das war schon Schwäche, traurige, geschlagene Geduld.

Es schlug zehn und halb elf. Es begann zu regnen; er nahm es nicht wahr. Taumelnd verfolgte er den Weg hangabwärts. Unweit irisierten die Lichter vom Pavillon des Pfauenhofs. Er steckte die nassen Hände in die Taschen und lachte wie ein Idiot. Was ihn zur Lachlust reizte, war die Musik, der er sich näherte. Schon unterschied er die tanzenden Paare einzeln. Er wußte, daß auch sie drinnen tanzte. Dann sah er es.

Er gewahrte sie am Arm eines stämmigen Menschen, der eine Brille trug und in angestrengter Weise den Kopf zurückgeworfen hatte, wobei seine Miene befehlend und hochmütig war. Das Gesicht des Mädchens hatte einen schwärmerischen Ausdruck, bisweilen schloß sie sogar selbstvergessen die Augen. Er sah es genau, während sie an der offenen Brüstung vorübertanzte, um hierauf wieder im Gewühl dahinter unterzutauchen.

Es hatte aber keinen Bezug mehr. Er empfand weder Zorn noch Scham noch Verwunderung noch sonst eine Erregung. Es war ein fertiggelebtes Stück Leben, das seinen eigenen Tod gehabt hatte; die Frage war nur, was man mit dem machen sollte, das weiterging, und ob es überhaupt möglich war, sich mit ihm abzufinden.

Er überquerte die Landstraße und kam an den See. Sich auf das Geländer lehnend, hörte er zu, wie der Regen aufs Wasser plätscherte, wie kleine Wellen lallend ans Ufer stießen, und schauerte in der Nässe seiner Kleider, von denen Bäche herabtroffen. Im Gehen zusammengekauert schlich er am Ufer hin, gelangte zur Gartenpforte der Villa, stand unschlüssig, ging hinein, ging ins Haus, schüttelte sich im Flur, daß es spritzte, ging im Finstern die Treppe hinauf, tastete sich nach demselben Zimmer, das er vor Stunden, am Ende jenes andern Lebens, verlassen hatte, schloß leise die Tür, als er drinnen war, drückte die Stirn an die Wand und begann unaufhaltsam still zu weinen.

Es war eine bescheidene Art von Weinen, wenn auch eine schmerzliche, und dauerte lange. Es hatte eine gewisse Verwandtschaft mit dem nächtlichen Sommerregen draußen, der der Landschaft nach der wetterbeladenen Schwüle die Ruhe ihrer Wurzeln und ihrer fruchtbaren Tiefen geschenkt hatte. Als er sich umkehrte, sah er mit den an die Dunkelheit gewöhnten Augen eine Gestalt, die regungslos am Fenster saß, den Kopf auf den Arm gestützt. Sonst war nichts zu unterscheiden.

Er machte zwei, drei Schritte, gehemmt durch Ahnung und Erinnerung. Die Gestalt erhob sich. Er stürzte auf die Knie und umschlang ihre Knie mit seinen Armen. Er preßte sein Gesicht in den Schoß, aus dem er stammte; er preßte es so fest hinein, als wolle er wieder dorthin zurückkehren. Er sprach nicht, rührte sich nicht, auch das Weinen war ihm vergangen. Er preßte nur, angstvoll über die Maßen, Kind, Sohn, Mann in einem, den Kopf in ihren Schoß.

Da legten sich zwei Hände auf seine Haare, deren Nässe von stundenlangem Ausgesetztsein zeugte. Die Hände blieben liegen. Sie hatten eine beglückende Schwere für Dietrich. Er löste das Gesicht aus der dunkelwarmen Kleidhülle und schaute schüchtern empor. Es zeichnete sich, über dem Haupt der Mutter, in der Luft ein Wesen ab, deutlich wahrnehmbar, so zart, so schimmernd, ein Antlitz so verheißend, so rein, so liebreich, daß wie von aufgebrochener Quelle her freudige Zuversicht über ihn strömte.

Aber wie es hervorzaubern aus dem Unwirklichen, dieses Wesen? wie es herausmeißeln aus dem Traum?


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