Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Tragischer Abend

Eine Stunde später saßen sie auf der geräumigen Terrasse im Obergeschoß, von welcher See und Landschaft weit zu überschauen waren. Der Himmel hatte sich mit eintönig grauer Nebelschicht bedeckt, die die unbewegte Wasserfläche farblos machte und Wiesen, Wald und die zerstreuten Baumstande herbstlich gealtert zeigte. Schwermütige Stille war in der Natur; sie dämpfte die Geräusche des vergehenden Tags. Zu Dietrichs Füßen kauerte Rust, der Neufundländer, hob bisweilen den riesigen Kopf mit der gelblich gefleckten Schnauze und den triefenden Lefzen, rückte sich mit den Pfoten anderswie zurecht und versank wieder in seine wuchtige und wachsame Schläfrigkeit, seufzend.

Auf dem Tische stand, zwischen zwei Vasen mit Astern und Purpur-Laub, eine längliche Schale, in der große reife Birnen in einem Kranz schwerer Trauben lagen. Justus Richter zupfte von Zeit zu Zeit eine Beere ab, schob sie in den Mund und gab durch Emporziehen der Brauen zu verstehen, daß sie ihm schmeckten.

»Wenn ich euch jetzt sagen würde, woran ihr denkt,« begann er listig zwinkernd, »wärt ihr sicherlich nicht erstaunt darüber, daß ichs weiß. Aber es ist überflüssig, davon zu reden.«

Georg Mathys erwiderte: »Als ich im vorigen Jahr in Frankfurt die Athene des Myron sah, war mir, wie wenn ich gegen alles Schlechte und Häßliche für lange gefeit sei, und Unglück und Niedrigkeit nicht mehr an mich heran könnten. Die Wirkung war mir neu. Schönheit einer Statue war mir ästhetischer Wert, geistiger. Daß sie so ins Zentrale dringen, so erschütternd sein konnte, so, daß man hatte weinen mögen wie von einem Fluch erlöst, das hatte ich nicht gewußt. Und bis heute wieder hab ich nicht gewußt, daß es einem vor einem lebendigen Geschöpf ähnlich ergehen könne.«

Dietrich, dessen Blick in der Ferne weilte, wurde blaß. Die Worte betasteten Unbetastbares. Sie erzürnten und schmerzten ihn, nur weil sie ausdrückten, was er empfand.

»Man darf es nicht egoistisch umgrenzen«, murmelte Justus Richter.

»Nein, das darf man nicht«, stimmte Mathys zu.

»Und doch,« fuhr Justus in seiner eindringlichen Art fort, »wenn man sich mit allen Sinnen eine abwesende Person vorstellt, von der man ahnt oder wünscht oder fürchtet, daß sie in unser Schicksal greifen wird, dann ist sie auch da, dann ist die egoistische Grenze schon gezogen. Ist euch nicht zumut, als säße das fremde Wesen unter uns, fremd, weil es die Welt so will, als schlüge sie die Augen auf, um etwas zu erzählen, etwas zu klagen? Ich weiß auf einmal so viel von ihr, das heißt, ein anderes Ich in mir weiß es; ich habe Unruhe um sie. Warum?«

Da keiner antwortete und er die erregte Miene Dietrichs nicht sah oder sie mißdeutete, sprach er weiter: »Es gibt Menschen, die gewinnen einen Einfluß auf Seelen wie magnetische Ströme in der Luft; plötzlich. In uns selber haben wir wohl den Appell dafür, aber es fehlen die Mitteilungsformen. Die Zusammenhänge zwischen den Kreaturen untereinander und zwischen ihnen und dem, was wir als toten Stoff betrachten, sind viel geheimnisvoller als wir annehmen und gehen tiefer als alle Wissenschaft und Spekulation. Wir sind sehr unvollkommen und durch rohe Widerstände gehemmt. Was Erkenntnis sein könnte, ist bloß Träumerei. In seltenen Augenblicken triffts einen wie ein Strahl aus einer Ritze in den schwarzen Felswänden, die uns auf allen Seiten umragen. Das ist dann ein Gefühl, wie soll ichs nennen, ein Gefühl wie nach dem Tod oder vor der Geburt. Wenn ich mich ungemessen, unwollend, undenkend hingebe, kann ich mich auslöschen und neue Gestalt erlangen. Da rauscht mir der ganze Schicksalsozean in den Adern, und ich bin doch nur ein Tropfen davon, hineingemischt, hindurchgewirbelt. Dann bin ich Medium, nämlich Geist unter Geistern.«

»Das sind gefährliche Wege,« sagte Georg Mathys stirnrunzelnd; »wir müssen uns hüten, daß das Unbegreifliche zu billig wird für die Zunge und zu straflos für die Gedanken. Alles das steht unter einem strengen Gesetz; es hängt vom ehrlichen Wissen und Schauen ab. Verzichtest du zu früh auf Wissen und Schauen, so wirst du der Hanswurst eines Wahns oder das Opfer scheinpriesterlicher Gaukelei. Es ist da ein Punkt, wo sich der wirkende Mensch vom vegetierenden scheidet. Man wird leicht zum Parasiten, wenn man sich in die Dämmerregionen begibt, und dünkelhaft und zelotisch wie alle Parasiten. Erst Adept, dann Pfaffe, wir sehens jeden Tag. Du sollst jetzt nicht heftig antworten,« beschwichtigte er den zu ungeduldiger Erwiderung Gerüsteten, »ich möchte ungern streiten, das läuft ja schließlich bloß auf metaphysisches Kannegießern hinaus. Heute hast du recht mit deinem aufgestörten Gefühl, es ist uns allen gleich wunderlich ums Herz, und eben deshalb wünscht ich nicht daran erinnert zu werden, daß es für dergleichen bereits gestempelte Formeln und flüssige Meinungen gibt. Wir wollens für uns haben.«

»Immer der nämliche Despot«, murrte Justus Richter gutmütig-unzufrieden. Aber er machte keine Einwendung mehr und überließ sich der lastenden Stille wie die andern. Weit vorgebeugt, hatte er sein dickes rundes Kinn auf den Tischrand gestützt, so daß es in der beginnenden Dunkelheit aussah, als läge der Kopf abgeschnitten neben der Obstschale, mit glänzenden Augen freilich in dem jugendlich belebten Gesicht. Da erschraken alle drei; ganz nahe, von der Richtung des Waldes her, war ein Schuß gefallen. Rust schlug an, erhob sich, trabte unruhig herum.

Sie lauschten. Nun ertönte ein durchdringender Schrei. Zu zaudern war nicht mehr. Von der Terrasse führte die Steintreppe unmittelbar in den Park, die eilten sie hinunter, dann zu der kleinen Gartenpforte oben. Der Wiesenstreifen war ungefähr zweihundert Meter breit, und trotzdem es ziemlich steil bergan ging und der lehmige Boden vom Regen aufgeweicht war, hatten sie das Gelände in wenigen Minuten überquert. Am Waldrand, unter den vordersten Stämmen, erblickten sie eine weiße Gestalt. Rust stand schon vor ihr und verbellte sie.

Mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, das Gesicht mit den Händen bedeckt, verharrte sie unbeweglich. Der Anruf Richters, die hastige Frage Georg Mathys' riß sie nicht aus der Starrheit. Da deutete Dietrich mit gurgelndem Laut auf eine zweite weiße Gestalt, die ausgestreckt im Moos lag, fünf Schritte entfernt und leblos, soviel man im unsicheren Zwielicht zu erkennen vermochte. Daß es die Schwestern waren, die sie vor anderthalb Stunden am Seeufer gesehen, war den jungen Leuten sofort klar. Georg Mathys stürzte zu der auf der Erde Liegenden hin; als er sich niederließ, berührte sein Knie einen harten Gegenstand; mechanisch schob er ihn weg, griff dann darnach; es war ein Revolver, der Lauf noch warm. Jetzt sah er deutlich das Gesicht; ein Blutfaden, in der Halbdunkelheit schwärzlich, rann von der Schläfe zum Ohr und ins Moos.

Die Schöne war es, die da verblutete; die Schöne, die entseelt vor ihm lag. Es als unabänderlich erfahren zu müssen war ein herabstürzender Block; Schultern und Schenkel zitterten ihm; er stützte sich mit den Armen auf den Boden, seine Hand streifte die schauerlich kalte Hand, die rechte; die linke ruhte auf der Brust. Rasch einen Arzt, holt Laternen, hörte er sich heiser rufen. Justus Richter gestikulierte, schaute sich hilfesuchend um, dann war er verschwunden, und man hörte seine den Abhang hinunterstürmenden Schritte.

Rust, mit auffallend erbittertem Laut, verbellte immer noch die regungslos Stehende. Lange erinnerte sich Dietrich des bösen, eigensinnigen Tons im Gebell des Hundes, das ihn endlich aufschreckte aus der Vergeisterung. Von der Straße schallten Stimmen empor; der Schuß, der Schrei hatten Passanten und Leute in der Nachbarschaft alarmiert. Einige näherten sich, riefen durch die hohle Hand, kehrten unschlüssig wieder um. Dietrichs jagende Gedanken hielten nichts fest außer einem: wie er an jenem andern Abend, in jenem vergangenen befleckten Leben unweit von hier um die Kapelle geirrt war. Er suchte die Beziehung zwischen hier und dort, den Sinn der Doppelheit und der Folge. Was dort geendet hatte; was hier begann. Und es war ein Beginn, wie immer es wurde, er spürte es schicksalsgetroffen. Als sägte ein Riesengespenst die Nacht in klappernde Scherben, so ein Gefühl hatte er. Sich hinbetten neben die Weiße war seine inbrünstige Begierde diese ewige brennende Spanne hindurch, die nur nach Minuten zählte. Der Leib war gegenwärtig, also war sie selber gegenwärtig, und Leblosigkeit war Grimasse. Er fand sich nicht damit ab; er würde sich niemals damit abfinden, dessen war er gewiß; der Weg, der ihm heute aufgetan worden, konnte nicht von einem Grab versperrt werden, dessen war er gewiß.

Inzwischen hatte sich Georg Mathys erhoben und schritt zu der Regungslosen am Baum. Hastiges Fragen, die Antworten mit dunkler rauher Stimme, besinnend und abwesend erst wie von einer, die schwer aufwacht, dann erregt, anklägerisch, verworren. Dietrich vernahm ungefähr dies: sie seien in Streit geraten; sie habe der Schwester im Zorn harte Worte gesagt, habe die Herrschaft über sich verloren; sei von ihr weggegangen, sei vorausgeeilt; auf einmal der Schuß. Daß sie den Revolver bei sich gehabt, wer hätte daran denken sollen; daß sie es so aufgenommen, den ersten Zank in ihrer beider Leben, unfaßbar; sie sei zurückgerannt; Cäcilie, um Gottes willen, Cäcilie! Da sei es schon zu spät gewesen.

Sie hatte die Hände verflochten und hob sie zur Stirn. Was nun werden solle; die Eltern, man möge ihr helfen; sie könne so den Eltern nicht gegenübertreten; um acht Uhr kämen Vater und Mutter mit dem Dampfschiff von Meersburg, sie hatten sie und die Schwester am Vormittag hergebracht und mit der Vorsteherin gesprochen, Frau Doktor Gnad von der Gartenbauschule, dann seien sie nach Meersburg gefahren, um Freunde zu besuchen; Cäcilie sollte bei Frau Doktor Gnad eintreten, sie habe sich darauf gefreut, alles sei vereinbart worden, ihr Gepäck sei schon dort, die heutige Nacht habe sie noch mit ihr und den Eltern im Hotel verbringen wollen. Wer es den Eltern sagen würde; der Mutter; die überlebe es nicht.

Georg Mathys beteuerte, er und seine Freunde stünden ihr zur Verfügung, sie möge bestimmen, was zu geschehen habe. Es sei halb acht jetzt, bis zur Ankunft des Schiffes bleibe noch eine halbe Stunde. Er mache sich erbötig, die Eltern vorzubereiten, er sei selbst der Meinung, daß sie sich zunächst fernhalte. Eine Frage noch möge sie verzeihen: sie und die Schwester seien in Begleitung eines Herrn gewesen; ob es ein Verwandter oder sonst nahestehender Mensch gewesen sei? ob man ihn benachrichtigen solle?

Das junge Mädchen stutzte. Widerwillig und fremd wies sie es ab. Die verflochtenen Hände ans Kinn gedrückt, die Blicke am Boden, sagte sie, es sei kein Nahestehender gewesen; sie und Cäcilie hätten sich um halb sieben Uhr von ihm verabschiedet; um sieben sei er nach Zürich gefahren.

Das Hin und Her der Rede war schnell gegangen. Lichterschein kroch den Hang aufwärts. Justus kam mit dem Gärtner und dessen Gehilfen aus der Oberlinschen Villa. Andere Leute folgten. Ein Gendarm tauchte auf, gleich nach ihm Doktor Seifert aus Ermatingen, den Justus Richter telephonisch gerufen hatte. Über die Hingestreckte gebeugt, indes der Gendarm die Laterne hielt, sagte er laut, er sei hier leider überflüssig. Hanna Landgraf warf sich schluchzend über die Leiche. Zwei Polizeibeamte, ebenfalls mit Laternen versehen, drängten sich durch die Zuschauer. Die jäh ausgestreute Helligkeit schuf den Wald zur Höhle um. Georg Mathys rührte Hanna an der Schulter an. Sie möge sich fassen, sagte er, die Herren wünschten einige Fragen an sie zu richten. Ihr düsterer Blick ging im Kreis, sie erhob sich; mit wenigen Sätzen und in ruhigem Ton erzählte sie noch einmal den Hergang. Auf die Frage, wie groß schätzungsweise die Entfernung zwischen ihr und der Schwester gewesen sei, als der Schuß gefallen, besann sie sich und erwiderte, es seien fünfzig, vielleicht auch hundert Schritte gewesen. Plötzlich wandte sie sich zu Georg Mathys und sagte, wenn sie seine Freundlichkeit wirklich in Anspruch nehmen dürfe, möchte sie ihn bitten, daß er jetzt zum Landungsplatz gehe. Vielleicht könne er es veranstalten, daß er ihrem Vater die Mitteilung allein mache. Die Mutter müsse geschont, müsse vorbereitet werden; er möge dies ihrem Vater noch besonders ans Herz legen. Professor Landgraf sei ein mittelgroßer Mann mit goldener Brille, glattrasiert, trüge grauen Mantel und grauen Hut.

Alles das klang, als seien ihre Gedanken weit weg und in irgendwelcher Weise feindselig beschäftigt. Sie dankte ihm, er schob seinen Arm in den des erschrocken auffahrenden Dietrich und sagte: »Komm, Oberlin.« Dietrich ließ sich fortziehen; den Hund, der ihm folgte, wies er heim.

Auf dem Weg zum See murmelte er: »Ich würde auch lieber nach Hause gehen, Georg. Was sich jetzt abspielen wird, ist so gräßlich und . . . so gewöhnlich.«

»Nicht auskneifen, Oberlin,« erwiderte Georg Mathys; »wie meinst du das: gewöhnlich? Ja, ich verstehe, aber das Gewöhnliche ist ja ein Trost. Schon ist Zeit verflossen, Menschen haben geredet, Tatsachen sind festgestellt, und das Ungeheure wird ans Alltägliche angehängt. Das ist gut; wie sollte man sonst damit fertig werden?« »Mir scheint, damit kann man nicht fertig werden«, gab Dietrich zurück.

Während sie an der Landungsbrücke warteten und die roten Lichter des Dampfers sich lautlos näherten, sagte Mathys: »Diese Hanna Landgraf gibt mir zu denken. Hast du bemerkt, mit welcher Gezwungenheit und Kälte sie dem Beamten antwortete? Der Mann hat sie ein paar Mal ganz verwundert fixiert. Als sei sie bei einem unangenehmen Ereignis nur die zufällige Zeugin gewesen. Schon vorher, als ich mit ihr redete, wars oft wie bloßer Schall in der Stimme. Und dann doch wieder das Sichhinwerfen, die Verzweiflung...«

»Ich weiß nichts, ich habe nichts gehört,« sagte Dietrich; »was soll man auch da noch nachdenken oder schauen; es hat ja keinen Zweck mehr. Die oder andere; mein Gott, Menschen...« Er schwieg. Plötzlich entrang sich ihm ein Schluchzen, ein einziges nur, hart, trotzig, gewaltsam. Dann warf er den Kopf zurück und sah aufs Wasser. Georg Mathys ergriff seine Hand, drückte sie fest und sagte zärtlich: »Mut, Brüderchen, Mut.« Nichts weiter, aber es war viel.

Das Schiff legte an, sie traten zum Laufsteg. Da nur wenige Passagiere ausstiegen, hatten sie die bald entdeckt, die sie suchten. Georg Mathys sprach den Professor höflich-bescheiden an, fragte um den Namen, stellte sich selbst vor und bat ihm eine Eröffnung unter vier Augen machen zu dürfen. Jener erblaßte, ging ein paar Schritte mit ihm, und als er die ersten Worte vernommen, noch ein paar Schritte; die hagere, kränklich aussehende Frau schaute ihnen betroffen nach. Es dauerte lange, das Schiff rauschte schon wieder in den See hinaus, Dietrich, an die Holzbrüstung gelehnt, wartete bedrückt; nun schallten die rückkehrenden Schritte des Professors, er sagte etwas mit verpreßter Stimme zu der Frau; sie schien aus seinen Mienen zu erraten, was er ihr noch verhehlte, schrill kreischend tönte der Name Cäcilie in die Nacht.


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