Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Verdacht

Ein paar Tage später öffnete er zufällig die Zeitung, die ihm das Mädchen auf der Frühstücksplatte zu bringen pflegte, und sein Blick fiel auf folgende kurze Anzeige: In Mailand hat sich der junge Graf Hubert Gottlieben, Sohn des bekannten Gutsbesitzers und Reichstagsabgeordneten Graf Konrad zu Gottlieben, mit Blausäure vergiftet. Es ist dies innerhalb weniger Monate das zweite schmerzliche Unglück, das die angesehene Familie betroffen hat, da im vergangenen Sommer eine Schwester des Selbstmörders in der Anstalt des Professors Landgraf unheilbarem Wahnsinn verfallen ist.

Je öfter er die Notiz las, je rätselhafter starrten ihn die Worte an. Er ging den ganzen Tag herum wie unter dem Druck einer entstehenden Krankheit. Verborgenes peinigte, und er erschöpfte sich in der Einbildung von Gesprächen und Situationen. Mit Hanna war er erst für den Abend verabredet; er telephonierte und bat, sie möge, wenn es irgend angehe, schon früher kommen. Es war Unwetter, Sturm, Schnee und Regen, als sie kam. Er reichte ihr die Zeitung und deutete auf die Stelle, die den Tod Hubert Gottliebens meldete.

»Ich wollte es dir eben sagen,« murmelte Hanna, »ich habs auch heut morgen erst gelesen.«

»Und hast vorher nicht darum gewußt?«

»Wie sollte ich?« entgegnete sie kalt verwundert. »Weshalb fragst du?«

»Hast auch nicht gewußt, wo er lebt?«

»Hör zu, Dietrich, du weißt, ich ertrage nicht, daß man mich verhört,« erwiderte sie stirnrunzelnd; »was ich sagen will, sag ich, was ich verschweigen will, verschweig ich.«

»Nun gut; willst du mir wenigstens sagen, ob du ihn noch einmal gesehen hast seit jenem letzten Nachmittag am See?«

Sie besann sich, blickte ihn fest an und antwortete: »Ja. Ich hab ihn seitdem gesehen. Auch hat er mir geschrieben. Er hat mir mitgeteilt, daß er seinem Leben ein Ende machen will.«

»Bei welchem Anlaß hast du ihn gesehen? Warum hast du ihn nicht an dem schrecklichen Vorhaben verhindert? Warum durfte ich von alledem nichts erfahren?«

Sie setzte sich in die Sofaecke, verschränkte die Arme, schloß die Augen und fing nach einer Weile zu sprechen an: »Er kam am zweiten Tag nach dem Begräbnis bei Nacht aus Zürich. Er alarmierte das Haus, er ließ mich aus dem Schlaf wecken, ich mußte mit ihm zum Grab gehen, um ein Uhr nachts, er gebärdete sich wie toll, ich habe nie einen Menschen so verzweifelt gesehen. Was ich getan oder gesagt habe, um ihn zu beruhigen, daran erinnere ich mich nicht; es war jedenfalls vergeblich. Er schlug die Stirn am Holzkreuz blutig und schrie: warum? warum? warum? Er lag vor mir auf den Knien, packte mich an den Armen und stöhnte: warum? warum? Dieses gräßliche Warum, müßt ichs nur nicht mehr hören. Auf einmal sprang er auf und stürzte fort, war spurlos in der Finsternis verschwunden. Es war ziemlich schaurig, wie ich da so allein auf dem Kirchhof stand. Dann also schrieb er mir, ungefähr drei Wochen später. Er schrieb, der Lebensmut und der Lebensglaube seien ihm abhanden gekommen; Cäcilie habe ihm das Wort gebrochen, erschrick nicht, ich werde dir gleich erzählen, was für ein Wort das war; er könne den Tag nicht mehr führen, sei seiner selbst überdrüssig, sehe kein Ziel mehr, er wolle mich, ich solle ihn zu vergessen suchen. Aber nun mußt du wissen, was vorher gewesen war.«

Sie atmete tief, drückte den Kopf an das Polster, öffnete groß die Augen und fuhr fort: »Er war zu Anfang August nach Heidelberg gereist, weil die Gerüchte über seine Schwester Bettine und meinen Vater zu ihm gedrungen waren. Man hatte ihm von drei Seiten darüber geschrieben. Bettines Wohnung wußte er nicht, zwischen ihr und der Familie bestand Feindseligkeit. Er wollte sich um jeden Preis Gewißheit über den Sachverhalt verschaffen, auch wenn ein öffentlicher Skandal die Folge wäre. Gleich nach seiner Ankunft hatte er eine Unterredung mit meinem Vater. Der war vorbereitet. Zuerst fragte er: Haben Sie Ihre Schwester schon gesehen? Nein, das hatte er natürlich nicht. Da donnerte ihn mein Vater an, wies auf seinen Ruf, seine Stellung, seine Leistungen, sein Werk hin und verstand es, Hubert derart in Respekt zu setzen, darin hat er ja eine Virtuosität, die ihresgleichen sucht, daß der geradsinnige und edeldenkende Mensch ihn schließlich zerknirscht um Verzeihung bat. Die Verleumder würden zur Rechenschaft gezogen werden, sagte mein Vater, er solle auch Bettine selbst zur Rede stellen, sie wohne da und da, doch bitte er ihn, sie nicht vor dem Abend aufzusuchen, da die schweren Depressionen, denen sie ausgesetzt sei, sich erst in den Abendstunden linderten. Eine Stunde, nachdem Hubert bei meinem Vater gewesen war, kamen zwei Wärter hierher ins Haus, forderten Bettine auf, in einen Wagen zu steigen, der unten hielt, und brachten sie fort. Mein Vater hatte plötzlich erklärt, ihre Internierung sei unerläßlich; er ließ sie aber nicht in die Klinik schaffen, sondern in eine Anstalt bei Neckargemünd. Dies erfuhren wir erst später. Als Hubert kam, war Bettine weg. Er ging in die Klinik, niemand konnte ihm Auskunft geben. Er fragt nach dem Professor: der Professor ist verreist. Er kommt zu uns in die Wohnung, verlangt die Mutter zu sprechen. Ich sehe seine Karte, mir ahnt Übles, ich sage mir: die Mutter muß da außer Spiel bleiben, ich empfange ihn. Cäcilie war den Tag vorher nach Ermatingen gefahren, um sich die Gartenschule anzusehen, in die sie eintreten wollte; das war noch ein Glück. Damit du aber den ganzen verwickelten Vorgang klar übersiehst, muß ich über Bettine und ihr Verhältnis zu Cäcilie und mir sprechen. Ein trübes Kapitel.«

Sie zog ihr Taschentuch heraus und strich damit über das Gesicht. Dietrich war näher zu ihr herangerückt und klammerte sich mit den Augen förmlich an ihr fest. Sie begann wieder: »Im Anfang der Behandlung hatte sie der Vater bei uns eingeführt; es erleichterte ihm die Verbindungswege; er hat es später bereut; die Freundschaft, die sich zwischen Bettine und uns Schwestern bildete, konnte er nicht voraussehen. Bettine schloß sich an jede von uns in besonderer Weise an. Sie war ein zerstücktes Geschöpf, ein halbiertes; ich glaube, es gibt viele solche junge Wesen. Die eine Hälfte von ihr war durch und durch verderbt, durch und durch verfault, mit einer lasterhaft glosenden Phantasie, und frech bereit zu tun, was ihr die Phantasie vormalte; die andere Hälfte war ein gutes, sanftes, argloses, trauriges Kind. Sie war ohne Mutter aufgewachsen, allein auf dem Land, unter der Zuchtrute einer prüden, bigotten Erzieherin, gehaßt vom Vater, weil ihre Geburt das Leben der Mutter gefordert hatte. Ich nun war ihre Vertraute; mir eröffnete sie das unselige Gemisch ihrer Natur; vor mir gab sie sich preis, mir beichtete sie, mir gegenüber klagte sie sich an, und es waren oft böse Stunden, das kann ich wohl sagen, zumal als sie mir nicht länger verhehlen wollte oder konnte, was zwischen ihr und meinem Vater vorging. Sie war völlig unter seinem Bann, ohne Hemmung, ohne moralischen Widerstand; sein Blick schon machte sie willfährig zu allem. Cäcilie gegenüber war sie das makellose Kind; sie betete Cäcilie an; ihr Gesicht strahlte, wenn sie sie nur sah, ich war einmal dabei, wie sie sich hinwarf, um Cäcilies Schuh zu küssen. Der verriet sie sich nicht, der gab sie nur ihr edleres Teil, und mich zum Schweigen zu verhalten, bot sie immer alle Mittel der List und ihrer kleinen raffinierten Künste auf. Oh, sie war durchtrieben, aber man hatte beständig Angst um sie, beständig Mitleid mit ihr. Die Melancholie zehrte sie körperlich auf; die letzten Tage, als sie in dem krankhaften Wachschlummer da drinnen im Alkoven lag, magerte sie zum Skelett ab; nur wenn Cäcilie an ihrem Bett saß, war sie dazu zu bringen, ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen, kam irgendwer anderer ins Zimmer, auch wenn ich es war, richtete sie sich mit versträhnten Haaren empor und fing an zu weinen und sich zu fürchten; am dritten Abend setzte ich es durch, daß Cäcilie fortging, ich überredete sie, nach Ermatingen zu fahren und nahm eine Pflegerin auf. Und seltsam, da fühlte sich Bettine auf einmal wohler; sie stand auf, holte Wäsche aus der Kommode und fing ganz friedlich zu nähen an. Es scheint, daß Cäcilies Gegenwart in ihr das Gelüst nach Selbstpeinigung erweckt und bestärkt hat.«

Hanna schwieg eine Weile, in Gedanken verloren. Trauer und Müdigkeit war in ihren Zügen.

»Und als nun Hubert Gottlieben zu dir kam?« fragte Dietrich flüsternd.

»Er kam und erzählte mir, was ihm geschehen war,« fuhr Hanna fort; »das Gespräch mit meinem Vater; die vergeblichen Wege. Er war ratlos. Er bat mich, ihm zu helfen. Wie sich denken läßt, war er an dem, was ihm mein Vater gesagt, irre geworden. Und ich, ich durchschaute die Sache natürlich. Ich hatte es ja schon über und über satt, das widerliche Treiben. Mich packte der Zorn. Ich sagte zu Hubert Gottlieben, er möge sich vierundzwanzig Stunden gedulden, ich versprach ihm, die Angelegenheit bis dahin in Ordnung zu bringen, nur machte ich zur Bedingung, daß er nicht noch einmal ins Haus käme, ich würde ihn in seinem Hotel oder wo er sonst logiere, aufsuchen, er möge mich erwarten. Am Vormittag war ich unfreiwillige Belauscherin eines Telephongesprächs gewesen, ich wußte, wo der Vater zu suchen sei. Ich fahre auf die Bahn, der Zug ist schon weg. Ich miete ein Auto nach Darmstadt. Um elf Uhr abends komm ich an, geh ins Haus zu seiner ... zu der Dame. Ich verlange ihn zu sprechen, man weist mich ab; ich höre Stimmen, Gelächter, ich stoße die Person zurück, die mich aufhalten will, ich trete in ein Zimmer, wo er mit fünf, sechs Leuten sitzt, darunter nur eine Frau, seine Geliebte, alle trinkend, redend, lachend. Es muß ein merkwürdiges Bild gewesen sein, als ich da auf der Schwelle stand, im bestaubten Schleier und bestaubten Mantel. Er, mich sehen, aufspringen, mich durchbohrend messen, ganz verwandelt schon, war eins. Ich habe mit dir zu reden, sagt ich. Stumm und blaß geht er voran, führt mich in einen Raum überm Flur. Was willst du? was ist geschehen? Ich fordere Bettine Gottlieben von dir, liefere sie aus; ihr Bruder geht morgen zu Gericht. Ich kann und mag dir nicht schildern, was sich nun abspielte. Das Beschämende liegt darin, daß ich mich unterkriegen ließ, daß ich zu Kreuze kroch, daß ich ihm glaubte, genau wie Hubert Gottlieben. Zuerst fuhr er mich an, geriet in Wut; davor fürchtete ich mich aber nicht, das merkte er bald. Im Nu war er ein anderer, voll Ironie und Ruhe. Ich begriff nicht viel von seinen Argumenten und Zergliederungen, ich wurde nur sacht umgarnt und eingelullt, bis die Willenskraft gebrochen, der stürmische Anlauf erlahmt war. Es geht einem so bei ihm, es war immer so, es geht allen so. Und als er mich so weit hatte, nahm er mich unterm Arm, führte mich ins Hotel, begleitete mich aufs Zimmer, wünschte mir gute Nacht, küßte mich auf die Stirn und ging. Am nächsten Morgen erschien er schon sehr früh, wir fuhren mit seinem Wagen zurück, unterwegs fragte er, ob Cäcilie schon wieder zu Hause sei, und ich sagte, sie werde wohl zu Mittag kommen. Ich erwähne das, weil sich darauf, wie sich bald ergab, der schlaueste, oder wenn man will, tückischeste Teil seines Planes aufbaute, der auch erkennen läßt, mit welchem Scharfblick und welcher Skrupellosigkeit er die Umstände und Menschen zu seinen Gunsten zu benutzen versteht. Am selben Abend kam er mit Hubert Gottlieben zu Tisch. Er hatte ihn abermals besänftigt, abermals getäuscht, er hatte ihm ein lügnerisches Ehrenwort gegeben. Cäcilie war da. Von der Stunde an dachte Hubert nicht mehr an seine Schwester Bettine. Hast du je von einem Vater gehört, einem Mann der Wissenschaft dazu, einem der Koryphäen der Nation, der seinem Ankläger und zu fürchtenden Verfolger die eigene Tochter als Köder hinwirft? Ich gebe ihn damit preis, ich, die Tochter, gebe ihn preis, gewiß, aber das hat seine tieferen Gründe noch, über die werd ich schon noch mit dir sprechen. Ich muß ja endlich auch mal mein Herz ausschütten, es zerspringt mir sonst. Was nun folgte, kannst du dir ungefähr denken. Hubert Gottlieben wurde der Page Cäcilies, ihr Schleppträger; ihr Vergötterer. Mein Vater begünstigte sein Werben, wo und wie er konnte, und in bezug auf Bettine hatte er freie Hand. Ich, ich war Huberts Vertraute, wiederum die Vertraute, Ratgeberin, Duenna. Die Leidenschaft beherrschte ihn dermaßen, daß einen in seiner Nähe das Erbarmen ankam, und obgleich er ihre Hoffnungslosigkeit bald einsehen lernte, geriet er immer tiefer in den verschlingenden Strudel. Cäcilie litt zum erstenmal, denn der Mensch war ihr wert; was er sich wünschte, konnte' sie ihm nicht sein, aber sie achtete ihn, und seine Gegenwart war ihr nicht lästig wie die der andern. Fast mütterlich redete sie ihm oft zu; wenn sie von Trennung redete, sprach er gleich von Tod. Dennoch gingen wir Mitte September nach Badenweiler, dann nach Neusatzeck. Er machte unsern Aufenthalt ausfindig und kam uns nach. Da faßte Cäcilie ihren Entschluß und schrieb an Frau Doktor Gnad, daß sie sogleich bei ihr Unterkunft suche. Ich selber hatte darauf bestanden, ich mochte nicht mehr die ohnmächtige Mittelsperson sein. Mir versagten die Nerven, ich flatterte hin und her wie ein Span zwischen zwei Magneten, und außerdem quälte mich der Gedanke an Bettines Schicksal. Der Gedanke quälte auch Hubert; bisweilen schien er sich zu besinnen; das böse Gewissen sah ihm aus den Augen. Er begleitete uns bis Ermatingen, in Freiburg trafen wir die Eltern, es war ein schlimmes Zusammensein, der Vater hatte Hubert für den Abend, nach der Rückkehr von Meersburg, zu einer Unterredung bestellt. Ich war aber mit Cäcilie übereingekommen, daß diese Unterredung verhindert werden müsse, und auf dem letzten Spaziergang brachte sie Hubert auch dahin, daß er abzureisen versprach, allerdings mußte sie ihm geloben, daß sie ihn nach sechs Monaten wiedersehen wolle, daß sie ihn rufen würde, und daß er dann die entscheidende Frage an sie richten dürfe. Als wir danach allein waren, erzählte sie es mir mit allen Zeichen der Sorge und Bedrängnis und fügte hinzu, sie könne sich nicht vorstellen, wie das enden solle, sie fühle sich dieser Liebe gegenüber wie eine Bettlerin, die man zur Zahlung einer Schuld verhalte, ohne daß sie jemals eine Schuld aufgenommen. Ich machte ihr Vorwürfe, daß sie ihm ein so verpflichtendes Wort gegeben, sie antwortete unwillig; ein Wort gab das andere; nun, und dann . . .« Ein Schweigen entstand. »Ich sehe, ich fange an zu sehen«, sagte Dietrich. »Alles das ist wie eine schwarze Kugel, die den Abhang hinunterrollt.«

»Ich will dir auch bei dieser Gelegenheit gestehen, daß die Geschichte mit dem Tagebuch Spiegelfechterei von mir war«, sprach Hanna leise. »Es hat nie existiert, das Saffianheft mit den silbernen Initialen. Ich wollte dich locken. Da ich doch arm bin, wollt ich was für dich haben. Es war so hübsch, wenn du mich gespannt angesehen hast. Ich hätte dafür noch ganz andere Dinge erfinden können. Nimmst du mirs übel?«

»Es war nicht rechtschaffen,« sagte Dietrich betrübt, »aber ich nehms dir nicht übel, jetzt wo ich weiß, wie tapfer du warst.«

Sie erhob sich, nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn auf die Augen, rasch auf die zwei Augen. Dann ging sie.

In Dietrich war dunkel-formloser Zweifel aufgestiegen und trieb ihn unruhig umher. Er sah immerfort das über sich gebeugte Antlitz mit seinem Ausdruck von Kummer und Angst. Es war ihm zu Sinn, als ob er dieses Antlitz liebte, oder als müsse er es lieben kraft eines geheimnisvollen Befehls, doch als ob er es zugleich fürchtete wie ein alle Schritte umlauerndes Unheil. Den Kopf in die Hände vergraben saß er die halbe Nacht. Als er zu Bett gegangen war und im Finstern schaute, sah er einen blauen Schatten an der Wand, der sich bewegte wie ein Schleier, den der Wind trägt. Als der Schatten in der Ecke angelangt war, kam ein Raunen von dort, und er vernahm Laute, die sich mit dem an die Fensterscheiben knisternden Schnee mischten: nimm mich, nimm eine; nur eine nimm und vergiß die andere nicht. . .

Wohin geh ich? fragte er sich; wohin gehst du, Dietrich? fragte eine Stimme. Aber seine Brust war voller unausgeschöpfter und unerschöpflicher Liebe, voller Zweifel und Verwirrung. Er spürte die Lippen auf seinen Augen, da ermattete die Farbe jedes Bilds und sehnsüchtig streckte er die Arme aus, ein hingegebenes Geschöpf. »Cäcilie,« flüsterte er, »Cäcilie.« Und dann: »Hanna«, und wieder: »Hanna.«

Am andern Morgen irrte er eine Zeitlang durch die Straßen, im aufgeweichten Schnee, plötzlich entschloß er sich, zu Frau Landgraf zu gehen. Hanna war, wie er wußte, um diese Stunde in der Universität, wo sie historische Vorlesungen hörte, Frau Landgraf war zu Hause und empfing ihn. Sie schien heftig erregt; nachdem sie ihn eingeladen hatte, Platz zu nehmen, sagte sie: »Es ist mir wirklich kaum mehr möglich, diesen Widerwärtigkeiten standzuhalten. Da kommen Leute ins Haus, schlagen einen Ton an, – man schämt sich krank.«

Dietrich war verlegen. Sie fragte, weshalb er so selten komme, sie denke oft an ihn. Er antwortete nicht. Warum bin ich eigentlich hier? grübelte er, indes ihn Frau Landgraf forschend betrachtete. »Wär ich Ihre Mutter, so würde ich Sie ermahnen, besser auf sich zu achten,« sagte sie mit anziehendem Lächeln; »Sie sehen überanstrengt aus.«

Da fiel ihm ein, sich nach Doktor Kelling zu erkundigen. Es schien ihm, als sei eben dies der heimliche Grund seines Kommens gewesen. Er hatte noch das Gesicht des Mannes in Erinnerung, das vergrabene Schweigen. Hannas Worte über ihn klangen ihm noch im Ohr: scheues Vorübereilen an dem Namen, den sie gezwungen hatte nennen müssen.

Frau Landgrafs Blick flimmerte erschreckt. »Doktor Kelling?« erwiderte sie zögernd; »ich höre, daß es ihm nicht gut geht; ich höre, daß er seit einiger Zeit sein Zimmer nicht mehr verläßt. Er hat sich den Besuch auch seiner nächsten Freunde verbeten.« Sie erhob sich, zog an den Vorhangschnüren, trat zum Tisch, stand dort eine Weile, dann ging sie langsam auf Dietrich zu und fragte mit verhaltener Stimme: »Ist Ihnen bekannt, hat Ihnen Hanna gesagt, daß er es war, der den Revolver hergegeben hat?«

»Er? Doktor Kelling?« fragte Dietrich zurück und stand gleichfalls auf.

»Ja. Von ihm hatte Hanna den Revolver.«

»Hanna? Sie wollen sagen Cäcilie, gnädige Frau...«

»Nein, Hanna. Das ist es ja eben. Hanna.« Dietrich starrte sie an. Er war so weiß geworden wie der Schnee, der den Fensterrahmen umkränzte. »Aber wieso denn Hanna?« murmelte er, lallte er fast.

»Doktor Kelling selbst hat es mir eines Tages mitgeteilt,« sagte Frau Landgraf mit sinnend fixiertem Blick; »so nebenhin, ganz trocken, wie es seine Art ist, ohne weitere Erläuterung. Im September gab er ihr die Waffe, bevor sie mit Cäcilie abreiste. Sie hatten am Morgen drunten im Garten nach der Scheibe geschossen, Hanna und Kelling; danach bat ihn Hanna, er möge ihr den Revolver für die Dauer der Reise leihen; sie fühle sich sicherer damit und habe momentan nicht Geld genug, sich einen neuen zu kaufen. Hätte Kelling geahnt . . . Wahrscheinlich ist dann der Revolver Cäcilie in die Hände gekommen, und sie hat ihn zu sich genommen, ohne daß es Hanna wußte. Ich habe mit Hanna darüber gesprochen; auch sie hat keine andere Erklärung. Kelling macht sich natürlich die schwersten Vorwürfe. Ich bitte Sie nur um eines, nämlich daß Sie über diese Sache schweigen. Ich dachte zuerst, Hanna habe Ihnen davon erzählt. Daß sie es nicht getan hat, beweist mir, daß das arme Kind unter dem Gedanken leidet.«

»Sie glauben?« sagte Dietrich leise; dann, in sich gekehrt: »Ja, es ist möglich, daß sie leidet. Bei ihr ist nichts auf der Oberfläche, und sie hat viele Tiefen.«

Frau Landgraf antwortete: »Meine Töchter waren wie zwei Äste, die vom Stamm aus nach zwei schroff entgegengesetzten Richtungen wuchsen. Zum Schluß konnte ich sie gar nicht mehr erreichen, ich hatte die Spannweite nicht. Da waren Eigenschaften von solcher Verschiedenheit, daß mir oft zumute war, ich müsse den Urgrund der Geschlechter aufwühlen, um das Verbindende zu finden. Es war schwer, in der Mitte zu stehen, mit Mutterkraft die beiden zu halten; als Mutter ist man ja der Erde näher, und aus der Erde quillt die Stärke. Aber die Mutter ist nicht allein, es ist noch der Vater da; wenn der kein guter Gärtner ist, wenn er mit dem Beil daneben steht und nicht mit pflegender Hand...« Sie ging im Zimmer auf und ab und wiederholte erschütternd: »Mit dem Beil, mit dem Beil...«

Dietrich vernahm und begriff die Worte nur halb. Um ihn fiel es nieder wie Schwaden, die giftig einzuatmen waren. Die Luft verfinsterte sich, die Wege verloren sich, der bläuliche Schatten aus der vergangenen Nacht gewann zerbrechliche Leiblichkeit und deutete zurück. Er war so beklommen und beladen, daß es ihn nicht überraschte, als die Tür aufging und Hanna eintrat; es war eine Vervollständigung der schwankenden Gesichte.

Sie nickte ihrer Mutter und Dietrich zu. Sie trug kurzen Rock und Bluse, wodurch die Gestalt noch straffer erschien. Ihre Bewegungen hatten etwas studentisch Freies, das aber der gemessenen Anmut, die ihr eigen war, wenig Eintrag tat. »Ich wußte, daß du da bist,« sagte sie zu Dietrich, »den ganzen Morgen hatte ich das Gefühl, du kämst zur Mutter.«

Sie machte sich am Bücherkasten zu schaffen und summte dabei wie achtlos vor sich hin. Auf einmal drehte sie sich um und lehnte sich, die Hände auf dem Rücken, an die Säule des hohen Regales. »Ich weiß natürlich auch, daß ihr von dem Revolver gesprochen habt«, sagte sie in berechnet leichtem Ton. »Na, und was denkst du darüber, Dietrich Oberlin? Sprich dich nur offen aus. Was denkst du?«

Aber Dietrich schwieg.

Als er sich verabschiedet hatte und aus dem Zimmer gegangen war, hatte er zunächst nicht die Kraft, auch das Haus zu verlassen; er setzte sich einige Minuten auf einen Stuhl im Korridor.

Am Nachmittag schickte ihm Hanna durch einen Boten ein paar eilig hingeschriebene Zeilen des Inhaltes, daß sie, sie könne noch nicht sagen für wie lange, nach Weimar zu Freunden reise. Die Adresse gab sie an.


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