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Nach Berichten von Ernst Sorge und Karl Weiken
Als am 7. Mai festgestellt war, daß Alfred Wegener und Rasmus Villumsen umgekommen waren, traten die in »Eismitte« anwesenden Expeditionsmitglieder Georgi, Holzapfel, Kelbl, Kraus, Loewe, Sorge und Weiken zusammen, um die dadurch notwendigen Maßnahmen zu beraten. Es wurde beschlossen, sofort die Suche nach Wegener und Rasmus aufzunehmen und die wissenschaftlichen Arbeiten der Expedition in möglichst weitem Rahmen fortzuführen.
Die Besprechung ergab aus den bei der Ausreise Weikens festgestellten Tatsachen die folgenden Anhaltspunkte über den Verlauf der Rückreise von Wegener und Rasmus im November:
Wegener und Rasmus waren mit zwei Schlitten und 17 Hunden von »Eismitte« abgereist. Wegener hatte gehofft, etwa 200 Kilometer Randabstand mit beiden Schlitten zu erreichen und von dort bei größeren Hundeverlusten mit einem Schlitten weiterzureisen. Diesen Schlitten sollte Rasmus führen; Wegener wollte ihm auf Skiern folgen. Die Hundeverluste müssen größer als erwartet gewesen sein, was sich durch die außerordentlich niedrige Temperatur der ersten Novemberhälfte (in »Eismitte« meist unter -50 Grad) erklärt. So hatte Wegener bereits bei km 283 eine Pemmikankiste zurückgelassen; bei km 255 war Wegeners Schlitten gefunden worden. Schon von hier aus haben also Wegener und Rasmus nur noch ein Gespann gehabt. Bei km 189 hatten Wegeners Skier gestanden, in der vorherrschenden Windrichtung (Südost-Nordwest) etwa drei Meter auseinander, in der Mitte der zersplitterte Skistock. An dieser Stelle hatte bereits die Abteilung Weikens den Schnee bis ein Meter tief aufgegraben, aber nur eine leere Kiste gefunden.
Die beste Ausnutzung aller Kräfte für die geplanten wissenschaftlichen Arbeiten erforderte, daß Georgi allein in »Eismitte« blieb, während Sorge sich Weikens Hundeschlittenabteilung anschloß, um mit Weiken zusammen nach Alfred Wegener zu suchen. Georgi konnte neben seinen meteorologischen Arbeiten auch die laufenden Temperaturbeobachtungen in dem von Sorge erbauten Schacht mit übernehmen. Loewe kam für Inlandeisreisen wegen seiner noch nicht ganz verheilten Wunden jedenfalls zunächst nicht in Betracht. Er sollte daher zusammen mit Holzapfel mit den Propellerschlitten zur Weststation zurückkehren, wo dieser möglichst schnell die Arbeiten an der von ihm geleiteten meteorologischen Station wieder aufnehmen sollte.
Diese Fahrt der Propellerschlitten ging sehr rasch vonstatten. Kraus berichtet darüber: »Mit dem undichten Benzintank meines ›Eisbär‹ kann ich unmöglich zurückfahren. Ich baue deshalb eine Einrichtung, mit der man den Brennstoff gleich aus den Kannen heraus in den oberen Falltank pumpen kann. Einige Thermometerhülsen werden zusammengeflickt; damit konnte die Brennstoffleitung verlängert werden.
Für die Heimfahrt sind Loewe und Holzapfel Gäste im ›Schneespatz‹, der ›Eisbär‹ wird möglichst entlastet. Unterwegs wechselt Johann sehr geschickt die leergepumpten Benzinkannen gegen volle aus. Einige Pausen zur Motor- und Ölkontrolle werden gemacht. Das Öl ist knapp geworden; wir müssen aufpassen, daß die Motoren nicht warm werden. Abends sind wir nach siebenstündiger Fahrt bei km 200. Am folgenden Tage, dem 10. Mai, wird die Fahrt nach Westen fortgesetzt. Die Gummifederungen an den krummen Achsen müssen mehrmals erneuert und können zuletzt nur behelfsmäßig ausgebessert werden. Wolken und Nebel aus den Fjorden versperren die Sicht. Ab und zu ist ein bekanntes hohes Bergmassiv zu erkennen. Immer mehr senkt sich die holprig werdende Bahn. Endlich erreichen wir die Weststation, allerdings mit nun gänzlich verbogenen Achsen, mitgenommenem Fahrwerk und stark beanspruchten Motoren.
Damit haben unsere Propellerschlitten nach so vielen Mißerfolgen mechanisch getriebener Schlitten im Polargebiet zum ersten Male eine große Reise auf dem ewigen Eis glücklich und schnell durchgeführt. Nur 16 Fahrstunden, im ganzen 34 Stunden, haben wir vom Herzen des Inlandeises bis zu seinem Rande gebraucht.«
Kurz nach der Abfahrt der Propellerschlitten von »Eismitte« verließ auch die Hundeschlittenabteilung (Weiken, Sorge und fünf Grönländer) die Station.
Am Nachmittag des 12. Mai hielt die Schlittenkolonne wieder bei Wegeners Skiern bei km 189,5. Anwesend waren Sorge, Weiken und die Grönländer Johann Abrahamsen und Hans Andreassen von Ikerasak, Johann Davidson und Daniel Davidson von Nugaitsiak, Karl Villumsen von Uvkusigsat.
Dieses Mal wurde tiefer gegraben als bei der Ausreise. Bald erschienen Renntierhaare im Schnee, dann ein Renntierfell und Wegeners Pelz, der über einen Schlafsackbezug gedeckt war.
In zwei Schlafsackbezüge eingenäht, wurde Wegener gefunden. Er lag auf einem Schlafsack und einem Renntierfell, dreiviertel Meter unter der Schneeoberfläche vom November 1930. Wegeners Augen waren offen, der Gesichtsausdruck entspannt, ruhig, fast lächelnd. Das etwas blasse Gesicht sah jugendlicher aus als früher. Nase und Hände zeigten kleine Frostwunden, wie sie auf solchen Reisen üblich sind.
Wegener war völlig angekleidet, hatte Überzugskamikker an den Füßen, trug Hundefellhose, darunter eine blaue Tuchhose, am Oberkörper Hemd, blaues Skihemd, blaue Weste, seine Wolljacke, einen »Isländer« (grobe, dicke Wolljacke), eine Windjacke aus Wolle, Kopfschützer, Mütze, Pulswärmer. Der ganze Anzug war tadellos in Ordnung und von Treibschnee frei; besonders waren die Pelzstiefel dick und weich ausgestopft und nicht vereist. Wegener lag nicht im Schlafsack.
Die Untersuchung der Taschen ergab, daß ihnen nichts entnommen war. Es fehlten aber die Pfeife, der Tabak und das Tagebuch, ferner sein kleiner Zeugsack und seine Pelzhandschuhe.
Alle diese Tatsachen, die Sorge und Weiken bei der genauen Untersuchung feststellten, deuten darauf hin, daß Wegener nicht auf dem Marsche, sondern im Zelt liegend gestorben ist, und zwar nicht durch Erfrieren, sondern wahrscheinlich nach körperlicher Überanstrengung durch Herzschwäche. Es ist wahrscheinlich, daß der Versuch, auf der welligen Oberfläche im November 1930, zumal bei Dämmerlicht, dem Hundeschlitten zu folgen, zu dieser Überanstrengung geführt hat.
Der Körper wurde von den Grönländern sorgfältig wieder eingenäht und genau wie vorher in den Firn gebettet. Darüber wurde aus großen, festen Firnquadern eine Gruft errichtet und mit einem Nansenschlitten abgedeckt. Ein Grönländer steckte auf das fertige Grab ein kleines Kreuz, hergestellt aus Wegeners zersplittertem Skistock. An jedem Ski wurde eine schwarze Flagge befestigt.
Rasmus muß bei Wegeners Tod noch frisch und in guter Verfassung gewesen sein. Rührend ist die Sorgfalt, mit der er Wegener bestattet, bewundernswert die Umsicht, mit der er das Grab angelegt und bezeichnet hat. Offenbar hat er Wegeners Zeugsack, der auch das Tagebuch der letzten Reise enthielt, auf der Weiterfahrt mitgenommen, um ihn zur Weststation zu bringen; ebenso dürfte er Wegeners Handschuhe, die besser waren als die seinen, an sich genommen haben.
Auf der Weiterreise nach Westen wurden noch zwei Zeltplätze von Rasmus gefunden. In einer kleinen, aber auffallenden Schneewehe nördlich von km 171 fanden sich Renntierhaare, Pemmikanreste und anderes. Bei km 170 scheint Rasmus mehrere Tage gelegen zu haben. Hier lagen Reste verschiedener Mahlzeiten und unter anderm ein Beil, das Wegener und Rasmus von »Eismitte« mitgenommen hatten. Beim Nachgraben bei dem Schneemann km 155 fanden sich keine Spuren eines Zeltlagers, doch Zeichen, daß mehrere Hunde hier längere Zeit gelegen hatten. Von einer früheren Reise stammte dieses Lager wahrscheinlich nicht. Alle Depots der Strecke von km 170 ab waren unberührt. Am 16. Mai traf die Abteilung an der Weststation ein, eben noch rechtzeitig, um die Grönländer über das im Innern des Kamarujuk-Fjordes schon unzuverlässige Meereis nach Hause zu schicken.
*
Auf die Meldung unserer Funkstationen über Wegeners Schicksal bestimmte die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gemäß den Expeditionsverträgen Professor Kurt Wegener, den Bruder Alfred Wegeners, zum neuen Leiter der Expedition. Seine Ankunft bei der Weststation war jedoch nicht vor Anfang Juli zu erwarten. Es galt nun zunächst, die Suche nach Rasmus fortzusetzen und in möglichst großem Umfange die wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Inlandeis zu beginnen. Diese Inlandeisreisen waren im Jahre 1931 noch schwieriger zu organisieren als 1930. Denn damals handelte es sich um Lastreisen, die mit möglichst großer Nutzlast ein bestimmtes Ziel, »Eismitte«, erreichen und sofort zurückkehren sollten. Jetzt aber waren sehr viele Reisen mit verschiedenen Zielen nötig; die Abteilungen mußten längere Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit auf einer Stelle liegen oder konnten nur ganz langsam weiterrücken. Da galt es, abzuschätzen, ob eine solche Abteilung die Hundeschlitten während ihrer Arbeit bei sich behalten konnte oder ob und von wieviel Schlitten die Wissenschaftler zu gegebener Zeit von einer bestimmten Stelle aus weiterbefördert oder abgeholt werden mußten. Auf die Benutzung von Handschlitten, an die ursprünglich für die wissenschaftlich arbeitenden Abteilungen gedacht war, hatten wir zugunsten der Hundeschlitten fast ganz verzichtet.
Die Befürchtung hatte nahegelegen, daß der Tod ihres Landsmannes Rasmus in den Grönländern das alte Grauen vor dem Inlandeis wieder aufleben lassen würde. Zu unserer Freude war diese Besorgnis unbegründet. Die Grönländer sind ja den Tod durch Unglücksfall mehr gewöhnt als wir Europäer; besonders die Unfälle im Kajak sind nicht selten. Johann, der Bruder von Rasmus Villumsen, war mit den Propellerschlitten als Begleitmann nach »Eismitte« gefahren; kurz nach seiner Rückkehr verunglückte er tödlich dadurch, daß ein versehentlich losgehender Schuß sein Kajak durchlöcherte, so daß es zum Kentern kam. Auch in diesem Jahr kamen uns die Grönländer mit ungemindertem Vertrauen entgegen, zu dem die Flaggenmarkierung auf dem Inlandeis, unsere Fähigkeit der astronomischen Ortsbestimmung und unser kameradschaftliches Verhalten ihnen gegenüber in gleicher Weise beitrugen. Ja, im August 1931 reiste eine Gruppe von Grönländern ganz allein von »Eismitte« bis zum Rande des Inlandeises, darunter auch Karl Villumsen aus Uvkusigsat, ein Vetter von Rasmus und Johann, der während der Expedition nicht weniger als 4000 Kilometer in unsern Diensten gereist ist, eine Strecke gleich der von Deutschland nach Umanak.
Mitte Mai begann, ebenso wie im Vorjahr, die Eisschmelze; und zwar auch diesmal im inneren Teil des Kamarujuk-Fjords. Die reiche Schmelzwasserzufuhr im Innern der Fjorde vereinigt sich hier mit der Wirkung der warmen Föhnwinde, so daß in der Regel die inneren Teile bereits offenes Wasser zeigen, wenn weiter draußen die Eisdecke noch ungebrochen liegt. In dieser Zeit des Eisaufgangs war die Expedition, abgesehen von der Funkverbindung, von der Außenwelt für mehrere Wochen abgeschlossen. Unmittelbar bevor die Verbindung abriß, war es unsern Kameraden Schif und Brockamp gerade noch geglückt, die Expedition zu erreichen. Schif, der erst Mitte Dezember mit dem letzten Grönlandschiff in Europa eingetroffen war, hatte sich bereit gefunden, mit dem ersten Schiff wieder nach Grönland zu kommen und die Sommerarbeiten der Expedition zu unterstützen. Brockamp sollte sich an den gletscherkundlichen Arbeiten beteiligen.
Sie hatten Kopenhagen mit dem ersten nach Nordgrönland gehenden Schiff »Hans Egede« in der ersten Aprilhälfte verlassen, hatten aber Godhavn wegen der Eisverhältnisse erst ziemlich spät, am 14. Mai, erreicht. Der Landvogt von Nordgrönland bewährte auch in diesem Falle wieder seine stete Hilfsbereitschaft, indem er durch Anweisungen an alle Beamten Schif und Brockamp eine besonders schnelle Reise nach Kamarujuk ermöglichte. Bald auf halsbrecherischer Schlittenfahrt über schneearmes Gelände längs der Küste von Disko und quer über die bergige Nugsuak-Halbinsel, bald auf schmalem Eisfuß längs der Küste, bald im offenen Ruderboot über breite, eisbergerfüllte Meeresarme oder zu Schlitten auf morschem, wassergetränktem See-Eis, legten sie die weite Strecke in fast pausenloser Fahrt zurück. Als sie in Kamarujuk, eben vor dem Aufgang des Eises im Innern des Fjords, eintrafen, waren sie zuletzt fast 60 Stunden ununterbrochen unterwegs gewesen. Durch tiefen losen Schnee stiegen sie sogleich noch zum Winterhaus empor, wo wir den alten Kameraden Schif, den neuen Gefährten Brockamp und ebenso unsere Frühjahrspost mit herzlicher Freude empfingen.
Nutzlast hatten die beiden auf ihrer eiligen Fahrt natürlich nicht mitbringen können. Brockamp hatte auch seine Instrumente zurücklassen müssen, die erst am 27. Juni in Kamarujuk eintrafen. Erst um diese Zeit kam auch der übrige Nachschub an, den wir aus der Heimat erbeten und den die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft uns in reichlichstem Maß zur Verfügung gestellt hatte. Ein Teil dieser Güter war bereits im Herbst 1930 in Grönland eingetroffen, der Rest Anfang Mai 1931. Aber trotz aller Bemühungen der dänischen Beamten war es nicht möglich gewesen, die Sachen vor Ablauf von acht Monaten nach Kamarujuk zu schaffen. Mit fahrplanmäßiger Sicherheit läßt sich, wie man sieht, ein Gütertransport in Grönland nicht bewerkstelligen.
Nach der Rückkehr der Entsatzabteilungen von »Eismitte« waren zunächst Reisen in die Zentralzone des Inlandeises unmöglich. Die Grönländer waren vor dem Eisaufgang nach Hause geeilt, die Hunde bedurften nach der anstrengenden Reise der Ruhe, das noch vorhandene Hundefutter (Lisseys Tragabteilungen hatten im ganzen bis Mitte April 10 000 Kilogramm bis an den Rand des Inlandeises geschafft) war zu feucht und infolgedessen zu schwer, um mit guter Nutzlast »Eismitte« zu erreichen. Die Propellerschlitten bedurften nach ihrer großen Fahrt gründlicher Überholung. Kleinere Reisen waren dagegen möglich: eine Reise Sorges, die der Suche nach Rasmus Villumsen dienen sollte, eine zweite von Weiken und Jülg, die ihr Nivellement von km 200 küstenwärts durchführen wollten. So reisten am 31. Mai Weiken, Jülg, Sorge und drei Grönländer erneut auf das Inlandeis. Die Abteilungen trennten sich bei km 170, dem letzten sicheren Zeltplatz von Rasmus. Weiken und Jülg fuhren weiter und erreichten am 5. Juni km 200.