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Die zweite Reise der Propellerschlitten nach »Eismitte«

Von Kurt Schif

Kraus und ich übersiedelten am 11. Juni nach der Überholung der Schlitten auf der Weststation mit »Schneespatz« und »Eisbär« nach »Start«. Nun wohnten wir wieder in unserm geliebten grünen Zelt, das treu den Winterstürmen standgehalten hatte.

Es war alles noch wie vor acht Monaten, als ich hier von meinen Kameraden Abschied genommen hatte, um nach Deutschland zurückzufahren; ja sogar meine Bergstiefel fand ich noch, allerdings nur als Bruchstücke, da sie die Hunde bis auf die Schuhnägel und einige sonstige unverdauliche Teile aufgefressen hatten.

Kraus fuhr den »Eisbär«, ich den »Schneespatz«; als Beifahrer hatte jeder einen Grönländer im Schlitten. Wir machten uns sofort daran, die Brennstoffdepots, die bei der letzten Reise nach »Eismitte« aufgebraucht worden waren, neu auszulegen. Der ersten Depotreise wurde aber bei km 40 ein gewaltsames Ende gesetzt. Der »Eisbär« litt schon lange an Schüttelfrost, einer Krankheit, die für die einzelnen Bauteile des Schlittens höchst unliebsame Folgen hatte. Der Motor »schüttelte« beim Laufen, und die von ihm ausgehenden Erschütterungen pflanzten sich über den ganzen Schlitten fort. Der Hauptbrennstoffbehälter war nun infolge der dauernden Mißhandlung an einer Seitenwand gerissen, so daß der Brennstoff lustig ins Freie plätscherte. Wir luden daher unsere Last, 800 Kilogramm Betriebsstoff, ab und kehrten schleunigst nach »Start« zurück, um den Schaden auszubessern.

Bei der nächsten Depotreise hatten wir mehr Glück. In drei aufeinanderfolgenden Tagen legten wir das ganze für die Reise nötige Benzin aus: 350 Kilogramm bei km 75, 800 Kilogramm bei km 200; dabei hatte jeder Schlitten 530 Kilometer zurückgelegt. Zwar blieb der »Eisbär« auch auf dieser Fahrt nicht verschont. Er hatte einen neuen Bruch am Falltank, den wir aber unterwegs flicken konnten.

Die Vorbereitungen waren damit beendet, es konnte losgehen! Die Propellerschlitten hatten die Aufgabe, Sorge mit 180 Kilogramm Sprengstoff und mehreren Kilometern Kabel für Eisdickenmessungen nach »Eismitte« zu bringen. Aus verschiedenen Gründen, die durch die Verhältnisse bei der Durchführung der wissenschaftlichen Arbeiten bedingt waren, mußte der Antritt der Reise jedoch noch einige Zeit verschoben werden. Erst am 17. Juli starteten wir. Durch die Erfahrungen klug geworden, hatten wir jeden Schlitten mit den nötigen Ersatzteilen, einem Ersatzpropeller, zwei Ersatzkufen und dem notwendigen Werkzeug ausgerüstet. Zu unserm großen Schmerz hatten sich aber die Fahrbedingungen im Randgebiet seit den Depotfahrten in verheerender Weise verschlechtert. Die Oberfläche des Inlandeises bestand zunächst aus spitzem Nadeleis, in der Wirkung auf unsere Holzkufen mit der eines Reibeisens vergleichbar. Als wir diesen Teil glücklich hinter uns hatten, bot uns das Inlandeis sofort eine neue Schwierigkeit: Schneesumpf, ein See aus grundlosem Schneematsch. Die Propellerschlitten schwammen beinahe mehr, als sie fuhren. Durch die Fensteröffnung spritzte das Wasser unaufhörlich in den Führerraum.

Wir und die Schlitten waren allerdings nicht darauf gefaßt gewesen, daß wir auf dem Inlandeis auch Motorboot fahren sollten. Die Motorschlitten quittierten diese Zumutung mit Streik. Mit knapper Not konnten wir noch kehrtmachen und so einem todsicheren Steckenbleiben im Schneesumpf entgehen. 20 Minuten später waren wir wieder auf »Start«; damit war der Ausflug für heute abgeblasen.

Um durch das Sumpfgebiet zu kommen, brauchten wir starken Frost. In der nächsten Nacht wurde es auch so kalt, daß wir hoffen konnten, dort eine befahrbare Eisdecke vorzufinden. Wir packten unsern Kram wieder zusammen, Kraus verstaute seinen kleinen Kurzwellensender samt Empfänger und den zugehörigen Batterien im »Eisbär«, dann schnürten wir den Zelteingang zu, ließen die Motoren an und brummten von neuem in Richtung Osten ab. Das Sumpfgebiet war passierbar; mit Vollgas würgten wir uns durch. Auch die nächste Anhöhe, ein Hang mit harten Schneewehen, lag bald hinter uns. Auf dem Weg der schwarzen Fähnchen ging es weiter. Die Gegend, die wir von unsern bisherigen Fahrten schon genügend kannten, kam uns merkwürdig verändert vor. Wir trafen auf eine Menge Spalten; sie waren aber nicht breiter als ein Meter, so daß sie vorläufig von den Schlitten noch gequert werden konnten. Wir konnten uns nicht entsinnen, hier früher derartige Spalten getroffen zu haben, und sahen immerhin ziemlich gespannt der weiteren Entwicklung entgegen. Kraus und Sorge waren mit dem »Eisbär« etwas vorausgefahren, während ich mich mit meinem grönländischen Beifahrer, dem jungen Jeremias, im »Schneespatz« hinterherschlängelte. Jeremias war angesichts der Spalten etwas blaß geworden, aber er hielt sich tapfer und versuchte sogar, sein grinsendes Gesicht beizubehalten.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Schif. Bruch.

Viele solcher Spalten hatten wir schon gequert, als vor meinem Schlitten plötzlich eine breitere Spalte auftauchte. Vom Führersitz war erst im letzten Augenblick zu erkennen, daß hier Gefahr drohte. Ausbiegen war unmöglich, da der Schlitten sonst seitlich hineingefahren wäre, Bremsen hatten wir nicht, also gab es nur eine Möglichkeit: versuchen, mit Vollgas hinüberzukommen. Das vordere Kufenpaar war jenseits der Spalte bereits wieder auf festem Boden, als die beiden hinteren Kufen über der Spalte hingen. Ein Ruck, ein fürchterliches Schütteln des Motors, und wir waren hinüber! Sofort stellte ich den Motor ab, um die Lage zu untersuchen. Wir waren zwar aus der Spalte heraus, aber wie! Die rechte hintere Kufe hatte sich an der Spaltenwand verhakt, war dabei abgebrochen und hatte sich außerdem um die Achse gedreht. Dabei war das Ende der Kufe in den Propellerkreis gekommen und hatte die Luftschraube zerstört. Im gleichen Augenblick sah ich auch, daß am vorausgefahrenen »Eisbär« der Propeller stillstand.

Jeremias war auffallend still geworden; er zitterte am ganzen Leib, sah sich aber trotzdem mit echt grönländischer Gelassenheit den Schaden an. »Susa, nunamut«, meinte er, zu deutsch: »Ist egal, dann gehen wir eben wieder nach Hause.«

Vom »Eisbär« her kamen Sorge und Kraus; ich lief ihnen entgegen, wegen der teuflischen Spalten vorsichtshalber auf Skiern. »Bruch«, meldete Kraus, »restloser Bruch!« »Danke gleichfalls!« konnte ich mit gutem Gewissen erwidern.

Der »Eisbär« war noch schlimmer daran! Er hatte sich eine drei Meter breite Spalte ausgesucht, war mit der Schnauze hineingerutscht und gegen die jenseitige Spaltenwand geprallt. Dabei war eine Kufe gebrochen und der vordere Teil des Aufbaues eingedrückt worden. Unglücklicherweise war gerade an dieser Stelle der Koffer mit dem Funkgerät untergebracht. Wir waren darauf gefaßt gewesen, nur noch Bruchstücke vorzufinden, und waren daher angenehm überrascht, als wir feststellten, daß er, wie durch ein Wunder, vollständig heil geblieben war.

Unsere Ruhe, mit der wir den ganzen Vorfall aufnahmen, verblüffte Jeremias. Er war vollends platt, als wir als erste Tätigkeit neben den Schlittentrümmern Zelt schlugen, uns eine Pfeife ansteckten und einen Kaffee brauten.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Sorge. Zerbrochene Kufe und beschädigter Propeller eines Motorschlittens.

Neun Kilometer weit waren wir von »Start« entfernt. Schlimmstenfalls hätten wir immer noch zu Fuß zurückgehen können, um von der Weststation zum Bergen und zur Ausbesserung der Schlitten Leute und Ersatzteile zu holen. Selbstverständlich wollten wir aber zuerst versuchen, uns selbst aus der Patsche zu helfen. Zunächst wurde der »Schneespatz« in Angriff genommen. Die zerbrochene Kufe und der beschädigte Propeller wurden abgebaut und ersetzt. Es war Glück und Zufall, daß wir gerade diese Teile mitgenommen hatten, zumal wir das bei sämtlichen früheren Fahrten nicht getan hatten, um Gewicht zu sparen. Eine halbe Stunde später lief der Motor schon wieder, und der »Schneespatz« fuhr stolz die kurze Strecke zum »Eisbär« vor, der immer noch in seiner Spalte lag. Jetzt kriegte auch Jeremias wieder Mut. Er war nun felsenfest davon überzeugt, daß wir auch den »Eisbär« bald wieder reisefertig haben würden, und prophezeite uns überhaupt eine glänzende Reise nach »Eismitte«.

Der »Eisbär« wurde ausgeladen. Dabei mußten wir vorsichtig zu Werke gehen, da die Gefahr bestand, daß er das Übergewicht bekam und kopfüber gänzlich in die Spalte fiel, wenn der hintere Teil leichter wurde. Mit Hebeln und Seilen zogen wir ihn dann langsam rückwärts aus der Spalte heraus, und jetzt erst konnten wir richtig übersehen, wie schlecht ihm dieser Kopfsprung bekommen war. Der vordere Teil des Aufbaus war jämmerlich zugerichtet. Etliche Holme waren gebrochen, der Kastenrahmen, das eigentliche Skelett des Schlittens, war an den Fugen auseinandergesprengt, die Sperrholzhaut eingedrückt und abgerissen. Es war ein trostloses Bild: Die zersplitterte Kufe senkrecht in die Höhe abgebogen, die Karosserie windschief verdrückt und die Beplankung der Schlittennase nach oben und unten abgeklappt, stand er da wie ein lahmes Krokodil, das das Maul aufsperrt.

Mit Nägeln und mit Schrauben war hier nichts zu heilen, sie hielten in dem gesplitterten Holz nicht mehr. Wir griffen daher zur Grönländermethode und banden die gebrochenen Teile mit Stricken zusammen. Ebenso verspannten wir den Schlittenrahmen mit Seilen. Schnell wurde noch die Kufe ausgewechselt, und dann war auch der »Eisbär« wieder fertig zur Abfahrt. Er sah zwar aus, als hätte man ihm einen Maulkorb angezogen, aber die Ausbesserung erschien uns doch haltbar genug, daß wir es wagen konnten, die Weiterfahrt anzutreten.

Vorher besahen wir uns aber gründlich die Umgegend. Anscheinend waren die Spalten erst jetzt herausgeapert, denn hier, wo im letzten Jahr und im Frühjahr nie eine Spalte zu sehen war, wimmelte es jetzt von diesen unangenehmen Fallen. Den weitaus schlimmsten Teil hatten wir aber hinter uns, und der nächste Wegabschnitt war, so weit wir sehen konnten, bedeutend ungefährlicher.

Mit einer durch den Unfall hervorgerufenen Verspätung von zwei Tagen reisten wir weiter. Wegen des starken Gegenwindes, der aufgekommen war und der unsere Fahrgeschwindigkeit gewaltig herabsetzte, erschien es uns ratsam, bei km 40, wo wir das Spaltengebiet hinter uns hatten, haltzumachen und das Abflauen des Windes abzuwarten. Die Reparatur am »Eisbär« bewährte sich auf dieser Fahrt übrigens ausgezeichnet; der Schlitten hielt allen Beanspruchungen stand. In der Nacht setzten wir dann die Reise fort, die uns mit kurzen Unterbrechungen zunächst bis km 100 führte.

Gott sei Dank! Nun waren wir aus dem scheußlichen Randgebiet heraus, jetzt hörten alle Geländeschwierigkeiten auf. Und um uns für alles Pech zu entschädigen, bekamen wir das herrlichste Wetter, das wir uns wünschen konnten. Es war ein wundervoller, strahlendblauer Sommertag, als wir am nächsten Tag, mittags um l Uhr, aufbrachen.

Die Kristalle der verharschten Schneedecke glitzerten in allen Regenbogenfarben. Bei km 120 wurde der Schnee weicher, und die Geschwindigkeit der Schlitten ließ etwas nach. Wir hielten daher an, um die Kufen frisch zu wachsen. Wir bekamen bald idealen Pulverschnee, auf dem die Schlitten dahinbrausten, daß es eine wahre Luft war. Wir hatten Fahrbedingungen, wie sie besser nicht hätten sein können; diese Gelegenheit nutzten wir aus.

Bei km 200 wurde nur so lange haltgemacht, als zum Auffüllen der Brennstoffbehälter notwendig war, ebenso wurde bei km 280 nur eine kurze Pause zum Tanken eingeschoben. Mit der Mitternachtssonne fuhren wir die ganze »Nacht« durch. Der Schnee stiebte um den Bug der Schlitten, die Wegzeichen und die Schneemänner huschten vorbei, die Schlitten liefen wie geschmiert. Hier waren sie in ihrem Element; hier fühlten sie sich wohl und leisteten willig ihre Arbeit. Die Fahrten durch das Randgebiet waren für sie eine Qual, die Fahrten auf dem inneren Inlandeis eine Erholung.

Wir fuhren mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 36 Stundenkilometer. Mit jedem Schneemann, den wir hinter uns ließen, wuchs unsere Spannung. Endlich kam »Eismitte« in Sicht. Die »Burg« wurde immer deutlicher, schon konnte man die andern Einzelheiten unterscheiden: ein aufgebautes Viermannzelt, einige Proviantkisten und vieles andere. Dann waren wir da! Um ½7 Uhr früh stellten wir die Motoren ab. Wir stürmten hinunter in die Firnhöhle, um Georgi zu begrüßen.

An einem Tage, in neun Stunden Fahrzeit, hatten wir die Strecke von km 100 bis 400 zurückgelegt. Zum zweitenmal in diesem Sommer hatten die Propellerschlitten eine Höchstleistung vollbracht und uns Teilnehmern ein unerhörtes Erlebnis verschafft. Sorge war glücklich. Seine Eisdickenmessungen waren gesichert. Am nächsten Tag konnte unser kleiner Sender nach der Weststation melden: »Beide Propellerschlitten erreichten ›Eismitte‹ 24. Juli. Gesamtfahrtzeit ›Start‹ – km 400 = 15 Stunden 40 Minuten.«


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