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Einige gletscherkundliche Sommerbeobachtungen

Von Hugo Jülg

Es war nach der schweren glaziologischen Schachtarbeit im Winter eine angenehme Sommertätigkeit, die Veränderungen an der Eisoberfläche zu verfolgen. Von ganz oben, von rund 1000 Meter Höhe herab bis zum Meeresspiegel wandert ein Teil der Inlandeismassen Grönlands als Gletscher in den Kamarujuk-Fjord. Ging man über den Gletscher zu Fuß herab, so veränderte sich der Anblick der Eisoberfläche für den Betrachter ungemein. Oben, wo das Eis noch wenig Neigung hat, trafen wir im Hochsommer, wenn der im Winter gefallene Schnee weggetaut war, über fünf Meter breite und oft sehr tiefe, in das Eis eingeschnittene Bachbetten an, in denen das Schmelzwasser dem Tal zueilte. Verfolgte man den Lauf eines solchen Baches, um eine geeignete Übergangsstelle zu suchen, so konnte es geschehen, daß der Bach sich plötzlich den Blicken entzog und in der Tiefe verschwand. Seine Wasser rauschten dann in irgendeiner Spalte dieses tiefer liegenden, zerrissenen Gebietes des Gletschers zu Tal und stürzten mit donnerndem Getöse in einen senkrechten, von glatten, schönen, blauen Eiswänden gebildeten Schlund. Mit dem Auge war kein Ende zu erkennen; wir schätzten die Tiefe eines solchen Gletscherbrunnens auf weit über 100 Meter, es war ein wundervoller Schacht, der in herrlich blauen Spiralen und Bögen vom Wasser erbaut sich den Augen entwand.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Herdemerten. Gletscherdom.

Die Bäche aber, die nicht in eine Spalte fallen, müssen die verschiedenen Hindernisse auf der Gletscheroberfläche umgehen. Dann schlängelt sich im Anfang ein kleiner Bach, wie bei uns auf den Wiesen, durch die weiße Schnee- und Eisfläche dahin in jenen schönen Windungen, die in ihrer Sanftheit immer wieder unser Auge erfreuen. Je länger der Bach fließt, desto mehr gräbt er sich dabei in seinen Untergrund ein, unterhöhlt das Eis und schafft sich romantisch überhängende Ufer, oft auch niedliche kleine Seebecken, je nach dem Widerstand, der sich ihm entgegenstellt. Die Entstehungsgeschichte dieser mannigfachen Formen, die sich in der Zeit von Frühjahr bis Herbst wieder verändern, machte uns viel Kopfzerbrechen und gab uns manche Nuß zu knacken.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Wegener. Eisgewölbe.

Um die Menge des Eises, die im Sommer abschmilzt, zu erfassen, haben wir Abschmelzpegel errichtet. Das sind ein Meter lange, im Durchmesser zwei Zentimeter breite Metallröhren, die im Eis in senkrecht zur Oberfläche gebohrten Löchern ausgestellt werden. Jede Röhre hat an ihrem Ende eine kleine breite Scheibe, auf der die folgende Röhre steht. Schmilzt nun das Eis etwa in der Mächtigkeit von einem Meter, so wird die erste ein Meter lange Röhre frei von dem umgebenden Eis und fällt um. Schmilzt mehr Eis ab, so taut langsam auch die zweite Röhre heraus. Man kann so an den umgefallenen numerierten Röhren und an dem Teil der nächsten noch stehenden Röhre, der jeweils aus dem Eis herausragt, genau feststellen, wieviel Eis in einer gewissen Zeit weggetaut ist. Wir konnten auf diese Weise am untersten Teil des Kamarujuk-Gletschers etwa in Meeresspiegelhöhe eine Abschmelzung von 4½ Meter und in etwa 600 Meter Höhe von 2½ Meter im Jahr feststellen, wie auch die Grenze des Abschmelzgebiets in 1400 Meter Höhe bestimmen. Weiter landeinwärts wurde an Bambusstangen von 20 zu 20 Kilometer der jährliche Zuwachs bis etwa 3000 Meter Höhe (»Eismitte«) gemessen. Er beträgt zwischen 100 und 200 Kilometer Randabstand in etwa 2000 bis 2500 Meter Seehöhe, in Schmelzwasser umgerechnet, etwa 50 Zentimeter, weiter im Innern sinkt er auf 30 Zentimeter Wasserhöhe Die Zahlen sind Berechnungen Loewes.. Diese Zahlen sind von großer Bedeutung für die Frage, wie die mächtige Inlandeismasse sich ernährt und den dauernden Schwund infolge Schmelzung und Eisbergbildung ersetzt.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Kelbl. Kamarujuk im Sommer 1931.

Anlaß zu andern gletscherkundlichen Untersuchungen bot uns der durch tiefe Längs- und Querspalten wirr zerrissene Gletscherbruch. Über eine Felsstufe im Untergrund, den Höhenunterschied durch Auseinanderklaffen der Eismassen und Zerreißen des Zusammenhangs überwindend, überstürzen sich die Eiskolosse. Diese Spalten und Klüfte, dem Beschauer unheimlich entgegenstarrend, boten uns hier gute Gelegenheit, die Gesetze zu untersuchen, denen sie ihr Dasein verdanken. Weiter unten, am Ende des Gletschers, war ein herrlicher, in verschiedensten Farben von Grün über Blau bis Violett schimmernder Gletscherdom – für uns ein märchenhaftes Erlebnis. Er ist das Werk des unsichtbar unter der Eisdecke arbeitenden Gletscherbaches, in dem sich von allen Seiten die Schmelzwasser sammeln, die das Eis abgibt, wenn es mit der warmen Erde in Berührung kommt. Zu diesen stoßen noch durch Spalten und Brunnen Gewässer von der Oberfläche des Eises. Am unteren Ende des Gletschers kommt dann der mächtige Bach durch das Gletschertor wieder an die Oberwelt. Die in das Tor einströmende Luft hatte den dahinterliegenden Teil des Bachbettes zu diesem Dom von 20 bis 30 Meter Höhe ausgearbeitet. Wiederum eins jener prächtigen Naturgebilde, deren mannigfache, zauberhafte Formen, deren kristallene Klarheit und wunderschöne Farbenpracht uns beim Studium ihrer Entstehung oft die eisigen Härten des Polarwinters vergessen ließen.

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Aufnahme Holzapfel. Kamarujuk-Gletscher im Sommer.

Verließ man nahe dieser Grotte den Gletscher, so sprangen einem sicher bald vom Ufer her ein paar Hunde entgegen. Die meisten aber schienen zu fühlen, daß sie zwischen den Schlittenreisen »auf Sommerfrische« waren. Mit heraushängenden Zungen lagen sie schnaufend im warmen Sonnenschein. Besonders gesucht waren bei solchem Wetter die schattigen Plätze unter unserer »Veranda«. Um das Haus waren in großen Fässern die Kinderstuben eingerichtet. Sechzehn junge Hunde haben wir im Sommer 1931 aufgezogen. Sah man die neugeborenen, spannenlangen, breitschnauzigen blinden Würstchen, so konnte man sich kaum vorstellen, wie schnell daraus die schönen schlanken, spitzköpfigen Hunde wurden.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Wegener. Hunde an Bord der »Krabbe«.

Schwierig war es, die verschiedenen Familien auseinanderzuhalten. Kam ein kleiner Hund einer fremden Familie zu nahe, so wurde er leicht totgebissen. Besonders gern verkrochen sich die Welpen unter das Haus. Stundenlang dauerte das jämmerliche Heulen und aufgeregte Bellen, wenn einer der kleinen Ausreißer den Rückweg nicht finden konnte und die Mutter unruhig vor dem engen Zugang herumsprang. Später hatte jede Familie ihren Lagerplatz gewählt, etwa unter einem überhängenden Stein, wo es schön kühl war, oder neben dem Trockengestell, wo es angenehm in die Schnüffelnasen duftete, oder auf den weichen Preßheuballen, die zu Jons Verzweiflung immer mehr zerstreut wurden.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Kelbl. Jon mit seinen Packpferden in Grünau.

Hier zwischen Heuhaufen und Pferdestall war auf der steinigen Moräne ein paradiesisches Fleckchen entstanden; aus den im Heu befindlichen Samen keimten infolge der reichlichen Düngung mit Pferdemist eine ganze Reihe europäischer Blütenpflanzen, die sonst in Nordgrönland unbekannt sind.

Reges Leben herrschte an manchem Sommertag drunten in Kamarujuk. Bald lief die »Krabbe« ein, bis zum letzten Winkel mit Menschen, Hunden und Gerät beladen. Bald kam eine Schlittenabteilung über den Gletscher herabgestiegen, um drunten am Ufer Erholung für Mensch und Tier zu suchen. Häufig kamen auch die Dänen des Umanak-Distrikts zu Besuch und gingen zum Winterhaus hinauf, stets voll Anerkennung über das für Grönland Neue, was die Expedition im Laufe eines Jahres geschaffen hatte.

Droben auf dem Inlandeis aber war ständig eine ganze Reihe von Schlittenabteilungen unterwegs. Es würde ermüden, sie alle der Reihe nach aufzuzählen. Die Zeittafel von Kurt Wegener (Seite 52/53) gibt Aufschluß über das ununterbrochene Hin und Her der Monate Juni bis September. Als von Gronau südlich unserer Route am 15. August das Inlandeis querte, waren nicht weniger als fünf Schlittenabteilungen zwischen »Eismitte« und der Weststation in Tätigkeit.

Jetzt konnten auch die Propellerschlitten nach gründlicher Überholung vorzügliche Dienste leisten, wenn auch ihre Besatzung bei den Fahrten manches Abenteuer zu bestehen hatte.


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