Louis Weinert-Wilton
Die Panther
Louis Weinert-Wilton

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36

In Spittering Farm wurde das Abendbrot serviert, aber Aubrey Rayne mußte es, ebenso wie die früheren Mahlzeiten dieses Tages, allein einnehmen. Grace Wingrove, die noch vor kurzem alles daran gesetzt hatte, nicht als Gefangene gehalten zu werden, schien nun dieses Los freiwillig auf sich nehmen zu wollen. Sie war seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr aus ihrem Zimmer herauszubringen, und so oft auch die besorgte Mrs. Fanny mit irgendeiner freundlichen Einladung nach oben kam, mußte sie unverrichteter Dinge wieder abziehen. Selbst für einen Plausch war das junge Mädchen nicht mehr zu haben, und nur ein einziges Mal hatte sie ihr hartnäckiges Schweigen durch eine Frage unterbrochen. »Was wollte die rothaarige Person, die gestern hier war? Ist sie eine Bekannte von Mr. Rayne?«

Gerade darüber vermochte aber die so gerne behilfliche Frau keine Auskunft zu geben, und die Falte zwischen den Brauen Graces wurde noch etwas schärfer.

Auch Rayne beschäftigte sich immer wieder mit der seltsamen Veränderung, die mit dem jungen Mädchen vorgegangen war, und er fand Spittering Farm plötzlich unerträglich langweilig. Er hatte am gestrigen Nachmittag wiederholt versucht, Grace irgendwo aufzustöbern, und hatte sie auch wirklich an einer einsamen Stelle des Parkes entdeckt, aber kaum hatte sie ihn bemerkt, als sie fast fluchtartig ausgewichen war. Und dann hatte sie sich am Abend und den ganzen heutigen Tag über nicht mehr blicken lassen, und die unglückliche Mrs. Fanny bekam die Mahlzeiten fast unberührt in die Küche zurück.

Das alles vergällte der guten Frau sogar die gemütliche Stunde, die sie eben auf der Bank vor dem Haus zwischen Peter auf der einen und Mary auf der anderen Seite verbrachte, und sie mußte sich ihren Kummer vom Herzen reden.

»Was unsere liebe Miß nur haben mag?« seufzte sie ganz unvermittelt, nachdem sie dem andächtig lauschenden Peter eben mit einer Aufzählung ihrer raffinierten Kochkünste den Mund wässrig gemacht hatte. »Sie ist nicht wiederzuerkennen. Immerfort schaut sie geradeaus, und ich kann machen, was ich will, sie ist nicht zum Reden zu bringen. Dabei hat sie so traurige Augen« – sie suchte verstohlen nach einem Schürzenzipfel –, »daß es einen erbarmen könnte, und auch Seine Gnaden . . .« Sie verstummte jäh mit offenem Mund und sah blitzschnell auf Peter und Mary. Dann atmete sie tief auf und sagte halblaut und geheimnisvoll nichts weiter als: »Großer Gott . . .«

Dabei legte sie ihre fleischige Linke ganz unbewußt auf Peters knochige Rechte, und dieser hatte ein so angenehmes Gefühl, daß er still hielt.

Ein Klopfen am Tor unterbrach das tiefe Schweigen, und Mr. Forge ging übellaunig und mißtrauisch, um nachzusehen.

Aber so vorsichtig er auch das Pförtchen öffnete, Murphy genügte der Spalt, um mit Hannibal an der Leine hereinzuschlüpfen.

»Guten Abend, Mr. Forge«, sagte er mit so ausgesuchter Höflichkeit, daß sich das tückische Gesicht des Insulaners mit einem Ruck zu einem verbindlichen Grinsen verzog. »Könnte ich Mr. Rayne auf einen Augenblick sprechen?«

Er marschierte auch schon auf die Bank los, griff mit beiden Händen nach der Rechten der verlegenen Mary und sah der abgehärmten Frau mit einem seltsamen Blinzeln in die Augen. »Sehen Sie, da bin ich. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich einmal nach Ihnen sehen werde, und was ich sage, darauf kann man sich verlassen. – In jeder Beziehung«, fügte er mit besonderem Nachdruck hinzu. »Sie werden schon noch darauf kommen.«

Dann wurde auch Fanny mit einem kräftigen Händedruck und einer Schmeichelei beglückt, und Peter schielte etwas neidisch nach dem Mann, der mit den Frauenzimmern so großartig umzugehen verstand, daß sie über das ganze Gesicht strahlten.

Just in dieser Minute verlöschte die kleine Bogenlampe über der Haustür, und Forge stieß in der Diele mit Rayne zusammen der eiligst aus dem Eßzimmer kam.

»Wir scheinen einen Kurzschluß oder sonst eine Störung in der Leitung zu haben«, sagte der junge Mann hastig und befremdet. »Sehen Sie doch rasch nach.«

»Das wird wohl nicht viel nützen«, tuschelte ihm Murphy, der sich ins Haus geschlängelt hatte, leise zu, und der überraschte Rayne ließ sich von ihm ohne weiteres in einen Winkel des Vorhofes ziehen, wo der Oberinspektor eine Weile auf seine Taschenuhr blickte.

»Es ist erst wenige Minuten nach neun«, meinte er nachdenklich, »und eigentlich ist die Sache etwas früh gekommen. Aber daß so etwas geschehen wird, habe ich mir gedacht. Sie werden sich überzeugen, daß auch der Aufzug nicht funktioniert, weil irgendwo draußen die Leitung abgeschnitten worden ist.« Er klemmte die dicke Unterlippe zwischen die Zähne, und sein vierschrötiges Gesicht bekam wieder den gewissen harten Ausdruck. »Nun wissen wir wenigstens, daß der Tanz heute wirklich losgehen wird. – Sind Sie auf so etwas vorbereitet?«

»Ich habe seit einigen Tagen mehrere verläßliche Leute in einem alten Gebäude im Park untergebracht; außerdem sind wir hier drei Männer. Und an Waffen fehlt es auch nicht.«

Murphy winkte mit einer leichten Geste lebhaft ab.

»Keine Waffen, um Gottes willen. Die machen zuviel Lärm, und es kann damit leicht etwas geschehen. Ordentliche Knüppel werden es auch tun. – Aber sagen Sie diesem schrecklichen Mr. Forge, daß er nur so vorsichtig zuschlagen darf, wie man auf ein Ei tippt. Die Leute hierzulande haben keine Affenschädel. – Ich könnte ja die Gesellschaft einfach draußen abfangen lassen«, fuhr er überlegend fort, »aber vielleicht würde dabei doch der eine oder der andere entwischen. So werden die Burschen von der Kraxelei über die Mauer und dem Empfang hier gehörig außer Atem sein und wir können sie aufklauben wie abgefallenes Obst. – Sonst etwas Neues?« schloß er unvermittelt und sah dem jungen Mann seltsam forschend an, aber dieser schüttelte mit dem Kopf, und Murphy verschwand ebenso eilig, wie er gekommen war.

 

Der junge Polizeioffizier, der die Fliegende Kolonne befehligte, stand seit mehr als einer Stunde an der Südspitze des Wäldchens und suchte mit dem scharfen Nachtglas ununterbrochen das Vorterrain von Spittering Farm ab. Er konnte aber nicht viel unterscheiden, denn gegen Abend war im Westen ein leichter Wolkenschleier aufgestiegen, und es roch bereits nach Regen.

Murphy kam so leise, daß der andere ihn erst bemerkte, als er dicht neben ihm stand und zu sprechen begann.

»Schieben Sie Ihre Leute langsam an Spittering Farm heran und halten Sie sich bereit. Ich glaube, nach Mitternacht dürfte es dort losgehen. Wenn sonst hier herum etwas geschehen sollte, kümmern Sie sich nicht darum.«

Der Oberinspektor schlug sich bereits wieder zwischen die Bäume, und da ihm Hannibal an der Leine hinderlich war, ließ er ihn los. Der Hund begann sofort seine Freiheit auszunützen, und sein Herr schritt behutsam gegen die Steinwand mit der eigenartigen Pforte zu. Er wollte Nachschau halten, ob hier vielleicht etwas Besonderes zu sehen war, aber alles lag ruhig und dunkel, und auch als er mit angespannten Sinnen dicht an der Platte vorüberstrich, vermochte er nichts Verdächtiges wahrzunehmen.

Er hatte aber kaum zwei Schritte weiter getan, als er mit einemmal im Rücken einen kühlen Lufthauch zu spüren glaubte, und schon in der nächsten Sekunde fühlte er sich von eisernen Armen umfaßt und zurückgerissen. Gleichzeitig legte sich eine knochige Hand um seinen Hals, und so gewaltig seine Kräfte auch waren, in dieser furchtbaren Umklammerung versagten sie vollständig. Er vermochte nicht den geringsten Widerstand zu leisten und keinen Laut hervorzubringen.

Plötzlich leuchteten in seine schwindenden Sinne zwei grelle Blitze, und sein Ohr vernahm den scharfen Knall zweier Schüsse.

Die Klammern um seine Brust und seinen Hals lockerten sich für den Bruchteil einer Sekunde, und Murphy schleuderte die beiden Angreifer zur Seite.

In diesem Augenblick fegte auch Hannibal mit wütendem Gekläff heran, aber ein scharfes »Hannibal – Spang!« seines Herrn ließ ihn blitzschnell eine andere Richtung nehmen, und der Oberinspektor verschwand mit einem mächtigen Sprung in der Öffnung, die er vor sich hatte.

Die Steinplatte drehte sich unter seinem wuchtigen Druck langsam um ihre Achse, und Murphy lehnte sich erschöpft an die Wand, um seine Kräfte zu sammeln.

Er schien völlig allein in dem Schlupfwinkel zu sein, aber erst nach einer langen Weile begann er vorsichtig Umschau zu halten. Er mußte damit rechnen, daß seine Angreifer ihm auf irgendeinem Wege folgten und daß ihm noch ein harter Kampf bevorstand.

Mit dem entsicherten Browning in der einen und der Taschenlampe in der anderen Hand nahm er vor allem seine nächste Umgebung in Augenschein. Er befand sich in einem schmalen, ziemlich steil nach abwärts führenden Gang, der sich aber schon nach einigen Schritten zu einer geräumigen Höhle verbreiterte. Es handelte sich hier offenbar um einen jener von Naturgewalten verursachten Erdrisse, wie sie an diesem Teil der Küste häufig vorkamen, und nur der Zugang vom Wäldchen schien künstlich geschaffen zu sein. Nichts ließ erkennen, zu welchem Zweck der Schlupfwinkel eigentlich diente, und der Oberinspektor hielt es augenblicklich auch nicht für geraten, auf Entdeckungen auszugehen. Es fiel ihm nur auf, daß der unterirdische Raum von einer feuchten Kühle erfüllt war und daß aus einem jenseits der Höhle weiterlaufenden Stollen ein steter Luftzug drang. In dieser Richtung lag die Hauptbucht, und Murphy schätzte, daß die gerade Entfernung bis dahin kaum mehr als eine Meile betragen konnte.

Aber alles das würde sich ja später ergeben. Vorläufig war er einzig und allein darauf bedacht, nicht nochmals überrumpelt zu werden und schleunigst wieder aus dem Bau zu gelangen, in den er ganz instinktmäßig geschlüpft war, um seinen Angreifern zu entwischen. Draußen bereiteten sich wohl eben äußerst ernste Dinge vor, und wenn er sich auch auf seine Leute verlassen konnte, wollte er doch unbedingt dabei sein, weil er die Verhältnisse weit besser kannte.

Er tastete sich daher bei dem Schein seiner Lampe wieder zu dem Eingang zurück und begann seine Kräfte an der beweglichen Felsplatte zu versuchen. Er hatte sie verhältnismäßig leicht schließen können, aber nun, da er sie öffnen wollte, trotzte sie allen seinen Bemühungen. So oft er sich auch gegen die eine oder die andere Seite warf, der Stein saß unverrückbar fest, und er konnte auch nirgends eine Handhabe oder sonst eine Vorrichtung zum Öffnen entdecken.

Plötzlich erinnerte er sich an den heftigen Schlag, den er seinerzeit bei der ersten Untersuchung des Spaltes erhalten hatte, und wußte nun, woran er war. Es mußte irgendwo einen elektrischen Verschlußmechanismus geben, aber trotz eingehenden Suchens vermochte er die Leitung nicht zu entdecken. Sie konnte durch einen der zahlreichen kleinen Spalte oder vielleicht auch außen geführt sein, und selbst wenn er ungestört blieb, konnten viele Stunden vergehen, bis er sie auffand.

Aus bloßer Hartnäckigkeit zerrte und stemmte er noch ungefähr eine halbe Stunde an dem Tor herum, aber schließlich blieb ihm als letzte Hoffnung nur mehr Spang. Wenn Hannibal diesen aufgestöbert hatte und der Sergeant wenigstens einen Funken von Intelligenz besaß, mußte er sich bereits über das Halsband gemacht haben und nun wissen, was er zu tun hatte.

Murphy wartete also gespannt, aber geduldig, und schlich nur zuweilen gegen die Höhle, um sich zu überzeugen, ob von dort nicht eine Gefahr nahe.

Bei solch einer Gelegenheit verspürte er plötzlich, wie der Luftzug sich jäh verstärkte, und als er sich blitzschnell umblickte, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu dürfen: die Steinplatte, an der er alle seine Kräfte vergeblich versucht hatte, stand mit einemmal wie eine offene Drehtür senkrecht in dem Gang, und durch die Öffnung zu beiden Seiten konnte er deutlich die Stämme des Gehölzes unterscheiden. Wenige Sekunden später tat der Oberinspektor einen gewaltigen Sprung aus der Pforte und war auch schon mit schußbereiter Waffe hinter einem der starken Bäume in Deckung. Aber es rührte sich nichts . . .

Zum viertenmal innerhalb weniger Tage hatte der Geheimnisvolle im entscheidenden Augenblick eingegriffen, um ihn aus einer bedenklichen Lage zu befreien: Das erstemal durch den Schuß oben in der Mulde, wo wahrscheinlich eine Gefahr in der Hecke gelauert hatte, kurze Zeit darauf durch den zweiten Schuß vor dem blauen Haus, dann bei den Vorgängen im Zimmer Johnsons und schließlich am heutigen Abend, da er ihm Gelegenheit geboten hatte, seine Angreifer abzuschütteln und nun auch aus dem verdammten Loch wieder herauszukommen . . . Hannibal hatte seine Schuldigkeit getan, und Spang hatte den Funken von Intelligenz besessen, aber als er hinter dem an der Leine keuchenden Köter mit Riesensätzen bei der Steinwand angeschnellt kam, fand er wenig Anerkennung.

»Wenn ich auf Sie hätte warten müssen«, fauchte es ihm aus der Dunkelheit entgegen, »wäre ich in der netten Falle schon längst umgekommen. Aber ich werde Ihnen schon den Rost vom Gehirn und von den Beinen putzen, verlassen Sie sich darauf.«

Es war kurz nach ein Uhr nachts, als sich auf der Mauer von Spittering Farm plötzlich einige dunkle Schatten abzeichneten und dort eine Weile regungslos verharrten. Der Himmel war so bewölkt, daß der Park in tiefer Dunkelheit lag, und auch vom Haus her drang nicht der winzigste Lichtschimmer.

Nach einigen Minuten glitten die Schatten wie auf Kommando auf der Innenseite der Mauer hinab, aber sie hatten noch kaum den Boden berührt, als es hageldicht auf sie niedersauste. Durch die nächtliche Stille klangen plötzlich dumpfe Schläge, wilde Schmerzenschreie und ängstliche Zurufe, und in den Lärm der menschlichen Stimmen mischten sich langgezogene schaurige Laute, die die Eindringlinge in wilder Flucht durch die Büsche brechen ließen. Sie kamen aber nicht weit, denn überall schlugen ihnen schwere Knüppel auf die Beine, und die wenigen, die die Mauer wieder erreichten, fanden sie plötzlich von einem anderen Trupp besetzt. Kaum eine halbe Stunde nach ihrem Eindringen war die Bande auf dem Vorhof von Spittering Farm zu einem stöhnenden, scheuen Haufen zusammengetrieben, und ringsherum waren die mit gefährlichen Brandstoffen getränkten Bündel aufgehäuft, die die Leute mit sich geschleppt hatten.

Murphy ging von Mann zu Mann, und als er in die finsteren, verstörten Gesichter leuchtete, wurde seine Laune immer strahlender. Es waren zahlreiche schwere Jungen darunter, nach denen Scotland Yard jahrelang vergeblich gefahndet hatte, und die »heulende Daumenschraube« begrüßte jeden einzelnen mit den freundlichsten Willkommensworten.

»Selbst wenn Sie noch fünfzig Jahre dienen sollten, was ich Ihnen von Herzen wünsche«, wandte er sich dann feierlich an den Kommandanten der Kolonne, »wird Ihnen nie mehr ein solcher Fang gelingen. Ich schätze daß Sie da mindestens zweihundertfünfzig Jahre Zuchthaus beisammen haben und vier oder fünf sichere Kunden für die Schlinge.«

Hierauf wurden die Gefangenen paarweise zusammengekoppelt, aber als es ans Zählen ging, stellte sich plötzlich heraus, daß zwei Leute fehlten. Einige der eingeschüchterten jüngeren Burschen hatten übereinstimmend angegeben, daß sie neunundzwanzig gewesen wären, aber es waren nun nur siebenundzwanzig zusammenzubringen.

Der Polizeioffizier erklärte mit aller Bestimmtheit, daß es auch nicht einem Mann gelungen sei, auszubrechen, und es wurde daher nochmals eine Streife durch den Park vorgenommen. Dabei machte die Polizeimannschaft eine Entdeckung, für die niemand eine Erklärung zu geben vermochte: Dicht vor den Zwingerstäben, in die die beiden Panther mit hängenden Lefzen und blutgierig knurrend ihre Pranken schlugen, fand man einen Buckligen und einen Pockennarbigen bewußtlos auf, und ihre Arme und Gesichter waren furchtbar zugerichtet. Sie mußten den Bestien irgendwie zu nahe gekommen sein, aber die Stäbe waren unversehrt und standen so dicht beieinander, daß dies ausgeschlossen schien.

Vielleicht hätte Peter Forge hierüber etwas Näheres sagen können, aber dieser stand breitbeinig und mit den Händen in den Hosentaschen beiseite, blickte unbefangen nach dem nächtlichen Himmel, und nur der dicke Priem in der rechten Wange und der in lebhafter Tätigkeit befindliche Mundwinkel verrieten, daß überhaupt Leben in ihm war.

»Lassen Sie die Gesellschaft von der Hälfte Ihrer Leute noch heute nach London bringen«, trug Murphy dem Polizeioffizier auf. »Für Sie selbst aber habe ich noch etwas Besonderes. Sie können sich in der Höhle in dem Wäldchen umsehen, zu der Sie Spang führen wird. Morgen früh berichten Sie mir darüber, und dann fahren wir zusammen heim.«

Der Oberinspektor selbst wußte es so einzurichten, daß ihn Aubrey Rayne notgedrungen zu einer kleinen Stärkung einladen mußte, obwohl der junge Mann sichtlich nicht in der Stimmung war, die lebhafte Beredsamkeit des Detektivs über sich ergehen zu lassen. Er hatte Stunden banger Sorge um Grace hinter sich, deren völlig verändertes Wesen er sich nicht zu deuten wußte. Als er sie auf die drohenden Ereignisse hatte vorbereiten wollen, war sie ihm einfach davongelaufen und hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen, und sie war auch jetzt, da alles vorüber war, nicht zu bewegen, mit ihm zu sprechen. Nur die besorgte Fanny wurde eingelassen, kam aber schon nach wenigen Minuten mit einem ratlosen Kopfschütteln und einem eigenartigen Blick in den wasserblauen Augen wieder zurück.

Nach dem zweiten Glas Whisky begann Murphy plötzlich in seinen Taschen, zu kramen und zog eine vergilbte illustrierte Zeitschrift hervor, die er umständlich auf dem Tisch ausbreitete. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß wir uns schon einmal gesehen haben?« fragte er und blinzelte sein Gegenüber triumphierend an. »Ja, mein Gedächtnis!« Er patschte mit seiner mächtigen Hand auf eines der Bilder und warf sich in die Brust. »Hier haben Sie! Und das ist volle fünf Jahre her. – ›Lord und Lady Shelley, Highgate-Castle, denen ein Erbe geboren wurde‹«, begann er aus dem Blatt vorzulesen, »und gleich daneben: ›Aubrey Rayne Highgate Abbey, der Neffe Lord Shelleys, tritt eine Weltreise an‹. Als ob das irgendwie zusammenhinge«, flocht er so ganz nebenbei ein und ließ dann seine Blicke vergleichend zwischen dem Bild und dem jungen Mann hin und her gehen, der mit eisigem Gesicht und halbgeschlossenen Augen dasaß.

»Sie haben sich fast gar nicht verändert«, stellte Murphy fest, indem er die Zeitschrift wieder zusammenlegte und in seiner gemütlichen Art auf den Tisch zu trommeln begann.

Rayne war am Ende seiner Geduld angelangt, und der Ton seiner Stimme ließ keinen Zweifel darüber.

»Was sollen diese Anspielungen?« fragte er kurz und scharf, aber der Oberinspektor war nicht so leicht aus seinem umständlichen Konzept zu bringen.

»Habe ich Anspielungen gemacht?« fragte er unverfroren. »Das wollte ich natürlich nicht, denn ich kann mir denken, wie peinlich Ihnen und Ihrer Familie gewisse Verhältnisse gewesen sind. Deshalb haben Sie ja wohl seinerzeit auch England verlassen. – Aber irgendwie mußte ich doch schließlich beginnen, Lord Shelley . . .«

Der junge Mann richtete sich mit einem Ruck zu seiner vollen Höhe auf und sah den gelassenen Mann aus seinen grauen Augen verständnislos fragend an.

»Ihr Oheim ist tot, und Lady Margaret auch«, sagte Murphy halblaut und zwinkerte unruhig mit den Augen. – »Das kommt davon, wenn man keine Zeitungen liest«, fuhr er dann mit krampfhafter Laune fort. »Sie wären imstande gewesen, noch monatelang als Mr. Rayne hier herumzusitzen.«

Aubrey Rayne stand noch immer wie eine Bildsäule, und es dauerte lange, bis die ersten Worte über seine Lippen kamen.

»Und das Kind?«

Murphy schlug sich lebhaft auf den Schenkel.

»Gut, daß Sie mich daran erinnern. – Sie müssen Mary Baxter mit sich nehmen. Das Kind braucht eine Mutter. – Seine richtige Mutter, verstehen Sie mich?«

Der junge Mann verstand nicht so rasch, aber in einer Viertelstunde hatte ihm der Oberinspektor endlich alles beigebracht.

Und so kam es, daß beim Morgengrauen ein Auto mit einem Schofför von hochherrschaftlicher Haltung, einem düster gestimmten jungen Mann und einer in Freudentränen aufgelösten schlichten Frau aus dem Tor von Spittering Farm rollte; und daß Grace Wingrove mit dem ersten Frühstück von der aufgeregten Mrs. Fanny eine Nachricht erhielt, die ihre schönen Augen noch starrer und ihr feines Gesichtchen noch blasser werden ließ.


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