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Viertes Kapitel.
Die Pension ‹Petunia›

1

Die meisten Orte in der Welt haben Schwesterstädte, Zwillinge und Parallelen, aber Tunbridge Wells ist Tunbridge Wells, und es gibt wirklich nichts auf unserem Planeten, das ihm gliche. Nicht daß es in irgend einer Weise fremdartig oder phantastisch wäre; es zeichnet sich durch seine helle, geschmackvolle Würde aus. Es ist reinlich, frei gelegen und gerade noch angenehm absurd. Es ist nicht mehr als fünfzig Kilometer Luftlinie von London entfernt, aber die North-Downs, eine Kette von Hügeln, die sich zehn Kilometer weit weg hinziehen, weisen mit heiterer und anmutiger Geste alle Gedanken an London aus dem Sinn. Es liegt abseits der Hauptlinie von London her, unbequem für Monatsfahrkartenbesitzer; über jene schützenden Hügel führt keine direkte Route für den eilenden Motorradfahrer; nach Dover und Kent nimmt er gewöhnlich seinen Weg östlich, und nach Brighton westlich – falls er die Hügel von Westerham und Sevenoaks überlebt. Landsitze reicher Leute umgeben es rings mit zugänglichen Parks. Eridge, Bayham, Penshurst Park, Knole und so weiter beschützen es vor einem allzustarken Überhandnehmen kleiner Villen. Dort liegt es, auf einem eingesprenkelten Stück felsigen Bodens, trocken unter den Füßen, luftig und gesund, mit seinem freundlichen Stadtpark mitten drin; seinem Brunnen übelschmeckender, heilsamer Wasser, davon schon die Stuartprinzessinnen tranken, seinen ‹Pantiles› (der Wandelbahn) und seiner Trinkhalle, ganz so wie Dr. Johnson den Ort noch kannte. Berg Zion und Berg Ephraim, Beulah-Road und etwas Evangelisches in der Luft erinnern den leichtfertigen Besucher, daß London einmal eine puritanische Stadt war. Manch ernstes Leberleiden ist in Tunbridge Wells behandelt worden und hat Heilung gefunden.

Und hierher kamen nun Herr Preemby und Christina Alberta auf der Suche nach einer Pension – und sie hätten kaum an einem günstigeren Orte suchen können.

Sie machten sich in systematischer Weise auf die Suche, wie es einem Paar ansteht, dessen eine Hälfte teilweise an der Londoner Schule für Staatswissenschaften in soziologischen Forschungen, teilweise an der Schule Tomblinsons im Geschäftlichen ausgebildet worden war. Herr Preemby war dafür gewesen, erst mit einem allgemeinen Überblick zu beginnen, nur so herumzuwandern und sich die Dinge ein wenig in Ruhe anzuschauen, aber Christina Alberta holte sich bei allen Agenten der Reihe nach Auskunft, kaufte einen Plan und einen Führer durch die Stadt, setzte sich auf eine Bank im Stadtpark und arbeitete den Operationsplan aus, der höchst einfach und natürlich nach der Pension ‹Petunia› führte.

In dem Führer las Herr Preemby mit Anerkennung einige sehr verheißungsvolle Sätze. »Hör' einmal das an, meine Liebe«, sagte er. »H'rrmp. ‹Allgemeine Beschreibung. Es darf wohl hervorgehoben werden, daß Tunbridge Wells sich seit jeher bei den höheren Ständen größter Beliebtheit erfreut. Die Stadt ist niemals von Ausflüglern überlaufen, noch werden ihre Straßen jemals durch Gemeinheit oder Geistlosigkeit verunglimpft. Ihre Einwohnerschaft setzt sich zum größten Teil aus wohlhabenden Leuten zusammen, die natürlich eine soziale Atmosphäre schaffen, welche einen Anstrich von Kultur und Verfeinerung trägt.›«

» Anstrich ist ein ausgezeichnetes Wort dafür, scheint mir«, sagte Christina Alberta.

»Ich denke, mein Instinkt hat mich richtig an diesen Ort geleitet«, sagte Herr Preemby.

Die Pension ‹Petunia› schaut schief auf den Stadtpark hinüber, dort wo die Petuniastraße in die altertümliche, freundliche Hochstraße einmündet. Sie hat nicht die Großartigkeit eines ‹Wellington›, ‹Königlichen Berg Ephraim›, ‹Marlborough› und Genossen, welche der Sonne so tapfer vom Hügelrand über dem Stadtpark ins Auge blicken, doch ist sie ein Haus von würdiger Behaglichkeit. Die Freitreppe der Portikus, die geräumige Halle, der Name in goldenen Lettern auf schwarzem Grund, ließen Herrn Preemby verschiedene Male h'rrmp sagen. Ein außergewöhnlich pausbackiges Mädchen in einem sehr, sehr engen schwarzen Kleide mit Häubchen und Schürze kam und schaute Herrn und Fräulein Preemby mit zerstreutem, ausweichendem Ausdruck an, beantwortete einige einleitende Fragen unzusammenhängend und sagte, sie wolle Fräulein Emilie Rewster rufen – Fräulein Margarete sei nicht zuhause. Woraufhin Fräulein Rewster, die hinter einem Perlenvorhang zögernd gewartet hatte, diesen beiseite schob und mit einschmeichelnder Miene in den Vordergrund trat. Sie war eine kleine, rosig gefärbte alte Dame, mit dem Ausdruck eines vornehmen savoir-faire; sie hatte eine Spitzenhaube auf und trug eine Menge Spitzen und allerhand Falbeln an sich, und ihr Haar war so auffallend kastanienbraun gefärbt, wie es Christina Alberta noch nie gesehen hatte. Wollte Herr Preemby nur für etwa eine Woche kommen, oder handelt es sich vielleicht um etwas mehr Permanentes?

Erklärungen wurden ausgetauscht. Herr Preemby wollte ‹mehr permanent› hier sein; Christina Alberta nur zeitweilig – was eine ziemliche Schwierigkeit bedeutete. Das Vorhandensein eines Hauptquartiers in Chelsea wurde vorsichtig enthüllt, jedoch nicht die Tatsache, daß es in den Stallungen war.

Fräulein Emilie Rewster meinte, Christina Alberta könne ganz gut untergebracht werden, falls sie nicht zusehr darauf bestehe, jedesmal dasselbe Zimmer, oder genau dieselbe Art Zimmer zu haben, wenn sie komme. »Wir müssen uns einrichten«, sagte Fräulein Emilie Rewster.

»Wenn nur das Fenster aufgeht«, sagte Christina Alberta.

Die vorgezeigten Zimmer waren sehr zufriedenstellend (h'rrmp), sehr zufriedenstellend. Ein flüchtiger Blick in ein Badezimmer wurde gewährt. »Sie sagen es, wenn Sie ein Bad wünschen«, sagte Fräulein Emilie Rewster. Unten war ein Speisesaal mit einzelnen Tischen, und auf jedem Tische gab es Blumen, alles sehr vornehm und gefällig, und dann war da ein geräumiger Salon mit einem Klavier und einer großen Zahl von Lehnsesseln und Sofas, die alle Falbeln trugen, ganz wie die Falbeln Fräulein Emilie Rewsters, und Sofaschoner, ganz wie ihre Haube, und mit genau demselben Ausdruck einladender Behaglichkeit, daß es schien, sie müßten zum mindesten ihre Vettern sein, die sich an ihrem Unternehmen beteiligten. Das Klavier trug eine Art Spitzen-Bettdecke, und es standen polierte Tischchen da, die auf Deckchen Majolikatöpfe mit Aspidistra trugen, und etwas weniger gefährliche Tischchen, die man benützen konnte, und dann gab es noch einen niedrigen Bücherschrank mit Büchern darin und einem großen Haufen illustrierter Zeitschriften darauf. Die Halle breitete sich hinten in ein ziemlich modernes Sitzzimmer aus, wo eben zwei Damen Tee tranken; auch ein Rauchzimmer war vorhanden, wo, sagte Fräulein Emilie Rewster etwas verschämt zu Christina Alberta, »die Herren rauchen.«

»Wir haben es sehr voll gehabt diese Saison,« sagte Fräulein Emilie Rewster, »sehr voll. Wir hatten nahezu dreißig Personen beim Mittagessen. Aber die Saison geht jetzt natürlich zu Ende. Für den Augenblick sind wir gerade auf neun zum Frühstück und sieben zu Mittag zusammengeschmolzen; zwei Herren sind hier in Stellung. Doch Leute kommen und Leute gehen. Ich habe heute zwei Anfragen per Post bekommen. Eine kränkliche Dame und ihre Schwester. Sie wollen hier den Brunnen trinken. Und dann gibt es ebensogut ‹Zugvögel› wie ständige Gäste. Die bleiben gewöhnlich nur eine Nacht. Autofamilien. Sie werden im Vorbeifahren auf uns aufmerksam. In dieser Hinsicht ist es ein Vorteil, daß wir in der Nähe der Geschäfte sind.«

Sie warf Herrn Preemby einen vertraulichen Blick zu. »Oft geht meine Schwester oder ich im letzten Moment selbst auf einen Sprung aus, um einzukaufen. Wenn alle anderen zu tun haben. Wir scheuen eine kleine Mühe nicht, wenn wir es den Gästen behaglich machen können.«

»Von dem System der Einzeltische sind wir seit dem Kriege nicht mehr abgegangen«, sagte Fräulein Emilie Rewster. »Es ist viel angenehmer. Man kann ganz für sich allein sein, wenn man es wünscht, oder man kann Bekanntschaften schließen. Im Salon oder im Rauchzimmer plaudern die Gäste miteinander. Oder grüßen einander zumindest. Manche verkehren ganz freundschaftlich miteinander. Spielen ein Spiel. Unternehmen miteinander Ausflüge.«

Christina Alberta stellte eine naheliegende Frage.

»Sehr angenehme Leute«, sagte Fräulein Emilie. »Wirklich, sehr angenehme Leute. Ein pensionierter Herr mit seiner Frau und ihre Stieftochter, zwei ältere ledige Damen, ein Herr mit seiner Frau, der in einem Wald in Birma gewesen ist, und so weiter.«

»Ich fühlte mich schon seit jeher von Tumbridge Wells angezogen«, sagte Herr Preemby.

»Es heißt Königliches Tunbridge Wells, bitte sehr«, sagte Fräulein Emilie strahlend. »Das ‹Königlich› wurde neunzehnhundertneun hinzugefügt, wie Sie wissen, auf gnädigsten Befehl Seiner Majestät.«

»Das wußte ich gar nicht«, sagte Herr Preemby mit tiefer Ehrfurcht und probierte gleich: »Königliches Tumbridge Wells.«

»Macht den Namen recht lang«, sagte Christina Alberta.

»Er ist sehr angenehm für uns, kann ich Ihnen versichern, dieser lange Name«, sagte Fräulein Emilie königstreu.

Die Pension ‹Petunia› schien Herrn Preemby so zufriedenstellend, daß abgemacht wurde, er werde am übernächsten Tage wiederkommen und einige Kleider und anderes Gepäck mitbringen, und Christina Alberta solle mit ihm kommen und ein paar Tage dableiben – ein kleines Zimmer oben war frei, das konnte sie haben – und nachher würde sie nach London und zu ihren Studien zurückkehren und die Gelegenheit ergreifen wiederzukommen, wenn ein Zimmer für sie frei wäre.

2

Im Zuge nach London ging Herr Preemby diese Übereinkünfte noch einmal durch und machte seine Pläne.

»Ich werde übermorgen wieder hierherkommen, nachdem ich meine Sammlungen in den Stallungen in Ordnung gebracht hab'. Ich werde die besten Sachen so stellen, daß sie durch das Glas des Schrankes gesehen werden können, aber ich denke, ich werde sie absperren, und ich werde mir ein paar notwendige Bücher hierher mitnehmen, und dann, wenn ich mich ganz eingerichtet habe, werde ich mir einmal die vielgerühmten Felsen hier gründlich anschaun.«

»Wir könnten am Vormittag hier herausfahren,« sagte Christina Alberta, »und dann am Nachmittag die Felsen miteinander anschauen gehen.«

»Nicht am selben Nachmittag«, sagte Herr Preemby. »Nein. Ich muß ganz frisch und aufnahmefähig sein, wenn ich mir diese Felsen anschaue. Ich glaube, es wird am besten sein, sie am frühen Morgen zu besichtigen – wenn man gut ausgeschlafen ist. Wenn keine anderen Besucher da sind. Ich glaube – ich glaube, Christina Alberta, das erste Mal geh' ich besser ganz allein hin. Ohne dich. Manchmal sagst du Sachen, Christina Alberta – natürlich meinst du's gar nicht so –, aber sie bringen mich aus der Fassung ...«

Christina Alberta dachte nach. »Was erwartest du denn dort bei diesen Felsen zu finden, Vati?«

Herr Preemby wiegte seinen Schnurrbart und sein ganzes Gesicht langsam hin und her. »Ich will ausgeruht und aufnahmefähig hingehen«, sagte er. »Vielleicht ist nicht die ganze Atlantis verloren gegangen. Teile davon können verborgen sein. Es gibt Legenden, die uns durch den Philosophen Plato überliefert sind. Teilweise in Geheimschrift. Wer weiß? Kann sein – hier, kann sein – in Afrika. Ein bestimmter Typus. Ein Zeichen. Der Toad Rock (Krötenstein) muß höchst merkwürdig sein. Im Britischen Museum ist ein Toad Rock aus Zentralamerika ...«

Er saß eine Zeitlang in angenehme Gedanken versunken da.

»Ich werde mir ein Notizbuch mitnehmen«, sagte er, »und verschiedene farbige Bleistifte.«

Er fuhr fort nachzusinnen. Seine nächste Bemerkung kam nach einer Pause von drei oder vier Minuten und brachte Christina Alberta eine Überraschung.

»Ich hoffe, meine Liebe,« sagte Herr Preemby, »daß du unter allen diesen Künstlern und Leuten da nicht verrückt werden wirst. Es würde mich betrüben, wenn ich denken müßte, daß du verrückt werden wirst«, sagte Herr Preemby.

»Aber Vati, was bringt dich denn auf den Gedanken, ich könnte – verrückt werden?« fragte Christina Alberta.

»Ein oder zwei Kleinigkeiten, die ich in den Stallungen sah«, sagte Herr Preemby. »Bloß ein oder zwei Kleinigkeiten. Du solltest aufpassen, Christina Alberta. Ein Mädel muß auf sich aufpassen. Und deine Freunde da – die sind entschieden verrückt. Nimm mir's nicht übel, daß ich das sage, Christina Alberta. Es soll nur eine Warnung sein.«

Christina Albertas Antwort kam nach einer kleinen Pause und ohne den gewöhnlichen, zuversichtlichen Klang. »Mach' dir keine Sorgen um mich, Vati«, sagte sie. »Es ist doch alles in Ordnung mit mir.«

Herr Preemby schien erst geneigt, das Thema zu ändern. Dann bemerkte er: »Ich kann diesen Burschen nicht leiden, diesen Teddy Winterton. Er ist zu familiär.«

»Ich kann ihn ja auch nicht leiden«, sagte Christina Alberta. »Er ist wirklich zu familiär.«

»Na, dann ist ja alles gut«, sagte Herr Preemby. »Ich dachte nur, du würdest es nicht bemerken«, und verfiel wieder in seine Grübelei.

Doch diese plötzliche und unvorhergesehene Einmischung in ihre persönlichen Angelegenheiten stimmte Christina Alberta für den ganzen übrigen Teil ihrer Fahrt nach London nachdenklich. Immer wieder lugte sie verstohlen nach ihrem Vati.

Er schien sie vergessen zu haben.

Aber es war wirklich entsetzlich wahr. Teddy Winterton war – ganz und gar – zu familiär geworden.

3

Zu allen Zeiten haben zuverlässige Beobachter die erratische Unberechenbarkeit des Schicksals festgestellt; nun sollte Christina Albertas eigenes bißchen Erfahrung zu diesen sich ständig mehrenden Zeugnissen hinzukommen. Ihr schien es, als ob sie dadurch, daß sie ihren Vati in die wohltätige Ruhe des Königlichen Tunbridge Wells hinaus verpflanzte, ihm die wirklich bestmöglichen Bedingungen zu einem glücklichen und zufriedenen Leben sichere. Allerdings war mit dem kleinen Mann seit ihrer Mutter Tod eine merkliche Veränderung vor sich gegangen, Willenskräfte waren freigeworden, eine neue Selbständigkeit des Ausdrucks, eine Neigung, sich die Dinge, die ihn umgaben, zu erklären, ja sogar, sich ein Urteil darüber zu bilden, machten sich geltend. Sie hatte das bei sich dem Keimen eines Samens verglichen, der aus einer konservierenden Trockenheit in Feuchtigkeit und ans Licht gebracht wird, aber sie hatte diesen Vergleich nicht so weit verfolgt, daß sie darüber nachgedacht hätte, was für Blüteerscheinungen sich aus dieser verspäteten Entfaltung seiner Tatkraft entwickeln könnten. Daß er gerade hier, an diesem Ort, jenen Anreiz finden sollte, dessen er zu der phantastischen Entfaltung seines Vorstellungslebens bedurfte, daß gerade Tunbridge Wells ihm den Weg aus dieser unserer Alltagswelt dahin weisen sollte, wo es für ihn ein so viel wunderbareres und befriedigenderes Dasein gab, kam ihr niemals in den Sinn.

Drei Tage lang, bis ein nagender Drang nach Abenteuern sie wieder nach London zurücktrieb, blieb sie in der Pension ‹Petunia›, und während jener ganzen drei Tage zeigte sich nicht die geringste Spur von der großen Umwälzung, die seinem Geiste bevorstand. Im ganzen schien er ungewöhnlich verstimmt und still während dieser drei Tage. Tunbridge Wells gefalle ihm sehr, sagte er, doch sei er von den High Rocks und dem Toad Rock höchst enttäuscht gewesen, als er hingekommen war, um sie in Augenschein zu nehmen. Er zweifle sogar, ob sie nicht ‹einfach natürlich› seien. Das war ein schreckliches Zugeständnis. Er gab sich alle erdenkliche Mühe zu glauben, daß der Toad Rock einem der großen in Stein gemeißelten Maya-Bilder einer Kröte aus Yukatan gleiche, wovon er einen Abguß im Britischen Museum gesehen hatte, aber es war klar, daß er selbst mit all dem Willen, der ihm zur Verfügung stand, einen so starken Glauben nicht aufbringen konnte. Alle Verzierungen, erklärte er, alle Inschriften seien verwischt, und dann, indem sein großer blonder Schnurrbart borstig wurde wie eine Kleiderbürste: »Es hat da überhaupt nie Verzierungen oder Inschriften gegeben. Niemals.«

Christina Alberta war es klar, daß er wirklich ganz außerordentliche Erwartungen bei sich gehegt haben mußte, um jetzt so niedergeschlagen zu sein. Sie wurde auf einmal sehr neugierig auf das Geheimnis, das in seinem Geiste gärte. Es schien ihr so, als ob er Tunbridge Wells für eine Art Poste restante angesehen hätte, allwo ihn ein Brief von allerhöchster Wichtigkeit erwarten sollte. Nun war kein Brief da.

»Aber was hast du dir denn erwartet, kleiner Vati?« fragte Christina Alberta, als er sie am Nachmittage des ersten Tages zum Toad Rock mitnahm, damit sie selbst sehen könne, was für ein gewöhnlicher und unbedeutender Felsen das war. »Hast du dir irgendwelche wunderbaren Eingravierungen erwartet?«

»Ich erwartete – etwas für mich. Etwas Bedeutungsvolles.«

»Für dich?«

»Ja, für mich. Und für jeden. Über das Leben und die Mysterien. Ich hatte in mir so ein Gefühl genährt, als ob etwas über diese Dinge hier sein müßte. Jetzt – weiß ich nicht, wohin ich mich wenden soll.«

»Aber was für ein Ding, was für eine bedeutsame Erscheinung hast du dir erwartet?«

»Ist das Leben nicht ein Rätsel, Christina Alberta? Hast du denn das noch nicht bemerkt? Glaubst du denn, es ist weiter nichts als Ateliers und Tanzen und Ausflüge und Char-à-bancs und Mahlzeiten und Ernten?« sagte er. »Es ist doch offenbar etwas mehr als das. Alles das ist nur ein Schleier. Die Außenseite. H'rrmp. Und ich weiß nicht, was dahinter ist. Ich bin nichts weiter als ein schlichter Gast in einer Pension. Und mein Leben vergeht. Äußerst schwierig. H'rrmp. Beinahe unmöglich. Es regt mich ganz ungewöhnlich auf. Irgendwo muß es doch einen Schlüssel geben.«

»Aber das ist's doch, was wir alle fühlen, Vati«, rief Christina Alberta.

»Die Dinge können nicht das sein, was sie scheinen«, sagte Herr Preemby, indem er die Hand mit einer Geste verachtender Abwehr gegen das Städtchen Rusthall, Wirtshaus, Laternen, einen Polizeimann, einen Hund, den Kundenwagen eines Kleinkrämers und drei vorbeifahrende Automobile bewegte. »Soviel ist ja auf jeden Fall klar. Wäre auch absurd. Die Sterne ... Der grenzenlose Raum – sollte der nur dazu dienen, daß wir zwischen zwei Mahlzeiten darin herumrennen? ...«

Wer hätte gedacht, so überlegte Christina Alberta, daß solche Sachen in seinem Kopfe vorgingen? Wer hätte das gedacht?

»Entweder bin ich eine Reinkarnation«, sagte Herr Preemby, »oder ich bin's nicht. Und wenn ich's nicht bin, dann möchte ich wissen, wozu all das Getriebe auf der Welt dient. Ein Symbol muß es ja sein, Christina Alberta. Aber wofür? Die ganzen Jahre in der Wäscherei wußte ich, daß dieses Leben nicht wirklich war. Eine Periode der Ruhe und Vorbereitung. Deine teure Mutter dachte ja anders – wir sprachen niemals darüber, h'rrmp, aber es war so.«

Christina Alberta fiel keine passende Bemerkung ein, und so gingen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander her. Als sie wieder sprachen, war es, um zu erörtern, wie sie das Hotel ‹High Rocks› erreichen könnten, um Tee zu trinken.

4

Herr Preemby war offensichtlich niedergeschlagen und nicht wenig betrübt, doch hatte er nichts von der alles umfassenden Verzagtheit des Melancholikertypus. Zu gleicher Zeit beschäftigte er sich ganz ernsthaft mit der Pension und den Mitpensionären, die er dort antraf. Für ihn war es ein neues Erlebnis, in einer Pension zu sein. Während seiner Ehe hatte er seinen Urlaub stets mit Frau Preemby an der See zugebracht und zwar in einer Mietswohnung, wo Frau Preemby die Verpflegung ganz überwachen, jeden Irrtum und jede Erpressung entdecken, bloßstellen und berichtigen konnte. Während jener Ferien hatten sie Fahrten landeinwärts unternommen oder am Strand kampiert, und während Herr Preemby und Christina Alberta Sandburgen gebaut oder zwischen Felsklippen gegraben hatten, war Frau Preemby in einem Liegestuhl gesessen und hatte sich um die Wäscherei abgehärmt. Wenn das Wetter schlecht war, blieben sie zuhause in ihrer Wohnung, wo Herr Preemby und Christina Alberta Bücher lasen, während sich Frau Preemby hier beinahe ebensogut um die Wäscherei abhärmen konnte wie am Strand. Tief in Herrn Preembys Herzen jedoch hatte immer ein heißes Verlangen nach dem kollektiven Durcheinanderleben geschlummert, das in einer Pension herrscht.

Die Bekanntschaft des anderen Fräulein Rewster, des Fräulein Margarete Rewster, hatten sie bei ihrer Ankunft mit dem Gepäck gemacht. Sie bildete eine schlankere, ängstlichere und etwas weniger mit Spitzen überladene Variation ihrer Schwester. Beide, so entdeckte Herr Preemby, hatten die eigentümliche Gewohnheit, herumzustehen und zu warten. Immer schienen sie hinter Perlenvorhängen oder in den Korridoren zu warten, auslugend über Stiegengeländer sich beugen oder hinter Türen hervorzugucken: die Ärmsten! Sie waren ängstlich besorgt, ihren Gästen nicht in die Quere zu kommen, aber sie waren ebenso besorgt, daß alles immer in bester Ordnung sei. Bei den Mahlzeiten hantierten sie mit ihren Braten und Zuspeisen hinter einer spanischen Wand, und die pausbackige Magd trug die Platten und Gemüse herum. Und jedesmal, wenn Herr Preemby nach der spanischen Wand blickte, sah er entweder Fräulein Margarete Rewster über den Rand derselben nach ihm auslugen oder Fräulein Emilie Rewster um das Ende herumgucken. Er entwickelte infolgedessen eine nervöse Ungeschicklichkeit im Gebrauch seines Eßbestecks. Wenn er seine Serviette fallen ließ, hoffte er, dies würde wenigstens unbemerkt vorübergehen, aber nein, Fräulein Emilie bemerkte es sofort und gebot der pausbackigen Magd, sie ihm aufzuheben.

Herr Preemby und Christina Alberta gingen zum Abendbrot hinunter, sobald Fräulein Margarete das zweitemal das Gong hatte ertönen lassen; so waren sie die ersten, denen Sitze angewiesen wurden, und hatten den Vorteil, ihre Mitgäste bequem mustern zu können. Christina Alberta verhielt sich still beobachtend, doch Herr Preemby sagte zu jedem Neuankömmling ‹h'rrmp›. Zunächst erschienen zwei ‹Zugvögel›, ein junger Mann in ulkigen Golfhosen und eine Dame in hellgelbem Sport-Jumper, vermutlich seine Frau, die miteinander eine Autotour durch Kent machten; mit energischen Anstrengungen versuchten sie, einen Fenstertisch zu erobern, der bereits für ‹ständige Petunier› reserviert war, und wurden zwar unter Schwierigkeiten, jedoch mit vollkommener Würde von Fräulein Emilie zurechtgewiesen. Dann berieten sie laut, was für Wein sie trinken sollten – der junge Mann nannte die Dame ‹altes Ding› und ‹alte Haube›, Ausdrucksformen, die für Herrn Preemby neu und interessant waren, und sie nannte ihn ‹Dachs› – und das pausbackige Mädchen brachte eine Liste von Weinen zum Vorschein, die geholt werden konnten. Der junge Mann las die Namen und Preise der Weine vor und traf seine Auswahl beinahe so laut, als ob er ein Geistlicher wäre, der in einer riesig großen Kathedrale das Hochamt hält. Seine Frau, um bei dem Vergleich zu bleiben, hielt die Responsorien. »Der Chablis, den wir hier bekommen würden, könnte zu süß sein«, verkündigte er.

»Er könnte zu süß sein?«

»Was wär's mit einem Pommard, alte Haube?«

»Warum nicht, Dachs?«

»Der Beaune ist um einen Shilling billiger und wahrscheinlich ebenso gut – oder schlecht.«

»Wahrscheinlich.«

Das pausbackige Mädchen flog aus dem Saal, die Liste in der Hand und den Daumen auf dem Wein, den er gewählt hatte.

Gedeckt von diesem lauten Gespräch, huschten inzwischen die beiden Damen, die Herr Preemby gelegentlich seines ersten Besuches in dem Sitzzimmer beim Tee gesehen hatte, unbemerkt bis zu einem Tische nahe dem Fenster durch. Augenscheinlich waren es Schwestern, beide ziemlich schlank und lang, mit kleinen, runden, hellen Gesichtern auf stengelgleichen Hälsen; sie hatten scharfe kleine Nasen, und eine von ihnen trug eine Schildpattbrille. Ein Herr mit weißem Schnurrbart, größer und vornehmer noch als der Herrn Preembys, in Gesellschaft einer kleinen, munter dreinschauenden Frau, erschienen als die nächsten. Wahrscheinlich war das der Herr, der in dem Wald in Birma gewesen war. Die kleine, munter dreinschauende Frau verbeugte sich gegen die schlanken Damen, die so aufgeregt wurden wie Schilfgräser im Winde. Der Herr schenkte ihnen keine Beachtung, grunzte, als er sich niedersetzte, zog seine Augengläser hervor und las das Menü.

»Schon wieder Tomatensuppe!« sagte er.

»Es ist gewöhnlich recht gute Tomatensuppe«, sagte seine Frau.

»Aber drei-mal hinter-einander!« sagte er. »Es begünstigt Säurevergiftung. Ich kann Tomatensuppe nicht leiden

Der Tisch im Erker wurde von drei Leuten besetzt, die jeder einzeln hereingeweht kamen. Zuerst eine kleine, dünne, schwarze Dame in Grau, die einen perlenbestickten Arbeitsbeutel trug, dann ein kleiner, schwarzer, glatzköpfiger Mann mit starkem Backenbart, den sie als Vater anredete, und zuletzt eine plumpe, gesund aussehende Frau mit strahlender Miene, die hereinfegte und nach allen Seiten Grüße austeilte.

»Haben Sie Ihren Spaziergang gemacht, Major Bone?« fragte sie den Herrn aus dem birmesischen Wald.

»Bloß bis Rusthall-Park und zurück«, sagte Major Bone, mit dicker Stimme durch seinen Schnurrbart und seine Suppe hindurch sprechend. »Bloß bis Rusthall-Park.«

»Und Sie bekamen einen Ghar-à-banc nach Crohamhurst, Fräulein Solbé?« Die beiden Schwestern antworteten aus einem Munde: »Oh! wir machten eine reizende Fahrt.«

»So malerisch«, sagte die mit den Augengläsern.

»So luftig und angenehm«, sagte die ohne Augengläser.

»Konnten Sie das Meer sehen?«

»Oh! deutlich!« sagte die mit Augengläsern.

»Und so weit weg«, sagte die ohne.

»Ganz so, als ob der Himmel einen Rand aus Stahl hätte«, sagte die mit den Augengläsern.

»Wie eine feine Silberlinie«, sagte die ohne.

»H'rrmp«, sagte Herr Preemby.

Kleine Portionen Fisch folgten der Tomatensuppe und wurden verhältnismäßig schweigsam verzehrt. Die Stille wurde nur durch eine kaum hörbare Unterhaltung am Fenstertisch unterbrochen. »Ist das derselbe Fisch, den wir gestern gehabt haben?« fragte die Frau.

»Jedenfalls ein sehr ähnlicher Fisch«, sagte der Herr mit Backenbart.

»Auf dem Menü heißt es einfach ‹Fisch›«, sagte die Stieftochter.

»H'rrmp«, sagte Herr Preemby.

»Ich glaub', unsere hinteren Pneumatiks waren zu straff heute, alte Haube«, sagte der Mann in Golfhosen mit sehr lauter, klarer Stimme. »Ich hab' die Straße entsetzlich gespürt.«

»Ich hab' die Straße entsetzlich gespürt«, sagte die Dame im gelben Jumper.

»Ich muß dem morgen abhelfen.«

»Ja, das wäre besser.«

»Morgen früh ist noch Zeit genug. Heut' abend möchte ich mich nicht mehr anstrengen.«

»Viel besser morgen früh, Dachs. Du bist müde heut' abend, nach all dem Rütteln. Du würdest dir nur die Hände schmutzig machen.«

Schweigen und angestrengte Tätigkeit mit Messern und Gabeln.

»Porruck hat nicht geschrieben«, sagte der Major aus dem Wald.

»Höchstwahrscheinlich hat er zu tun«, sagte seine Frau. Schweigen.

»H'rrmp«, sagte Herr Preemby.

Christina Alberta durchforschte ihren Geist nach einem Gesprächsstoff, mit dem man eine Unterhaltung einleiten könnte und der ihrem Vater eine vernünftige Gelegenheit böte, eine annehmbare Antwort zu geben, aber sie konnte nichts finden, das nicht entweder zu unpassend oder zu gefährlich war. Sie begegnete seinem Blick; sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, als ob er sich gegen eine Last stemme.

Nach dem Fisch gab es Lammbraten.

»Ich fand die Straße von Sittingbourne hieher einfach entsetzlich«, sagte der Motormann.

»Sie war einfach entsetzlich«, respondierte seine Frau.

Christina Alberta sah, wie es in ihres Vaters Gesicht arbeitete. Er wollte etwas sagen. »H'rrmp. Morgen, wenn es schön ist, wollen wir in der Früh' einen Spaziergang machen.«

Die Messer und Gabeln verstummten. Alles lauschte. »Ich würde mich riesig freuen, Vati, morgen einen Spaziergang zu machen«, sagte Christina Alberta. »Ich sollte doch meinen, daß es ein paar feine Spaziergänge hier herum gibt.«

»Sehr richtig«, sagte Herr Preemby. »Höchstwahrscheinlich. Der Führer versichert, daß es welche gibt. H'rrmp.«

Er bekam das würdevolle Aussehen eines Mannes, der eine schwierige Pflicht erfüllt hat.

Wiederaufnahme der Tätigkeit mit Messern und Gabeln.

»Schwer, dieses Lamm von Hammel zu unterscheiden,« sagte Major Bone, »wenn nicht die Würzensauce daran wäre.«

»Erbsen schmecken nie gut, wenn sie nicht aus dem eigenen Garten sind«, sagte die Frau des backenbärtigen Herrn zu ihrer Stieftochter.

»Es ist spät für Erbsen«, sagte die Stieftochter.

Die beiden Fräulein Solbé und der Automobilist begannen gleichzeitig zu sprechen. Frau Bone gab der Ansicht Ausdruck, daß es heutzutage schwer sei, gutes Lammfleisch zu bekommen. Sich aus diesem plötzlichen Strudel in der Unterhaltung Mut holend, erkühnte sich Herr Preemby, zu Christina Alberta zu bemerken, daß er schon immer von Tumbridge Wells angezogen worden sei. Er fühle, daß die Luft hier stark sei. Sie mache ihm Appetit.

»Du mußt aufpassen, Vati, daß du nicht dick wirst«, sagte Christina Alberta.

Der Ausbruch lebhaften Gedankenaustausches nahm ein Ende. Die gebackenen Äpfel mit Crème wurden ziemlich stillschweigend verzehrt. Die pausbackige Magd kam, um Herrn Preemby zu fragen, ob er seinen Kaffee im Sitzzimmer oder im Rauchsalon einnehmen wolle. »Im Sitzzimmer, denke ich«, sagte Herr Preemby. »H'rrmp. Im Sitzzimmer.«

Die beiden Fräulein Solbé, jede ein Glas mit Zucker und Zitronensaft in der Hand, flatterten aus dem Zimmer. Die Leute vom Fenstertisch folgten nach. Die Aufgabe des Abendessens war erfüllt. Herr Preemby und Christina Alberta fanden sich im Sitzzimmer allein. Die meisten Leute schienen sich nach dem Salon verzogen zu haben. Der Herr aus den Wäldern von Birma ging vorüber nach dem Rauchzimmer, eine große Zigarre mit sich führend, die so aussah, als komme sie auch aus den Wäldern von Birma. Sie sah nicht wie eine Zigarre aus, die gedreht oder gepreßt worden war; sie sah wie ein Stück knorriges Holz von einem verästeten Baume aus. Ein Strohhalm kam aus dem einen Ende hervor ...

Christina Alberta stand da und überdachte eine endlose Spanne leerer Zeit: zwei Stunden mochte es dauern, ehe sie anständigerweise zu Bett gehen konnte. »Oh! das ist ein Leben!« sagte sie.

»Äußerst bequem«, sagte Herr Preemby, indem er sich mit lautem Krachen in einen Korbstuhl setzte.

Christina Alberta setzte sich auf die Glasplatte eines Tisches und zündete sich eine Zigarette an. Sie sah, wie sich diese zwei Stunden vor ihr auftaten, und hätte schreien mögen.

Die pausbackige Magd brachte Kaffee und schien über Christina Albertas Zigarette nicht wenig erstaunt. Geflüster hinter den Kulissen. Dann wurde Fräulein Emilie undeutlich durch den Perlenvorhang am Ende des Ganges sichtbar, wartend wie immer. Sie verschwand wieder, und Christina Alberta rauchte ihre Zigarette in Frieden zu Ende. Herr Preemby trank seinen Kaffee aus. Pause. Christina Alberta schwenkte ihre Beine rhythmisch hin und her. Dann rutschte sie vom Tisch herunter auf ihre Füße.

»Vati,« sagte sie, »komm, gehn wir in den Salon; wir wollen sehen, ob dort etwas los ist.«

5

In der Pension der Vergangenheit bildete die gemeinsame Tafel den gesellschaftlichen Mittelpunkt, wo man einander traf, wo Meinung auf Meinung prallte und sich gegenseitig abschliff. Doch der Geist der Abgeschlossenheit, das Einzeltischsystem, hat das alles geändert und die Spuren des gesellschaftlichen Verkehrs, Vorstöße, Rückzüge, Kokettieren, Gedankenaustausch, Spiel und Scherz muß man jetzt im Rauchzimmer oder im Salon suchen. Doch die Gäste der Pension ‹Petunia› befanden sich keineswegs im Zustand gesellschaftlicher Verschmelzung. Den einzigen Zusammenhang stellte die Konversation her. Die Frau des Herrn aus den birmesischen Wäldern hatte sich einen Armsessel neben dem Kaminfeuer gesichert und beschrieb der fröhlichen Frau und dem jüngeren Fräulein Solbé, welche strickte, in leisem Flüsterton die zahlreichen Dienstboten, die sie in Birma gehabt hatte. Das Fräulein Solbé mit den Augengläsern hatte sich hinter einem Tisch auf der anderen Seite des Feuers verschanzt und war ängstlich mit einer äußerst verwickelten Patience beschäftigt. Der Herr mit dem Backenbart saß steif hinter einer Ausgabe der ‹Times› auf einem der Sofas da, während seine Tochter nicht weit davon an einem Tische Platz genommen hatte und sich auch durch eine Patience hindurcharbeitete. Die ‹Zugvögel› waren, nachdem sie sich nach Kinos und Konzerten erkundigt hatten, ausgeflogen.

Niemand nahm die geringste Notiz von Herrn Preemby oder Christina Alberta. Die beiden standen einige Augenblicke lang in der Mitte des Zimmers, und dann überfiel Herrn Preemby ein panischer Schrecken. Ein unwürdiger panischer Schrecken, sodaß er seine Tochter diesen schweigenden, unbeweglichen Wölfen überließ.

»H'rrmp«, sagte er. »Ich denke, ich werde in den Rauchsalon gehen, meine Liebe. Ich möchte rauchen. Dort drüben auf dem Büchergestell sind ein paar illustrierte Zeitschriften für dich, wenn du sie anschau'n willst.«

Christina Alberta trat auf den niedrigen Bücherschrank zu, und Herr Preemby ging h'rrmpend hinaus.

Da stand sie und tat, als ob sie an den illustrierten Witzen, den Photographien von Schauspielerinnen und Persönlichkeiten aus der Gesellschaft im ‹Sketch› und ‹Tatler› ein Interesse hätte. Aus den Augenwinkeln jedoch musterte sie die Mitgäste und nahm mit nachlässigem Ohr den Hauptinhalt von Frau Bones Besprechung der Dienstbotenfrage in Birma auf. »Sie bringen einem die ganze Familie auf den Hals, wenn sie können – Onkels und Vettern sogar. Bevor man weiß, woran man ist ...

Freilich, eine weiße Frau ist dort draußen eine kleine Königin ...

Der Hauptfehler ihrer Kocherei war nach meiner Ansicht die Wirkung, die sie auf Herrn Major Bone ausübte. Sein Magen ... bei weitem empfindlicher als der einer Frau.«

»Er sieht so stark und kräftig aus«, sagte Fräulein Solbé.

»Im allgemeinen ist er das auch. Aber die ‹Curries›, die sie dort zu machen pflegten –«

Sie senkte die Stimme, und das jüngere Fräulein Solbé und die liebenswürdige Dame steckten die Köpfe über ihr zusammen, um auch ja alle Einzelheiten zu hören.

Was für ein Pack das war! dachte Christina Alberta. Und es waren lebende Wesen! Daß sie lebendig waren, dünkte Christina Alberta am erstaunlichsten. Und da sie einmal lebendig waren und nachdem sie vermutlich, bevor sie lebendig geworden waren, für verschiedene Leute eine Ursache beträchtlicher Beunruhigung, Sorge, Gefühlsbewegung und Hoffnung gebildet hatten, suchten sie jetzt mit größter Entschlossenheit allem aus dem Wege zu gehen, was nur irgendwie noch mit Anstand als Leben angesprochen werden konnte. Ihre Stunden, ihre Tage gingen vorüber; ein paar tausend Tage vielleicht noch für jeden von ihnen, ein paarmal zwanzigtausend Stunden; dann würde es für ewig keine Möglichkeit mehr zu leben geben. Und anstatt dieses schäbige Geschenk der Stunden und Tage mit jedem nur möglichen Erleben, jeder nur möglichen Anstrengung und Leistung auszufüllen, saß sie hier zusammengedrängt in einer Zauberbüchsenatmosphäre, in der man unmöglich etwas leisten konnte. Niemand ...

Christina Alberta kam sich wie eine Motte vor, die man unter einem Glas gefangen hat. Gut, für einen oder zwei Tage hatte sie eine Entschuldigung; klein Vati mußte sich eingewöhnen. Aber dann? Hier hatte sie nichts zu suchen. Nicht Freude noch Trauer, nicht Sünde noch schöpferische Tätigkeit – denn sogar die Strickerei des Fräulein Solbé wurde nach einem Muster angefertigt, das auf einem schmutzigen, zerfetzten Zeitungspapier vorgezeichnet war. Alles, womit die Leute sich hier beschäftigten, war nichts als eine Ausflucht. Alles! Auch die leise geflüsterten, zarten Anspielungen auf die diuretischen, dyspeptischen, aufregenden und sinnlich aufreizenden Wirkungen von Birma-Curry auf Major Bone in seinen jüngeren Tagen, die jetzt von seiner guten Ehehälfte ihren gespannten Zuhörerinnen zum besten gegeben wurden, waren nichts als ein Ersatz erborgten Wissens für Selbsterlebtes.

Und diese Patience! Würde sie, so fragte sich Christina Alberta, würde sie jemals in die Lage kommen, in einer Pension Patiencen zu legen? War es glaublich, daß auch sie sich eines Tages entschließen würde, freiwillig in einer solchen Atmosphäre zu sitzen?

‹Lieber Streichhölzer im Rinnstein verkaufen›, flüsterte Christina Alberta.

Was für ein wunderbares Wesen ist doch der Mensch! Wie viel Geist hat er! Welche Kräfte und Fähigkeiten! Er erfindet Papier und vervollkommnet den Druck. Er entdeckt die höchst wundervollen Methoden des Farbendrucks. Er macht Kartenblätter gleich Seide und Elfenbein aus Lumpen und Pflanzenmark. Und doch wollte es ganz so scheinen, als ob diese menschlichen Wesen, die für eine kurze Zeitspanne zwischen der Nichtigkeit vor dem Tode und der Nichtigkeit nach dem Tode im Leben hängen, lange Stunden mit einem läppischen Kampfe gegen die Permutationen zweier Kartenspiele von je viermal verschieden bemalten Dreizehnern vertändeln müßten. Das Wunder der Karten! Überall, in der ganzen Welt haben Millionen Menschen, die immer näher und näher an den Tod und das Nichts heranrückten, die Chancen von viermal dreizehn Karten verfolgt. Bridge, Whist, Nap und Skat und wie die Spiele alle heißen mögen. Sobald sie nur aus der Nässe und Finsternis nach Hause kamen, setzten sie sich zu diesem Zeug nieder, zu den Karten, die unter der stillen Lampe glänzten, um endlos überrascht, entzückt, ungehalten oder verzagt zu sein über Chancen, die jedermann, der sich nur dazu hinzusetzen Lust hätte, in einer Woche berechnen und in Tabellen bringen könnte.

»Geht sie aus, Liebe?« fragte das jüngere Fräulein Solbé.

»Die Piks sind heute abend verhext«, sagte Fräulein Solbé mit den Gläsern.

»Meine geht ziemlich gut«, sagte die Tochter des Herrn mit dem Backenbart.

»Spielt Ihre Tochter ‹ Fräulein Milligan›?« fragte die jüngere Schwester Solbé.

»‹ Acht Achter›«, sagte die gemütliche Frau. »‹ Fräulein Milligan› ist ihr zu schwer.«

»Ja, das ist ein Biest, wahrhaftig«, sagte die Stieftochter. »Man weiß nie, wie man eigentlich daran ist.«

»Patience ist Patience«, sagte das ältere Fräulein Solbé. »Heutzutage geht es mir oft aus. Aber nicht, wenn die Piks kommen, wie heute abend, beide Zweier in der obersten Reihe, und kein As bis zur vorletzten Runde.«

Christina Alberta dachte, es sei nun Zeit, vom ‹Sketch› auf den ‹Tatler› überzugehen. Sie versuchte dies mit sorgloser Leichtigkeit zu tun und warf dabei ein Dutzend Zeitungen auf den Boden. »O verdammt!« sagte Christina Alberta inmitten einer großen Stille. Sie hatte Mühe, die verstreuten Blätter wieder aufzulesen und an ihren Platz zurückzulegen. Eine Zeitlang schien sie jeder zu beobachten. Dann nahm Frau Bone wieder das Gespräch auf.

»Und Sie können sich keine Begriffe machen von ihrer Widerspenstigkeit«, sagte sie. »Sie stellen sich absichtlich dumm. Wenn man ihnen etwas zeigt, nicht einmal dann wollen sie es tun. Ich nahm mir meinen Küchenjungen eine Zeitlang in die Lehre – Junge nenn' ich ihn, aber er war ein Mann im besten Alter – und ich sagte zu ihm: ‹Ich will Ihnen einmal ein bißchen einfache englische Küche zeigen, ein gekochtes Huhn mit schöner weißer Tunke, ein paar einfache Kartoffeln und Gemüse – ganz einfach, mit dem natürlichen Wohlgeschmack daran – die Art Essen, die die wackeren jungen Engländer aufbaut, die Sie sehen.› Natürlich bin ich selber keine gute Köchin, aber trotzdem verstand ich mehr von englischer Küche als er. Aber wir kamen nie weiter als bis zu dem einfach gekochten Huhn. Er gab seiner heftigsten Mißbilligung – wirklich heftig meine ich – des ganzen Verfahrens Ausdruck. Wie ich die Dinge in die Hand nahm und zu hantieren begann, fing er an, sich auf ganz ungewöhnliche Weise zu benehmen. Er versuchte dem, was ich tat, nicht zu folgen. Versuchte, es nicht zu tun. Er sagte, wenn er ein Huhn in dieser Weise kochte, würde er aus seiner Kaste ausgeschlossen werden, seine Stellung in der Gilde der Köche des Ortes verlieren und für immer entehrt und ausgestoßen sein. Warum, das wollte er nicht sagen. Als ich auf meiner Frage bestand, rannte er wild hin und her, indem er sich sein schwarzes Haar raufte – ein schwarzer Wahnsinniger mit fürchterlich rollenden Augen. Ich konnte niemals herausbekommen, was wohl an einem einfach gekochten Huhn daran sein mochte, um so eine Aufregung zu verursachen. ‹Und das in meiner Küche›, sagte er. ‹Das in meiner Küche!›

Da stand ich nun und kochte ruhig mein Huhn weiter, während dieser ganze Wirbel vor sich ging. Er stand da, ohne was zu tun. Er redete – zum Glück in seiner eigenen Sprache. Ich ertappte ihn sogar dabei, wie er hinter meinem Rücken so tat, als müßte er sich erbrechen. Dann wieder kam er und flehte mich an, aufzuhören – mit Tränen in seinen großen braunen Augen. Er versuchte, etwas auf englisch zu sagen. Der Major behauptet zwar immer, daß er einfach geflucht habe, aber ich glaube, der arme Teufel meinte wirklich, daß er, wenn er ein Huhn in der einfachen, bekömmlichen, vernünftigen Weise kochen müßte, wie es nette Leute in England täglich tun, dafür in der Luft aufgehängt werden würde und die großen Häher von Birma kommen und ihn pecken würden – hm!«

Sie warf einen Seitenblick auf Christina Alberta, die offensichtlich in ihren ‹Sketch› vertieft war, und ließ ihre Stimme sinken.

»Ihn in seine Eingeweide pecken würden, in seine Innereien, wissen Sie, durch tausend und aber tausend Jahre.«

Große Sensation.

»Man kann nie wissen, was für Ideen Östliche haben«, sagte das jüngere Fräulein Solbé. »Osten ist Osten, und Westen ist Westen.«

Doch nun ward Christina Albertas Aufmerksamkeit durch eine Reihe anderer Phänomene abgelenkt. Sie hatte entdeckt, daß der dünne, glatzköpfige Herr mit dem Backenbart zwar steif hinter seiner ‹Times› saß, aber keineswegs in diesem interessanten Überbleibsel der britischen Verfassung wirklich las. Sein Blick war nicht auf den Rand seines Blattes geheftet, sondern darüber hinaus. Er starrte aus seinem Hinterhalt über seine Gläser hinweg mit kaltem, hartem Blick, ohne Leidenschaft oder Bewunderung, auf den oberen Teil von Christina Albertas schwarz-bestrumpften Beinen, dort wo sie ihre letzte Herausforderung an die menschliche Kritik richteten, bevor sie unter dem allzukurzen, doch äußerst bequemen Kittel verschwanden. Ebenso konnte sie wahrnehmen, wie eine verstohlene, aber scharfe Musterung ihres Bubikopfes die Patience der Tochter des backenbärtigen Herren sehr bedenklich in Unordnung brachte, und daß ebenderselbe Kopf das ältere Fräulein Solbé am Legen einer zweiten, anders gearteten Patience hinderte. Und plötzlich fühlte Christina Alberta zu ihrem größten Ärger, wie ihr die Röte des Unwillens in die Wangen stieg und ein streitlustiges Prickeln das Rückgrat ihres kleinen aufrechten Körpers hinunterlief. ‹Warum zum Teufel,› fragte sich Fräulein Preemby, ‹warum, zum Teufel noch einmal, sollte sich ein Mädel nicht die Haare schneiden, um sich Mühe und Schererei zu ersparen, und Kleider tragen, in denen sie ordentlich gehen kann? Auf jeden Fall ist ein Schopf gut gewaschenen Haares zehnmal besser als dieses kraftlose, zwecklose Einflechten von Zöpfen, Stirnfransen, Strähnchen und Endchen. Und seine Beine und seinen Körper zeigen: warum sollte man nicht seine Beine und seinen Körper zeigen? Das ist auch ein Teil der allgemeinen Lebensflucht dieser Leute, daß sie ihren Körper verborgen halten, in eine Art Bündel zusammenschnüren. Wagen sie jemals, sich selbst anzuschauen? Diese Fräulein Solbé müssen einmal reizende kleine Mädel gewesen sein, mit regem Interesse für ihre kleinen Stelzenbeine, bevor sie gelernt hatten, husch! zu sagen und sie zu verstecken.›

Christina Albertas spekulative Ader kam eine Zeitlang zum Vorschein. Was wird aus Beinen, die man versteckt hat, die niemals angeschaut und ermutigt werden? Werden sie bleichsüchtig und unwohl, totenblaß und seltsam geformt und lichtscheu? Und nachdem ihr euren Körper wirklich weggepackt und vergessen habt, bleibt nichts mehr von euch übrig als ein herausstehender Kopf und herumfuchtelnde Hände, und Füße mit vertretenen, mißgestalteten Zehen; dann geht ihr zwischen zwei Mahlzeiten herum und macht kleine Ausflüge in Char-à-bancs, um zu sehen, was jedermann sieht, und zu fühlen, was jedermann fühlt, ihr spielt nach Regel und Beispiel entsprechend eurem Alter und eurer Kraft Spiele, und verfallt immer mehr der Patience, bis ihr endlich so weit seid, zum allerletztenmal im Bett die Decke über euch zu ziehen und zu sterben. Flucht vor dem Leben! Und das Aufheben, das sie gemacht hatten, um geboren zu werden! Das Aufheben, die Sittenstrenge und Heiraterei und alles andere, das notwendig gewesen war, bevor diese hohlen Lebewesen gezeugt werden konnten!

Doch das alles war Ausflucht, und das Leben, das man da in diesen ‹Tatlers› und ‹Sketches› zu sehen bekam, war genau dieselbe Ausflucht. Genau dieselbe. Alle diese Photographien von bestrickenden Schönheiten, käuflichen Schauspielerinnen und Töchtern, die verkauft werden mußten, schauten den Betrachter mit derselben Frage in den Augen an, die er selbst sich immer wieder stellte: ‹Ist das das Leben?› Die nicht enden wollenden Photographien der Diana, Edlen von hier, und der Margret, Edlen von dort, des Herrn Soundso und eines Freundes des Herzogs von York oder der Herzogin von Shonts, bei einer Hundeschau, bei einer Pferdeschau, bei Wettrennen, bei königlichen Zeremonien und dergleichen, zeigten allesamt Menschen, die, von hartnäckigen Zweifeln erfüllt, immer wieder einer Bestätigung ihres Wertes bedurften. Die Photographien von Leuten, die Tennis und dergleichen Spiele spielten, waren zwar lebendiger, aber auch hier gab es, wenn man sich nur die Mühe nahm hinzusehen, Ausflüchte. Ausflüchte. Ausflüchte.

Christina Alberta blätterte die letzten Seiten des ‹Sketch› um, ohne die Bilder vor ihren Augen zu sehen.

Was war dieses ‹Leben›, dem sie und diese Leute da durch Spiele und Witze, Zusammenkünfte und Zeremonien zu entfliehen suchten? Von dem keiner etwas wissen wollte, vor dem jeder sich versteckte? Was war das Große da draußen, dieses Etwas, das gleich einem riesigen, schrecklichen, anziehenden und zwingenden schwarzen Ungeheuer, hoch über dem Licht, über den Bewegungen und Erscheinungen, nach ihr rief und sie aufforderte, zu kommen?

Der eine mag seinem Rufe vielleicht entfliehen, indem er Patiencen legt und Spiele spielt. Der andre, indem er nach Gesetz oder Gewohnheit lebt. Die Leute schienen das zu tun. Es konnte ja eine Zeit kommen, da der Ruf an Christina Alberta, bis zum alleräußersten Christina Alberta zu sein und ihre mysteriöse Mission gegenüber diesem ungeheuren Wesen über dem Lichte zu erfüllen, ihr Leben nicht länger beunruhigen mochte. Sie hatte geglaubt, sich durch eine gewisse Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit gegen sich selbst ihren Weg dem Rufe gemäß durchfechten zu können. Sie hatte sich nun mit der Liebe eingelassen. Dem war sie also jedenfalls nicht ausgewichen. Aber – bedeutete es so viel, wie sie geglaubt hatte? Sie und ihre Freundinnen hatten in einer Welt, in der Dr. Maria Stopes und Herr D.H. Lawrence Zwillingssterne waren, die Liebe zum Gegenstande verzweifelter Spiele gemacht; aber man ging durch das Spiel hindurch und kam beinahe ebenso wieder daraus hervor wie man gewesen war. Ruheloser vielleicht, aber um nichts weiter. Man blieb, wo man vorher gestanden hatte, schwarze Finsternis vor einem, und den mysteriösen, qualvollen, nicht zu beantwortenden Ruf im Herzen, einmal herauszukommen aus dem allen und wirklich zu leben, zu sterben.

Sie hatte sich mit der Liebe eingelassen ... Sonderbar war das gewesen ...

Diese hinterlistigen Leute beobachteten und beobachteten sie, lasen vielleicht ihre Gedanken, durchschauten sie ... Mit einigem Geräusch klappte Christina Alberta das Heft des ‹Sketch› zu und schritt mit heiterer Miene aus dem Saale. Sie schloß die Türe hinter sich und ging hinunter, um nachzusehen, wie es ihrem Vater im Rauchsalon ergangen war.

‹Den besten Teil des Gespräches laß ich hinter mir›, dachte sich Christina Alberta.

6

Sie fand ihren Vater und den Herrn aus den Wäldern von Birma im Gespräch; sie hatten sich, nach einem sehr langwierigen und brillanten Wetth'rrmpen, für eine Unterhaltung entschieden. Doch war diese unglücklicherweise nicht für Christina Alberta geeignet.

»Siam, Kambodscha, Tongking, das ganze Land ist voll von solchen Tempeln. Die Leute führen einen hin und zeigen sie einem.«

»Wunderbar«, sagte Herr Preemby. »Wunderbar. Und Sie glauben nicht, daß die Eingravierungen, von denen Sie sprechen –? Irgendeine tiefere Symbolik?«

Beide Herren bemerkten Christina Alberta, die zögernd wartete.

»Symbolik,« sagte der waldige Herr, »Symbolik«, und hatte verwickelte Schwierigkeiten mit seinem Schlund. »Heidnische Unanständigkeit. Schwierig zu besprechen ... Gegenwart junger Dame ... H'rrmp.«

»H'rrmp«, sagte Herr Preemby. »Bist du herunter gekommen, um mir gute Nacht zu sagen, Liebe? Wir sind gerade bei einem ziemlich – ziemlich technischen Gespräch.«

»Es hört sich so an, Vati«, sagte Christina Alberta, ging um seinen Stuhl herum und setzte sich für kurze Zeit auf die Armlehne desselben.

»Gute Nacht, kleiner Vati«, sagte sie.

Ein Augenblick der Beschaulichkeit.

»Ich denke, dieses Tumbridge wird mir noch gefallen«, sagte Herr Preemby.

»Hoffentlich, du kleiner Vati. Gute Nacht.«

7

Christina Albertas erster Abend in der Pension ‹Petunia› ist mit einiger Ausführlichkeit geschildert worden, weil er als Muster für alle die stillen und ereignislosen Abende gelten kann, die hier vor Herrn Preemby zu liegen schienen. Er machte auf sie den Eindruck einer unermeßlichen Zeitspanne von Ereignislosigkeit, in der ihm begreiflicherweise nichts Schlimmes oder Beunruhigendes zustoßen konnte. Die letzte entfernte Möglichkeit einer vorstellbaren Beunruhigung schien am nächsten Tage von selbst zu verschwinden, als Frau Major Bone der Gattin des backenbärtigen Herrn ankündigte, daß sie und ihr Mann morgen nach Bath wollten; sie hatten Glück gehabt, schien es; sie hatten für den Winter genau die Zimmer in genau der Pension bekommen, die sie schon immer im Auge gehabt hatten. »Tunbridge sieht so öde aus«, sagte sie. »Nach Birma.«

Das Abendessen war wie das vorhergehende: die ‹Zugvögel› waren fort, und Herr Preemby überraschte sich selbst, Christina Alberta, die pausbackige Magd und die versammelte Gesellschaft, indem er fragte, ob man nicht (h'rrmp) eine Flasche oder einen Krug Chianti holen lassen könnte. »Es ist ein italienischer Wein«, setzte Herr Preemby erklärend hinzu, um dem pausbackigen Mädchen bei ihren Nachforschungen zu helfen. Doch gab es auf der vorhandenen Weinliste keinen Chianti, und nach einer Unterhaltung, die deutlich an jene der ‹Zugvögel› von gestern abend erinnerte, wurde der Preembytisch mit einer Flasche australischen Burgunders und, auf Christina Albertas Verlangen, mit einer Flasche Mineralwassers versorgt.

Nachdem Herr Preemby also Initiative, Selbstsicherheit und gesellschaftliche Unabhängigkeit an den Tag gelegt hatte, tat er für den Rest der Mahlzeit nicht viel anderes als h'rrmpen.

Das folgende Leben im Salon war auch dem des vorhergehenden Abends ziemlich ähnlich. Christina Alberta rauchte ihre wahrscheinlich unerlaubte Zigarette im Sitzzimmer – in Wirklichkeit waren es zwei – und Fräulein Margarete Rewster guckte ihr durch den Perlenvorhang in der Nähe des Büros zu, und Fräulein Emilie schnüffelte von dem Treppenabsatz oben, obgleich nichts gesagt wurde. Dann folgte Herr Preemby dem Herrn Major Bone in den Rauchsalon nach, um weitere Aufklärungen über die Tempelverzierungen und religiösen Gebräuche der Völker in Hinterindien zu erhalten. Er neigte zu der Ansicht, daß Major Bone von evangelischen Vorurteilen ziemlich beeinflußt sei. Aber Major Bone war heute abend über die Religionen des Ostens nicht einmal ungehalten. Er wünschte über Bath zu sprechen, und er sprach über Bath. Er erzählte Herrn Preemby mit ausführlichen Einzelheiten von einem merkwürdigen Vorfall in Bath. Er hatte dort einen Herrn namens Bone getroffen, einen Herrn von beinahe gleichem Alter und Aussehen, einen Kapitän Bone, der ebenfalls einst in Birma gewesen war. Er wiederholte verschiedene äußerst dramatische Zwiegespräche zwischen sich und dem andern Bone bis ins kleinste Detail, wobei er gelegentlich zurückgriff und sich verbesserte. Sie hatten eine äußerst sorgfältige Vergleichung ihrer Genealogien angestellt, doch es zeigte sich nicht die geringste auch nur entfernte Verwandtschaft zwischen ihnen. »Das merkwürdigste Zusammentreffen, das ich jemals hatte«, sagte Major Bone. »In Bath. Neunzehnhundertneun.«

Im Salon herrschte Patience vor, und Frau Bone erzählte von Bath. Die freundliche Frau des backenbärtigen Herrn sagte ganz unerwartet »Guten Abend« zu Christina Alberta.

»Oh! Guten Abend«, sagte Christina Alberta.

»Haben Sie heute einen Spaziergang gemacht?«

»Wir haben uns den Toad Rock angeschaut, den High Rock und den Eridge-Park.«

»Ein ganz schöner Spaziergang«, sagte die freundliche Dame und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder Frau Bone. Christina Alberta entnahm daraus, daß sie bereits bemerkt, aber noch nicht verwöhnt werden durfte.

Es blieb nichts anderes übrig, als wiederum die ‹Tatlers› und ‹Sketches› durchzublättern. Diesmal war sie mit den Bildern fertig, doch gab es da noch Bücherrezensionen und eine oder zwei kurze Geschichten. Christina Alberta las sie alle.

Als sie ihrem Vati gute Nacht sagen ging, hatte sie einen Entschluß gefaßt. »Vati,« sagte sie, »am Donnerstag, das ist übermorgen, muß ich nach London zurück. Es fangen einige Vorlesungen an.«

Herr Preemby erhob keinen wesentlichen Einspruch.

Der dritte Abend zeigte dieselbe Miene wie der zweite, nur daß die Bones fort waren und Christina Alberta von dem Gedanken getragen wurde, daß sie am nächsten Tage aus der leeren Öde Tunbridges in die verwickelten Rätsel Londons kommen würde. Auch war ein neuer ‹Zugvogel› da, ein unordentlicher Jüngling, Studententyp, mit einem Wust von Haaren, die halb und halb von Pomade im Zaum gehalten wurden; sein Motorrad war gerade vor Tunbridge Wells zusammengebrochen. Er wohnte irgendwo weit im Norden, schien es, in Northumberland; nun mußte er zwei oder drei Tage in Tunbridge warten, bis einige zerbrochene Teile seines Motors von Coventry aus ersetzt wurden; er hatte seine Zuflucht zur Pension ‹Petunia› genommen, und das war ein rechtes Unglück für ihn. Er konnte sich nicht einmal die Fahrt nach London leisten, er mußte in Tunbridge sitzen bleiben. Er war ein Nichtgraduierter aus Cambridge, ein Geologiestudent; er führte eine Tasche mit Gesteinproben auf seinem Fahrzeug mit sich. Diese Tatsachen teilte er Herrn Preemby im Verlauf einer ziemlich einseitig geführten Unterhaltung über die ganze Breite des Zimmers hinüber mit.

Von Anfang an konnte Christina Alberta diesen jungen Herrn aus Cambridge nicht leiden. Er glich einem jüngeren, roheren Teddy Winterton, mit unverschämt schlechten Manieren anstelle von unverschämt guten, und besaß weder körperliche Grazie noch ein hübsches Gesicht. Und während er zu Herrn Preemby sprach, schielte er nach ihr hinüber. Sie hatte jedoch nicht die geringste Ahnung davon, was für eine Rolle er in dem Leben ihres Vatis und in ihrem eigenen spielen sollte.

Als sie und ihr Vati zum Kaffee und zu ihrer Zigarette in das Sitzzimmer gingen, kam der junge Mann, setzte sich an einen anstoßenden Tisch und begann die Unterhaltung fortzusetzen. War Tunbridge Wells ein unterhaltsamer Ort? Gab es eine Aussicht für ihn, hier Golf oder Tennis zu spielen?

»Es gibt eine Anzahl herrlicher Spaziergänge«, sagte Herr Preemby.

»Das macht nicht viel Spaß – allein«, sagte der junge Mann.

»Man hat doch die Freude am Beobachten«, sagte Herr Preemby.

»Diese ganze Gegend ist doch schon ziemlich durchforscht worden«, sagte der junge Mann der Wissenschaft. »Gibt es ein Museum hier?«

Herr Preemby wußte es nicht.

»In jeder Stadt sollte es ein Museum geben.«

Bald waren der Kaffee und die Zigarette beendet. An diesem Abend war Herr Preemby für den Salon. Major Bone war fort, der Rauchsalon hatte seine Anziehungskraft verloren, und Herr Preemby hatte ein paar liebenswürdige Worte mit dem Herrn im Backenbart gewechselt und hoffte nun, sie fortsetzen zu können. Christina Alberta ging mit ihm. Als sie der alten ‹Tatlers› und ‹Sketches› ansichtig wurde, erinnerte sie sich, daß sie am Vormittage ein Buch gekauft hatte, eine antiquarische Ausgabe von Rousseaus ‹Confessions›. Sie ging, um es zu holen. Sie fand den jungen Herrn aus Cambridge noch im Sitzzimmer, Zigaretten rauchend.

»Recht langweilig hier«, sagte er.

»Ich weiß nicht«, sagte Christina Alberta unbefangen, indem sie vor ihm stehenblieb.

»Nichts Rechtes los – was?«

»Es ist doch kein ‹Gala-Abend›.«

»Ich bin gestrandet.«

»Sie müssen eben durchhalten.«

»Hätten Sie nicht Lust, ein wenig spazieren zu gehen und nach Unterhaltung auszulugen?« sagte der junge Mann aus Cambridge, seinen Mut zusammenraffend.

»Tut mir leid«, sagte Christina Alberta entschieden und wandte sich, um zu gehen.

»Ich habe Sie doch nicht beleidigt?« fragte der junge Mann aus Cambridge.

»Im Gegenteil! Es ist freundlich von Ihnen, mich aufzufordern«, sagte Christina Alberta, die lieber für äußerst unverschämt gehalten werden wollte, als für auch nur im geringsten prüde. »Gute Jagd.«

Und der junge Mann aus Cambridge fühlte, daß er entlassen war.

Christina Alberta kehrte in den Salon zurück, um eine neue schreckliche Runde in diesem Tanz des Nichts mitzumachen. Doch hatte sie jetzt Rousseau zu lesen, und morgen würde sie in London sein.

Rousseau ... Sie wollte schon immer wissen, wie sie zu Rousseau stehe.

Er fesselte sie bis zehn Uhr. Doch hielt sie nicht viel von Rousseau. Er hätte einige von den Mädeln im ‹New Hope Club› kennen sollen. Die würden es ihm schon gezeigt haben.

8

Drei Wochen lang kehrte Christina Alberta nicht nach Tunbridge Wells zurück, und als sie es tat, war sie durch eine Reihe mannigfaltiger Erfahrungen gegangen, die ihre gehörige Wirkung auf den Verlauf dieser Erzählung ausüben werden. Dies ist die Geschichte von Herrn Preemby, und wir haben keine besondere Sympathie für jene moderne Art von Romanen, die einem jungen Mädchen bis in seine privatesten und intimsten Angelegenheiten nachspüren. Christina Alberta war oft verstört und bekümmert und würde es gehaßt haben, von einem solchen Scheinwerfer verfolgt zu werden. Der Leser begnüge sich mit der Feststellung, daß ihr Leben in diesen drei Wochen sehr ereignisreich gewesen war, so daß sie ganze lange Tage kaum überhaupt an ihren vielleicht völlig einsamen kleinen Vati in Tunbridge Wells dachte. Dann kam ein Brief, der sie hastig dorthin eilen machte.

‹Ich halte es nur für recht und billig, Dir zu sagen,› so lautete der Brief, ‹daß mir äußerst wichtige Mitteilungen zuteil geworden sind, Mitteilungen von der allergrößten Wichtigkeit, und daß ich Dir davon erzählen sollte. Sie scheinen unser aller Leben zu ändern. Ich weiß, daß Du in Deine Studien vertieft bist, aber diese Mitteilungen sind von solcher Wichtigkeit, daß ich sie baldigst mit Dir besprechen muß. Ich würde in das Atelier nach London kommen, um Dir alles zu erzählen, aber höchstwahrscheinlich würde Herr Crumb zu Hause sein, und deshalb möchte ich es Dir lieber im Stadtpark inmitten einer mehr harmonierenden Umgebung erzählen. Manches davon wirst du beinahe unglaubhaft finden.›

‹Mitteilungen?› sagte Christina Alberta, indem sie den Brief noch einmal überlas. ‹Mitteilungen?›

Am selben Nachmittage fuhr sie nach Tunbridge Wells.


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