Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In einem früheren Kapitel ist gesagt worden, daß Herr Preemby nach dem Tode seiner Frau einem Samenkorn glich, welches keimt und Erstaunliches aus sich hervortreibt. Eine neue Phase in dieser verspäteten Keimung begann, als er neben dem Polizisten, der ihn gefangen genommen hatte, durch die Straßen von London schritt. Wäre die Geschichte Herrn Preemby passiert, als er noch Herr Preemby war, so wäre sie für ihn bloß ein entsetzlicher und schmählicher Schrecken gewesen, ein unerträgliches Erlebnis, das man bereuen, über das man hinwegzukommen und das man zu verheimlichen suchen und, wenn möglich, aus dem Gedächtnis streichen muß. Wäre es dagegen in den frühen Tagen der Träumereien Sargons passiert, so hätte es Gelegenheit zu einer ungeheuer dramatischen Improvisation geboten. Er würde an die Wirkung, die es auf die Zuschauer und Vorübergehenden ausübe, gedacht, würde posiert und gestikuliert und tiefe, denkwürdige Worte gesprochen haben. Doch eine Kraft des Wachstums war nun über ihn gekommen, und er unternahm nichts dergleichen. Weder vor der Welt draußen noch vor sich selbst im Innern posierte er jetzt. Fast zum erstenmal in seinem Leben schaute er unmittelbar auf sich selbst und das, was er getan hatte und was ihm begegnet war. Und er war so voll des Staunens ob dieser schließlichen Entdeckung der Wirklichkeit, daß er das ganze ungeheure Gerüst des falschen Scheins, der eingebildeten Zwiegespräche und der absichtlichen Selbsttäuschung vergaß, an welchem er bis zu dieser neuen Phase klaren Schauens hinaufgeklettert war. Ruhig schritt er durch die erleuchteten Straßen, und nur der scharfe Beobachter konnte merken, daß er unter Aufsicht ging und der Polizist im Dienst war; den Übrigen mochte er als irgendein zufälliger Genosse eines heimgehenden Polizisten erscheinen.
Ein Gedanke hatte sich in diesem neuerwachten Geiste zu außergewöhnlicher Kraft und Klarheit durchgerungen, der Gedanke nämlich, daß er nicht jener Albert Eduard Preemby, als der er sein Leben begonnen hatte, sei und es niemals wieder sein wollte. Er war ein Wesen, das Sargon hieß. Im Grunde war es gleichgültig, wie er hieß, aber für seine gegenwärtigen Zwecke mußte er sich jedenfalls Sargon, Sargon der großmächtige König, nennen. Die ersten deutlichen Visionen Sumeriens und seines alten Ruhmes waren nun in den Hintergrund getreten. Er hatte den Glauben an sie keineswegs verloren, aber sie bedeuteten ihm nur mehr Altertumsgeschichte: sogar die Offenbarung in der Pension schien sehr weit zurückzuliegen. Seine Gedanken waren in der vergangenen Woche über weite Strecken hin gereist und hatten vieles in sich aufgenommen. Die Aussicht auf unmittelbaren, sensationellen Glanz war grausam erschüttert worden. Die ‹Macht›, die ihn berufen, hatte ihn schwer enttäuscht, aber nicht überwältigt. Er wußte ganz genau, daß er Sargon sein mußte, Sargon, der nicht für sich selbst, sondern für die ganze Welt lebt, und daß davon abzugehen oder es zu verleugnen nichts anderes bedeuten würde, als völlig zugrunde zu gehen. Es war ihm nicht notwendig erschienen, seinen eigenen Glauben zu prüfen, aber die ‹Macht› hatte offenbar beschlossen, das zu tun. Und augenscheinlich sollte er erst eine harte Vorbereitung durchmachen, ehe er in sein Reich einging. Er sollte wissen, was Gefängnis war, und einer Gerichtsverhandlung standhalten können. Gewiß würde man von ihm verlangen, daß er sich verleugne.
Was mußte er sagen? Ich bin nicht der – ich bin nicht der – für den ihr mich haltet. Er murmelte es vor sich hin.
»Was sagen Sie?« fragte der Polizist.
»Nichts. Ist es noch weit?« fragte Sargon.
Es war gleich um die Ecke. Sargon fand sich in einem kleinen, nüchternen Raum, von einem halben Dutzend ganz liebenswürdiger, aber nicht sehr ehrfurchtsvoller Männer in Uniform umgeben. Er wurde von einem, der an einem Tische saß, um Namen und Adresse gefragt. »Sargon«, sagte er. »Sargon der Erste.«
»Kein Taufname?«
»Ich bin nicht getauft«, sagte Sargon.
»Kein Vorname, meine ich«, sagte der Fragesteller.
»Nein.«
»Und die Adresse?«
»Gegenwärtig keine.«
Sargon antwortete nicht.
»Der gehört in die Giffordstraße«, sagte eine Stimme hinter ihm.
»Gedächtnisschwäche oder so etwas«, meinte der Mann am Tisch.
»Auf jeden Fall gehört er in die Giffordstraße.«
Sargon dachte nach. »Was ist in der Giffordstraße?« fragte er.
»Ein Hospital. Wo Sie sich ausruhen können.«
»Aber ich wünsche einem Polizeirichter gegenübergestellt zu werden. Ich habe eine Botschaft. Ich bedarf weder der Ruhe noch der Pflege.«
»Über all das wird man Ihnen in der Giffordstraße Auskunft geben. Buxton, wollen Sie ihn hinüberbringen?«
»Aber ich fühle mich vollständig gesund! Warum sollte ich in ein Spital gehen?«
»So ist das immer«, sagte der sitzende Polizeimann und wandte seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu.
Komisch! Warum sollte es ein Spital sein? Die Art, wie ihn die ‹Macht› behandelte, war seltsam. Er hatte sich der ‹Macht› zu fügen; er hatte sich als Sargon zu behaupten. Immerhin, er hätte mehr Klarheit gewünscht.
Er war jetzt so sehr in sich versunken, daß er neben Konstabel Buxton einherging, ohne Straßen, Verkehr oder Vorübergehende zu bemerken. Bald kamen sie an ein Tor in einer hohen Mauer, innerhalb welcher Gebäude lagen. Darauf gelangten sie in eine kleine Amtsstube; dort schaute ihn ein großer, graugesichtiger Portier an und tauschte mit dem Konstabel murmelnd Erklärungen aus. Darauf gingen sie über einen weiten Hof und durch große Tore, bis sie in einen Gang kamen, wo eine leere Bahre und zwei oder drei Wärter in Uniform standen. Schließlich gelangten sie zu einem kleinen verglasten Büro, wo Sargon gebeten wurde, sich auf eine Bank an der Mauer zu setzen, während telephoniert wurde. Konstabel Buxton wartete müßig draußen auf dem Gange, als ob seine Aufgabe so ziemlich erledigt sei.
Ein kleiner helläugiger Mann in grauem Anzug kam und blickte Sargon an. Einige Augenblicke lang betrachteten sie einander schweigend. »Nun?« sagte der Mann im grauen Anzug.
»Mein Name ist Sargon. Ich weiß nicht, warum ich hierher gebracht worden bin. Wie ich höre, ist dies hier ein Spital. Ich bin nicht krank.«
»Sie können krank sein, ohne es zu wissen.«
»Nein.«
»Wir wollen Sie bloß kurze Zeit hier behalten, um Sie zu beobachten.«
Sargon zuckte die Achseln.
Ein riesengroßer Mann mit übermäßig breiten Schultern und einem großen, glattrasierten, äußerst selbstzufriedenen Gesicht erschien. Er hatte einen breiten, dünnlippigen Mund, hervorstehende graue Augen und stark geöltes, vollkommen niedergebürstetes rotes Haar mit einer ‹Armeelocke› auf der Stirn.
»Viel zu tun heute abend«, sagte er. »Das ist Nummer drei.«
»Hübsch voll also«, sagte der kleine Mann in Grau.
»Übervoll«, sagte Herr Jordan. »Man weiß nicht, wo einem der Kopf steht. Ist das er?« fragte er und zeigte auf Sargon, indem er seinen dicken Hals in Falten legte und einen Mundwinkel gegen ihn senkte.
»Dies«, sagte der kleine Mann in Grau zu Sargon, »ist Herr Jordan. Er wird Ihnen zeigen, wohin Sie zu gehen und was Sie zu tun haben.«
Sargon empfand vom ersten Augenblick an eine instinktive Abneigung gegen Herrn Jordan. Doch stand er gehorsam auf, da seine Vorstellung von der Unterwerfung unter die ‹Macht› diesem neuen Zwang irgendwie miteinzubegreifen schien. Herrn Jordans Stimme entwickelte eine flache, ölige, geheuchelte Liebenswürdigkeit. »Kommen Sie nur mit, mein Bester«, sagte er. »Wir wollen es Ihnen recht bequem machen, wenn Sie sich nur hübsch ruhig verhalten.«
Sie gingen um eine Ecke und eine trostlose steinerne Wendeltreppe hinauf; sie gelangten zu einem Treppenabsatz und zu einer Doppeltür mit eingesetzten Glasscheiben; diese öffnete sich auf einen riesig langen, dunklen Gang hinaus, der durch ein einziges fernes Licht erhellt war. Und da kam es Sargon mit einem Male zum Bewußtsein, daß die freie Welt mit ihren Straßen und Lichtern, ihren geschäftigen Menschen, ihren endlosen Zufällen und Ereignissen, jene lebendige Welt, in welche die ‹Macht› ihn gesandt hatte, bereits weit hinter ihm lag. Vor ihm aber lagen dunkle, enge, schreckliche Erlebnisse. Warum sollte er der Welt so willig den Rücken kehren, der Welt, die zu retten er gekommen war? Machte er nicht aufs neue einen Fehler? Er trat einen oder zwei Schritte von Jordan weg und stellte sich ihm gegenüber.
»Nein«, sagte er. »Ich gehe nicht weiter. Ich will nicht. Lassen Sie mich umkehren. Ich habe Jünger zu berufen und vieles zu tun.«
Das Vollmondgesicht Jordans verzog sich zu unglaublichem Staunen, das sich in Wut verwandelte. »Was?« fragte er.
Nach diesem ‹Was› ließ er eine fürchterliche Pause entstehen und fuhr dann sehr rasch fort: »Machen Sie hier keine Geschichten, Sie verteufelter alter Affe!« Mit einer raschen Bewegung hatte seine riesige, rohe, rote Hand Sargons Oberarm ergriffen. Seine dünnen Lippen öffneten sich und ließen die Zähne sehen; seine Augen traten aus den Höhlen. Er hatte nicht zugepackt, um Sargon festzuhalten, sondern um ihn zu kneifen, zu quetschen und ihm weh zu tun; er bohrte die Finger so zwischen Muskel und Knochen hinein, daß ihn Sargon mit aufgerissenen Augen anstarrte und gegen seinen Willen einen scharfen Schmerzensschrei ausstieß.
Der Griff ließ nach. Der akute Schmerz hörte auf, und bloß ein unbehagliches Gefühl blieb zurück. Das große Gesicht kam nahe an das Sargons heran. Es wurde offenbar, daß sich Herr Jordan an Käse und Kakao gütlich getan hatte. »Machen Sie hier nur ja keine Faxen, Sie alter Narr! Machen Sie in Teufels Namen keine Faxen! Was Ihnen auch im Kopf spuken mag, hier werden Sie kein Glück damit haben. Sie sind doch gescheit genug, zu verstehen, was ich sage. Ja? Also: Sie haben hier zu tun, was man Ihnen sagt. Genau, was man Ihnen sagt. Sie bemühen sich, mir jede Schererei zu ersparen, dann will ich mich ebenfalls bemühen. Aber wenn Sie mir mit Ihren Faxen kommen, dann helf Ihnen Gott.«
Und er packte Sargons Arm aufs neue.
»Verstanden?«
Die blauen Augen schienen zuzustimmen.
»Also vorwärts, verfluchter Kerl!« sagte Herr Jordan.
Verblüfft und bekümmert, aber noch nicht völlig niedergedrückt, wurde Sargon in einen nassen, unordentlichen Baderaum geführt, in welchem ein zerbrochener Stuhl, Wasserpfützen, große Spritzer an der Wand und einige zerknitterte Handtücher in der Ecke auf einen kürzlich stattgefundenen Kampf schließen ließen. Hier mußte er sich ausziehen, ein laues Bad nehmen, und wurde mit einem Handtuch, das bereits in Gebrauch gewesen war, abgetrocknet, in ein graues Nachthemd von zweifelhafter Sauberkeit und einen ganz gewiß schmutzigen grauen Schlafrock gesteckt, dann noch mit einem Paar abgetretener Hausschuhe, die ihm um zwei Nummern zu groß waren, versehen, und so ausgestattet, wurde er von Herrn Jordan, der jetzt durch seinen aufmerksamen Gehorsam etwas besänftigt war, in den Krankensaal geführt, in dem er die Nacht verbringen sollte.
Ein rothaariger Mann mit sehr hellen Augenwimpern erschien.
»Hier ist er, Herr Higgs«, sagte Jordan.
»Ich hab' sein Bett schon gemacht«, sagte Herr Higgs. »Wie viele kommen noch?«
»Scharen noch«, sagte Herr Jordan.
»Drei«, sagte Herr Higgs.
»Na«, sagte Herr Jordan. »Auf Wiedersehn.«
»Wiedersehn«, sagte Herr Higgs.
Keiner von beiden sprach den Herrn der Welt direkt an. Er hätte geradesogut ein Paket sein können, das von Hand zu Hand weitergegeben wurde.
Als Sargon den Beobachtungssaal des Giffordspitals betrat, erwachte in ihm von neuem und noch viel heftiger das Gefühl, daß die Welt und das Leben nunmehr weit hinter ihm lagen, weit hinter all den grauen Gängen, Korridoren, Stiegen, Treppen, Glasbüros, hohen Mauern und kleinen Türen. Niemals noch hatte er etwas so Leeres, Kahles und Freudloses gesehen wie diesen Raum. Ein herzloser, grauer, schmutziger Saal war es, mit grüngrau getünchten Wänden, die große Flecken aufwiesen. Er wurde durch ein paar nackte Lampen erhellt. Schwarze Nacht und eine trübbeleuchtete Ziegelmauer starrten durch vorhanglose Fenster herein. In der Mitte des Saales ließen hervorstehende Mauerreste erkennen, daß zwei einstige Räume in einen verwandelt worden waren. Der Fußboden bestand aus glatt gehobelten, kahlen Brettern. Am anderen Ende stand ein Tisch an der Wand mit zwei oder drei zerknitterten und zerrissenen illustrierten Zeitschriften darauf, nicht weit davon ein kalter Ofen. Die eine, der Türe zunächst gelegene Hälfte des Raumes wies auf jeder Seite eine Reihe eiserner Betten auf, zwanzig oder dreißig im ganzen. Ein fauler Geruch lag in der Luft, schwach aber doch unbeschreiblich widerwärtig, ein fäkaler Geruch, der mit schwerem Seifenduft vermischt war.
Selbst wenn er unbesetzt gewesen wäre, würde dieser kalte, große, übelriechende Raum Sargon sonderbar und ungastlich gedünkt haben. Denn Herr Preemby hatte immer, selbst in den Tagen seiner frühen Armut, behaglich gewohnt, hatte Teppiche unter den Füßen gehabt, wenn auch nur schäbige, und rings um sich eine Fülle von Möbeln, Bildern und Krimskrams. Hier in dieser herben Einfachheit aber schien die geschäftige, sammelnde, Heime schaffende Phantasie des Menschen niemals geweilt zu haben.
Jedoch die fremdartige, seelenlose Atmosphäre des Raumes war nur der erste, augenblickliche Eindruck auf Sargon. Ihm folgte eine viel lebhaftere und schrecklichere Wahrnehmung: daß dieser Raum nämlich von Wesen bewohnt war, die nur auf den ersten Blick hin Menschen schienen. Sah man genauer zu, so wurde es klar, daß sie keine wirklichen Menschen waren. Sie schauten bei seinem Eintritt nicht auf, wie es Menschen tun; einige wenige zeigten durch verrenkte, unnatürliche Bewegungen, daß sie ihn bemerkt hatten. Manche waren im Bett; andere waren in schäbige, unordentliche Kleider gehüllt und saßen entweder auf ihren Betten oder auf Stühlen, die im unteren Teil des Saales standen. Nur ein Individuum war in Bewegung: in einer entfernten Ecke des Saales schritt ein ernstblickender junger Mann, anscheinend nach einer festgesetzten Methode, in einem abgegrenzten Kreis hin und her. Ein anderer saß da und schien sich ein unaufhörlich wiederkehrendes Spinnengewebe durch eine unaufhörlich wiederholte Geste aus dem Gesicht streichen zu wollen. Zwei Männer saßen hinter dem Tisch an der Wand. Der eine von ihnen, ein fleischiger Lümmel mit rötlich glänzender Haut und gekräuseltem roten Haar auf der nackten Brust, machte heftige Bewegungen, bearbeitete den Tisch mit der sommersprossigen Faust und sprach mit einer Stimme, die sich bald hob, bald wieder senkte; von Zeit zu Zeit stieß er einen Fluch aus. Der andere, ein bleichsüchtiges, leichenblasses Individuum, schien in tiefste Verzweiflung versunken. In einem der Betten saß aufrecht ein Jüngling mit einem Schopf schwarzen Haars und einem Ausdruck blöder Selbstzufriedenheit, die sich mit dramatischer Plötzlichkeit in triumphierende Wut oder einschmeichelndes Gleißen verwandelte; er gestikulierte und rezitierte ein selbst erfundenes und nicht enden wollendes Gedicht – etwa in der Art von Browning. Es ging folgendermaßen:
‹Gott muß sie züchten
Und sie vernichten,
Sie mögen großtun, doch Gott wird sie richten,
Sie lichten.
Sie zu Asche verbrennen und zu Atomen,
Atomen!
Brennenden Atomen – wie Sterne. Ja?
Sterne im All und allüberall Licht.
Atomenfülle und Gott kann nicht zeigen sein Gesicht.
(Triumphierende Freude ob dieses Einfalls.)
Er
hat kein Gesicht.
Das ist's! Ja, das ist's, meine Jungens!
Hier irren Atheisten und Theologen.
Hier irrt einfach jedermann!
Und ich hab' ihnen zu sagen:
Es gibt einen Gott,
item einen, aber er hat kein Gesicht,
Also kann er auch nicht zeigen sein Gesicht.
Das ist der Haken daran.
Natürlich denkt jeder, er ist
non est,
Doch er
ist, so wahr ich geboren;
Zwar bin ich verloren,
Aber hab' doch gezeigt, wie es ist, trotz alldem,
Kein Gesicht – o! wie bequem!
Ich fand Gott in seiner riesigen Größe
Unmaskiert und ein bißchen böse.
Quod erat demonstrandum X. L ....›
»Dort ist Ihr Bett«, sagte Herr Higgs an Sargons Seite und schob ihn sachte.
Sargon bewegte sich etwas unwillig weiter, seine verwirrten Augen noch immer auf den Sprecher geheftet.
»Sie werden noch genug von ihm hören, bevor Sie wieder wegkommen, alter Knabe«, sagte Herr Higgs. »Hüpfen Sie jetzt in Ihr Bett.«
Der Arm des Herrn Higgs unterstützte Sargons natürliche Anlage zur Nachgiebigkeit. Er stieg ins Bett. Herr Higgs war ihm in rauher, brüderlicher Art behilflich. Doch noch ehe Sargon die Decke über sich gezogen hatte, nahm Herr Higgs, über die Schulter schielend, etwas wahr, was am andern Ende des Saales vor sich ging – Sargon konnte nicht sehen, was.
In einem Nu machte die heitere Gebietermiene des Herrn Higgs der Wut Platz. »Jaaps, du widerlicher alter Schmutzfink«, rief er. »Was treibst du wieder!«
Er lief sehr rasch den Saal hinunter. Sargon setzte sich im Bett auf, um zu sehen, was geschehen war. Drei oder vier andere Patienten taten das gleiche. Ein sehr schmutziger alter Mann mit einem jammervollen Gesicht, der auf einem Stuhle saß, wurde von Herrn Higgs gepackt, geschüttelt und mehrere Male heftig geschlagen. Darauf ging Herr Higgs fort und kehrte, noch immer Ermahnungen murmelnd, mit Eimer und Lappen zurück.
Denn Herrn Higgs oblag nicht nur die Pflege der Geistesgestörten, sondern aus ökonomischen Gründen auch die Reinigung des Krankensaales. In der Marine war er zu den Idealen fleckenlosen Glanzes erzogen worden, und er fegte besser, als er die Kranken pflegte.
»Legt euch nieder da!« schrie Herr Higgs, als er mit seinem Eimer wieder den Saal heraufkam. »Es geht euch gar nichts an.«
Der Herr der Welt legte sich nieder.
Es war äußerst uninteressant, die Zimmerdecke zu betrachten, bis auf einen Streifen gelblicher Flecken vielleicht, aber es war noch immer besser, eine Zeitlang die Decke anzustarren, als all die bedauernswerten Menschen ringsum zu beobachten. Sie waren bedauernswert und lenkten zugleich ab, während doch Sargon wußte, daß es dringend notwendig war, sich nicht ablenken zu lassen, sondern seine Lage aufs sorgfältigste zu überdenken, ehe ihm irgendetwas weiteres zustieß. Diese ganze Hetzjagd von aufeinanderfolgenden Ereignissen war so unerwartet gekommen, so widersinnig und ungestüm, seit er – vor ein paar Stunden – von der Kuppel der Sankt-Pauls-Kirche London überblickt und beschlossen hatte, die Herrschaft über die Welt nunmehr anzutreten, daß er jetzt sehr begreiflicherweise befürchtete, er könnte überwältigt werden. Wie heiter war doch jener nun so weit zurückliegende Blick auf London gewesen, das sich unter dem Bernsteinlichte des Sonnenscheins zwischen fernen blauen Hügeln und dem glitzernden Flusse ausgebreitet hatte, mit seinem dichten Gewirre von Schiffen und dem schwarzen Ameisengewimmel von Menschen. Von dort war er rasch, unvermeidlich in dieses widerhallende Gefängnis gekommen. Denn ein Gefängnis, das sah er, war es. Er wußte ganz gut, daß die Männer rings um ihn Geisteskranke waren und daß er als Irrsinniger hereingebracht worden war, er glaubte jedoch, daß das Beobachtungszimmer des Armenhauses, in dem er sich befand, schon die Irrenanstalt selbst sei. Selbst in seinen wildesten Phantasien hatte er sich niemals vorgestellt, daß ihn die ‹Macht über alle Dinge› so behandeln könnte. Die Möglichkeit eines kurzen Zwischenspiels im Gefängnis, einer strengen, doch öffentlichen und siegreichen Gerichtsverhandlung, hatte seine Gedanken beschäftigt; nicht aber, daß er von jeder Möglichkeit einer Berufung an das Gericht einfach abgeschnitten werden könnte. Er mußte sich seine Lage neu zurechtlegen, mußte entdecken, was dieses ungeheure Geschehen ihm zu zeigen und ihn zu lehren beabsichtige, und was er zu tun habe, um dieser sonderbaren Fügung zu begegnen.
Dies durchzuführen, war freilich keine leichte Aufgabe in einem Raume, in dem eine krächzende Stimme am entfernten Ende schmähliche Drohungen gegen den Saalwärter ausstieß, eine große Faust in plötzlichen Anfällen auf den Tisch schlug und in unmittelbarer Nähe die fließende, an- und abschwellende Rezitation jenes kosmischen Gedichts endlos fortlief, bald fast unhörbar – sodaß man sich anstrengte, die Worte zu erhaschen – bald wieder in hochgradiger Verzückung. Zeitweise war es nichts als unzusammenhängendes Gewäsch, und Sargon vermochte es dann fast gänzlich zu überhören und seinen eigenen Sorgen nachzuhängen; mitunter aber schwoll es zu etwas an, das sich einen Weg bis in seine innersten Gedanken erzwang, um sich mit ihnen zu vermengen.
‹Die alte Drecknatur, sie treibt uns mit Macht,
Sie peitscht uns und weint, und peitscht uns und lacht,
So geht es wieder zurück in die Nacht.
Geboren aus Nacht, und wiederum Nacht.
Jammer und Weh, Jammer und Weh,
Du kommst aus dem Dreck, zu Dreck drum vergeh'!
Hunger nach Dreck und dreckige Neigung,
Dreckig die Nahrung, dreckig die Zeugung.
Beschmier dich, bemal dich, trag dich wie ein Geck,
Setz' noch eine brave Miene drauf. Pah! – du bist Dreck.›
»Ist das nun wahr?« fragte sich Sargon. »Ist das wahr? Dreck? Was ist Dreck?« Aber nein! Er durfte sich nicht durch diesen Wahnsinn ablenken lassen! Worüber hatte er gerade nachgedacht? Er hatte sich gefragt, warum ihn die ‹Macht› an diesen schrecklichen Ort verstoßen hatte? Warum hatte ihn die ‹Macht› hieher gebracht? Wenn nur der Mann mit seiner Improvisation da eine kleine Weile aufhörte, würde es möglich sein, das zu Ende zu denken. Warum war er Jordan und Higgs ausgeliefert worden, um unter Wahnsinnigen zu leben, und – plötzliche phantastische Nebenfrage! – warum waren die andern hiehergekommen?
Wenn nur dieses Gedicht aufhören wollte! Wenn nur diese Stimme zum Schweigen käme! Es war jetzt bloß Schutt und Mist, als ob die Gedanken mit einer Pickhaue zerhackt, in Schotterwagen geladen und einen Abhang hinuntergeschüttet worden wären. Hör' ihm nicht zu, Sargon! Hör' ihm nicht zu! Besinne dich!
In seinem Eifer, sich zu konzentrieren, vergaß Sargon sogar Higgs. Er setzte sich im Bett auf, zog die Knie beinahe bis ans Kinn und dachte nach.
Er war Sargon; das war das Wesentliche. Er mußte Sargon bleiben. Wahrscheinlich war er an diesen Ort der Pein und Martern geschickt worden, weil zwischen der Tatsache, daß er Sargon war, und der Möglichkeit, daß er rückfällig, daß er wieder Preemby werden könnte, ein Widerstreit bestand. Die ‹Macht› hatte ihn berufen, Sargon zu sein, der ‹ganzen Welt› zu dienen, für sie zu leiden und zuletzt über sie zu herrschen, aber offenbar war es keine einfache, unmittelbare Berufung. Irgendetwas arbeitete dieser Bestimmung entgegen, eine ‹Anti-Macht›, der ‹Macht› entgegengesetzt, die versuchte, ihn wieder zu Preemby und zum Preembyismus zurückzuführen, dazu, klein zu sein und unbedeutend, ohne Lebensziel im Dunklen zu leben und so schließlich zu sterben und völlig tot zu sein. Dieser ‹Anti-Macht› war es gestattet worden, ihn hierher zu bringen, ihn zu schrecken und zu martern, ihm wahnsinnige Reime in die Ohren zu schreien, ihn mit eintöniger, beharrlicher Stimme zu bedrängen, ihm zu sagen, daß er Dreck sei, und daß Gott kein Gesicht habe. Doch diese Lästerungen waren ja nicht wahr. Die ‹Anti-Macht› mochte sagen, was ihr beliebte – wollte Gott, sie hielte einen Augenblick inne! – die Wahrheit lag doch außerhalb dieses Raumes, war größer als dieser Raum, umfaßte ihn ganz und gar. Er war Eines, Sargon war Eines, von Anfang an in Sumerien, in vielen Ländern und jetzt hier, ein Geist, der Herrscher, der dient; er war Eines, geradeso wie London Eines war, wenn man es von hoch oben ansah, endlos, vielfältig und doch zu einer einzigen Wesenheit geeint. Und so war die ganze Welt Eines. Preemby zu sein war genau so, als ob man ein armseliges kleines Hinterhaus dort unten wäre, das in der Gesamtheit untergeht. Niemals mehr konnte er Preemby sein, selbst wenn er es wollte. Daran mußte er festhalten. Sargon konnte er nur dann sein, wenn er Preemby verleugnete – und sollte er auch den Qualen des Todes ins Auge blicken müssen.
Die ganze Zeit jedoch beleidigte die ‹Anti-Macht› durch diesen verrückten Poeten und seine Rezitation das Leben und ihn. Der Mann war nun unter den Zauber eines faszinierenden, aber abscheulichen Wortes gefallen, wenn man so etwas überhaupt ein Wort nennen kann: ‹Tra-la-la.›
‹Tra-la-la. Tra-la-la.
Ist doch das Beste dran.
Weid' dich nur satt daran.
Tra-la-la. Tra-la-la.
Es verspotten Zeiten und Dichter
Fröhlich die Götter ohne Gesichter.
Tra-la-la Regen und Tra-la-la Sonnenschein.
Iß, trink und küß ins Leben hinein.
Tra-la-la. Tra-la-la.
Küß nur und küß ins Leben hinein.
Leben hinein!
Tra-la-la.›
Er belebte seine Rezitation durch einen kräftigen, schnalzenden Laut, den er, die Lippen auf den Handrücken gedrückt, hervorbrachte.
»Bitte, halten Sie mich nicht für zynisch«, sagte er zu Sargon. »Es ist nichts als joie de vivre.«
Sargon konnte es nicht mehr aushalten. Es war verdammenswert, solche Lehren angesichts des Erneuerers der Menschheit zu verbreiten. Sein ausgestreckter Zeigefinger fuhr plötzlich durch die Luft. »Sie haben unrecht!« sagte er laut und scharf.
Der Poet starrte ihn eine Minute lang an und sagte dann mit salutierender Geste: »Tra-la-la-la.«
»Ich sage Ihnen, das Leben ist wirklich«, schrie Sargon. »Das Leben ist unermeßlich. Das Leben ist voll Sinn und Ordnung. Ich bin gekommen, um das Ihnen und allen Menschen zu sagen.«
Der Poet unterbrach ihn höflich lächelnd mit:
»Tra-la-la,
Tra-la-la,
Das Leben ist ein Rülpser, das Leben ist eine Prise, Gestank von einem Misthaufen, getragen von einer Brise, Das Ding eines Augenblicks – darum genieße! Tra-la-la. Tra-la-la.«
Er fuhr fort, doch Sargon hörte ihn nicht an. Er erhob die Stimme, um seinen Gegner zu übertönen. »Ich sage dir, du arme Seele! Du bist im höchsten Maße verwirrt und verblendet«, sagte er. »Denn zu mir ist das Licht gekommen, und mein ist das Verstehen. Du bist nicht das verlorene Geschöpf, das du zu sein wähnest, oder zum mindesten brauchst du es nicht zu sein. Nein! Auch ich war ein verlorenes Geschöpf, wie du es bist, noch vor kurzer Zeit. Auch ich dachte, ich sei nichts als ein Körnlein, ein Bruchstück, ein Ding ohne jede Bedeutung. Doch der Ruf drang zu mir, und ich ward berufen, andere zu berufen, daß sie mit mir an einem neuerwachenden Morgen teilhaben. Ich habe eine Vision gehabt und die neue Welt geschaut, wie einer, der von langem Schlaf erwacht. Alle Dinge hängen zusammen, arbeiten miteinander und dauern ewig fort.«
Der Poet rümpfte die Nase und bewegte die Hand gegen Sargon, als ob er eine persönliche Beleidigung zurückweisen wollte. »Tra-la-la«, schrie er.
»Alle Dinge, sage ich Ihnen, hängen zusammen und arbeiten miteinander –«
»Tra-la-la« – lauter.
»Ich sage es Ihnen« – noch lauter.
»Maulhalten, da«, rief die laute zornige Stimme der in Herrn Higgs verkörperten Sanität.
»Sie werden den ganzen Saal zum Schnattern bringen«, sagte Herr Higgs, indem er herankam und sich im Tone ernstester Zurechtweisung an Sargon wandte. »Seien Sie still.«
Und nach einer kurzen Pause des Nachdenkens gehorchte der Herr der ganzen Welt.
Mit einer würdevollen Geste bedeutete er Higgs, daß seine Forderung erfüllt werde.
»So ist's recht«, sagte Higgs. » Sie können sich beherrschen. Er kann's nicht.«
Der Poet fuhr in weichem, einschmeichelndem Flüstertone fort, Sargons Glauben mit einem Refrain von ‹Trala-la, tra-la-la› zu verspotten.
Sargon saß nun unbeweglich im Bette da, nur daß er von Zeit zu Zeit langsam den Kopf wandte, um die Leute ringsum zu betrachten. Er schwieg. Sein Ausbruch hatte die Gehässigkeit jener endlosen Rezitation einigermaßen gemildert. Sie hörte zwar nicht auf, sondern floß, bald überredend, bald schneidend und heftig, bald wieder ein bloßes Lallen von Worten, neben und über ihm weiter; sie war jetzt offenkundig an ihn gerichtet, doch es gelang ihm, nicht mehr darauf zu achten. Er saß aufrecht da, schaute sich die Leute ringsum an und bedachte die langen, schrecklichen Stunden, die vor ihm lagen.
Er dachte nicht über die bevorstehende Nacht hinaus. Diese allein kam ihm schon wie eine Ewigkeit vor.
Er wußte, daß dieses nackte, grelle, elektrische Licht, das seine Augenlider, so fest er sie auch schließen mochte, immer wieder aufriß, ihn die ganze Nacht blenden würde; er wußte das, weil er bemerkt hatte, wie Herr Higgs einen Seitenblick auf den gewalttätigen Mann mit dem roten Haar geworfen hatte. Sogleich begriff er, daß Higgs sich vor diesem rothaarigen Mann mit der glänzend geröteten Haut fürchtete und niemals gewagt hätte, den Krankensaal im Finstern zu lassen, ja nicht einmal die leiseste Abdunkelung zulassen würde, wie immer auch der Brauch und die Verordnung sein mochten. Ebenso verstand er auch, warum Higgs immer und immer wieder aus dem Saal ging; er ging hinaus, um sich der Gegenwart Jordans oder eines anderen ähnlichen Helfers in Rufweite zu versichern. Ja, das Licht würde sicherlich die ganze Nacht brennen bleiben; der Poet schien ebenfalls nicht aufhören zu wollen; der Rothaarige würde gewiß die ganze Nacht hindurch von Zeit zu Zeit auf den Tisch schlagen; und dann war da noch ein anderer, der immer wieder einen plötzlichen, matten Laut ausstieß. Es würde mißliche Störungen verschiedener Art geben; Lärm und Kommen und Gehen. Also konnte er ebenso gut aufrecht sitzen und denken, wie sich niederlegen; er war überzeugt, daß jeder Versuch, einzuschlummern, vergeblich sein würde. Denken konnte man immer. Allerdings, wenn man zu müde wurde, hörte man auf, Neues zu denken, dachte dann nur immer wieder dasselbe; aber es würde unmöglich sein, gar nicht mehr zu denken. An diesem Ort gab es keinen Schlaf. Augen, Ohren, Nase, alles ward vielzusehr beleidigt. Hatte hier überhaupt irgendjemand, verrückt oder gesund, jemals geschlafen?
Er konnte also nichts andres tun, als aufrecht sitzen und denken, aufrecht sitzen und denken, einduseln vielleicht und sich in einen Traum denken, bis ihn irgendein unerwarteter Ruck oder Lärm wieder auf seine Gedanken zurückbrachte.
Die längste Nacht mußte schließlich enden.
Dann sah Sargon plötzlich, zwischen Schlafen und Wachen, etwas Schreckliches. Wenigstens durchzuckte es seine Nerven als etwas Schreckliches. Zwei Betten weit weg von ihm lag ein furchtbar abgemagerter junger Mann, dessen Kopf emporgehoben war. Der Kopf wurde durch kein Kissen gestützt; er schwebte zwanzig Zentimeter über dem Kissen. Er wurde in einer Stellung emporgehalten, die mitanzusehen schmerzlich war. Das Gesicht des jungen Mannes zeigte stille stolze Zufriedenheit ob dieser phantastischen Narretei.
Es war unglaublich. Gab es so etwas wie ein unsichtbares Kissen? Oder war es Augentrug, war es ein Traum im Wachen?
In dem Bett dahinter lag ein anderer Mann, wach, das Gesicht Sargon zugewendet. Sein Blick traf den Sargons. Keiner von beiden sagte ein Wort oder machte eine Bewegung, doch einen wie den anderen überkam ein Gefühl unbegrenzten Trostes, denn die Augen, in die jeder blickte, waren ebenso gesund wie seine eigenen. Der eine gab dem anderen Halt. Es ist so, sagten sie. Es ist seltsam, aber deine Augen täuschen dich nicht. So äußert sich die Krankheit dieses jungen Mannes.
Sargon nickte. Der andere gesunde Mann nickte zurück, und dann legte er sich wie ein kleines Kind, das man getröstet hat, zum Schlafe zurecht. Aber konnte er denn schlafen?
Sargons Blick wanderte durch den Saal und machte eine neue Entdeckung. Jawohl, einzelne dieser anderen da mochten gesund sein – gesund wie er selber – und mochten gleich ihm gefangen worden sein. Ein anderer Mann mit einem kleinen Bart lag drüben jenseits des Durchgangs, ein sehr, sehr trauriger Mann, aber auch er hatte gesunde Augen.
Morgen wollte er mit diesen anderen sprechen, ihnen von sich erzählen und ihrer aller entsetzliche Lage mit ihnen beraten; doch nicht jetzt, weil Higgs sich sicherlich einmengen würde. Vielerlei hatte sich bereits verschworen, Higgs zu ärgern. Er war offenkundig leicht reizbar, und so mochte es besser sein, ihn nicht noch mehr zu ärgern. Gegenwärtig konnte man eben nichts anderes tun, als sitzen und denken.
Was war ein Wahnsinniger, und was bedeutete Wahnsinn?
Warum hatte ihn die ‹Allerhöchste Macht› emporgehoben, aus den gemeinen Handlungen und Vorstellungen seines täglichen Lebens empor zur Kenntnis seines unsterblichen Wesens? Warum hatte sie ihm seine endlosen Schicksale gezeigt, warum eine Vision der ganzen Welt als seiner Sphäre? Bloß, um ihn dann aus Leben, Licht und Freiheit fort in diese graue Unterwelt der Geisteskranken zu verstoßen? Es war unmöglich, daß dies um nichts und wieder nichts geschehen sein sollte. Es mußte etwas bedeuten.
Dann blies der Wind einer zweiten Frage durch seinen Geist. Die ‹Macht›, die ihn gerufen hatte, ihn, wie es schien, bloß gerufen hatte, um ihn an diesen Ort zu bringen, hatte auch alle diese anderen da in dieselbe entsetzliche Lage gebracht. Warum? Für ihn mochte es ja eine Prüfung sein, aber was war es für die anderen, deren Seelen sich wirklich aufgelöst hatten und verschwunden waren? Was hatte die ‹Macht› mit ihnen vor?
Das ganze Gerüst der Gedanken in Sargons Geist drohte zu wanken und einzustürzen. Wenn es nicht die ‹Macht› gewesen war, die das getan hatte, dann mußte es die ‹Anti-Macht› gewesen sein. Dann aber mußte es eine ‹Anti-Macht› geben, die beinahe ebenso stark wie die ‹Macht› war, die imstande war, Menschen aus dem Leben heraus zu reißen und in Verwirrung, Unwürdigkeit und ewigen Tod zu stürzen. Oder aber – es gab gar nichts!
Ganz still saß er da, das Kinn auf die Fingerknöchel gestützt, und seine Augen starrten leer auf die letzte schwarze Möglichkeit.
Waren seine ganze Berufung und seine Sendung eine Täuschung, ein Gaukelspiel gewesen? War er in Tunbridge Wells gefoppt worden, als der Ruf, zu erwachen und sich zu erheben, an ihn ergangen war? Waren jene Erinnerungen an Sumerien nichts als Träume? War er am Ende wirklich bloß Albert Eduard Preemby – und verrückt geworden? In einem verrückten, zwecklosen, nichtigen Universum? Wenn dem so war, dann mußte er wahrhaftig als der größte Narr unter den Lebenden gelten. Seine Bequemlichkeit und Sicherheit, festgegründet, wenn auch sinnlos, hatte er aufgegeben; seiner lieben Christina Alberta war er davongelaufen – um einer ‹Macht› zu folgen, die nichts anderes als seine eigene Phantasie war, um einem leeren Phantom nachzujagen. Tagelang hatte er Christina Alberta als eine Skeptikerin, eine Verbündete der ‹Anti-Macht› aus seinen Gedanken verbannt. Nun fiel sie ihm wieder ein – tapfer war sie, waghalsig, aber doch nur ein Mädchen. Er hatte sie verlassen, sodaß sie sich allein weiterhelfen mußte, hatte sie außerhalb der Reichweite seiner Ermahnungen und seines Schutzes gelassen. Was mochte sie wohl tun? Welches Unglück, welche Gefahr konnten ihr nicht gerade jetzt drohen? Es war ihm vorher nicht zum Bewußtsein gekommen, daß sein Verschwinden sie in Not und Gefahr stürzen könnte. Nun sah er deutlich, daß es so gewesen sein mußte.
Der böse Feind kam und redete freimütig mit ihm. ‹Du bist ein Narr gewesen, Albert Eduard Preemby›, sagte der böse Feind. ‹Du hast dich in Gefahr und Elend gestürzt, hast dein geordnetes Leben um der Schrecken des Nichts willen aufgegeben. Kehre um. Kehre um, solange du noch kannst.›
Konnte er denn umkehren?
Ja. Das konnte er. Ganz leicht! Er konnte ja einfach sagen, daß er sich jetzt an seinen eigentlichen Namen erinnere. Er konnte verlangen, daß man ihn dem Doktor oder Direktor, oder wer sonst über Jordan, Higgs und Kollegen stand, vorführe; er konnte seinen Namen angeben, die Adresse des Ateliers und die seiner Bank, und die Adresse der Wäscherei und so weiter, konnte sehr einfach und ruhig alles sagen; er konnte zugeben, daß er sich sonderbar benommen habe, daß aber der Anfall jetzt vorüber sei, und auf diese Weise würde er aus diesen finsteren Schatten hier heraus in die Welt zurückgelangen. Es würde Christina Albertas Herz mit Jubel erfüllen ...
Er dachte an das aufgeweckte, liebe, ein wenig widerspenstige Geschöpf. Wenn er sie nur jetzt sehen könnte! Wie sie durch den langen Saal auf ihn zukäme, ihn zu retten, zu befreien ...
Dann würde er für den Rest seiner Tage wieder Preemby sein, der gemächlich lebende Preemby, Preemby der Herumsteher, der Zuschauer, der tatenlose, wortlose Mann im Hintergrund des lärmenden Ateliers. Mit gewissen Dingen jedoch würde es vorbei sein. Er würde nie wieder in ein Museum gehen oder im dunklen Schatten von Bücherladen in staubigen, vergessenen Büchern nach verschwundenen Städten und rätselhaften Symbolen herumstöbern. Nie mehr würde er an die Wunder und Geheimnisse der Atlantis, nicht mehr an die Maße der Pyramiden, an all die großen Rätsel der Vergangenheit und Zukunft denken. Kein Wunder würde es mehr in seinem Leben geben, denn er hatte versucht, in das Wunder einzudringen, und gefunden, daß es nichts als Trug sei. Alle diese Dinge würden ihm nichts weiter als alte Märchen und sinnlose Phantasien sein, Vergangenheit und Zukunft würden für ihn tot sein. Die Tage würden ihn öde und leer dünken wie nie zuvor. Alles, was das Leben lebenswert macht, würde ihm genommen sein ...
Und auf dem andern Wege lagen Leid, Verachtung, rohe Behandlung, ekle Nahrung, schmutzige Umgebung und Prüfungen, die ihn brechen konnten – doch immer würde hier die ‹Macht› noch winken.
Er dachte an alles, was Sargon gehörte: die ‹Macht›, die Städte, die großen Einzelwesen glichen, die ‹ganze Welt›, die mystische Verheißung der Sterne; all dem mußte er entsagen und Preemby sein, Preemby, einfach und vernünftig, bis ans Ende seiner Tage, wenn er diesem Ort entrinnen wollte. Er saß, wie es ihm schien, ungemessene Zeit still und brütend da, obzwar die Antwort in seinem Geiste bereits beschlossen war. Und schließlich sprach er: »Nein«, sagte er mit heiserer Stimme und so laut, daß es beinahe wie ein Schrei klang. »Ich bin Sargon, Sargon, der Diener Gottes – und die ‹ganze Welt› ist mein!«
Lange nach Mitternacht saß Sargon immer noch in jenem kahlen, grellen Schein, inmitten des Gelärmes und der Unordnung ringsumher aufrecht da. Er hatte alle Zeitrechnung verloren; seine Uhr hatte man ihm weggenommen. In den frühen Morgenstunden betete er. Und zeitweise weinte er ein wenig.
Er betete. Manchmal formte er Sätze und flüsterte sie vor sich hin, und manchmal wurden die Sätze erst gar nicht zu Worten, sondern schlüpften durch sein Hirn wie Schlangen, die man durch tiefes, dunkles Wasser hindurch sieht. »Groß ist die Aufgabe, die du auf mich gelegt. Ich sehe nun, ich bin nicht würdig, o Meister, auch nur das geringste zu tun, was von mir gefordert wird. Ich bin dessen nicht würdig. Ich bin ein kleinlicher, ein närrischer Mann, und alles, was ich bisher getan, ist Narrheit. Doch du hast mich berufen, der du meine Narrheit kanntest. Vergib mir meine Narrheit und hilf meinem Glauben.« Schweigend und ruhig, mit Tränen auf den Wangen, saß er da. »Jede Strafe, jede Prüfung,« flüsterte er zuletzt, »nur daß du mich nicht verlassest und aus meiner Welt entschwindest.«
Er betete, die ‹Macht› möge ihn zum Diener der Welt machen, und zitternd und zagend fügte er hinzu: »So wie es in den alten Tagen gewesen.«
Denn hatte es jene alten Tage jemals gegeben? Sumerien war ihm nun sehr ferngerückt; die weißen Städte und der blaue Fluß und die Galeeren darauf waren verschwunden, und die anbetende Volksmenge verwischte sich in seinem Geiste wie die entschwindende Erinnerung an einen Traum. Eine Zeitlang sagte er nichts, dann aber in sehr lautem Flüsterton: »Hilf du meinem Unglauben.«
Manchmal betete er flüsternd, manchmal schweigend, und manchmal saß er ganz still. Higgs kam und sah ein- oder zweimal nach ihm, störte ihn jedoch weiter nicht. Das Gedicht im Nebenbett ging immer noch weiter; es war nun zu einem gereimten Strom gotteslästerlicher Unflätigkeiten geworden.
Eine Zeitlang, nachdem er zu beten aufgehört hatte, mußte Sargon geschlafen haben; er mußte geschlafen haben, weil er durch das Morgengrauen aufgeweckt wurde. Es kam nicht allmählich; er erwachte, und es war da.
Kaltes, schattenloses Licht füllte den Raum, und die elektrischen Lampen, die so hell geschienen hatten, waren bloß noch leuchtende, orangegelbe Fäden. Und Higgs stand unter der Tür und guckte angestrengt nach dem rothaarigen Mann, der den Kopf auf den Tisch gelegt hatte, als ob er eingeschlafen sei – aber vielleicht tat er nur so, als ob er eingeschlafen sei.
Am Nachmittag des folgenden Tages kamen zwei Fremde, um mit Sargon zu sprechen. Er wurde zu ihnen geführt, sie sprachen ein wenig mit ihm, und dann hauptsächlich miteinander. Higgs hatte frei, aber Jordan wartete im Hintergrund.
Keiner der beiden Herren erklärte Sargon, was er mit ihm zu schaffen habe. Der eine war ein kurzer Mann in schwarzem Rock; er trug eine goldene Uhrkette und eine vornehme Krawatte mit einer Juwelennadel; er hatte einen goldenen Zwicker auf, eine kleine Spitznase, ein fettes, glattrasiertes, weißes Gesicht und einen Mund wie ein schräger Spatenstich in einem Teigklumpen. Beim Sprechen näselte er, auch stieß er mit der Zunge an; er hatte es offenbar ziemlich eilig und war ärgerlich darüber, daß er sich mit Sargon befassen mußte. Der andere war groß und grau und sah recht angegriffen aus; aus irgendeinem Grunde hatte Sargon den Eindruck, daß er ein Arzt sei, der an häuslichem Verdruß leide. Er schien sich dazu berufen zu glauben, die Unterredung zu leiten, und wandte sich von Zeit zu Zeit mit einer Frage an den wartenden Jordan.
»Wie ich höre,« sagte der Mann mit dem Teiggesicht, »wollten Sie einer Schar von unbekannten Leuten eine Art Abendgesellschaft geben. Wie? – Im Rubicon. Ist dieser Einfall ganz plötzlich über Sie gekommen? Wie?«
»Ich wünschte mich mit gewissen Leuten zu beraten«, sagte Sargon. »Es mag ein Fehler meinerseits gewesen sein.«
»Ohne Zweifel war es ein Fehler, Herr – Herr –«
»Er will nicht Herr genannt werden«, sagte Jordan aus dem Hintergrund. »Er nennt sich Sargon.«
Der Doktor wurde in seinem Benehmen sehr scharf. »Ist das nicht ein historischer Name?« fragte er mit einem forschenden Seitenblick.
»Ja«, sagte Sargon.
»Doch es ist nicht Ihr Name.«
»Möglicherweise nicht. Ich meine – Es ist mein einziger Name.«
»Das ist eine Antwort, wahrhaftig«, sagte der Mann mit dem Teiggesicht. »Bei meinem Wort!«
»Wie lautet Ihr wirklicher Name?« fragte der ««Doktor überredend.
»Sargon.«
»Nicht Herr A. E. Preemby?«
Sargon stockte und starrte ihn, möglicherweise mit einer gewissen Wildheit in den Augen, an. »Gott helfe mir! Nein!« sagte er.
»Lautete er jemals Herr Preemby?« fragte der Doktor.
»Das tut hier nichts zur Sache. Das ist jetzt nicht von Wichtigkeit.«
»Es mag doch von einiger Wichtigkeit sein«, sagte der Mann mit dem Teiggesicht.
»Und jetzt sind Sie ein König oder Herrscher oder etwas dergleichen und die Welt gehört Ihnen?« fragte der Doktor.
Sargon gab keine Antwort. Er fühlte, daß er in eine Falle geraten war.
Der Doktor wendete sich an Jordan und sprach im Flüsterton mit ihm. Nur ein Satz drang an Sargons Ohr. »Higgs hat es gehört«, sagte Herr Jordan.
»Sind Sie nicht Sargon der Großmächtige genannt?«
Sargon beugte sein Haupt in Trauer. »Besser wäre es, mich Sargon den Unwürdigen zu nennen, denn ich habe in vielen Dingen gefehlt.«
Der Mann mit dem Teiggesicht sah den Doktor an. »Ich glaube, das genügt?«
»Der Fall ist mir klar«, sagte der Doktor. »Ich weiß, was ich in das Zertifikat zu setzen habe.«
»Ich halte den Fall gleich Ihnen für erledigt, Doktor Manningtree. Kann ich nun die andern sehen?«
»Ich habe alle Papiere auf meinem Zimmer«, sagte der Doktor.
»Sehr gut«, sagte der Mann mit dem Teiggesicht.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie schon heute gekommen sind. Ich würde Sie nicht vor morgen herbemüht haben, aber es ist hier wirklich übervoll. Ein Kerl ist geradezu gefährlich. Den Wärtern ist sein Blick verdächtig. Sie brauchen ihn bloß einen Augenblick anzuschauen. Ebenso die andern. Lauter klare Fälle für summarische Aufnahmezeugnisse.«
Sie redeten nun, als ob Sargon nicht anwesend wäre, oder als ob er irgendein lebloser Gegenstand wäre. Und für sie war er das auch in der Tat geworden; er war für sie aus dem Kreise der gesitteten Menschheit bereits ausgeschieden.
»Aus welchem Grunde haben Sie mit mir gesprochen?« fragte Sargon plötzlich. Eine unbestimmte Furcht vor den Folgen dieser Unterredung hatte ihn erfaßt.
Des Doktors Benehmen änderte sich. Er sprach in einem sanft überredenden Ton zu Sargon. »Sie gehen jetzt ins Bett zurück«, sagte er. »Jordan!«
»Aber ich möchte wissen ...«
»Gehen Sie mit Herrn Jordan.«
»Sie sprachen von Papieren – was für Papiere sind das?«
Der Doktor wandte Sargon, ohne zu antworten, den Rücken, und der Mann mit dem Teiggesicht öffnete die Tür, um fortzugehen. Sargon trat einen Schritt auf sie zu, doch Jordan packte ihn am Arm und hielt ihn fest.
Und während Sargon, nicht gerade sachte, durch Jordans Griff ins Bett zurückgesteuert wurde, füllten die Gerechtigkeit und die Heilkunde die Bogen aus, die notwendig waren, um ihn fast jeglichen Rechtes, das er als menschliches Wesen besaß, zu berauben, und unterzeichneten sie. Denn in Großbritannien gibt es kein Geschworenengericht und keinen Freilassungsbefehl für den Unglücklichen, der des Wahnsinns beschuldigt ist. Er darf nicht öffentlich vor Gericht reden, und es ist niemand da, an den er appellieren könnte. Er kann Beschwerden schreiben, aber sie werden einfach nicht beachtet; seine dringlichsten Vorstellungen werden zugunsten der Beteuerungen jedes beliebigen dummen Wärters ignoriert. Er ist der beinahe unumschränkten Gewalt ungebildeter, schlechtbezahlter, unterernährter und überarbeiteter Wärter ausgeliefert. Jede Nacht und jeder Tag scheinen ihm im Anfang endlos zu sein, dann werden Tag und Nacht zu einer Art ewiger Wiederholung, werden unwichtig und gehen immer rascher vorüber. Er befindet sich beinahe immer in einem Zustande körperlichen Unbehagens, ist infolge der schlecht zubereiteten und manchmal verdorbenen Nahrung stets ziemlich kränklich und wird durch stümperhafte Versuche mit Arzneien, besonders durch die Anwendung stark wirkender Purgative, aufs heftigste gequält. Krotonöl ist das einzige, womit unsere Krankenhäuser wahrhaft freigebig sind. Er hat triftige Gründe dafür, viele seiner Genossen zu fürchten und den Wärtern, die die Aufsicht führen, sklavisch zu gehorchen. Ein ärztlicher Oberaufseher mit einem Stab von Medizinern ohne jede psychiatrische Spezialschulung halten sich im Hintergrunde. Sie marschieren zu den festgesetzten Zeiten durch die Säle, wobei sie jede Unannehmlichkeit vermeiden und so wenig wie möglich sehen.
Und schließlich und endlich, was können sie tun? Sie können weder die Ausgaben für Nahrung, noch die Zahl oder Gehälter der Wärter erhöhen. Sie sind dazu angestellt, mit dem Geld der Steuerzahler zu sparen, nicht es zu verschwenden. Die Wärter halten zusammen und stützen einander; sie müssen zusammenhalten; auf vielen von ihnen lastet Furcht vor den schwereren Fällen. Gelegentlich, nach gehöriger Ankündigung, stattet auch einmal ein inspizierender Magistratsbeamter der Anstalt einen formellen Besuch ab. Für diesen Anlaß wird alles in beste Ordnung gebracht. Der Unselige, der eine Beschwerde vorzubringen hat, wagt es nicht, ihn anzusprechen, oder weiß nicht, wie er ihn ansprechen, wie er seine Klage vorbringen soll. Die Wärter sind gleich zur Hand, ihn zu unterbrechen, in Verlegenheit zu bringen und Erklärungen abzugeben. So wird also der arme Halbirrsinnige, ohne jede Aussicht auf Abhilfe, roh behandelt, schlecht ernährt und elend bekleidet und ist Tag und Nacht mit dem wirklich Wahnsinnigen zusammen. Es ist schon für den Gesunden schwer genug, die Tollheit, die Gewalttätigkeit, die aufreizenden Listen und Ränke und die irren Reden der wirklich Wahnsinnigen zu ertragen; was aber muß das erst für diejenigen bedeuten, auf die ein leichter Schatten jener Finsternis gefallen ist? Sie können sich nirgendhin zurückziehen; können jenen anderen nicht entfliehen; haben keinen Frieden. Unsere Welt schart diese Verworfenen zu einer Herde zusammen, bringt sie außer Sicht, umgibt sie mit einer Mauer, wendet ihnen so wenig nur zu, daß sie weder ordentlich ernährt noch ordentlich beaufsichtigt werden können, und bemüht sich wacker und hoffnungsvoll, sie und alles, was mit ihnen zusammenhängt, gänzlich zu vergessen.
Und unser Sargon, der sogar in der freien und ihm wohlvertrauten Außenwelt manchmal ein wenig hilflos dastand, muß nun in diese dunkle Unterwelt wandern. Zwei Tage noch wird er im Beobachtungssaal in der Giffordstraße bleiben und warten, bis es den höheren Autoritäten gefällig ist; dann wird er in Gesellschaft von vier anderen Gefangenen in einen noch kahleren, öderen und hoffnungloseren Kerker innerhalb des Gebäudekomplexes, der Mauern und Gitter von Cummerdownhill geschickt werden.
So verschwindet er nun für eine Weile aus dem Gesichtskreise der Alltagsmenschheit, und soll auch eine Zeitlang aus dieser Geschichte verschwinden. Würde es doch unerträglich sein, in allen Einzelheiten von seinen Leiden und von der unwürdigen Behandlung, die ihm zuteil wurde, zu berichten.