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Bisher war Christina Alberta dem Leben mit kühner, verachtungsvoller und erfolgreicher Haltung gegenübergestanden. Vorsicht und Zweifel waren nichts für sie. Sie hatte bisher keinen vernünftigen Grund für vorsichtiges Zaudern, für Konventionen und Hemmungen gefunden. Jetzt zum erstenmale lernte sie Furcht kennen. Ihr Vati war in einer Welt verschwunden, die, wie sie plötzlich wahrnahm, maßlos grausam sein konnte. Teddy war schlecht, so schlecht, daß nur eine Närrin wie sie, mit ihren Sensationsgelüsten, sich mit ihm abgeben konnte. Fast die ganze Nacht, nachdem ihr Vati verschwunden war, lag sie wach, biß sich in die Finger und verfluchte Teddy. Lambone, der große Freund, war faul, unfähig und nutzlos. Harold und Fee schienen ihres Unglücks schon ein wenig überdrüssig zu sein und beinahe geneigt, ihr einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie Vati nach London gebracht hatte. Sie hatte niemanden anderen, an den sie sich wenden konnte. Niemand blieb ihr – außer Christina Alberta selbst, und die fühlte sich nun ein bißchen besudelt und mehr als nur ein bißchen erschreckt.
‹Aber was soll ich denn tun?› fragte sie die Nacht immer und immer wieder, während sie in ihrem dumpfigen kleinen Künstlerschlafzimmer lag.
Zu den übrigen Mißlichkeiten ihrer Lage hatte sie kaum mehr ein Pfund-Sterling baren Geldes zur Verfügung.
Es ist bemerkenswert, daß Christina Alberta zwei volle Tage lang von dem selbstverständlichen Schritt absah, zur Polizei zu gehen. Sie wußte instinktiv, daß es gefährlich war, die Polizei und das soziale System im allgemeinen gegen ihren seltsamen kleinen Vati in Bewegung zu setzen. Ein eingeborenes Mißtrauen gegen jene menschlichen Wesen, die sich Beamte nennen, wohnte ihr inne. Paul Lambone erst brachte sie dazu, zur Polizei zu gehen. Er hatte Anstand genug, sich seiner allzu geringen Hilfsbereitschaft zu schämen, und kam nach einer Pause von zwei vollen Tagen in die Lonsdale-Stallungen hinüber, um seinen großmütigen, aber trägen Beistand noch einmal anzubieten. Er traf sie, als sie eben mit Fee Tee trank.
»Christina Alberta,« sagte er – seine große behäbige Erscheinung hatte etwas Kummervolles an sich – »ich habe mich die ganze Zeit um dich gesorgt. Ich habe dir nicht genug geholfen. Ich dachte, er würde aus eigenem Antrieb wieder zurückkommen, und hielt den ganzen Wirbel für verfrüht. Hast du irgendwas gehört?«
Christina wurde zwischen dem Wunsch, ihm gehörig den Kopf zu waschen, und der Wahrnehmung hin- und hergerissen, daß er ihr auf seine Art ein ehrlicher Freund war und ihr von großem Nutzen sein konnte.
»Tu dir keinen Zwang an!« sagte Lambone. »Du wirst dich leichter fühlen, meine Liebe, wenn du mir deine Meinung gesagt hast, und dann können wir besprechen, was weiter geschehen soll.«
Sie antwortete mit einem tröstenden Lächeln. Er heiterte sich zusehends auf. Er gehörte zu den Menschen, die es nicht ertragen können, von irgend einem Lebewesen verabscheut zu werden. »Ich werde mich nicht in diesen Sessel setzen, danke schön«, sagte er zu Fee. »Er ist zu bequem. Es kann uns doch jeden Augenblick ein guter Gedanke kommen, und dann muß ich aufspringen und handeln.«
»Spartanisch«, sagte er, indem er sich niedersetzte.
»Wie?« fragte Fee.
»Spartanisch. Mein Doktor empfiehlt mir, das Wort vor jeder Mahlzeit und besonders vor dem Tee laut vor mich hin zu sagen. Ich weiß nicht, warum. Magie oder Coué oder sonstwas. Sind das hier Kokosnußkeks? Ich dachte mir's gleich ... Gut sind sie. Und was sollen wir also tun, Christina Alberta?«
Er wurde wieder vernünftig und hilfsbereit und mehr dem Manne ähnlich, der ‹ Was bei hundert und einer Gelegenheit zu tun ist› geschrieben hatte. Er brachte Christina Alberta dazu, ihren Bankrott einzugestehen, und machte ihr klar, daß es ihre Pflicht sei, ein Darlehen von fünfundzwanzig Pfund Sterling von ihm anzunehmen. Danach behandelte er die Frage, ob man die Polizei von dem Verschwinden verständigen solle, und überzeugte Christina Alberta auch hierin. Falls Herr Preemby in böse Hände geraten sein sollte, sei es nur umso besser, je eher sich die Polizei nach ihm umsehe. Doch glaube er nicht, daß dies der Fall gewesen sei; er neige vielmehr zu der Ansicht, daß Preemby etwas Unsinniges getan habe und hoppgenommen worden sei. Er halte es für wahrscheinlich, daß man ihn als Geisteskranken behandelt habe. Er hatte nämlich jene höchst nützlichen Bücher ‹The Justice of the Peace› und die ‹Encyclopaedia Britannica› befragt und lieferte nun den Beweis dafür, wie ausgezeichnet es um seine geistige Verdauung bestellt war. Christina Alberta sagte sich, daß er das Zeug zu einem tüchtigen Juristen habe.
Er fuhr mit Christina Alberta in einem Taxi nach Scotland Yard, dem Hauptpolizeiamt Londons.
Gegen sechs hatten die beiden Herrn Preembys Aufenthalt im Spital der Giffordstraße ausfindig gemacht. Ihn aber zu Gesicht zu bekommen, war unmöglich. Er war als Irrsinniger qualifiziert worden und sollte, wie der Spitalsbeamte meinte, aber nicht ganz sicher wußte, nach Cummerdownhill gebracht werden. Paul Lambone versuchte, sich würdevoll und wichtig zu geben und vor dem Beamten großzutun, um weitere Auskünfte zu erlangen, jedoch ganz erfolglos. Zuletzt gingen er und Christina Alberta fort, ohne viel mehr als die eine maßlos entmutigende Tatsache herausbekommen zu haben: daß sie nicht imstande sein würden, vor dem nächsten Besuchstag in Cummerdownhill, wann immer der sein mochte, Herrn Preemby zu sehen oder irgendwelche wesentlichen Einzelheiten über ihn zu erfahren. Wenn er dann ‹in guter Verfassung› sei, würden sie ihn sehen dürfen. Der Beamte war in seinen Feststellungen sehr präzise, und Lambone und Christina Alberta waren ihm sichtlich wenig sympathisch.
Als sie wieder auf der Straße standen, bemerkte Christina Alberta, daß Lambone ärgerlich war. Nie zuvor hatte sie ihn ärgerlich gesehen. Doch war es nur ein vorübergehender Zustand. Auf seinen Wangen lag ein ungewöhnlich tiefes Rosa.
»Hund von einem Beamten«, sagte er. »Bloß da, um die Leute zu ärgern – ängstliche Leute. Man sollte meinen ... ein Mann in meiner Stellung ... eine gewisse Rangordnung ... etwas Achtung ... In jedem anderen Land außer diesem hat man vor einem Schriftsteller Respekt.«
Christina Alberta stimmte schweigend zu.
»Manieren bei einem öffentlichen Beamten – erste Bedingung.«
»Der Kerl war ein Scheusal«, sagte Christina Alberta.
»Aber ich bin noch lange nicht zu Ende mit meiner Weisheit«, sagte Lambone.
Christina Alberta wartete.
»Wir hätten zu allererst zu Devizes gehen sollen. Der weiß über Geisteskranke und das Gesetz für Irrsinnige mehr als sonst wer in London. Er ist ein wunderbarer Kerl! Ich werde jetzt nachhause gehen, ihn anrufen und mit ihm eine Zusammenkunft verabreden. Dann wird er uns über die ganze Sache aufklären. Und ich möchte, daß du ihn auf jeden Fall kennen lernst. Du wirst Devizes zu schätzen wissen. Übrigens: es fällt mir eben auf, daß du ihm merkwürdig ähnlich bist.«
»Inwiefern?«
»Im Wesen – in ihm steckt dieselbe Lebenskraft wie in dir. Und im Aussehen. Sehr sogar. Dieselbe Nase – so ziemlich dasselbe Profil.«
»So eine Nase paßt besser für einen Mann«, sagte Christina Alberta. »Ihm bereitet sie wahrscheinlich keinen Kummer.«
»Es ist eine sehr gute Nase, Christina Alberta«, sagte Lambone. »Es ist eine tapfere Nase. Setze sie nur ja nicht herab. Es war deine Nase, die mich zuerst zu dir hinzog. Du wirst dir noch mit ihrer Hilfe einen Gatten fangen, und er wird sie wunderschön finden und ihr nachfolgen, genau so wie du es tust. Heutzutage müssen Frauen frei und individuell sein; sie müssen ausgeprägte und charakteristische Gesichtszüge haben. Die Tage der neckischen Locken, des Schwanenhalses und des zarten Teints sind vorüber. Nicht, daß deine Hautfarbe etwa nicht die schönste wäre, die mir je zu Gesicht gekommen ist, Christina Alberta.«
»Erzähl mir mehr von Doktor Devizes«, sagte Christina Alberta.
Christina Alberta traf Devizes noch nicht am nächsten Tage. Sie verschob die Zusammenkunft um einen Tag, denn sie fuhr auf eine bemerkenswerte Mitteilung von Herrn Samuel Widgery hin nach Woodford Wells.
Die Widgerys hatten niemals mit den Preembys in Korrespondenz gestanden, außer insoweit, als die Auszahlung der Dividenden auf Herrn Preembys Anteil an der Wäscherei ‹Zum klaren Bach› Briefe notwendig machte. Bei der Gründung der Aktiengesellschaft war es nicht ohne einige Reibung abgegangen; Herr Widgery konnte seinen Groll nicht vergessen und bemühte sich, diesen so viel als möglich durch gesuchte Knappheit in seinen Mitteilungen hervorzukehren. Jetzt aber kam folgender Brief an ‹Fräulein Christina Preemby›.
‹ Meine liebe Chrissie›, begann der Brief.
‹Das ist eine unangenehme Geschichte mit Deinem armen Vater. Ich kann Dir nicht sagen, wie entsetzt ich war. Ich ging eiligst in das Armenhaus, in das Du ihn gesteckt hast, sobald sie mir geschrieben hatten, und bekam seine Uhr und Brieftasche. Es ist ein Glück, daß sie meine Adresse in seiner Tasche gefunden haben. Sonst wäre ich wahrscheinlich gar nicht verständigt worden, wie gewöhnlich von der ganzen Sache. Er kannte mich nicht und leugnete seinen eigenen Namen. Nachher aber sagte er, er kennt mich als einen diebischen Schurken in Geschäftssachen und er möchte mir die Ohren abschneiden lassen, und er drohte mir. Ich sollte gepfehlt werden, sagte er. Weiß der Himmel was das heißt. Ich habe mir die ganze Geschichte überlegt und da Du noch nicht großjährig bist, so nehme ich an, daß ich Dein Vormund bin und habe mich um Deine Interessen an der Wäscherei zu kümmern, welche sich bei weitem nicht so bezahlt macht, wie Dein Vater mich glauben machen wollte. Ich denke, er war zu dieser Zeit schon nicht mehr ganz richtig im Kopf und wußte nicht mehr so recht, was er tat, und ich glaube auch nicht, daß das mit den Prioritätsaktien, wovon ich nie wirklich was gehalten habe, sondern bloß so tat, um ihm zu Gefallen zu sein, so bleiben kann. Glücklicherweise hat's keine Eile damit, weil Du ja nichts zu zahlen haben wirst für ihn, wo er jetzt ist, sagt Herr Punter. Solang als Du alles bleiben läßt wie es ist. Wegen der anderen Sachen werden wir schon sehen, wenn Du Dich von dem ersten Schreck über die Krankheit Deines Vaters erholt hast. Meine Frau sendet alles Liebe und bedauert Dich sehr. Du mußt ruhig bleiben und Dich nicht zusehr aufregen, weil sehr häufig ist es hereditär und man kann nie zu vorsichtig sein. So überlaß am besten alles mir, der ich verbleibe
Dein Dich liebender Vetter
Samuel Widgery.›
‹Das könnte dir so passen!› sagte Christina Alberta. Sie telephonierte unverzüglich Paul Lambone und Wilfred Devizes ab und eilte mit streitlustig blitzenden Augen nach dem Bahnhof Liverpoolstraße.
Als Christina Alberta nach Woodford Wells kam, schien ihr die Wäscherei ein wenig kleiner geworden; und die glänzenden blauen Kundenwagen hatten etwas Mattes bekommen. Das Hakenkreuz darauf war durch große Zettel überklebt, auf denen in roten Buchstaben zu lesen stand: ‹Unter neuer Leitung. Alle Mitteilungen zu adressieren an Herrn Direktor Samuel Widgery. Die Direktion.›
Sie ging den Gartenweg hinauf nach dem Eingangstor des Hauses, das beinahe ihr ganzes Leben lang ihr Heim gewesen war, und es wurde ihr von Samuel Widgery, der sie kommen gesehen hatte, geöffnet. »So bist du also hergekommen«, sagte er und ließ sie zögernd ein. Er war ein länglicher, gebückter Mann mit großem, kahlem, pockennarbigem Gesicht, hängender Unterlippe, einer großen Nase, die von Zeit zu Zeit einen schnarchenden Laut ertönen ließ, und sehr kleinen, verschmitzten braunen Augen. Er trug einen grauen, schlecht passenden Anzug, einen schäbigen Kragen und eine sehr abgetragene, fertig gekaufte schwarze Satinkrawatte. Seine Weste war großenteils nicht zugeknöpft. Er fuchtelte mit den Händen herum, und der Blick, mit dem er Christina Alberta ansah, verriet, daß sie ihm nun doch gefährlicher schien, als er gedacht hatte.
»Hast du Vati gesehn?« fragte Christina Alberta, indem sie gerade aufs Ziel losging.
Er preßte den Mund zusammen und schüttelte den Kopf wie einer, der sich peinlicher Dinge erinnert.
»War es schlimm? War er wunderlich oder abschreckend?«
»Nicht so laut, meine Liebe«, sagte er in heiserem Flüsterton. »Es muß doch nicht jedermann von deinem Unglück erfahren. Komm hier herein, wo wir ungestört miteinander sprechen können.«
Er führte sie in das kleine Wohnzimmer, in welchem ihr Vater erst vor so kurzem die Bedingungen für die Umwandlung der Wäscherei in eine Aktiengesellschaft ausgesonnen hatte. Die ihr vertrauten Möbel waren ziemlich wahllos umgestellt worden und ein großer, dunkler Schreibtisch unter das Fenster gekommen. Mit geheimnisvollem Getue schloß Samuel Widgery die Tür und trat auf sie zu. »Setz dich nieder, Chrissie,« sagte er, »und reg' dich nicht auf. Ich fürchtete schon, daß du zu uns gestürzt kommen würdest. Aber ich war ja natürlich verpflichtet, dir zu schreiben.«
»Hast du ihn gesehn?« wiederholte sie.
»Er ist total verrückt«, sagte er. »Er soll einen Auflauf im Rubicon-Restaurant gemacht haben. Er wollte dort allen Bettlern von ganz London ein großes Bankett geben.«
»Hast du ihn gesehn? War er wohl? War er unglücklich? Was haben sie mit ihm gemacht?«
»Du mußt mich nicht so viel auf einmal fragen, Chrissie. Du mußt nicht so ungeduldig sein. Ich hab' dir doch geschrieben, daß ich hingefahren bin und ihn gesehen habe. Sie haben ihn herausgerufen, und er kam zu mir in ein kleines Zimmer.«
»Wo war es? Wo war dieses Armenhaus?«
»Jetzt rennst du schon wieder herum! Setz dich doch nieder und nimm alles ruhig, mein Mädel. Ich kann nicht auf alle diese Fragen zugleich antworten.«
»Wo hast du ihn gesehen? In der Giffordstraße?«
»Ja. Wo hätte es denn sonst sein sollen? Er sollte bald darauf weggebracht werden.«
»Wohin?«
»In irgendeine Irrenanstalt.«
»Cummerdownhill?«
»Ja, ganz richtig, Cummerdownhill. Er kam heraus. Er sah wie gewöhnlich aus, ein bißchen gedankenloser vielleicht, bis sein Blick auf mich fiel, und dann gab es ihm plötzlich einen Ruck, und er sagte: ‹Ich kenne Sie nicht.› So, mit diesen Worten.«
»Schön, das war nicht verrückt. Sah er verrückt aus? Vermutlich wollte er nicht mehr mit dir sprechen – nach all den unangenehmen Geschichten, die passiert sind.«
»Höchstwahrscheinlich. Jedenfalls sagte ich zu ihm, ‹Was! mich nicht kennen? Den alten Sam Widgery nicht kennen, dem du deine Wäscherei angehängt hast?› So halb im Spaß sagte ich das. Freundlich, aber – so ein bißchen ironisch. ‹Ich kenne Sie nicht›, sagt er und will gehen. ‹Halt!› sage ich und nehm' ihn beim Arm. ‹Sie sind ein ganz niedriger, kläglicher Schurke›, sagt er zu mir und tut so, als ob er mich wegstoßen wollte. ‹Sie würden jede Wäscherei zu Grunde richten!› sagt er – zu mir, der ich schon jahrelang im Wäschereigeschäft war, ehe er deine arme Mutter geheiratet hat. ‹Auf jeden Fall, Sie haben sich nicht zu beklagen,› sag ich, ‹Herr Albert Eduard Preemby.› Da wird er auf einmal steif. ‹Sargum,› sagt er, ‹bitte sehr ...›«
»Sargon«, verbesserte Christina Alberta.
»Kann sein. Es hörte sich an wie ‹Sargum›. Und bei ‹Sargum› blieb er. Ganz versessen war er auf den Namen. Ich versuchte, von etwas andrem zu reden. Aber es hat keinen Zweck. Ich konnte keine gerade und einfache Antwort aus ihm herausbekommen. Er fing an, mir mit der Bastinade zu drohen – was das wieder sein mag? Ich ersuchte ihn, sich anständig auszudrücken. ‹Ich habe genug›, sagte ich schließlich zum Wärter, und der führte ihn fort. Und so sind wir ihn also los, Chrissie.«
»Ihn los!«
»Ja. Es läßt sich nicht ändern.«
»O doch! Sah er sehr unglücklich aus? Sah er verängstigt oder bedrückt aus?«
»Warum denn? Er wird dort gut versorgt und kann kein Unheil anrichten.«
»Bist du sicher, daß er – heiter aussah?«
»Ein wenig hergenommen vielleicht. Das kommt von seiner inneren Unruhe, vermute ich. Aber er ist, wo er hingehört, Chrissie. Das fühl' ich. Was wir zu tun haben, nach dem was Herr Punter sagt, ist, alles lassen, wie es ist. Er hat dort alles, was er braucht, und lebt vom Geld der Steuerzahler. Wir haben an uns selbst zu denken. Wir haben an diese verrückte Prioritätsaktiengeschichte zu denken, die er der Wäscherei aufgehalst hat. Das ist dringend. Es ist eine Last von beinahe fünfhundert Pfund im Jahr, wie die Sachen liegen. Beinahe zehn Pfund Sterling die Woche. Keine Wäscherei in London könnte dabei bestehen.«
»Ich muß meinen Vati sehen«, sagte Christina Alberta. »Ich glaube es nicht, daß er es gar so gemütlich hat. Ich habe entsetzliche Geschichten über diese Irrenanstalten gehört. Auf jeden Fall muß ich ihn sofort besuchen.«
»Das kannst du nicht, Chrissie«, sagte Herr Widgery und wiegte sein großes graues Gesicht langsam hin und her. Und während er fortfuhr, beobachtete er sie wachsam. »Die Besucher können in den Irrenhäusern nicht ein- und ausrennen, wie sie wollen. Das geht nicht, weißt du. Die armen Kreaturen müssen Ruhe haben und dürfen nicht aufgeregt werden. Also, ich könnte dir ja wohl einen Brief mitgeben für den nächsten Besuchstag –«
» Du! Mir einen Brief mitgeben!«
Herr Widgery zuckte die Achseln. »Du würdest dann leichter eingelassen werden. Aber du wirst nichts mit ihm anfangen können, Chrissie, auch wenn du ihn siehst. Und du wirst schon auf einen Besuchstag warten müssen. Das wirst du schon müssen.«
»Ich will ihn sehn.«
»Das ist sehr begreiflich. Aber Vorschriften sind Vorschriften. Und vor allem sollten wir wohl die geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Während er in dieser Irrenanstalt ist, wird es, denke ich, das beste sein, ich gebe dir ein Taschengeld, fünf Pfund Sterling in der Woche, sagen wir, und behalte das übrige zurück, bis wir etwas Fixes abgemacht haben. Oder vier. Oder vielleicht, was du eben brauchst – keine feste Summe. Ich weiß nicht. Ich hab' es mir noch nicht genau überlegt. Du kannst unmöglich diese ganzen zehn Pfund Sterling die Woche verbrauchen wollen, wo du für ihn nichts zu zahlen hast. Dann werden wir schließlich sehen, wie wir stehen, und können eine vernünftige Abmachung treffen.«
Er machte eine Pause, kratzte sich die Wange und beobachtete sie aus seinen kleinen, schrägen Augen. »Verstehst du?« sagte er, um sie zum Reden anzuspornen.
Christina Alberta sah ihn mit einer Gelassenheit an, die peinlich wurde. Dann stand sie auf und maß ihn, die Arme in die Seite gestemmt, mit blitzenden Augen von oben bis unten.
»Ja, jetzt verstehe ich«, sagte sie. »Du verdammter alter Halunke!«
Herr Widgery hatte altmodische Ansichten über junge Damen und damenhafte Ausdrücke. Er war entsetzt. »Aber!« sagte er. »Aber!«
»Was – aber?« sagte Christina Alberta.
»Du mußt nicht solche Sachen sagen, Chrissie. Du mußt keine solchen Ausdrücke gebrauchen. Du mußt dir keine falschen Vorstellungen machen. Was meinst du eigentlich? Alter Halunke! Wieso? Ich tu' doch nur, was ich zu tun habe. Du bist noch nicht großjährig, bist, gesetzlich genommen, noch ein Kind, und natürlicherweise kommt es mir zu, mir, dem nächsten Verwandten deines Vaters, alle notwendigen Anstalten für ihn und dich zu treffen. Das ist alles. Du mußt dir keine falschen Vorstellungen machen, und du darfst dich nicht aufregen. Verstehst du?«
»Ich nannte dich«, sagte Christina Alberta, »einen verdammten alten Halunken.«
Er vermied es, ihr in die Augen zu schauen. Er sprach so, als ob er sich an den Schreibtisch wende.
»Und nützt dir das irgendetwas, so abscheuliche Ausdrücke zu gebrauchen? Oder schadet es mir? Oder ändert es was an der Tatsache, daß ich, ob ich will oder nicht, mich um sein Eigentum kümmern und darauf aufpassen muß? Und auch auf dich aufpassen muß, damit dir kein Unglück zustößt? Ich und deine Tante wollen dein Bestes und denken an nichts andres, als was für dich zu geschehen hat. Und du fährst auf mich los wie eine Schlange und gebrauchst Ausdrücke –!«
Die Worte fehlten Herrn Widgery, und während er immer noch den Schreibtisch um Mitleid anzurufen schien, zuckte er die Achseln und ließ die Arme fallen.
»Du bist nicht sein Verwandter«, sagte Christina Alberta. »Ich ahnte schon, als ich deinen Brief las, worauf du hinauswolltest. Du bist froh, ihn los zu sein, weil er auf pünktlichen Zahlungen bestand. Du denkst, ich bin ganz allein; du denkst, ich bin bloß ein Mädchen. Du denkst, du kannst mit mir tun, was du willst. Du irrst dich. Ich werde dich jeden Pfennig zahlen lassen, der zu zahlen ist, und zwar noch pünktlicher als je. Und warum hast du denn nichts getan, um ihn wieder herauszubekommen, sobald du gehört hattest, daß man ihn festgenommen hat?«
»Rege dich nur nicht auf, Chrissie«, sagte Herr Widgery. »Wenn ich auch mit deinem Vater nicht blutsverwandt bin, so bin ich's doch mit dir. Ich bin dein nächster Verwandter und dein bester Freund und muß daran denken, was mit dir zu geschehen hat. Ich hab' für dich zu handeln. Trotz Schimpfworten und allem. Ich sag' dir, er ist gut aufgehoben und sicher, wo er jetzt ist, und es fällt mir nicht ein, ihn da wegzuholen. Nicht im geringsten. Dort ist er, und dort wird er bleiben, und ich denke zu handeln, wie mir's Herr Punter rät. Ich werde seine Dividenden, wenn sie fällig werden, zurücklegen und dir geben, was ich für deinen Unterhalt zu zahlen für richtig halte, und es ihm abziehen, und ich werde darauf sehen, daß du in Zukunft ein ordentliches Leben führst, so wie es meine arme Base Christina gewünscht hätte. Du hast dich in einer wirklich skandalösen Weise in der Welt herumgetrieben und fluchen und schimpfen gelernt. Das kann nicht so weiter gehn. So stehen die Sachen, Chrissie, und je bälder du sie von der richtigen Seite siehst, desto besser.«
Das junge Mädchen stand sprachlos da, während Herr Widgery seine Ansichten entwickelte.
»Wo ist Frau Widgery?« fragte sie schließlich mit erstaunlicher Selbstbeherrschung.
»Oben im Waschraum, wo sie die Aufsicht führt. Ganz unnötig, sie zu stören. Wir haben über das alles gesprochen, verschiedene Male, und wir sind ganz einer Meinung in der Sache. Wir haben jetzt das Recht, auf dich aufzupassen, wir sind für dich verantwortlich, und wir werden unsere Pflicht an dir tun, Chrissie, ob es dir paßt oder nicht.«
Unerfreuliche Zweifel bestürmten Christina Alberta. Erst in zwei Monaten wurde sie einundzwanzig, und es war ganz gut möglich, daß das Gesetz diesem häßlichen und schmutzigen Kerl alle möglichen widernatürlichen Befugnisse über sie einräumte. Doch war es ihre Art, den Dingen mit tapferer Miene entgegenzutreten.
»Alles das ist lauter Unsinn«, sagte sie. »Ich habe nicht die Absicht, mir meinen Vati einfach fortnehmen zu lassen, ohne daß ich ein Wort zu sagen hätte, und ich habe nicht die Absicht, dich mit seinem Eigentum herumwirtschaften zu lassen. Jeder in der Familie weiß, daß du ein scheinheiliger Schmutzian bist. Mutter sagte das oft und oft. Ich werde mich um ihn kümmern und ihn in eine Spezialanstalt für Nervenkranke bringen lassen, wo er die geeignete Pflege erhalten kann. Und um dir das zu sagen, bin ich hergekommen.«
Herrn Widgerys kleine Äuglein schienen sie abzuschätzen. »Du spielst dich ja recht sehr auf, Chrissie«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Du wirst das tun, und du wirst jenes tun. Du hast eine ganz falsche Vorstellung von dem, was du auf dieser Welt tun kannst. Du hast gar kein Geld, und du hast gar keine Autorität, und je bälder du dir darüber klar wirst, desto besser.«
Wieder wollte sich jenes beängstigende Gefühl Christina Albertas bemächtigen. Um dagegen anzukämpfen, verlor sie absichtlich die Geduld.
»Ich werde dir nur zu bald zeigen, was ich kann, und du nicht«, sagte sie mit flammendem Gesicht.
»Na, reg' duu dich nur nicht auf«, sagte Herr Widgery. »Gerade du solltest dich nicht aufregen.«
» Aufregen!« wiederholte Christina Alberta, um sich für einen Gegenhieb zu sammeln. Dann aber, von einem häßlichen Gedanken plötzlich durchzuckt, brach sie kurz ab und starrte die kleinen, hellbraunen Augen in dem pockennarbigen Gesicht an. Schweigend antworteten sie ihrer stummen, verwunderten Frage. Es war das dritte oder vierte Mal, daß er das Wort ‹aufregen› gebraucht hatte, und jetzt wußte sie, worauf er damit hinzielte. Mit einem Male durchschaute sie die Gedankengänge, auf die ihn ihres Vatis Abschaffung gebracht hatte. Auch er hatte das Irrengesetz studiert – und Träume geträumt.
»Ganz richtig«, sagte Herr Widgery. »Du bist immer ein etwas sonderbares Mädel gewesen, Chrissie, und hast ein tolles Leben geführt, und diese Geschichte jetzt war ein harter Schlag für dich. Muß es ja gewesen sein. Du hast keine andern vernünftigen Freunde als deine Tante und mich und keinen ruhigen Zufluchtsort außer unserem Heim. Braus' nur nicht gleich wieder auf, Chrissie; ich meine es gut mit dir. Ich hab' nicht die Absicht, dir weiter Geld zu geben, damit du in London leben kannst. Weiß der Himmel, auf was für einen Unsinn du da noch kommen könntest. Nenn' mich was für einen Halunken du willst. Fluch' auf mich, als ob du von Sinnen wärst: es wird nichts an dem ändern, was ich zu tun gedenke. Ich will, daß du hier heraus kommst und deinen Geist und deine Nerven eine Zeitlang ausruhst und mich einen Arzt rufen läßt, der dich anschaut und uns sagt, was mit dir zu geschehen hat ... Du wirst mir noch eines Tages dafür dankbar sein.«
Sein großes, graues Gesicht schien sich in die Breite zu dehnen und vor ihren Augen herumzuschwimmen, und das Zimmer wurde klein und dunkel.
»Es ist meine Pflicht, mich um dich zu kümmern«, sagte er. »Es kann weder dir noch sonstwem schaden, wenn wir einen Arzt zu Rate ziehen.«
Auf der Fahrt nach Woodford Wells hatte sie sich gesagt, daß sie Herrn Samuel Widgery so klein kriegen wolle, wie er nie im Leben noch gewesen. Nun aber sah die Sache anders aus.
»Pah!« rief sie. »Glaubst du denn, ich werde jemals hierher zurückkommen?«
»Besser als du gehst in London zu Grunde, Chrissie«, sagte er. »Besser als du gehst in London zu Grunde. Wir wollen nicht, daß du in London überschnappst wie dein Vater.«
Sie fühlte, daß es Zeit wurde, zu gehen, doch eine oder zwei Sekunden lang vermochte sie sich nicht zu rühren. Sie konnte sich nicht rühren, weil sie fürchtete, er könnte sie zurückhalten, und sie nicht wußte, wozu sie sich hinreißen lassen würde, wenn er das wagte. Dann sprang sie auf.
»Schön,« sagte sie und machte einen Schritt an ihm vorbei gegen die Tür, sodaß er sich auf seinem Absatz umdrehen mußte, »ich hab dir gesagt, was ich von dir denke. Und nun ist es wohl besser, wenn ich gehe.«
In seinen Augen sah sie den Gedanken, ihr in den Weg zu treten, aufblitzen und ersterben. »Willst du nicht noch bleiben und etwas essen,« sagte er, »bevor du zurückfährst?«
»Essen, hier!« rief sie und erreichte die Tür.
Ihre Hand zitterte so, daß es ihr schwer fiel, die Klinke niederzudrücken. Er stand bewegungslos da und starrte sie an, seine Unterlippe hing herunter, und auf seinem Gesicht lag ein zweifelnder Ausdruck. Es schien, als ob er seiner selbst und des Weges, den er einschlagen wollte, nicht ganz sicher sei. Welchen Weg er gerne eingeschlagen hätte, war erschreckend klar.
Würdevoll schritt sie durch das offene Haustor und den Gartenweg hinunter. Sie sah sich nicht um, doch wußte sie, daß er ans Fenster trat und sie beobachtete. Niemals im Leben war sie einem panischen Angstgefühl so nahe gewesen. Sie wäre am liebsten gerannt.
Nachdem der Zug abgefahren war, fühlte sie sich etwas sicherer. »Wie zum Teufel kann er mir denn beikommen?« fragte sie laut das leere Abteil.
Doch war sie ganz und gar nicht so sicher, daß man ihr nicht beikommen könnte, und sie entdeckte sich bei dem Versuche, abzuschätzen, wieviel Unterstützung und Freundschaft sie bei ihren Londoner Freunden gerade noch finden könnte. Konnte sie, zum Beispiel, auf Herrn Paul Lambone rechnen? Falls ihr der Lebensunterhalt entzogen würde, konnte sie dann irgendeine Arbeit finden und sich eine Zeitlang selbst erhalten, bis sie ihren unglückseligen Vati aus dem Netz zu ziehen vermochte, in das er geraten war? Wie würden es Harold und Fee, die dauernd knapp daran waren, aufnehmen, wenn jede Unterstützung aufhörte? Und mittlerweile mochte sich Vati wundern, warum ihm von nirgendher Hilfe käme – er, der das, was ihm zugestoßen war, nicht verstehen konnte und zweifellos immer wirrer wurde.
Christina Alberta wurde in diesen Tagen rasch zu einem erwachsenen Menschen. Unter ihrer Rebellion und ihrem Radikalismus hatte stets, verschwiegen und unbewußt, der Glaube an die Richtigkeit, Sicherheit und tragende Kraft des sozialen Aufbaues geschlummert. Das ist bei jugendlichen Rebellen zumeist der Fall. Ohne gerade viel darüber nachzudenken, hatte sie angenommen, daß Spitäler bequeme und luxuriöse Heimstätten, die Ärzte im vollen Besitz und Gebrauch der ganzen bestehenden Wissenschaft, die Gefängnisse sauber und in jeder Hinsicht musterhaft seien, und daß die Gesetze, wenn sie auch an und für sich immer noch ungerecht sein mochten, zumindest doch redlich und mit allem Nachdruck angewendet würden. Sie hatte ebenso zuversichtlich an eine im Grunde vorhandene Lauterkeit des sozialen Lebens geglaubt wie ein kleines Kind an die unzerstörbare Sicherheit der Kinderstube und des Heims. Jetzt aber erwachte sie zu der Tatsache, daß die ganze Welt unsicher ist. Nicht daß es eine böse oder übelwollende Welt gewesen wäre, aber es war eine gleichgültige Welt, eine Welt des Zufalls. Eine Welt, die vor jeder Unannehmlichkeit zurückschreckte; die gemein, bedrohlich und grausam sein konnte, um Unannehmlichkeiten zu entrinnen; die Leid und Elend übersah, soweit sie nur irgend konnte. Es war eine gefährliche Welt, eine Welt voll eigensüchtiger Leute, in der man untergehen und vergessen werden konnte, obgleich man noch lebte und litt. Es war nicht gut, in solch einer Welt allein zu sein, und Christina Alberta fing an, sich ganz jämmerlich allein zu fühlen.
Sie hatte niemals, so überlegte sie, sehr viel von ihrer Familie gehalten, jetzt aber verstand sie, daß sich eine Familie auch zu rasch auflösen könne. Sie brauchte eine Mauer, die ihr den Rücken decken konnte, wenn Sam Widgery seine Courage zuguterletzt doch dazu emporschraubte, aggressiv zu werden; sie brauchte jemanden, der ganz ihr gehörte, einen treuen Verbündeten, einen, auf den sie zählen konnte, einen, der ihr näher war als Gesetz oder Brauch, einen, der sie suchen und ausfindig machen würde, was ihr geschehen sei, wenn sie ins Unglück geriet, der ein Unheil, das sie ereilte, nicht ruhig hinnehmen, der mehr um sie besorgt sein würde als um sich selbst.
Einen? Nicht eine. Also einen Liebhaber.
‹Verdammter Teddy!› rief Christina Alberta und schlug mit ihrer Faust eine Wolke von Staub aus dem Eisenbahnpolster. ‹Er hat das für immer unmöglich gemacht.
Und ich habe gewußt, wie er ist, die ganze Zeit hab' ich genau gewußt, wie er ist!
Ich muß mich wohl allein durchfressen›, sagte Christina Alberta.
‹Und außerdem, wer würde mich schon gern gehabt haben, mit einer Nase wie die meine?
Selbst wenn es Liebhaber geben sollte, die so lieben könnten! Aber es ist eine Welt von Leuten, denen alles gleichgültig ist. Es ist eine Welt von Leuten, die nicht das Zeug zu wirklicher Liebe haben. Ein Misthaufen von einer Welt ist es›, sagte Christina Alberta.
Ihre Gedanken begannen sich in einer neuen Richtung zu bewegen. War denn, schließlich und endlich, die Auffassung, daß sie – wie sollte man sagen – sonderbar sei, nicht nur zu berechtigt? Bisher hatte sich Christina Alberta immer als ein Muster körperlicher und geistiger Gesundheit angesehen – hatte keinen Fehler an sich entdeckt, ausgenommen vielleicht ihre Nase. Jetzt saß ihr das Wort ‹sonderbar› im Gedächtnis wie ein Dorn. Sie konnte ihn nicht mehr herausziehen.
Sie hatte sich immer, das wußte sie, von den anderen unterschieden. Sie hatte immer ihre eigene Art gehabt.
Die meisten Leute, denen sie in der Welt begegnet war, hatten auf sie einen farblosen Eindruck gemacht, schwach im Reden und Handeln, ausweichend – das war das richtige Wort: ‹ausweichend›. Sie wichen dem Gebrauch aller möglichen derben Worte aus, ohne zu wissen warum. Christina Alberta war dafür, ‹verdammt› und ähnliches zu sagen, solange sie niemand davon überzeugte, daß dergleichen nicht nur deshalb zu vermeiden sei, weil ‹feine› Leute es vermieden. Die meisten Leute mochten dies nicht sagen und jenes nicht tun, bloß weil es nicht üblich war. Was hingegen üblich war, das ahmten sie, so offenkundig verrückt es auch sein mochte, geradezu ängstlich nach. Sie lebten bloß, um andere nachzuäffen, wollten um Gottes willen nur nicht sie selbst sein, bis sie starben. Wozu dann überhaupt leben? Warum nicht lieber abtreten und die ganze Geschichte jemand anderem überlassen? Immerhin, sie kamen gut durchs Leben. Sie gerieten in keine Unannehmlichkeiten. Einer unterstützte den anderen. Und andererseits, wenn man nicht auswich? Dann stieß man andere Leute vor den Kopf. Man ging abseits von der großen Straße. Man glich einem Zug, der die Schienen verläßt und querfeldein eine Abkürzung sucht. Man rannte überall an.
War dieses ausweichende Leben, das sie immer so sehr verabscheut hatte, in Wirklichkeit das vernünftige Leben? Wenn man aufhörte auszuweichen, hörte man dann auf, vernünftig zu sein? Schafe, so hatte sie gelesen, haben zuweilen eine Krankheit, die Drehkrankheit genannt; da sondern sie sich von den andern ab und sterben. War diese ganze Originalität, das selbständige Denken, nicht mit der Menge laufen und so fort, das ihr Stolz und ihre Freude gewesen, nichts weiter als der Weg abseits vom vernünftigen Leben? Originalität, Exzentrizität, Seltsamkeit, Verrücktheit, Wahnsinn: war das bloß eine quantitative Skala?
Lag ihres Vatis Seltsamkeit nicht darin, daß er nach Jahren ängstlichen Ausweichens schließlich versucht hatte, etwas Wirkliches, Ungewöhnliches zu tun? Und hatte sie auf ihre Art etwas anderes versucht? War auch sie einseitig? Vielleicht nach einer anderen Richtung hin, aber nichtsdestoweniger einseitig? Eine vererbte Einseitigkeit?
Sie schweifte zu der Frage ab, ob sie denn auch nur das geringste von ihrem Vati geerbt habe. War seine Seltsamkeit von derselben Art wie die ihre? Das mußte man wohl annehmen, wenn man bedachte, daß sie Vater und Tochter waren.
Aber wie verschieden waren sie doch! Wie erstaunlich verschieden für Vater und Tochter! ...
Aber waren sie denn überhaupt Vater und Tochter? Eine stets zurückgedrängte Phantasterei stieg wieder in ihr auf – eine Phantasterei, die auf dem unsichersten Grunde ruhte, auf zufälligen Ausdrücken, die ihre Mutter gebraucht hatte, auf Augenblicken der Eingebung. Ein- oder zweimal war aus diesen lauernden Erinnerungen ein Traum entstanden und hatte sie der Wunderlichkeit halber beschäftigt, um dann wieder mit Verachtung beiseite geschoben zu werden.
Blap. Blap. Blap. Eine vertraute Variation zu dem vertrauten Lärm des Zuges. Christina Alberta fuhr in den Bahnhof Liverpoolstraße ein, und ihre verwickelten Lebensprobleme blieben alle ungelöst.
Die alte Phantasterei verlor wieder an Kraft und entschwand. Wozu waren solche Träume gut? Da war sie also.
Das Zusammentreffen Christina Albertas mit Wilfred Devizes am nächsten Tage sollte sich zu einem viel aufregenderen Erlebnis gestalten, als sie oder er erwartet hatten.
Auf den Rat Paul Lambones hin nahm sie Photographien und einen oder zwei Briefe in ihres Vatis Handschrift mit; auch hatte sie sich zurechtgelegt, welche bezeichnenden Einzelheiten sie über ihn erzählen wollte. Sie fuhr in einem Taxi mit Paul Lambone zu Devizes' Haus, das unweit des Cavendishplatzes lag, und sie wurden sofort an einem Wartezimmer und einem Sprechzimmer vorbei in ein vornehmes kleines Wohnzimmer mit einem Kaminfeuer, einem gedeckten Teetisch und einer Anzahl Bücherschränke geführt. Devizes kam gleich darauf zu ihnen herein.
Sie war ein wenig betroffen bei dem Gedanken, daß dieser schlanke, dunkle, struwwelköpfige Mann ihr ähnlich sehen sollte. Er war jünger, als sie erwartet hatte, jünger, so schien ihr, als Vati oder Herr Lambone, und hatte einen langen, nicht zugeknöpften Gehrock an. Ihm stand die Nase gar nicht schlecht; er sah wirklich sehr gut aus.
»Halloh, Paul«, sagte er fröhlich. »Ist das die junge Dame, deren Vater gestohlen worden ist? Wir wollen Tee trinken. Fräulein –?«
»Fräulein Preemby,« sagte Paul Lambone, »aber jedermann nennt sie bloß Christina Alberta.«
Devizes wandte seinen Blick, einen durch Veranlagung und Gewohnheit forschenden Blick, auf sie. Er verriet ein schwaches, augenblickliches Erstaunen, trat näher und schüttelte ihr die Hand. »Erzählen Sie mir die Sache genau«, sagte er. »Sie glauben nicht, daß er wirklich verrückt ist, sondern bloß ein wenig ungewöhnlich und seltsam. Nicht wahr? Lambone sagt mir, daß er gesund sei. Das ist ganz gut möglich. Ich glaube, Sie schildern mir zunächst seinen Geisteszustand; die Frage des Irrenhauses wollen wir nachher besprechen. Wie ich höre, möchten Sie ihn aus der Anstalt heraus in häusliche Pflege nehmen. Das ist auf keinen Fall einfach. Wir werden die Hindernisse zu studieren haben. Trinken wir zuerst einmal Tee ... Ich habe soeben die Komplexe einer geradezu entsetzlichen alten Dame entwirrt und bin jetzt etwas erschöpft. Erzählen Sie mir einmal die ganze Geschichte auf Ihre eigene Art.«
»Berichte also«, sagte Paul, indem er sich in seinem Lehnstuhl zurechtsetzte, bereit, Christina Alberta zu unterbrechen.
Christina Alberta begann ihre vorbereitete Rede vom Stapel zu lassen. Hie und da unterbrach sie Devizes mit einer Frage. Er wandte die Augen nicht von ihr ab, und es schien ihr, als ob diese von allem Anfang an etwas mehr als bloße Aufmerksamkeit für das, was sie sagte, verrieten. Er schaute sie an, als ob er sie schon früher einmal gesehen hätte und sich nur nicht erinnern könnte, wo. Sie schilderte die Gespräche, die Vati mit ihr geführt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, über die Pyramiden und die verlorene Atlantis und so weiter, und dann die merkwürdige Veränderung, die nach dem Tode ihrer Mutter mit ihm vor sich gegangen war. Sie erzählte von der okkultistischen Séance und von der Wiederkunft Sargons. Devizes ließ sie die Sargongeschichte von verschiedenen Seiten her beleuchten. »Es ist doch merkwürdig, daß die Suggestion so gut zu Preembys Geistesverfassung stimmte. Was hatte der junge Mann eigentlich für Absichten? Ich verstehe ihn nicht ganz.«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, er verfiel rein durch Zufall auf das Zeug, das er redete. Das Unglück war bloß, daß es meinem Vater paßte.«
»Das Ganze war eine Art Studentenulk?«
»Ein Studentenulk. Er hätte ebensogut Tut-an-ka-men wählen können.«
»Aber er wählte zufällig Sargon.«
»Vielleicht weiß er gerade über Sargon mehr als über ein anderes Kapitel der alten Geschichte.«
»Über Ihren Vater wußte er wohl nichts Näheres?«
»Ich könnte mir nicht denken, woher. Wahrscheinlich fand er, daß Vater klein und albern aussah, und es mag seinen Sinn für Humor gereizt haben, gerade ihn zu einem großen König zu machen. Ich möchte mit diesem jungen Mann gern ein offenes Wort reden.«
»Du siehst, es handelt sich nicht um eine Selbsttäuschung, sondern um einen Betrug, Devizes«, sagte Paul Lambone.
»Denkt er im allgemeinen zusammenhängend?« fragte Devizes.
»Wenn man seine fixe Idee gelten läßt, denkt er erstaunlich zusammenhängend«, sagte sie.
»Er ist nicht manchmal irgendwer andrer, Gott oder ein Millionär, oder sonst jemand?«
»Nein. Er glaubt an die Reinkarnation und deutet an, daß er noch andere Leben gelebt habe, aber das ist alles.«
»Tausende von Leuten tun das«, sagte Lambone.
»Und niemand verfolgt ihn? Niemand macht Lärm, um ihn zu erschrecken, oder dringt mit X-Strahlen auf ihn ein, oder ähnliches?«
»Keine Spur von dergleichen Dingen.«
»Der Mann ist gesund. Es sei denn, daß er verrückt wurde, nachdem er das Atelier Ihrer Freunde verlassen hatte.«
»Ich bin von seiner Gesundheit überzeugt«, sagte Lambone. »Ich wünschte, ich hätte Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Eines möchte ich bemerken: jedermann schwatzt heutzutage von einem Minderwertigkeitskomplex. Ist es denn ungewöhnlich, daß Leute, die man schlecht behandelt und getäuscht hat und die den Tatsachen des Lebens nicht ins Auge schauen wollen, in einer angenommenen Persönlichkeit Zuflucht suchen? Wenn man nun die Träumereien, die okkultistische Séance und alles zusammennimmt, mußte das nicht zu solch einer fixen Idee führen?«
»Er weiß, daß er eigentlich – daß er im Grunde Preemby ist?« fragte Devizes.
»Es ärgerte ihn, wenn man das sagte«, erwiderte Christina Alberta. »Ich glaube, ein Grund, warum er wegging, war, daß ich und meine Freundin, Frau Crumb, ihm das beizubringen versuchten. Das trieb ihn fort. Er weiß, daß er in Wirklichkeit Preemby ist, aber er möchte wer andrer sein. Er weiß, daß er sich das alles bloß vormacht.«
Paul Lambone mischte sich wieder ein. »Mir gefällt das. Nicht nur, daß es nicht verrückt ist, es ist sogar vollkommen vernünftig. Jemand andrer, größerer zu werden, als man ist, das ist einer der Leitsätze der Hälfte aller Religionen auf der Welt. Alle Mithraisten wollen Mithra werden; die Serapisten, wenn ich mich recht erinnere, Osiris. Wir alle wollen in Wirklichkeit wiedergeboren werden. Jeder Mensch mit nur etwas Gefühl und Demut möchte das. In irgendetwas Größeres hinein. ‹Wer will mich befreien von dem Körper dieses Todes?› Deshalb ist Christina Albertas Vater so ungeheuer interessant. Er hat Phantasie; er hat Originalität. Er mag ein schwacher, kleiner Kerl sein, aber das hat er.«
»Einen ungewöhnlichen Geist haben, das ist noch nicht Wahnsinn,« sagte Devizes, »sonst müßten wir alle unsere Dichter und Künstler in Irrenanstalten stecken.«
»Wenige erreichen dieses Niveau«, sagte Lambone. »Leider!«
Devizes überlegte. »Ich glaube, ich bin mir über die Sache im klaren. Er denkt zusammenhängend. Er ist ordentlich in seiner Kleidung. Er fühlt sich nicht verfolgt. Er ist selbstlos in seinen Gedanken, und das geradezu in romantischer Weise. Er ist weder verfettet noch schwerfällig, und hat niemals irgendwelche Anfälle gehabt. Es gibt keinen Typus von Irrsinnigen, unter den ihn ein verständiger Arzt einreihen könnte; freilich haben aber die meisten Ärzte nicht das geringste Verständnis für psychiatrische Fälle. Ein dummer Arzt kann seine Phantasien irrtümlich für den Schwulst der Paranoia halten oder seine Träumereien für Dementia praecox, oder meinen, er sei ein verkappter Epileptiker. Aber das alles sind Fälle geistiger Erkrankung, und Ihr Vater ist wahrscheinlich überhaupt nicht krank. Er ist geistig gestört, aber das ist auch alles. Der Unterschied zwischen ihm und einem wirklich Irrsinnigen ist der Unterschied zwischen einem Korb voll Früchten, die umgeworfen worden sind, und einem Korb voll Früchten, die verfault sind. Umgeworfene Früchte bekommen Flecken und werden sehr leicht faul – aber umgeworfen sein ist nicht verfault sein. Wie sieht er eigentlich aus?«
»Sie hat Photographien mit«, sagte Lambone.
»Ich möchte sie gerne sehen«, sagte Devizes, und man gab ihm eine, die, erst vor kurzem gemacht, Herrn Preemby als Wäschereibesitzer darstellte. »Weitaus zuviel Schnurrbart«, sagte er. »Ist eine da, auf der wenigstens ein Teil seines Gesichtes unbedeckt ist? Hier ist nichts zu sehen als seine Augen.«
»Ich dachte mir, daß du das finden würdest«, sagte Lambone. »Es gibt eine, die Herrn Preemby als jungen Mann zeigt, bald nach seiner Hochzeit mit Frau Preemby aufgenommen. Hast du sie da, Christina Alberta? ... Hier haben wir sie ... Das ist Frau Preemby in dem Sessel. Der Schnurrbart hat – der Hauptsache nach – erst noch zu kommen.«
»Hat er jung geheiratet?« fragte Devizes Christina Alberta.
»Er denke wohl«, sagte sie. »Ich weiß nicht genau, wie alt er ist. Meine Mutter hat es mir nie gesagt.«
Devizes musterte die Photographie. »Sonderbar«, sagte er und schien in seinem Gedächtnis zu forschen. »Er kommt mir bekannt vor. Ich habe diese beiden Menschen schon einmal gesehen.«
»Sie waren beide Londoner, nicht wahr?« sagte er, während er Christina Alberta fest ansah.
»Aus Woodford Wells«, sagte Christina Alberta.
»Mein Vater ist in Sheringham geboren«, fügte sie nach einer kleinen Weile hinzu.
»Sheringham. Das ist sonderbar.« Mit offenkundig vertieftem Interesse schaute er das Paar an, das gegen einen jener ländlichen Hintergründe, wie sie bei den Photographen des victorianischen Zeitalters so beliebt waren, gestellt war. »Chrissie,« wiederholte er leise, »Chrissie. Christina Alberta. Es kann nicht sein.«
Einige Augenblicke lang schien Doktor Devizes seine Konsultanten gänzlich zu vergessen, während sie ihn noch immer gespannt beobachteten. Er versuchte, das Gesicht des jungen Mannes auf dem Bilde zu studieren, doch es war die auf dem ländlichen Zauntritt sitzende junge Frau, die sein Interesse auf sich zog. Erstaunlich, wie vollkommen er ihr Gesicht vergessen hatte, und wie sie jetzt, dem Bilde, das er von ihr hatte, unglaublich unähnlich und doch wieder ähnlich, in sein Gedächtnis zurückkehrte. Er erinnerte sich der Augengläser, des Halses und der Schultern. Und einer Art steifer Herausforderung. »Wann haben Ihre Mutter und Ihr Vater geheiratet?« fragte er. »Wie lange ist das her?«
»Achtzehnhundertneunundneunzig«, antwortete sie.
»Und dann wurden Sie gleich geboren?« Er stellte diese Frage in geheuchelt ungezwungenem Ton.
»Es lag der gehörige Zeitraum dazwischen«, sagte Christina Alberta mit plumper Nachlässigkeit. »Ich kam neunzehnhundert zur Welt.«
»Ein kleiner, blonder, blauäugiger Bursche mit ziemlich geistesabwesendem Gehaben. Ich vermeine ihn vor mir zu sehen«, sagte Devizes und nahm die Musterung der Photographie wieder auf. Fast eine volle Minute lang sprach niemand. »Guter Gott!« flüsterte Lambone. Devizes trank geistesabwesend eine Tasse Tee. »Höchst merkwürdig«, rief er plötzlich aus. »Ich hätte mir das nie träumen lassen.«
»Was denn?«
Seine Antwort war ausweichend. »Christina Albertas Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Es ist erstaunlich. Es hat mich schon die ganze Zeit verwirrt; seit ich ins Zimmer getreten bin. Es hat meine Aufmerksamkeit abgelenkt. Ich habe ein kleines Bild ...«
Er sprang auf und eilte aus dem Zimmer. Christina Alberta wandte sich sogleich, verwirrt und aufgeregt, wie sie war, an Lambone. »Er kannte meinen Vater und meine Mutter«, sagte sie.
»Augenscheinlich«, sagte Lambone mit etwas Zurückhaltung in seiner Stimme.
» Augenscheinlich!« gab sie zurück. »Er kannte sie! Er kannte sie gut. Und – woran denkt er nur?«
Devizes erschien wieder und zeigte ein kleines Bild in goldenem Rahmen vor. »Sieh dir das an!« sagte er und reichte es Paul Lambone. »Es könnte Christina Alberta sein. Kannst du sehen, wie ähnlich es ist? Wenn man von dieser unnatürlichen Frisur, die sich auf ihrem Kopf auftürmt, und dem hohen Halskragen absieht.«
Er reichte das Bild Christina Alberta und sah Lambone in fragendem Staunen an.
»Das könnte ich in Verkleidung sein«, stimmte Christina Alberta zu, das Bild in ihrer Hand betrachtend. Darauf entstand eine lange Pause. Sie blickte auf und sah den Ausdruck seines Gesichtes. Ihr Geist machte einen phantastischen Sprung, so phantastisch, daß er sogleich wieder auf den Punkt zurücksprang, von wo er ausgegangen war. Es war wie das Aufflackern eines Blitzes in pechrabenschwarzer Nacht. Sie bemühte sich, die Unterhaltung wieder anzuknüpfen, so zu tun, als ob ihr Geist jenen Sprung nicht gemacht hätte. »Aber was hat das alles mit meines Vaters Krankheit zu tun?« fragte sie.
»Nichts Unmittelbares. Ihre Ähnlichkeit mit meiner Mutter ist reiner Zufall. Reiner Zufall. Immerhin, ein merkwürdiger Zufall! Und für den Augenblick hat er meine Aufmerksamkeit abgelenkt. Verzeihen Sie. Ich bin der Anschauung, daß, wo eine derartige Ähnlichkeit vorhanden ist, auch eine Blutsverwandtschaft besteht. Ich vermute, die Familie Ihrer Mutter – wie sagten Sie, hieß sie – Hoskin?«
»Habe ich ihren Namen genannt. Ich glaube nicht. Ich hab' ihn nicht genannt. Ihr Name war Hossett.«
»Ah ja! – Hossett. Vielleicht sind die Hossetts und die Devizes durch eine zwei oder drei Generationen zurückliegende Heirat miteinander verwandt. Und wir sind demnach verschwägert – wir wissen nicht, in welchem Grade. Typen in einer Familie gehen zuweilen unter und tauchen dann plötzlich wieder auf. Es verbindet uns irgendwie, Christina Alberta, nicht? Es gibt mir ein spezielles Interesse an Ihnen. Sie gelten mir jetzt nicht mehr nur als irgendeine alte Patientin. Oder nur als Pauls Freundin. Ich fühle mich Ihnen verbunden. Aber lassen Sie uns auf Ihren Vater zurückkommen, der Ihre Mutter heiratete, just als der südafrikanische Krieg anfing. Er ist immer ein verträumter, unaufmerksamer Mensch gewesen. Wie wir schon gesagt haben. Von allem Anfang an ...«
Er brach plötzlich ab.
»Immer«, sagte Christina Alberta nach einer langen Pause.
»Wir haben das alles ja schon besprochen«, sagte Devizes, hörte zu sprechen auf, und wußte eine Minute lang absolut nicht, was er sagen sollte. »Ja«, sagte er endlich.
Christina Albertas Herz schlug rasch, und auf ihren Wangen lag die Röte der Aufregung. Ihr rascher Verstand wußte alle Lücken auszufüllen. Sie verstand – und dann war es wieder verschwunden. Sie wäre am liebsten aufgestanden und weggegangen, um alles sogleich noch einmal zu überdenken. Aber das ging nicht. Sie mußte die Fragen, die in ihr aufwogten, unterdrücken. Ihr Geist trieb wie ein hartnäckiger Wanderer, der in einen Wirbelwind geraten ist, vorwärts. Ihre Mutter zum Beispiel. Sie versuchte, sich an einen Satz ihrer Mutter zu erinnern, der ihr lang, halb unterdrückt, im Sinne gelegen hatte. ‹Geht weg und läßt mich allein damit.› War es so? ‹Schleicht sich weg und läßt mich damit allein.› Ihre Mutter, wie sie im Bett lag und phantasierte. Wer hatte sie womit allein gelassen? Dieses stete Rätsel. Dieser Verdacht. Dieser Traum. Aber gib jetzt auf ihn acht, Christina Alberta; gib auf ihn acht! Sie verschlang ihn mit ihrem ganzen Wesen, und schien doch taub für das, was er sagte.
Er sagte gerade, daß er nun, da er gleich ihnen von Preembys geistiger Gesundheit überzeugt sei, eine Möglichkeit der Lösung seiner eigentlichen Aufgabe vor sich sehe. Es sei die alte, alte Geschichte, wie aus gesunden Leuten Irrsinnige gemacht werden, mit der sie es in Preembys Fall zu tun hätten. Es sei die alte, alte Geschichte, wie aus gesunden Leuten Irrsinnige gemacht werden, mit der sie es in Preembys Fall zu tun hätten. (Er wiederholte diesen Satz Wort für Wort, ohne anscheinend zu bemerken, daß er ihn zweimal sagte.) Alle außergewöhnlichen Leute liefen Gefahr, mißverstanden zu werden, doch ein solcher Typus wie Herr Preemby, originell und doch jeder abstrakten Ausdrucksweise oder philosophischen Methode unfähig, der für seine Gefühle und Eingebungen phantastischen Ausdruck sucht, sei ganz besonders dazu geeignet, Anstoß zu erregen, Verdacht, Furcht und Feindseligkeit zu erwecken. Gerade solche Grenzfälle versuche er immer wieder vor den Irrenanstalten zu retten, und gerade sie gerieten immer wieder dorthin. Und dabei seien sie just die Leute, die man am allerwenigsten mit wirklich Wahnsinnigen in Berührung bringen darf. »Um auf meine Metapher zurückzukommen, die Früchte in dem Korb sind nicht faul, sind kaum fleckig, sind nur in Unordnung und durcheinander geworfen. Der Geist ist ein heikliges Ding, man muß vorsichtig mit ihm umgehen. Er wird unter dem Einfluß einer Irrenanstalt sehr leicht faul, ganz besonders einer wie der Ihres Vaters. Und der langen Rede kurzer Sinn: ich bin genau derselben Ansicht wie ihr beide, daß wir nämlich Preemby aus Cummerdown herausbekommen und ihn in eine ruhige Umgebung versetzen müssen, und das sobald wie nur irgend möglich. Sodann wollen wir seinen besonderen Komplex auskämmen und ihn wieder in tätige Verbindung mit der Welt bringen. Ich bin ganz sicher, daß wir das irgendwie fertigbringen werden. Wir können sein Inkognito zu einem dauernden erklären oder ihn zu einem Kaiser im Exil machen, wir werden ihm seinen richtigen Namen wiedergeben, eine vernünftige Tageseinteilung für ihn einrichten und ihn allmählich dahin bringen, ein geläuterter und befreiter Preemby zu sein.«
Er machte eine Pause.
»So ist es«, sagte Lambone, aus einer tiefen Betrachtung der beiden interessanten Gesichter vor ihm erwachend.
»Es ist nicht leicht. Auch nur zu ihm zu gelangen, ist nicht leicht. Wir werden auf allerlei Hindernisse stoßen. Ein gleichgültiger Magistratsbeamter und ein dummer Doktor können in fünf Minuten einen Irrsinnigen schaffen. Und es dauert lang, bis man ihr Werk wieder zunichte gemacht hat.«
Er erklärte einen oder zwei Punkte des Irrengesetzes, begann einen Operationsplan zu skizzieren, überlegte, an welche Leute Christina Alberta und an welche er schreiben sollte, und wie bald es möglich sein würde, Preemby zu sehen und ihm ein Wort der Ermutigung zukommen zu lassen. Devizes hatte schon verschiedene Reibereien mit der Organisation der Irrenanstalten gehabt; bei den Primarärzten galt er als lästiger, aber gefährlicher Mann, gegen den man nicht aufkommen konnte. Das mochte entweder feindlichen Widerstand oder Nachgiebigkeit erwecken. Jedenfalls mußte man vorsichtig zu Werke gehen.
Lambone unterbrach jetzt fast überhaupt nicht mehr. Er hatte aufgehört, sich für Preemby zu interessieren, der dort in Cummerdown eingemauert war. Er hatte sich vielmehr in Bewunderung über die Selbstbeherrschung verloren, die seine erstaunlichen Freunde an den Tag legten. Er versuchte sich vorzustellen, was für eine Unterströmung sonderbarer Aufregung, wunderlicher Gedanken und wirrer Gefühle unter ihrer höchst intelligenten Diskussion des Falles Preemby vorhanden sein mußte. Sie verschwendeten sehr wenig Aufmerksamkeit an den Zuschauer. Christina Albertas Antlitz war leicht gerötet, und ihre Augen glühten; Devizes machte weit weniger den Eindruck eines gewandten Sprechers als gewöhnlich, er erinnerte eher an einen Seminarleiter, der einen außerordentlich interessanten Studenten vor sich hat.
Der Gegenstand war schließlich erschöpft und die Zeit zu scheiden gekommen. Devizes begleitete sie zum Haustor.
»Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen jederzeit zur Verfügung stehe«, sagte er. »Sie finden mich im Telephonbuch. Und vergessen Sie nicht, Christina Alberta, daß ich ein lang verloren geglaubter Verwandter bin.«
»Ich werde es nicht vergessen«, sagte Christina Alberta, ihm in die Augen blickend.
Eine kurze Pause, und dann reichten sie einander ziemlich steif die Hände.
»Bin ich verrückt?« rief Christina Alberta, sobald sie mit Paul Lambone allein auf der Straße war. »Oder träume ich?«
Lambone stellte sich dumm: »Verrückt? Träumen? Wieso?«
»O! tu doch nicht, als ob du nicht verstündest. Nicht wüßtest, daß er mein wirklicher Vater ist! Mach' mir nichts vor! O, bitte, mach mir nichts vor! Ist er's, oder ist er's nicht?«
Lambone antwortete einen Augenblick lang nichts. »Du schnellst auf die Dinge los – wie eine Eidechse. Wie hat es denn geschehen können?«
»Dann glaubst du es also auch?«
»Meine teure Christina Alberta, er hat nicht gewußt, daß du existierst, bis er dich mit eigenen Augen sah. Dessen bin ich sicher.«
»War es aber nicht klar, daß er sie beide gekannt hat?«
»Devizes«, sagte Lambone, »ist zehn Jahre jünger als ich. Er ist kaum vierzig. Er müßte damals – achtzehn gewesen sein. Neunzehn, höchstens. Es ist ein wenig schwer zu glauben.«
»Im Gegenteil, das macht es glaubhafter. Du hast meine Mutter nicht gekannt. Wenn sie beide jung waren –«
»Es kann am Ende auch eine andere Erklärung geben«, meinte Lambone.
»Aber welche?«
»Das weiß ich nicht. Er war offenbar in Sheringham – vielleicht auf Ferien und lernte sie kennen. Aber –«
»Es muß ein flüchtiges Abenteuer gewesen sein. Und dann geschah ein Unglück. In Mutter loderte zuweilen blitzartig etwas auf ... Ich hab' sie niemals ganz verstanden. Sie pflegte mich zu unterdrücken, und unterdrückte vielleicht sich selber ... Und am Ende sagte sie etwas. Sagte, jemand habe sie im Stich gelassen ... Weißt du – manchmal – hab' ich mir etwas vorphantasiert – Verdacht geschöpft! Es schien, als ob sie erriete, daß ich etwas ahnte. Jetzt weiß ich, daß ich recht hatte. Es ist unglaublich. Und doch erklärt es hundert Dinge.«
»Er hat sicher nie von dir gewußt. Er war starr vor Staunen.«
»Und was wird nun geschehen?«
»Gesetzlich bist du Preembys Tochter. Nichts kann daran etwas ändern. Alle Ähnlichkeit und Zusammenhänge in der Welt werden daran nichts ändern.«
»Und alle Gesetze der Welt werden nichts an den Tatsachen ändern. Und –«
Errötend wandte sie sich an Lambone. »Begreifst du, was es heißt, zu glauben, daß man die Tochter eines attestierten Irrsinnigen ist? Und dann zu entdecken, daß man es nicht ist? Die ganze letzte Nacht lag ich über diesem unerträglichen Gedanken wach.«
»Die ganze Nacht – in deinem Alter!«
»Es schien die ganze Nacht. Vergangene Nacht – ich versuchte mir vorzustellen, daß etwas Derartiges geschehen sei. Versuchte es – und konnte es nicht. Versuchte mir all die alten Phantastereien wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Und da ist es jetzt! Ich hätte es wissen können. Ich hab' es gewußt und wollte es nur nicht wissen. Erzähl mir von diesem, meinem wirklichen Vater. Ich weiß gar nichts von ihm. Ist er ein guter Mensch? Oder ein schlechter? Hat er eine Frau?«
»Er betete seine Frau an. So wie ich. Es war eine der reizendsten und gescheitesten jungen Frauen, die ich gekannt habe. Sie war gesund und fröhlich – und bekam eine scheußliche Influenza und Lungenentzündung und starb. Nach einer Woche des Krankseins. Es brach ihm fast das Herz. Sie hatten keine Kinder. Sie hatten nur vier Jahre miteinander gelebt. Er ist ein Liebling der Frauen, aber ich glaube, es wird nicht sobald eine zweite Frau Devizes geben. Ich könnte mir's nicht vorstellen. Eine andere Frau! Nein! Das ganze Haus ist von ihrer Gegenwart erfüllt.«
»Ja«, sagte Christina Alberta und dachte eine Zeitlang nach.
Beim Überqueren der Bondstraße wurden sie für eine Weile getrennt, und auf dem Gehsteig der Piccadilly war das Gedränge groß; erst als sie in der St. Jamesstraße waren, konnten sie wieder sprechen.
»Vati«, sagte Christina Alberta, »scheint zehntausend Meilen weit entfernt. Wenn ich über das jetzige Erstaunen hinweg bin, dann, hoffe ich, werde ich wieder zu ihm zurückfinden. Vorläufig aber – muß er warten.«
»Willst du nicht ein wenig zu mir kommen?« fragte Lambone an der Ecke der Half-Moon-Straße. »Du könntest bei mir zu Nacht essen.«
»Nein, danke schön. Ich will den ganzen Weg bis Chelsea zu Fuß gehen«, sagte Christina Alberta. »Ich muß das alles durchdenken. Ich möchte mit meinen wirren Gedanken allein sein und sie zu bremsen versuchen. Mein Leben steht auf dem Kopf. Oder es ist auf dem Kopf gestanden und ist plötzlich richtig hingestellt worden. Ich weiß nicht. Ah! – Ich weiß gar nichts. Ich muß alles wieder von vorne anfangen.«
Sie reichte ihm die Hand und machte eine Pause. Lambone wartete, denn offenkundig hatte sie noch etwas zu sagen. Endlich brachte sie es heraus.
»Glaubst du, daß – daß er mich leiden mag?«
»Er mag dich leiden, Christina Alberta. Mach dir darüber keine Sorgen.«
Es dauerte ein wenig länger als zwei Tage, bis Christina Alberta zu ihrem verlorenen Vati ‹zurückfand›, um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen.
Diese beiden Tage waren voll der ungeheuersten Aufregung. Devizes war das Wunderbarste auf der Welt. Ihr Herz quoll über vor Liebe für ihn. Sie hatte den lebhaftesten Eindruck von ihm: dunkel und groß, ziemlich ernst, aufmerksam und erstaunlich gut zu verstehen. Doch so lebhaft auch ihr Eindruck war, sie bezweifelte jede Kleinigkeit daran, wünschte ihn wiederzusehen und alles noch einmal zu überprüfen. Das Erfreulichste und zugleich Unglaublichste an der ganzen Geschichte war, daß sie einander so ausgezeichnet verstanden. Ihr Gehirn und seines waren zweifellos ungleich, wie es stets bei zwei individuellen Gehirnen der Fall sein muß, doch diese Ungleichheit bestand nicht in einer Reihe zufälliger Verschiedenheiten, sondern war wie die Ungleichheit zweier Variationen ein- und desselben Themas. Sie vermochte die Absicht herauszufühlen, die hinter seinen Worten verborgen lag. Ihr Verstand war den Erkenntnissen, zu denen er sich neulich durchgearbeitet hatte, leicht und rasch gefolgt. In ihrem Gehirn mußte es Drehungen und Windungen geben, die sie den meisten Leuten schwierig und sonderbar erscheinen ließen, die aber in seinem die vollkommensten Parallelen fanden. Sie war überzeugt, daß er jeden ihrer Gedanken leicht erraten, ihr Tun durchaus verstehen müsse.
Nie zuvor hatte sie mit großer Begeisterung an Elternschaft gedacht. Sie hatte diese eher im Geiste Samuel Butlers und Bernard Shaws aufgefaßt und Eltern im Verhältnis zu ihren Kindern als verlegene Scheinheilige mit einer instinktiven Neigung zu Einschränkung und Unterdrückung angesehen. Mit ihrem eigenen Paar hatte sie eine Ausnahme gemacht: Vati war ihr doch immerhin ein guter Freund gewesen, wenn sie auch ihre Mutter zumeist als ein konzentriertes, inkarniertes ‹Das darfst du nicht› empfunden hatte. Doch hatte sie sich nie träumen lassen, daß in der Blutsverwandtschaft auch etwas recht Inniges und Interessantes liegen könne. Dann plötzlich war eine Tür aufgegangen, ein Mann war eingetreten, hatte sich niedergesetzt und mit ihr gesprochen, und sie hatte entdeckt, daß er das ihr auf dieser Welt am nächsten stehende Wesen war. Es verlangte sie danach, ihn wiederzusehen; sie sehnte sich, ihn näher kennen zu lernen, mit ihm zusammen zu sein. Aber er ließ nichts von sich hören, und sie konnte keinen Vorwand für einen Besuch bei ihm finden. Gerade die Intensität ihrer Sehnsucht machte es ihr unmöglich, einfach zu ihm hinzugehen. Sie schrieb die verschiedenen Briefe, die sie, wie vereinbart, schreiben sollte, und beschloß dann, sich über Psychologie und alles, was mit Irrsinn zusammenhing, zu belehren. Das und der Fall ihres ‹Vati› bildete ja das formelle Band, das sie mit Devizes verknüpfte.
Sie machte sich nach dem Lesezimmer des Britischen Museums auf, für welches sie eine Studentenkarte besaß, und versuchte, sich auf das Buch, das sie sich bestellt hatte, zu konzentrieren, anstatt sich in den seltsamsten Träumereien über diese mirakelhaft entdeckte Blutsverwandtschaft zu ergehen. Am Nachmittag rief sie Lambone an, um sich zum Tee einladen zu lassen, mit der Absicht, alles zu erfahren, was ihr der weise Mann über Devizes mitteilen konnte. Aber Lambone war nicht zu Hause. Am nächsten Tage war das Verlangen nach Devizes überwältigend. Sie rief ihn an. »Darf ich zum Tee kommen?« fragte sie. »Ich habe nichts Besonderes zu sagen, aber ich möchte Sie sehen.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Devizes.
Als sie zu ihm kam, fand sie, daß sie schüchtern war, und er ebenso schüchtern wie sie. Eine Weile lang führten sie ein höfliches Gespräch miteinander: es hätte ebensogut die Unterhaltung zweier Leute bei einem formellen Besuch in einer Kleinstadt sein können. Er nannte sie ‹Christina Alberta›, sie aber nannte ihn ‹Doktor Devizes›. Er fragte sie, ob sie musiziere oder tanze und ob sie jemals im Ausland gewesen sei. Sie saß in einem Lehnstuhl, er stand, sie hoch überragend, am Kamin. Es war klar, daß der einzige Weg zur Intimität in einer freimütigen Behandlung ihres Vatis lag. Sie fühlte, daß sie, wenn diese Art Unterhaltung noch eine Minute länger andauerte, entweder aufschreien oder ihre Teetasse ins Feuer werfen müsse. So sagte sie unvermittelt:
»Wann lernten Sie meine Mutter kennen?«
Devizes' Haltung wurde steifer, und er lächelte leise über ihre Kühnheit. »Ich war ein Untergraduierter in Cambridge, bereitete mich gerade auf das naturwissenschaftliche Examen vor und fuhr nach Sheringham, um dort zu studieren. Wir – wir sahen einander am Strand. Wir verliebten uns – es war eine furchtsame, verstohlene, hilflose, unwissende Art Verliebtseins. Die Leute in jenen Tagen waren primitiv – im Vergleich zu dem, was sie heute sind.«
»Vati war nicht dort.«
»Er kam später hinzu.«
Devizes überlegte einen Augenblick. Es dünkte ihn unrecht, sie weiter fragen zu lassen. »Mein Vater«, sagte er, »war ein regelrechter alter Bulldogg. Es war Sir George Devizes, der Mann, der die Devizeskeks erfand und den alten Alfons kurierte. Man sagte ihm nach, daß er seine Patienten roh behandle. Er pflegte ihnen auf den Magen zu klopfen und zu sagen, daß der ausgepumpt werden müsse. Er hatte den Verdacht, ich sei zu weich, obwohl ich das in Wirklichkeit gar nicht war. Er suchte stets Streit mit mir. Er hielt mich sehr kurz. Seine Beziehung zu meiner Mutter war nicht die beste. Und ich war ihm immer wieder ein Vorwand zu Auseinandersetzungen mit ihr. Ich durfte mir nicht die geringste Blöße geben. Ich hatte wirklich Angst vor ihm. Sowie ich mich in irgend einer Klemme sah, war es meine Anlage und Gewohnheit, davonzurennen.«
»Aha!«
Devizes überlegte, was für Folgerungen dieses ‹Aha!› in sich schloß. »Nicht, daß ich in Sheringham wissentlich in eine Klemme geraten wäre und mich deshalb aus dem Staube gemacht hätte«, sagte er äußerst vorsichtig.
»Wie war meine Mutter eigentlich in jenen Tagen?«
»Es war eine unterdrückte Wildheit in ihr. Ein warmes, gerötetes Gesicht. Sie war hübsch, mußt du wissen. Von sehr aufrechter Haltung. Und hinter ihrer Steifheit lag rasche Entschlossenheit. Ihre Wünsche pflegten sich plötzlich herauszukristallisieren und danach gab es kein Zurück mehr.«
»Ich weiß.«
»Ja, das kann ich mir denken.«
»Trug sie damals Augengläser?«
»O ja.«
»War sie damals munter? War sie glücklich?«
»Ein bißchen zu hitzig, um glücklich zu sein.«
»Haben Sie sie – jemals – geliebt?«
»Es ist lange Zeit her, Christina Alberta. Es war – eine Sommerliebe. Warum stellst du ein solches Kreuzverhör mit mir an?«
»Ich möchte das alles gerne wissen. Warum« – Christina Alberta erschrak für einen Augenblick über ihre eigene Keckheit – »warum haben Sie sie nicht geheiratet?«
Devizes zeigte keine falsche Verwunderung über diese Frage. »Es war kein Grund ersichtlich, warum ich sie hätte heiraten sollen. Nicht der geringste. Ich kann mir nicht vorstellen, was mein Vater getan hätte, wenn ich mit einer zufälligen Bekanntschaft verlobt aus Sheringham zurückgekommen wäre. Und davon abgesehen, warum hätte ich etwas Derartiges tun sollen?«
Seine Augen boten den ihren Trotz. »Ich ließ ihr meine Adresse«, fügte er hinzu. »Sie hätte mir ja schreiben können. Sie hat es niemals getan.«
»Ist ein Brief verloren gegangen?« sagte Christina Alberta und fügte hastig hinzu: »Meine Phantasie läuft mit mir davon.«
Sie zögerte und zitterte vor den nächsten Worten, die sie zu sagen beschlossen hatte, doch sie sagte sie, mit erzwungener Offenherzigkeit. »Vielleicht hätte ich Sie gerne zum Vater gehabt.«
Es rief keine Katastrophe hervor. Er sah ihr ins Gesicht und lächelte dann. Nach diesem Lächeln fühlte sie, daß sie einander vollkommen verstanden, und es tat ihr wohl, das zu wissen. »Anstatt dessen mußt du mich nun als einen Cousin adoptieren«, sagte er behutsam. »Cousin und Cousine, Christina Alberta. Das ist das beste, was wir tun können. Und wir müssen uns zusammentun und an deinen Vati denken. Er ist unsere gemeinsame Aufgabe. Ich interessiere mich für diesen kleinen Mann. Er hat sich durch seine Träume gegen viele Dinge geschützt. Es mögen sehr willenskräftige Träume gewesen sein. Wer weiß? Naturnotwendige Schutzträume.«
Christina Alberta sprach eine Zeitlang nicht. Sie nickte. Sie war froh über ihr offenkundiges gegenseitiges Verständnis, und war doch auch wieder enttäuscht, obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie sonst erwartet hatte. Dieser Mann da, einen Meter weit von ihr entfernt, war ihr das Nächste in der Welt, und es mochte immer diese unübersteigliche Barriere zwischen ihnen geben. Durch ein unsichtbares Band waren sie verbunden und durch eine unüberbrückbare Notwendigkeit getrennt. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie gewußt, was Liebe ist; sie wünschte, sie hätte ihn lieben dürfen; sie wünschte, daß er sie liebe.
Sie bemerkte, daß sie ganz still dastand und daß auch Devizes ganz still am Kamin stand und ihr Gesicht beobachtete. Sein Mund und seine Augen waren ruhig und heiter, doch glaubte sie zu wissen, daß er hinter sich die Hände zusammenpresse. Sie hatte ihm zu gehorchen. Sie konnte nichts anderes tun, als sich seiner Führung anvertrauen.
»Vati ist unsere gemeinsame Aufgabe«, sagte sie. »Ich hoffe, ich werde morgen Antwort auf meine Briefe bekommen.«
Christina Alberta kehrte in einem Traume zu ihrem Vati zurück.
Es war ein verrückter Traum. Sie ging mit Devizes in der Welt umher, und sie waren auf solche Weise aneinander geschlossen, daß sie einander nie ansehen konnten, sich jedoch immer nebeneinander befanden. Gleichzeitig stellten sie aber auch – in der sublimen Zusammenhanglosigkeit, die Träumen eigen ist – große Ebenholzbilder dar, saßen steif wie ein Pharao und seine Gemahlin Seite an Seite und schauten über eine weite Fläche hin; riesige Standbilder waren sie, und ihre Profile waren gleich. Durch den ganzen Traum hindurch sah sie Devizes und sich selbst ganz schwarz. Die Fläche vor ihnen war manchmal eine Sandwüste, manchmal ein graues Wolkenmeer. Dann kam plötzlich etwas Buntes und Weißes mitten in diesen Schauplatz gehüpft und wurde zu einem kleinen Mann, einem bekannten kleinen blauäugigen Mann, der mit Stricken zu einem Ball zusammengebunden und grausam verstümmelt war, umherkollerte, keuchte und sich darum bemühte, freizukommen. Ach! es war zum Erbarmen, wie er sich abmühte. Christina Albertas Herz flog ihm entgegen, doch wie von einer ungeheuren Macht im Innern angetrieben, erhob sie sich und Devizes neben ihr, und sie marschierten steif vorwärts. Sie konnte sich nicht helfen, sie war nicht imstande, die starren Bewegungen ihrer Hände und Füße zu beherrschen. Sie schritten stramm und kräftig aus. Sie hatte keine Stimme, sie versuchte aufzuschreien: ‹Wir werden auf ihn trampeln! Wir werden auf ihn trampeln!›, doch nur ein heiserer, unartikulierter Schreckenslaut entrang sich ihrer Kehle ...
Jetzt waren sie über ihm. Sie fühlte, wie sich der Körper ihres Vati unter ihr wand. Er war wie eine Blase. Sein weicher, nachgiebiger Körper bog sich und schwoll, als sie die Füße auf ihn setzte. Sie vergaß, daß es irgendetwas anderes als ihren Vati und sie selbst gab. Warum hatte sie ihn so behandelt? Devizes verschwand. Ihr Vati klammerte sich an ihre Knie, und jetzt war eine Menge häßlicher Gestalten aufgetaucht, die ihn wegzuzerren suchten. ‹Rette mich, Christina Alberta›, flehte er sie an, obzwar sie keine Laute hörte. ‹Rette mich. Rette mich! Jeden Tag martern sie mich.› Aber sie zerrten ihn weg, und sie konnte nicht einmal die Arme nach ihm ausstrecken. Denn sie war aus Ebenholz und eins mit Devizes.
Dann mischte sich jemand, ein Vogel oder eine Sphinx mit dem Gesicht und der Stimme Lambones, in den Traum. ‹Hör auf deinen Vati›, sagte er. ‹Verachte ihn nicht und bemitleide ihn auch nicht bloß. Er kann dich vieles lehren. Die Welt wird niemals etwas lernen, bis sie nicht von lächerlichen Leuten lernen will. Alle Leute sind lächerlich. Ich bin es. Ich bin lächerlich. Wir lernen im Leid, was wir im Lied lehren.› Sie sah, daß ihr Vater jetzt zwischen den Tatzen der Sphinx Schutz suchte und daß die bösen Leute verschwunden waren.
Sie wurde sich deutlich einer offenbaren Sinnwidrigkeit ihres Traumes bewußt. Vorher war ihr nicht die geringste Ungereimtheit aufgefallen, sie hatte bis zu diesem Punkt nicht einen Augenblick gedacht, daß sie träume. Aber jetzt wurde sie heftig von dem Gedanken bedrückt, daß die Sphinx eine altägyptische und klassische Figur sei, Sargon jedoch ein viel älterer Sumerier. Der Traum wurde unrichtig. Die Zeiträume und Kulturen gerieten durcheinander. Sie gab dies Sphinx-Lambone zu verstehen, und er wandte den Kopf, um ihr zu antworten, doch alsbald waren die bösen Gestalten wieder da, und indem sie die Unaufmerksamkeit Lambones zu ihrem Vorteil benutzten, zerrten sie Vati weg. Sie versuchte Lambones Aufmerksamkeit darauf zu lenken, er aber sagte, sie würden noch genug Zeit haben, ihren Vati zurückzuholen, wenn nur einmal der Punkt betreffs der Sphinx im reinen sei. Er sei gar keine Sphinx, erklärte er, sondern ein geflügelter Stier. Er sei niemals eine Sphinx gewesen. Wie könnte er sonst einen langen, gekräuselten steinernen Bart haben? Sie wollte einwenden, daß es ein falscher Bart sei, und daß er ihn sich eben erst umgetan habe. Und es sehe ihm ganz ähnlich, eine Diskussion zur unpassenden Zeit anzufangen. Inzwischen geriet ihr Vati wieder ins Elend zurück. Dessen wurde sie rasch und mit Schmerzen gewahr. Es war noch immer ihr Vati, doch sein Körper war ein anderer; es war kein menschlicher Körper mehr, sondern ein umgeworfener Korb mit Früchten. Wenn sie nicht sofort etwas tat, würden sie faul werden und für immer verdorben sein.
Sie versuchte, der armen, kleinen, tragischen Gestalt Worte des Trostes und der Ermutigung zuzurufen, bevor der Traum zu Ende ging – denn jetzt wußte sie sicher, daß es ein Traum war. Selbstverständlich litt er unerträglich. Warum hatte sie ihm nicht geschrieben oder telegraphiert? Sicherlich hätten sie ihm einen Brief oder ein Telegramm ausgefolgt! Ein tiefer Abscheu vor sich selbst, ihrer Unzulänglichkeit und Nachlässigkeit, und ein großer Schauer vor Pein und Grausamkeit überkamen sie, und sie erwachte in ihrem kleinen harten Bett in dem stickigen kleinen Schlafzimmer in den Lonsdale-Stallungen zu einem Gefühl grenzenlosen Unbehagens inmitten stockfinsterer Nacht.
Doch der Eindruck von ihrem Vati, von allen verlassen, mit gebrochenem Herzen und in Gefahr, blieb ihr schrecklich lebendig zurück. Er ließ sie nicht los. Sorgenvoll und bedrückt stand sie am Morgen auf.
»Ich tu' nicht genug für ihn«, sagte sie. »Ich lasse die Tage verstreichen – und für ihn müssen es Tage der Verzweiflung sein.«
»Die Irrenanstalten sind ganz gewiß nicht so schlimm, wie du immer sagst«, meinte Fee.
»Aber unter Irrsinnigen zu leben und als Irrsinniger angesehen zu werden!«
»Es gibt jetzt sogar Musikkapellen in den Irrenhäusern, die den Kranken vorspielen. Das Foxhiller Asyl hat eine sehr gute. Und alle möglichen Unterhaltungen haben sie«, sagte Fee.
Christina Alberta hielt sich vom Fluchen zurück.
»Du wirst über all dem noch krank werden«, sagte Fee. »London ist nichts für dich. Komm lieber nach Shoreham mit. Wozu haben wir das Haus dort? Wir müssen die letzten paar schönen Tage ausnützen.«
Denn der Oktober war in jenem Jahre ganz besonders schön, er brachte eine lange Reihe milder, sonniger Tage; und den Crumbs war von einem Freund ein Gartenhäuschen an der Küste von Shoreham, das er den ganzen Sommer hindurch benützt hatte, zur Miete angeboten worden. Sie wollten hinausziehen, bevor das Wetter umschlug, doch hinausziehen hieß, Christina Alberta in dem Atelier allein lassen, und das wollten sie wieder nicht. Aber sie wollten gerne nach Shoreham. Christina Alberta konnte jetzt, da sie Devizes entdeckt hatte, den Gedanken nicht ertragen, außer Telephonreichweite von ihm zu kommen. London, wandte sie ein, sei offenkundig der richtige Aufenthaltsort für sie. Sie könne von da in einer Stunde nach Cummerdownhill gelangen; könne mit allem in Verbindung bleiben. Die Crumbs sollten gehen, sie aber müsse bleiben.
Fee wollte das nicht einsehen. Sie gab keine Ruhe.
Um elf Uhr ungefähr ging Christina Alberta zur Telephonzelle am Postamt und rief Devizes an.
»Kann man nichts tun, um die Sache ein wenig zu beschleunigen?« fragte sie. »Der Gedanke an Vati läßt mir keine Ruhe. Ich kann es nicht ertragen, ihn mir Tag für Tag dort vorzustellen. Ich hab' von ihm geträumt.«
»Es hat keinen Sinn, sich abzuquälen. Wir – ich habe eine schlimme Nachricht für dich. Also nimm alle deine Energie zusammen.«
Er machte eine Pause. Christina Alberta unterdrückte aus lauter Liebe zu Devizes den heftigen Wunsch, ‹was denn? was denn?› zu rufen.
»Gestern war Besuchstag. Ein Besucher kam zu ihm, ich vermute, es war der angenehme Verwandte, von dem du mir erzähltest – wie war sein Name? Wiggles? Herr Widgery. Nun darf dein Vati eine Woche lang nicht wieder besucht werden. Bis nächsten Dienstag nicht.«
»O verdammt!« sagte Christina Alberta.
»Ja. Ich will tun, was ich kann, um uns eine Art besonderen Zutritt zu verschaffen. Ich sprach mit dem Oberarzt selbst. Aber der ist komisch. Er ist anscheinend ganz freundlich und wohlwollend, aber er will nicht mit einer Zusage heraus. Er sagt nicht ja und nicht nein. Merkwürdig! Ich bin heute nachmittag frei, aber morgen bin ich besetzt. Ich schlug vor, ihn – den Oberarzt mein' ich, heute nach Tisch zwecks näherer Aussprache zu besuchen. ‹Lieber in ein oder zwei Tagen›, sagte er. Ich hoffe, er verschweigt nicht irgend etwas Schlimmes. Schließlich versprach er, mich später nochmals anzurufen, und hängte plötzlich ab. Halte dich also bereit. Wie ist deine Telephonnummer?«
»Ich hab' kein Telephon. Du mußt telegraphieren.«
»Oder ich fahre schnell in einem Taxi zu dir und hole dich ab. Es tut mir leid, daß ich dich so hinhalten muß, Christina Alberta.«
»Es macht mir nichts, wenn wir Vati dadurch nur näher rücken.«
»Schön also.« Und die Stimme schnappte ab.
Das Telegramm kam nach einem Zeitraum von zwei Stunden, zwei Stunden, die einer weitläufigen Auseinandersetzung mit Fee über die Shorehamer Schwierigkeit gewidmet waren. Die Nachricht lautete folgendermaßen: ‹ Ist dein Vater aufgetaucht, er entfloh heute bei Morgengrauen in Hausschuhen und Nachtanzug und ist seither nicht gesehen worden falls nicht erschienen triff mich Viktoria zwei Uhr sieben fahren Cummerdown telephoniere Gerrard 0247 ob du kommst.›
Doch Herr Preemby tauchte nirgends auf. Er war einfach verschwunden.
In einem Zustand ungläubigen Staunens über dieses neuerliche Verschwinden fuhr Christina Alberta mit Devizes nach Cummerdown. Sie fanden den Oberarzt keineswegs so erstaunt, wie sie es waren. Sargon war zur Frühstückszeit vermißt worden; alles schien darauf zu deuten, daß er einfach aus dem Asyl hinausgegangen sei. So etwas sei schon öfter vorgekommen. Es zeige eine gewisse Nachlässigkeit von Seiten des einen oder anderen Wärters, und diese würden einen Verweis erhalten. Verwunderung zu äußern, unterließ der Oberarzt durchaus. Irrsinnige verliefen sich oft oder entkämen, und wenn sie nicht gerade gefährlich seien, machten die Behörden nicht viel Wesens aus einem solchen Zwischenfall. Sie verhinderten so weit wie möglich, daß dergleichen in die Zeitungen komme.
»Wir sind hier nicht in Portland«, sagte der Oberarzt. »Sie kommen schon wieder zurück. Ich gebe ihm einen Tag. Wahrscheinlich kommt er eben jetzt zurück. Er mag sich irgendwo in der Nähe versteckt haben. Ich bin hauptsächlich besorgt, er könnte sich eine Erkältung zuziehen. So viele Irrsinnige sterben an Lungenentzündung. Doch es ist ja sehr warm für die jetzige Jahreszeit. Ich habe nie einen solchen Oktober erlebt.«
Er wünschte weitaus mehr, mit Devizes über die Reform der Irrenanstalten zu sprechen und ihn zu überzeugen, daß er ein höchst fortschrittlicher und fähiger Oberarzt sei, als den Spezialfall des Herrn Preemby zu behandeln. »Wir tun, was wir können,« sagte er, »aber wir sind durch die äußerste Sparsamkeit, die wir zu üben haben, eingeschränkt. Nicht ausgebildete Wärter und sogar von diesen noch zu wenige. Die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit gegen die Irrsinnigen spottet jeder Beschreibung. Niemand will etwas mit ihnen zu tun haben – nicht einmal die nächsten Verwandten der Kranken.«
»Aber wie konnte Preemby aus dem Gebiet der Anstalt herausgelangen?« fragte Devizes. »Sind denn nicht rundherum Mauern?«
»Alle Vorschriften betreffs der Irren und Irrenhäuser sind mangelhaft«, sagte der Oberarzt. »Hier allerdings haben wir wenigstens in gewissem Sinne eine geschlossene Mauer rundherum. Das ursprüngliche Gebäude war ein privater Herrensitz mit einem ummauerten Park. Eine Zeitlang – im achtzehnten Jahrhundert – war es eine Knabenschule.«
Er zeigte ihnen von seinem Fenster aus jenseits der Dächer eines Blocks von Außengebäuden das Gebiet des Gartens und der Gemüsefelder der Anstalt, das gegen einen Bach abfiel und durch eine Mauer, alten Weißdorn und Eichen gegen die Straße abgegrenzt war. »Ich für mein Teil«, sagte der Oberarzt, »gebe zu, daß eingehende Reformen dringend nötig sind.«
»Ich möchte wissen, ob Vetter Widgery irgend eine Aufklärung in der Sache geben könnte«, sagte Devizes.
»Widgery?«
»Das war sein Besucher gestern.«
»Wirklich?« sagte der Oberarzt, dachte nach und ging an seinen Schreibtisch, um nach einem Papier zu suchen. »Ich dächte, der Name habe anders geklungen – eher wie Goodchild. Aber vielleicht irre ich mich.«
»Herr Sam Widgery«, sagte Christina Alberta, »wäre der letzte, der Vati herausholen würde. Wahrscheinlich kam er nur, um sich zu versichern, daß er noch da sei. Oder er wollte sich über ihn lustig machen. Onkel Sam ist keine edle Seele. Er wird sich nur haben vergewissern wollen, daß die Mauer auch wirklich rundherum gehe.«
Der Herr Oberarzt vergaß seine Zweifel betreffs des Namens und des Papiers und wandte sich mit einem neuen Gedanken an sie. »Sie glauben nicht, daß irgend ein Animus vorhanden war? Sie glauben nicht, er könnte sich zu Herrn Widgery aufgemacht haben? Wo wohnt denn dieser Herr Widgery?«
Doch weder Devizes noch Christina Alberta glaubten an die Möglichkeit, daß Herr Preemby nach Woodford Wells gewollt habe.
»Es sähe ihm weit ähnlicher, nach Canterbury zu wollen oder nach Windsor, oder sich schnurstracks nach Rom aufzumachen«, sagte Christina Alberta.
»Oder nach Mesopotamien – oder ins Britische Museum«, fügte Devizes hinzu.
»Oder irgendwohin!« sagte Christina Alberta im Tone der Verzweiflung.
Völlig ratlos kehrten sie nach London zurück. Christina Alberta war dafür, auf die Polizeiwachtstube in Cummerdown zu gehen und rings in den Ortschaften nachforschen zu lassen, doch Devizes erklärte ihr, daß das mehr Schaden als Nutzen bringen könne. Christina Alberta hatte bisher noch nicht von der einen freundlichen Schwäche im britischen Irrengesetz gehört, nämlich von der Entlassung nach vierzehntägiger Freiheit. Wenn ein Irrsinniger aus der Anstalt entkommt und vierzehn Tage lang nicht aufgefunden werden kann, wird er gesetzlich wieder vernünftig und darf ohne neuerliche Prüfung und ein neues Zeugnis nicht festgenommen werden. Die ganze Umgegend auf die Jagd nach Preemby zu hetzen, könne höchstens dazu führen, daß er von den Behörden der Anstalt wieder eingesperrt würde. Und was auch geschehen möge, das Geheimnis dürfe nicht in die Zeitungen kommen.
»Doch während wir nichts tun, kann er tot in irgend einem Straßengraben liegen«, sagte Christina Alberta.
»Wenn er tot ist, wird es ihm sehr gleichgültig sein, ob wir ihn einige Tage früher oder später finden«, sagte Devizes.
Es blieb nichts andres übrig, als in den Lonsdale-Stallungen auf die Möglichkeit zu warten, daß er dorthin zurückkehre. Die Crumbs fuhren nach Shoreham, und Christina Alberta ward ganz allein in dem Atelier gelassen, doch nachdem sie dort einen endlosen Tag verbracht hatte, fiel Paul Lambone eine passende Agentur, die ‹Universal-Aunts› ein, und eine entsprechende Dame wurde aufgenommen, um sie von ununterbrochenen Nachtwachen zu befreien.
Ein, zwei, drei Tage vergingen. Kein Zeichen von Sargon, keine Nachricht von einer neuerlichen Berufung von Jüngern oder von Besuchen beim König. Er war verschwunden. Die Vision eines kleinen, zusammengekauerten Körpers im Straßengraben war in Christina Albertas kummervoller Phantasie an Stelle der gemarterten Gestalt in der Zelle getreten. Doch der Geist sträubt sich, eine schmerzliche Vorstellung zu hegen, die zu nichts führt, und Christina Albertas Phantasie hörte bald auf, sich mit ihrem Vati zu beschäftigen, bis neue Nahrung kam. ‹Er wird schon irgendwo auftauchen›, wiederholte sie sich schwach und wurde ein starker Abnehmer der Abendblätter. ‹Er wird schon irgendwie auftauchen.› Ihre größte Sorge war, daß er nicht mit einer zu ungeheuerlichen Überschrift auftauche. Sie begann sich wie ein Urchrist auf eine zweite Wiederkunft vorzubereiten. Das rätselhafte Verschwinden ihres Vatis wurde ihrem Denken zur Gewohnheit, wurde schließlich zum Rahmen, zum Proszenium ihres täglichen Lebens. In ihrem Innern kehrte sie zu dem dringenden und außergewöhnlichen Problem ihres eigenen Ichs und ihrer Beziehungen zu Devizes zurück.
Es war klar, daß Devizes von ihrer gemeinsamen Entdeckung fast ebenso ergriffen war wie sie selbst. Zwar blieb es für ihn wie für sie von größter Wichtigkeit, was Sargon wohl getan haben könnte, so phantastisch sich dies auch, wenn es ans Licht kam, erweisen mochte, doch überschattete der Gedanke an ihre merkwürdige Verwandtschaft alles andere. Jeder hatte das Verlangen, dem anderen näherzukommen, zu entdecken, welch magischer Zauber von Sympathie und Verständnis in ihrer Blutsverwandtschaft verborgen sein mochte.
An dem Abend nach der Aufnahme der Universal-Tante führte er Christina Alberta zum Abendessen in ein freundliches, kleines italienisches Restaurant am Sloaneplatz, begleitete sie nachher ins Atelier zurück und sprach dort bis nahezu ein Uhr morgens mit ihr. Er zeigte sich schüchtern darum bemüht, ihre Lebensziele und -zwecke kennen zu lernen, wollte wissen, womit sie sich beschäftige, und was getan werden könne, um ihre Anlagen voll zu entfalten. Er war augenscheinlich geneigt, soviel väterliche Verantwortung auf sich zu nehmen, als er vermochte, ohne den Schein zu verletzen und ohne der Ehre des verschwundenen Sargon Abbruch zu tun. Sie zog ihn an, er mochte sie gern. Ihre Gefühle für ihn waren heftiger, überquellender und unbestimmter. Es verlangte sie nicht besonders nach Hilfe oder Unterstützung von ihm. Der Gedanke, in irgend etwas von ihm abhängig zu sein, stieß sie eher ab, als er sie anzog, doch sie wünschte ihm nahe zu kommen, ihm zu gefallen, seine Erwartungen zu erfüllen, ja zu übertreffen, ihm in immer neuer Weise interessant zu sein. Er sollte sie gerne haben, wünschte sie – oder mehr noch als das. Heftig, sehnlich wünschte sie es.
Seine ungezwungene, fast zutrauliche Art, mit Kellnern, Kutschern und Dienstleuten umzugehen, gefiel ihr. Er schien genau zu wissen, was die Leute tun würden, und sie schienen immer zu wissen, was er haben wollte; es gab da keine Reibereien, kein nervöses ‹H'rrmpen›. Von diesen allgemeinen Kennzeichen eines angestammten Wohlstandes hatte sie so geringe Erfahrung, daß sie ihr eine Besonderheit an ihm erschienen; und sie gaben ihm den Anschein, als ob er wüßte, was er tue, und als ob er den größten Teil ihrer Gespräche gelassen beherrsche, während er in Wirklichkeit genau so neugierig und unsicher und beinahe ebenso erregten Gemütes war wie sie. Die Blicke, die den ihren begegneten, wenn sie sprach, waren fest, freundlich, interessiert und vertraulich; sie machten ihr das Herz warm.
Beim Abendessen sprach er zuerst über Musik. Es war ihm in jungen Jahren keine Erziehung zur Musik zuteil geworden; er entdeckte diese Kunst erst jetzt. Eine seiner Freundinnen hatte ihn in Konzerte mitgenommen, und er hatte sich ein Pianola angeschafft, ‹um das Gehörte zu Hause besser kennen zu lernen›. Aber auch Christina Alberta hatte bisher jede musikalische Anleitung gefehlt, und sie hatte die Musik noch nicht entdeckt. So war dieser Gesprächsstoff bald erschöpft. Er versuchte es noch mit Bildern bei ihr, aber auch dafür zeigte sie kein besonderes Interesse. Es folgte ein kurzes Schweigen.
Er sah zu ihr hinüber und lächelte.
»Ich möchte gern alle möglichen Fragen an dich stellen, Christina Alberta, wenn ich darf«, sagte er.
Sie errötete – dummerweise. »Du darfst fragen, was du willst«, sagte sie.
»Sehr wichtige Fragen«, sagte er. »Zum Beispiel – so im allgemeinen – worauf, glaubst du, bist du aus?«
Sie verstand sofort, was er meinte. Doch wußte sie so wenig, was sie antworten sollte, daß sie ausweichend wurde.
»Worauf aus!« sagte sie, um Zeit zu gewinnen. »Ich sollte meinen, auf der Suche nach meinem verlorenen Vati.«
»Aber worauf bist du im allgemeinen aus? Was fängst du mit deinem Leben an? Wohin gehst du?«
»Ich tappe im Dunkeln«, sagte sie endlich. »Viele meiner Generation tun das, glaube ich. Die Mädchen besonders. Du bist älter als ich. Ich fange erst an. Ich möchte nicht frech erscheinen, aber bist du nicht besser imstande zu sagen, worauf du aus bist? Wie wäre es,« – ihr ein wenig beklommener Ernst verwandelte sich in ein schlaues Lächeln, das Devizes als sehr geistesverwandt empfand – »wie wäre es, wenn du zuerst an die Reihe kämst?«
Das schien ihm nur recht und billig. »Nimm noch eine Olive. Ich freue mich, daß du Oliven magst. Ich mag sie nämlich besonders gern. Mich hat seit langer Zeit niemand zur Rechenschaft gezogen. Wie steht es mit mir? Eine durchaus billige Frage.«
Aber augenscheinlich keine sehr leichte.
»Man müßte wohl eigentlich ganz vorne bei seiner Philosophie anfangen«, sagte er. »Es wird eine lange Geschichte. Aber ich habe das Thema ja vorgeschlagen.«
Christina Alberta war höchlich entzückt darüber, daß sie sein beabsichtigtes Kreuzverhör so erfolgreich vereitelt hatte. Anstatt sich selbst zur Schau zu stellen, konnte sie ihn beobachten. Sie betrachtete ihn über die Blumen auf dem Tisch hinweg und mußte von dem Kellner angetippt werden, als dieser ihr den Fasan servierte.
»Wie soll man nur anfangen?« nahm er plötzlich einen Anlauf. Ob sie von Pragmatismus gehört habe? Ja. Wahrscheinlich sei sie in derartigen Dingen besser beschlagen als er. Er sei, wenn er es recht bedenke, so etwas wie ein Pragmatist. Viele modern gesinnte, intelligente Leute seien, so glaube er, Pragmatisten in seinem Sinn. Pragmatisten? In seinem Sinn? Er blickte ihr ins Auge und erklärte sich näher. Er meine folgendes: niemand habe ein völlig klares Bild von der Wirklichkeit; wir kämen ihr nur nahe – mehr würde kaum jemals möglich sein. Was wir wahrnähmen, sei gerade nur soviel von der Wirklichkeit, als zu uns durchdringe, durch unsre äußerst unvollkommenen Mittel der Deutung. »Diesen Fasan en casserole haben sie wirklich gut gemacht«, brach er ab. »Drei Minuten Waffenstillstand sollten wir ihm schenken. Findest du, daß ich mich verständlich mache? Ich bezweifle es.«
»Ich folge, so gut ich kann«, sagte Christina Alberta ...
»Vielleicht hole ich zu weit aus.
»Fasan ...«
»Um auf mein Glaubensbekenntnis zurückzukommen«, hob er bald wieder an. »Paß auf, Christina Alberta, du hast dein Teil nachher aufzusagen.«
»Es wird nicht so klar umrissen wie deines sein«, sagte sie. »Einiges werd' ich aus deinem stehlen. Doch fahr fort.«
»Schön, versteh mich, Christina Alberta. Ich fühle, daß meine Ausführungen zurückhaltend und kompakt zugleich sein werden. Und ich bin nicht sicher, was du weißt und was du nicht weißt. Wenn ich sage, daß ich über die Natur des Universums, und wie es begann und wo es endet, agnostisch denke, hat das einen Sinn für dich?«
»Ich denke ebenso«, sagte Christina Alberta.
»Gut.« Er fing von neuem an und geriet in parenthetische Schwierigkeiten. Die Pêche Melba kam, um zu unterbrechen und einen neuen Anfang zu erlauben. Er entfaltete vor ihr das Weltbild eines Psychologen, ein für sie merkwürdiges und doch anziehendes Bild. Er bediente sich der Terminologie des Geistes und des Verstandes. Sie war an die Terminologie der Arbeit und materiellen Notwendigkeit gewöhnt. Das Leben, sagte er, laufe ununterbrochen fort, alles Leben stehe in Zusammenhang. Er versuchte das näher zu erklären. Das bewußte Leben der meisten niedrigen Geschöpfe sei durchaus individuell, eine Eidechse zum Beispiel sei nichts anderes als eben nur eine Eidechse, sie habe ihre Instinkte und ihre Gelüste; für sie bestehe weder Unterricht noch Tradition, sie gebe ihrer Art nichts weiter. Die höheren Tiere dagegen würden unterrichtet, solange sie jung seien, lernten, lehrten andere und ständen miteinander in Verkehr. Die Menschen weit mehr als jedes andere Geschöpf. Der Mensch habe die Bilderschrift entwickelt, die Sprache, die mündliche Überlieferung, die wissenschaftliche Aufzeichnung. Es gebe jetzt einen Gemeingeist der Rasse, ein großes, wachsendes System von Kenntnissen und Erklärungen.
»Leute wie wir sind bloß Querschnitte dieses Stromes. Als Individuen betrachtet, nehmen wir ihn auf, reagieren darauf, verändern ihn ein wenig und vergehen. Wir sind bloß vorübergehende Phasen dieses wachsenden Geistes – der, soweit wir das sicher sagen können, ein unsterblicher Geist sein mag. Kommt dir das spanisch vor – oder wie Unsinn?«
»Nein,« sagte sie, »ich glaube, ich verstehe, worauf es hinaus will.« Sie betrachtete sein angespanntes Gesicht. Er sprach nicht im geringsten herablassend zu ihr; er versuchte einfach, sich ihr so gut verständlich zu machen, wie er nur konnte. Er behandelte sie, als ob sie seinesgleichen wäre. Sie seinesgleichen!
Dies sei seine allgemeine Philosophie. Er komme nun zu der Frage seines Ichs, sagte er. Er wurde sehr ernst über den Mokkatassen und dem Aschenbecher auf dem abgeräumten Tisch. Zur Erläuterung breitete er vor ihr die Hände aus. Er war gewissenhaft deutlich. Er sehe in sich zwei Existenzstadien, oder vielmehr zwei Daseinsebenen. Grob genommen, zwei. Sie hätten natürlich Verbindungen und Zwischenstadien, doch diese könnten beiseite gelassen werden, wenn man bloß die Idee zum Ausdruck bringen wolle. Erstlich und vor allem sei er das alte Instinkt-Individuum, furchtsam, gierig, wollüstig, eifersüchtig, selbstsüchtig. Das sei sein primäres Selbst. Er habe dieses primäre Selbst zu pflegen, weil es alles übrige trage, etwa wie ein Reiter darauf sehen müsse, daß sein Pferd Hafer bekomme. Tiefer lägen soziale Instinkte und Anlagen, die aus dem Familienleben entsprängen. Das sei sein zweites Selbst, das soziale Selbst. Der Mensch, behauptete er, sei eine Kreatur, die in den letzten zwei- oder dreihunderttausend Jahren immer bewußter sozial geworden sei. Er habe seine Lebensdauer erhöht, seine Kinder immer länger bei sich behalten, seine Gemeinschaften aus Familienhorden zu Sippschaften, Stämmen und Nationen erweitert. Die zugrundeliegende Fortdauer des Lebendigen werde immer offenbarer und finde mehr und mehr ihren bestimmten Ausdruck in dieser Sozialisation des Menschen. Jedermann erziehen, heiße im eigentlichen Sinne des Wortes, ihn seine Fortdauer immer besser erkennen lassen. Die Bedeutung des leidenschaftlichen, fiebernden Ichs werde dadurch eingeschränkt. Wahre Erziehung bestehe in der Unterordnung des Ichs unter ein größeres Leben, unter das soziale Ich. Die natürlichen Instinkte und Beschränkungen des primären Ichs lägen mit dieser breiteren Unterströmung im Kampf; Erziehung, gute Erziehung, strebe danach, sie auszugleichen.
»Ich bin,« sagte Devizes, »wie wir alle, eine Kreatur im Zustand eines inneren Konfliktes, schnellere, wildere, sterbliche Instinkte im Kampf gegen einen tieferen, ruhigeren, minder hell beleuchteten, doch letzten Endes stärkeren Trieb zu unsterblichen Zielen hin. Und ich bin – wie soll ich sagen? – ich persönlich bin, nach meinem besten Können und Vermögen, auf der Seite der tieferen Dinge. Meine Fähigkeiten, mein Temperament und günstige Umstände haben mich zur Psychologie – als Beruf – hingeführt. Ich arbeite, um zur Vermehrung des menschlichen Wissens und zum Verständnis des Geistes beizutragen. Ich arbeite für die Aufklärung. Meine besondere Arbeit besteht darin, verwirrte und verwickelte Geister zu studieren und zu kurieren. Ich versuche sie gerade zu biegen, zu vereinfachen und aufzuklären. Und vor allem versuche ich, von ihnen zu lernen. Ich suche nach der geistigen oder physischen Ursache ihrer Krankheit. Ich versuche alles, was ich beobachte und lerne, so klar und deutlich wie möglich niederzulegen. Das ist meine Aufgabe. Das ist mein Ziel. Es gibt mir die allgemeine Richtung meines Lebens. Alle Triebe meiner bloß individuellen Existenz versuche ich diesem Ziele unterzuordnen. Nicht immer. Mein Affen-Ich kommt manchmal aus und faselt dummes Zeug. Manchmal ist es mir zwecks Erholung von Überarbeitung ganz lieb. Eitelkeit und Sichgehenlassen haben ihren Zweck. Aber lassen wir den Affen jetzt. Ich will nicht eine leuchtende Persönlichkeit sein; ich will ein lebendiger Teil des Ganzen sein. Das ist im wesentlichen mein Glaubensbekenntnis. Ich will jenes Rad in der Maschine sein, das man einen Nervenspezialisten nennt. Ein so gutes Rad, wie ich eben sein kann. Das ist's, allgemein gesagt, worauf ich aus bin, Christina Alberta. Das ist's, was ich, glaube ich, bin.«
»Ja«, sagte Christina Alberta, tief in Nachdenken versunken. »Natürlich kann ich keinen solchen Rechenschaftsbericht ablegen. Du hast schon dein System – vollständig.«
»Und in sich abgeschlossen«, sagte Devizes. »Du mußt nun deine Geschichte auf deine Art erzählen. In deinem Alter hat man noch keine so festen Überzeugungen.«
»Ich bin neugierig, ob ich dir überhaupt eine Geschichte erzählen kann.«
»Du mußt es eben versuchen. Das ist nur recht und billig.«
»Ja.«
Ein kurzes Schweigen folgte.
»Es ist wunderbar, so mit dir zu sprechen«, sagte Christina Alberta. »Es ist wunderbar, mit jemandem auf diese Art zu sprechen.«
»Ich fühle, daß du und ich – einander verstehen lernen müssen.«
Sie blickte rasch und kurz in seine ernsten Augen. Eine Gefühlswoge durchströmte sie. Sie konnte nicht sprechen. Sie streckte die Hand nach der seinen aus, und einen Augenblick lang lagen ihre Hände ineinander.
Christina Alberta legte ihr Glaubensbekenntnis erst im Atelier ab, nachdem sie dorthin zurückgekehrt waren und die Universal-Tante abgelöst hatten. Und auch dann machte sie sich nicht sofort an die Arbeit. Devizes schritt umher und sah sich die Zeichnungen Harolds an; er charakterisierte Harold nach seinen Zeichnungen; ziemlich treffend, schien es Christina Alberta. Fee reizte seine Neugier. »Wie schaut Frau Crumb aus?« fragte er. »Zeig' mir etwas von ihr, etwas, das bezeichnend für sie scheint.«
Der Gedanke, daß er ihr gegenüber ein wenig schüchtern war, gefiel Christina Alberta sehr gut. Sie empfand es als eine Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit. Er achtete sie, und es war ihr sehr wichtig, von ihm geachtet zu werden.
Endlich landete er in dem grell bemalten Sessel am Gasofen; und nachdem Christina Alberta eine Zeitlang im Zimmer umhergeflitzt war, kam sie und stellte sich vor ihm auf, die wohlgeformten Beine gegrätscht und die Hände auf dem Rücken, eine Haltung, die sämtliche weiblichen Ahnen unzähliger Generationen höchlichst schockiert haben würde. Doch Devizes war keineswegs schockiert; er fand es immer interessanter, sie zu beobachten; er setzte sich bequem zurecht und betrachtete sie mit lebhafter Bewunderung. Wir gewöhnen uns zumeist so nach und nach an unsre Töchter; sie wachsen heran, und wir tragen das Wunder, das sie umgibt, wie Milo seinen Stier trug; es ist ungewöhnlich, daß ein Mann plötzlich eine einundzwanzigjährige Tochter bekommt.
Sie sagte, sie habe nicht viel mit Metaphysischem zu schaffen; sie sei eine Materialistin.
»Hast du nicht auf Mutters Schoß gebetet? Bei ihr und Vati Religion gelernt? In der Schule Religionsunterricht gehabt? Und Sonntags die Kirche besucht?«
»Es ist von alledem nichts an mir haften geblieben, glaube ich.«
»Hattest du keine Furcht vor der Hölle? Die meisten meiner Generation gingen durch die Furcht vor der Hölle.«
»Keine Spur davon«, sagte das ‹Neue Zeitalter›.
»Doch – überkam dich nicht zuweilen in der Nacht eine Sehnsucht nach Gott?«
Christina Alberta machte eine kleine Pause. »Ja«, sagte sie. »Die kommt – manchmal. Ich weiß nicht, ob das sehr wichtig ist oder überhaupt ohne jede Bedeutung.« »Es ist ein Teil«, sagte Devizes langsam, »eines Etwas, das mit dem Wunsche zu tun hat, mehr als ein miserabler Wurm zu sein – und mit dem Abscheu vor Gemeinheit – und so weiter.«
»Ja. Weißt du mehr darüber?«
Sonderbarerweise beantwortete er diese Frage nicht. »Und wie siehst du dich selbst in Beziehung zur Menschheit – zu den Tieren – zu den Sternen? Welches Gefühl der Verpflichtung hast du? Wie denkst du dir den Weg, den du zu gehen hast?«
»Hm«, sagte Christina Alberta. Sie betrachte sich als Kommunistin, sagte sie, obzwar sie nicht zur Partei gehöre. Doch sie kenne einige andere junge Leute, die dazu gehörten. Sie brachte einige der Phrasen der Bewegung vor, ‹die materialistische Geschichtsauffassung› und dergleichen. Er sagte, er könne das nicht ganz verstehen, und stellte ziemlich irritierende Fragen; sie versuchte, ihm zu entgegnen. Sie bemerkte anfänglich nicht, wie weit ihre Phraseologien auseinander gingen. Im Laufe des Gespräches wurde das klar. Er schien mit der Idee des Kommunismus völlig einverstanden; sie stimmte durchaus, so sagte er, zu seiner eigenen Idee, Teil eines größeren Lebewesens zu sein. Doch war er gegen den praktischen Kommunismus. Der marxistische Kommunismus sei überhaupt keine aufbauende Bewegung, sagte er; er bedeute nur Auflösung. Er besitze keine Idee, keinen Plan. Christina Alberta wurde in Verteidigungsstellung getrieben. »Begeisterung für einen idealen kommunistischen Staat ist nicht halb so wichtig wie die Frage der unmittelbaren kommunistischen Taktik in einer verfallenden Gesellschaft«, zitierte sie in beinahe offiziellem Tone. So drückten sich nämlich ihre jungen Freunde in der Partei aus. Aber im Gespräche mit ihm waren dergleichen Sätze gar nicht sehr wirkungsvoll. Er wollte ihre Phrasen nicht so ohne weiteres hinnehmen. Er wollte wissen, was sie mit dem Verfall einer Gesellschaft meine, ob es jemals eine Gesellschaft gegeben habe, die nicht in ständigem Verfall und gleichzeitig in ständigem Wachstum begriffen gewesen wäre, ob es eine gute Taktik gebe, die nicht in Beziehung zu einer allgemeinen Strategie stehe, und ob es irgend eine Strategie ohne klares Kriegsziel geben könne. Sie parierte mit mehr Heftigkeit als Erfolg, und sie gerieten in Streit.
Er betonte den Unterschied in ihren Auffassungen. Für ihn bedeute Kommunismus einen neuen Geist, den Geist der Wissenschaft, der die Welt nach wissenschaftlichen, kollektiven Richtlinien reorganisiert, aber die ganze Mache des Parteikommunismus sei bloß etwas Vorübergehendes. Dieser sei von den Gefühlen und Ideen bestehender sozialer Klassen durchtränkt, von dem natürlichen Neid der Besitzlosen. Man finde in ihm den ängstlichen Dogmatismus verzweifelter Leute, die ihrer Sache nicht ganz sicher sind. Was ihm fehle, sei die Leidenschaftlichkeit schöpferischen Selbstvergessens. Viele Kommunisten, sagte er, seien einfach umgekehrte Kapitalisten, Egoisten ohne Kapital; sie wollten Rache und Enteignung, und wenn sie das erreicht hätten, würde nichts übrig bleiben als sozialer Ruin; alles müßte dann wieder von vorne angefangen werden. Und infolge ihres Mangels an innerer Sicherheit seien sie argwöhnisch und intolerant. Sie mißtrauten ihren besten Freunden, ihren eigentlichen Führern, Männern der Wissenschaft wie Keynes und Soddy.
»Keynes ein Kommunist!« lachte Christina Alberta hell auf. »Er bekennt sich nicht einmal zu der ersten wissenschaftlichen Tatsache, dem Klassenkampf.«
»Der Klassenkampf ist kaum eine Tatsache – sicherlich keine wissenschaftliche«, antwortete er. »Keynes baut langsam einen Entwurf zu einem wissenschaftlich begründeten Wechselsystem auf. Die meisten deiner Freunde in Rußland scheinen nicht einmal zu begreifen, daß so etwas nötig ist.«
»Doch, das tun sie!«
»Haben sie es gezeigt?«
»Was weißt du von den russischen Bolschewiken?«
»Und was weißt du von ihnen? Du siehst hauptsächlich auf die Abzeichen der Leute. Nichts ist echt ohne ein rotes Abzeichen – und alles mit einem solchen wird anerkannt.«
Sie sagte, er sehe die Dinge von seinem ‹Bourgeois›-Standpunkte aus an, und er lachte herzlich über ihre soziale Klassifikation; in England gebe es keine Bourgeoisie, sagte er; sie versuchte es mit einigen Zynismen und Sarkasmen der Bewegung, die sie auf Lager hatte, doch gelang es ihr absolut nicht, ihn zu überzeugen. Es sei leicht zu kritisieren, sagte sie, wenn man wie er von angelegtem Kapital lebe.
»Das würde vieles leichter machen«, lächelte er. »Aber in Wirklichkeit lebe ich von meinem Honorar.«
»Du hast Kapital angelegt.«
»Etwas. Ich lebe nicht davon.«
Für einige Zeit flaute das Gespräch ab. Schließlich und endlich habe sie, so sagte sie sich, in Anbetracht ihres Alters und Standes, gar nicht so schlecht gefochten. Die augenblickliche Glut der gegenseitigen Erbitterung im Streite legte sich wieder. Sie gingen zu einer Frage über, an welcher beide ein unmittelbares Interesse hatten, zu der Frage, was sie mit ihrem Leben beginnen solle.
»Wir machen zwar Fortschritte, Christina Alberta,« sagte Devizes, »aber im allgemeinen ist es doch noch immer die Regel, daß das Leben der Frau sehr ausgiebig durch den Charakter und die Beschäftigung des Mannes bestimmt wird, der – die Hauptrolle in dem Stücke spielt. Warst du schon einmal verliebt?«
Sie wünschte ihm die ganze Wahrheit über sich zu sagen, aber manches läßt sich schwer in Worte kleiden. Sie zögerte und wurde rot bis über die Ohren. »Heutzutage«, sagte sie und brach ab. »Ich habe ein bißchen Phantasie. Ich bin in London umhergelaufen. Ich habe mir vielleicht manches eingebildet –«
Einen Augenblick lang sah er sie sehr forschend, aber darum nicht weniger freundlich, an.
»Ich war verliebt – irgendwie«, gab sie zu.
Er nickte, und gab dadurch schrecklicherweise zu verstehen, daß er alles begriffen habe.
»Ich will mein Leben nicht in Abhängigkeit von irgend einem Manne verbringen«, fuhr sie fort.
»Kluge Mädchen tun das niemals. Ebensowenig wie gescheite Jungens ihr Leben damit verbringen wollen, eine Göttin anzubeten.«
»Auf keinen Fall kann ich mir vorstellen, daß ich eine kindergebärende Hausfrau sein werde«, sagte sie.
»Nicht einmal, wenn du heiratest. Nein. Ich glaube auch nicht, daß du diesem Typus angehörst. Doch wenn du im Sinn hast, diesen leichten Weg zu verwerfen – es ist ein leichter Weg, was auch die Leute sagen mögen –, wenn du die Absicht hast, ein selbständiger Bürger zu sein, wie es der Mann ist, dann, Christina Alberta, mußt du auch eines Mannes Arbeit tun. Da gibt's dann kein ‹Süßes Mädel›-Spielen mehr, weißt du.«
»Habe ich denn dazu das Zeug?« fragte Christina Alberta.
»Nein. Ich glaube nicht, daß du es hast. Und in diesem Falle brauchst du, glaube ich, etwas mehr Bildung. Du bist gescheit, aber dein Wissen ist ein wenig zusammengestoppelt.«
»Ich kann genug, um eine Stellung zu bekommen. Und dann zu lernen.«
»Lernen«, sagte er. »Ernstliches Lernen wird deine ganze Zeit in Anspruch nehmen. Mir wär's lieber, wir kämen überein, daß du zwei oder drei weitere Jahre studierst. Du brauchst dir keine Sorgen um Mittel und Wege zu machen. Du und ich sind aus derselben Sippschaft – sind eine Sippschaft von zweien genau genommen – und ich bin das Oberhaupt. Ich will dich ganz so behandeln, als ob du ein Sohn wärst. Und nun, welches Studium soll es sein? Rechtswissenschaft? Medizin? Ausbildung zum Journalismus oder zur Politik? Viele Tore öffnen sich jetzt den Frauen – jeden Tag neue.«
Darauf konnte Christina Alberta etwas ausführlicher Bescheid geben. Über diese Dinge hatte sie schon nachgedacht. Sie wünschte über das Leben und die Welt als Ganzes etwas zu wissen. Ob sie ein volles Jahr der Physik, der Biologie und Geologie hauptsächlich, und der Anthropologie widmen könnte, fragte sie. Würde das möglich sein? Und dann, falls sie für Medizin begabt sei, ein weiteres Jahr der Psychologie oder der Politik und der öffentlichen Fürsorge? »Es ist etwas viel, ich weiß«, sagte sie.
»Viel! Es ist eine Enzyklopädie in einem Jahr.«
»Aber ich möchte von all dem wenigstens etwas wissen.«
»Natürlich.«
»Könnte ich mehr Zeit darauf verwenden?«
»Du müßtest wohl mehr Zeit darauf verwenden.«
»Ich verlange viel – nicht?«
»Es wäre nicht viel, wenn du Hosen anhättest. Wir haben beschlossen, dich bis zu diesem Grade zu entweiben. Warum solltest du nicht viel verlangen?«
»Meinst du, daß ich schließlich wissenschaftliche Arbeit leisten könnte – wie du?«
»Warum nicht?«
»Ein Mädchen?«
»Du bist aus demselben Stoff wie ich, Christina Alberta.«
»Glaubst du, daß ich eines Tages sogar mit – mit dir arbeiten könnte?«
»Verwandte Geister können verwandten Spuren folgen«, sagte er und zollte damit ihrer Verwandtschaft die vollkommenste Anerkennung. »Warum nicht?«
Sie stand da und schaute ihn an, dunkle Begeisterung in den Augen, und ihn durchzuckte es plötzlich, was er ihr alles sein könnte. Kühn war sie, edel und ehrgeizig; ein wunderbares Leben, das aus dem Nichts in das seine getreten war. Und sie wünschte, daß ihre Verwandtschaft zu etwas wirklich Großem und Tiefem für sie beide werden möge.
Er lenkte ab, indem er auf den Gegensatz zwischen Studenten und Studentinnen, zwischen Männern und Frauen in Bezug auf die Arbeit zu sprechen kam. »Ihr werdet niemals mit den Männern parallel gehen, ihr freien Frauen, also hofft auch nicht darauf. Ihr müßt euch einen Weg bahnen, der vielleicht ähnlich, aber nicht derselbe sein wird. Er wird durchaus anders sein.« Er führte diese Ansicht näher aus, indem er erklärte, daß wahrscheinlich das ganze Gewebe eines Mannes Eigenschaften besitze, die das einer Frau nicht habe, und vice versa, herunter bis zur Muskelfaser oder zu einem Nervenstrang. Es könne eine Zeit kommen, da wir einen Tropfen Blut oder ein Stückchen Haut unter das Mikroskop legen oder eine feine Reagenz darauf anwenden würden, um sein Geschlecht zu bestimmen. »Ein Mann leistet Widerstand«, sagte er. »Ein Mann ist halsstarrig. Er besitzt physisch und psychisch größeres Beharrungsvermögen. Das hält ihn in seiner Bahn. Die Männer sind im Vergleiche zu den Frauen stetiger und blöder. Die Frauen sind im Vergleich zu den Männern flinker und alberner. Knüppel und Nadeln.«
Er erzählte aus seiner Studentenzeit, da weibliche Medizinstudenten noch ziemlich neuartige Eindringlinge waren; darauf ging er auf seines Vaters Vorurteile über und schilderte, wie sein Vater seine Mutter behandelt habe; dann berichtete er über seine Knabenzeit. Bald tauschten sie Erlebnisse kindlicher Enttäuschungen und Phantasien aus. Sie vergaß in dem Fluß des Gespräches, um wieviel älter und erfahrener er war als sie. Er erzählte ihr von sich, weil er es für richtig hielt, daß sie von ihm wisse; er lauschte mit freundlicher Spannung allem, was sie über ihren Vati und sich selbst, über ihre Eindrücke und ihre wenigen Abenteuer bei zufälligen Begegnungen als Vororte-Studentin in London zu erzählen für gut hielt. Sie sprachen von ihrem beiderseitigen Gefallen an Paul Lambones liebenswürdiger Absonderlichkeit. Schließlich fiel es ihr ein, ihm etwas zu trinken anzubieten. Die Crumbs hatten eine Flasche Bier und einen Siphon zurückgelassen. Doch Devizes bat sie, Tee zu kochen, und half ihr dabei. Währenddessen ging die gegenseitige Erforschung weiter. Indem sie miteinander sprachen, wurde ihre Freundschaft reicher und tiefer. Nie zuvor war ihr ein so inniges und wohltuendes Interesse entgegengebracht worden wie das seine. Sie hatte Freunde gehabt, doch niemals solche Freundschaft gefunden; sie hatte einen Liebhaber gehabt, doch niemals solche Innigkeit gespürt.
Es wurde ein Uhr, ehe er wegging.
Das Gespräch war abgeflaut. Er saß kurze Zeit nachdenklich da. »Ich muß gehen«, sagte er und stand auf. Sie traten einander gegenüber, etwas verlegen um die Abschiedsworte.
»Es war wunderbar, so mit dir reden zu können«, sagte sie.
»Es bedeutet mir viel, daß ich dich gefunden habe.«
Wieder eine Pause. »Es bedeutet viel für mich«, sagte sie nachhinkend.
»Wir wollen oft miteinander reden«, sagte er.
Er hätte gerne ‹meine Liebe› hinzugefügt, doch eine unsinnige Schüchternheit hielt ihn davon ab. Sie bemerkte, daß er etwas unterdrückte.
Im Vorzimmer stand sie mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen aufrecht vor ihm, und er wunderte sich, daß er sie nicht schon von allem Anfang an schön gefunden hatte. »Auf Wiedersehen«, sagte er, lächelte ihr ernst zu, ergriff ihre Hand und hielt sie eine Weile fest.
»Gute Nacht«, sagte sie, zögerte, öffnete ihm dann das grüne Tor und stand und schaute ihm nach, wie er die Stallungen hinunterging.
Am Ende drehte er sich um und winkte ihr mit der Hand zu, bevor er verschwand. ‹Gute Nacht›, flüsterte sie und fuhr zusammen, und sah sich um, als fürchte sie, ihre unausgesprochenen Gedanken seien hörbar gewesen.
Vater. Ihr Vater!
Wirkliche Väter also können einen in solche Glut versetzen!
Sie blieb gespannt zurück wie eine Violinsaite, auf welcher der Bogen bewegungslos ruht. Ihren Vati, der gar nicht ihr Vater war, den hätte sie einfach umarmt und geküßt.