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Es war einmal ein alter Uhu, der nicht mehr auf die Jagd gehen konnte, und sich von seinen Söhnen füttern lassen mußte. Da dachte er, daß er ein Buch schreiben wolle, und zwar ein Buch, in dem man sehen konnte, wie es in der Welt zugehe. Er wollte es drucken lassen für die Schulkinder.
Er ließ seine drei Freunde kommen: Den Maulwurf, den Hahn und die Schwalbe; die sollten ihm berichten, was sie von der Welt wüßten.
Es waren Leute, die viel erfahren hatten, zudem wichen sie nie von der Wahrheit ab, und dem Uhu lag besonders viel daran, daß in dem Buch nur die reine Wahrheit gesagt würde.
Sie begaben sich zusammen an den Rand des nächsten Waldes, um ungestört verhandeln zu können. Der Uhu saß im Stamm einer alten, hohlen Eiche, der Hahn ging gravitätisch davor auf und ab und der Maulwurf grub sich ein Loch, aus dem er nur den Kopf herausstreckte. Die Schwalbe aber flog auf den untersten Zweig des Baumes, unter dem sie beraten wollten.
Der Uhu nahm sein Notizbuch, spitzte seinen Bleistift, und bat den Maulwurf anzufangen. Der setzte sich in Positur und begann:
»Die Welt ist dunkel.«
»Dunkel?« fragte die Schwalbe verwundert.
»Ja, dunkel,« antwortete der Maulwurf bestimmt. »Dunkel und eng. Lange, schmale Gänge durchziehen sie, in denen man bequem gehen kann. Man macht die Gänge selbst, und hat viel Arbeit damit. Nahrung gibt es in Menge. Die Tiere besitzen alle einen schwarzen samtnen Pelz.«
»Einen schwarzen Pelz!« rief der Hahn. »Was für ein Unsinn!«
»Jawohl, einen schwarzen Pelz! Es gibt auch Maulwürfe, die einen weißen Pelz haben. Aber zum Glück sind sie sehr selten. Man verachtet sie, weil sie nicht sind wie alle andern.«
Der Uhu schrieb alles, was der Maulwurf gesagt, in sein Notizbuch. Zu einigen Mitteilungen machte er Bemerkungen. Er sagte aber nichts, sondern fragte höflich den Maulwurf, ob er noch etwas mitzuteilen habe.
»O ja,« sagte der Maulwurf, »die Hauptsache! In der Welt ist es sehr langweilig. Ein Tag ist wie der andere, und man hat nur zwei Zerstreuungen. Die eine ist das Essen. Die andere ist, daß man alle anderen Tiere über die Achsel ansieht, die nicht in der Welt wohnen und nicht leben wie die Maulwürfe. Und das ist die feinste Freude für einen Maulwurf.«
Der Uhu notierte alles. Darauf bat er den Hahn, nun auch seine Erfahrungen mitzuteilen.
»Die Welt,« begann der Hahn, »ist meistens eine lustige Sache. Genug zu essen, genug zu trinken und Hühner, soviel man will!«
»Soviel man will!« stöhnte entsetzt der Maulwurf.
»Jawohl! Soviel man will! Die Welt ist viereckig und hat einen Zaun aus Draht rings herum. Die Welt hat ein Licht am Himmel, dann ist es warm. Manchmal fallen aber weiße Fetzen vom Himmel und dann ist es kalt.«
»Weiße Fetzen?« fragte erstaunt die Schwalbe.
»Ja, und wenn die herabfallen, wird die ganze Welt weiß davon. Kein Tier legt dann Eier. Es gibt in der Welt jemand, der einem alle Tage Futter bringt. In der Welt haben die Tiere Federn und einen roten Kamm.«
»Einen Kamm?« riefen Maulwurf und Schwalbe. »Das ist nicht wahr.«
»So! Nicht wahr!« krähte heftig der Hahn. »Ich habe doch einen, und unsere Kücken haben einen, wenn sie zur Welt kommen, meine Hühner haben einen, und dann: nicht wahr! Jedes Wort ist wahr, das ich sage! Ich habe alles selbst beobachtet, ich lebe mitten in der Welt und betrachte sie von morgens bis abends.«
Der Uhu bat höflich den Hahn, sich nicht zu ärgern. Es zweifle niemand an der Wahrheit seiner Behauptungen, nur nehme eben nicht jedes denselben Standpunkt ein. Da gebe es dann leicht Differenzen.
»Das Schönste in der Welt,« fuhr der Hahn besänftigt fort, »ist der Misthaufen. Das ist eine wahre Fundgrube. Würmer, Käfer, Körner, kurz alles, was man sich wünschen kann, ist vorhanden. Das ist eine Lust, wenn alle da kratzen und scharren, picken und gackern, und nie fühlt man sich so als Mann, als wenn man auf seinem Mist steht inmitten seiner Hühner und stolz in die Welt hinauskräht.«
Ganz ergriffen hörte der Uhu zu. Zu der letzten Bemerkung des Hahns machte er ein Kreuz, damit er sie besonders sorgfältig ausarbeite.
Dann bat er die Schwalbe, nun auch ihre Beobachtungen und Erlebnisse zum besten zu geben.
»Die Welt,« fing die Schwalbe an, »ist unendlich groß. Sie besteht aus Meeren und Ländern, aus Bergen und Tälern. Das Schönste in der Welt ist, wie ein Pfeil die Luft zu durchmessen, von einem Land ins andere, Meere zu überfliegen und seine Brust dem Sturme preiszugeben.«
»Ein gräßliches Vergnügen!« wimmerte der Maulwurf, und der Hahn und der Uhu schüttelten ihre Köpfe. Der Uhu fragte nicht weiter. Es kam ihm gar zu phantastisch vor, was die Schwalbe erzählte, gar zu unwahrscheinlich und übertrieben. Jedenfalls würde er sich in seinem Buch mehr an die beiden andern halten.
Der Uhu dankte den Dreien sehr für die nützlichen Mitteilungen, und versprach jedem ein Exemplar des Buches, wenn es erscheinen würde. Er sagte, daß die Ansichten der drei Freunde weit auseinander gingen, daß aber, da alle drei ehrenwerte Leute seien, an ihrem Worte nicht zu zweifeln sei. Er werde alles sorgfältig prüfen und aus allen Darstellungen dasjenige nehmen, was ihm für die Kinder das Passendste scheine.
Nach einigen Monaten kam das Buch für die Schulkinder heraus. Lehrer Storch las in der Schule daraus vor. Es hieß da:
Die Welt ist dunkel. Oft ist eine Sonne da, doch scheint sie nicht immer. Wenn sie scheint, sehen sie nicht alle.
In der Welt haben die Tiere einen Kamm, manchmal aber einen schwarzen Pelz. Die Welt ist unendlich groß, und alles ist mit einem Zaun umgeben. Sie ist viereckig.
Das Schönste in der Welt ist der Misthaufen. Einige fliegen darüber weg und geben ihre Brust dem Sturme preis, die meisten aber krähen und suchen Würmer.
In der Welt sind enge, dunkle Gänge und darinnen verachtet man die andern Tiere. In der Welt ist es sehr langweilig, manchmal auch lustig, besonders wenn man Hühner hat, soviel man will und genug zu essen.
Viele Tiere sehen Flocken vom Himmel fallen, andere sehen sie nie.
In der Welt bringt jemand den Tieren Futter ... usw.
Als der Storch fertig vorgelesen hatte, mußten die Kinder es durchbuchstabieren, und dann mußten sie es auswendig lernen.
Der Uhu hatte es sich lange überlegt, welche der verschiedenen Ansichten der Tiere er bringen wolle, denn sie stimmten ja durchaus nicht überein. Er wollte keinen seiner Freunde ärgern, indem er etwas wegließ, auch war ihm alles gleich wertvoll und schien ihm unentbehrlich für sein Buch.
Zuletzt fand er einen Ausweg. Er machte Zettelchen, schrieb sämtliche Beobachtungen von Maulwurf, Hahn und Schwalbe einzeln darauf, warf sie dann in eine Schüssel, schüttelte sie tüchtig und fing an zu ziehen. Den ersten Zettel, den er zog, gebrauchte er für das Buch, den zweiten nicht, den dritten wieder für das Buch, den vierten nicht, und so weiter, bis er den letzten gezogen hatte.
Das war gerecht und einfach und konnte ihm keinerlei Unannehmlichkeiten zuziehen. Und so entstand das Buch.
Der Storch stattete dem Uhu einen Besuch ab und dankte ihm begeistert im Namen der heranwachsenden Jugend für das interessante Werk.