Vineta
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»Thun Sie mir den Gefallen, Doktor, und hören Sie endlich einmal auf mit diesen ewigen Lamentationen! Ich sage Ihnen, der Junge ist nicht zu ändern. Ich habe es oft genug versucht; sechs Hofmeister haben mir nacheinander dabei geholfen. Wir konnten alle nichts mit ihm ausrichten, und Sie können es erst recht nicht – also lassen Sie ihm seinen Willen!«

Es war der Gutsbesitzer Herr Witold auf Altenhof, der dem Erzieher seines Mündels im kräftigsten Tone diese Rede hielt. Die beiden Herren befanden sich in der großen Eckstube des Wohnhauses, deren Fenster der Hitze wegen weit geöffnet waren und deren ganzes Aussehen zeigte, daß ihr Bewohner Dinge wie Eleganz und Behaglichkeit für sehr überflüssig, wenn nicht gar für schädlich hielt. Die einfachen, zum Teil sehr altertümlichen Möbel waren ohne die mindeste Rücksicht auf geschmackvolle oder auch nur passende Anordnung da- und dorthin geschoben, wie es gerade die augenblickliche Bequemlichkeit erforderte. An den Wänden hingen Flinten, Jagdgerätschaften und Hirschgeweihe, gleichfalls ohne jede Wahl geordnet. Wo gerade Platz war, hatte man einen Nagel eingeschlagen und den betreffenden Gegenstand daran befestigt, unbekümmert darum, wie er sich ausnahm. Auf dem Schreibtisch lagen Wirtschaftsrechnungen, Tabakspfeifen, Sporen und ein halbes Dutzend neuer Reitpeitschen bunt durcheinander. Die Zeitung befand sich auf dem Teppiche, der allerdings vorhanden war, wenigstens dem Namen nach, dessen Abwesenheit dem Zimmer aber jedenfalls zu größerer Zierde gereicht hätte, denn er zeigte deutliche Spuren davon, daß die großen Jagdhunde ihn als täglichen Ruheplatz erwählt hatten. Überhaupt stand und lag kein Ding an dem Platze, wohin es eigentlich gehörte, vielmehr jedes da, wo es gerade zuletzt gebraucht worden war und wo es nun für spätere Fälle liegen blieb. Von dem Kunstsinne des Bewohners gab nur ein einziger Gegenstand in dem Gemache ein freilich haarsträubendes Zeugnis, ein in den grellsten Farben gemaltes Jagdstück, das über dem Sofa hing und dort an der Hauptwand den Ehrenplatz behauptete.

Der Gutsherr saß in seinem Lehnstuhl am Fenster, ganz umlagert von mächtigen Tabakswolken, die er aus seiner Meerschaumpfeife blies. Er war ein angehender Sechziger, sah aber trotz seiner weißen Haare noch verhältnismäßig jugendlich aus und stand jedenfalls noch in der Fülle der Kraft und Gesundheit. Die Gestalt von bedeutender Größe zeigte einen ebenso bedeutenden Körperumfang; das etwas gerötete Gesicht verriet nicht allzuviel Intelligenz, dagegen trug es einen unverkennbaren Ausdruck von Gutmütigkeit. Der Anzug, ein Gemisch von Haus- und Jagdkleidung, war ziemlich nachlässig, und die urkräftige Gestalt mit ihrer urkräftigen Stimme bildete den schärfsten Gegensatz zu der vor ihr stehenden schmächtigen Figur des Erziehers. Der Doktor mochte im Anfange der dreißiger Jahre sein; er war von mittlerer Größe, aber seine gebückte Haltung ließ ihn klein erscheinen. Das Gesicht war nicht gerade unschön, aber es trug zu deutlich den Ausdruck der Kränklichkeit und einer gedrückten Lebensstellung, um anziehend zu erscheinen. Seine Farbe war bleich und ungesund, die Stirn gefaltet, und die Augen hatten jenen zerstreuten unsichern Blick, der Leuten eigen ist, die selten oder nie mit ihren Gedanken ganz bei der Wirklichkeit sind. Der schwarze Anzug zeigte die peinlichste Sorgfalt, und das ganze Wesen des Mannes hatte etwas Schüchternes, Ängstliches, das sich auch in seiner Stimme verriet, als er leise antwortete:

»Sie wissen, Herr Witold, daß ich mich nur im äußersten Notfalle an Sie wende. Diesmal aber muß ich Ihre Autorität in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Was hat denn Waldemar schon wieder angestiftet?« fragte der Gutsherr ärgerlich. »Daß er unbändig ist, weiß ich so gut wie Sie, da kann ich Ihnen aber nicht helfen. Mir ist der Junge längst über den Kopf gewachsen; er pariert keinem Menschen mehr, auch mir nicht. – Daß er Ihren Büchern davonläuft und sich lieber auf der Jagd herumtreibt – pah, ich habe es in meiner Jugend auch nicht besser gemacht. Mir wollte der Gelehrtenkram auch nicht recht in den Kopf. Daß er keine Manieren hat – ist auch gar nicht notwendig. Wir leben hier ganz unter uns, und wenn wir einmal mit den Nachbarn zusammenkommen, geht es auch ungeniert genug zu. Das wissen Sie doch am besten, Doktor. Sie nehmen ja immer Reißaus vor unsern Jagd- und Trinkgesellschaften.«

»Aber bedenken Sie doch,« wendete der Erzieher ein, »wenn Waldemar mit seinem unbändigen Wesen später in andre Lebensverhältnisse tritt, wenn er sich dereinst verheiratet –«

»Verheiratet?« rief Witold förmlich beleidigt von dieser Voraussetzung. »Er wird doch nicht! Wozu braucht er zu heiraten? Ich bin Junggeselle geblieben und befinde mich wohl dabei, und der selige Nordeck hätte auch besser daran gethan, wenn er ledig geblieben wäre. Nun, mit unserm Waldemar hat es Gott sei Dank keine Not – der läuft allem, was Frauenzimmer heißt, davon, und daran thut er recht.«

Er lehnte sich mit sehr zufriedener Miene in seinen Stuhl zurück. Der Doktor trat einen Schritt näher.

»Um nun aber wieder auf den Anfang unsres Gespräches zurückzukommen –« sagte er zögernd. »Sie geben es ja selbst zu, daß mein Zögling mir völlig entwachsen ist, und es dürfte somit wohl die höchste Zeit sein, ihn auf die Universität zu senden.«

Herr Witold fuhr mit einem Ruck in die Höhe, daß der Erzieher den eben gethanen Schritt zur Annäherung schleunigst wieder zurückthat.

»Dachte ich es doch, daß wieder so etwas herauskommen würde! Seit vier Wochen höre ich nichts andres von Ihnen. Was soll Waldemar auf der Universität? Sich von den Professoren den Kopf noch mehr mit Gelehrsamkeit vollpfropfen lassen? Ich dächte, das hätten Sie schon hinlänglich besorgt. Was ein tüchtiger Gutsherr braucht, hat er gelernt. Er weiß auf Hof und Feldern genau so gut Bescheid, wie mein Inspektor; die Leute versteht er besser in Respekt zu halten als ich, und im Reiten und auf der Jagd thut es ihm keiner zuvor. 's ist ein Prachtjunge.«

Der Erzieher schien diese enthusiastische Ansicht über seinen Zögling durchaus nicht zu teilen. Er wagte das nun freilich nicht laut werden zu lassen, aber er raffte seinen ganzen, offenbar nicht großen Vorrat von Mut zu einer schüchternen Gegenrede zusammen.

»Aber für den Erben von Wilicza dürfte doch am Ende mehr notwendig sein, als nur die Eigenschaften eines guten Inspektors oder Administrators. Mir scheint eine höhere akademische Bildung dringend wünschenswert.«

»Mir ganz und gar nicht,« rief Herr Witold. »Ist es nicht genug, daß ich den Jungen, der mir ans Herz gewachsen ist, doch später von mir lassen muß, weil seine Güter gerade in dem verwünschten Polackenlande liegen? Soll ich mich jetzt schon von ihm trennen, um ihn auf die Universität zu schicken, wohin er durchaus nicht will? Daraus wird nichts – absolut nicht! Er bleibt hier, bis er nach Wilicza geht.«

Er that einige so grimmige Züge aus seiner Pfeife, daß sein Gesicht für mehrere Minuten gänzlich hinter den Tabakswolken verschwand. Der Erzieher stieß einen Seufzer aus und schwieg, aber gerade diese stille Ergebung schien den tyrannischen Gutsherrn zu rühren.

»Geben Sie sich nur zufrieden, Doktor, mit der Universität!« sagte er in ganz verändertem Tone. »Dazu bringen Sie den Waldemar doch nun und nimmermehr, und für Sie ist es auch viel besser, Sie bleiben hier in Altenhof. Hier sitzen Sie so recht mitten unter Ihren Hünengräbern und Runensteinen, und wie das Zeug alles heißt, an dem Sie den ganzen Tag herumstudieren. Ich begreife freilich nicht, was Sie an dem alten Heidengerümpel Merkwürdiges finden, aber eine Freude muß der Mensch haben, und Ihnen gönne ich sie von Herzen, denn Waldemar macht Ihnen oft genug das Leben schwer – und ich dazu.«

Der Doktor machte eine verlegen abwehrende Bewegung, »O, Herr Witold!«

»Genieren Sie sich nicht!« sagte dieser gutmütig, »Ich weiß ja doch, daß Sie im Grunde unser Leben hier für eine ganz heillose Wirtschaft halten, und uns längst davongelaufen wären, wie Ihre sechs Vorgänger, wenn nicht das alte Heidengerümpel wäre, an dem nun einmal Ihr ganzes Herz hängt, und von dem Sie sich nicht trennen können. Nun, Sie wissen ja, ich bin nicht so schlimm, wenn ich auch hin und wieder einmal auffahre, und da Sie mit Ihren Gedanken doch fortwährend in der Heidenzeit herumstöbern, müßte Ihnen eigentlich bei uns am wohlsten sein. Wie ich mir habe sagen lassen, hatten die Leute damals gar keine Manieren; sie schlugen sich oft aus reiner Freundschaft untereinander tot.«

Dem Doktor schienen die historischen Kenntnisse, die der Gutsherr entwickelte, doch wohl etwas bedenklicher Natur; vielleicht fürchtete er auch eine praktische Anwendung derselben auf seine eigene Person, denn er retirierte unmerklich nach dem Sofa.

»Verzeihen Sie, die alten Germanen –«

»Waren nicht wie Sie, Doktor,« rief der Gutsherr, dem das Manöver nicht entgangen war, überlaut lachend. »So viel weiß ich auch noch. Ich glaube, von uns allen kommt ihnen Waldemar am nächsten, also begreife ich gar nicht, was Sie eigentlich an ihm auszusetzen haben.«

»Aber, Herr Witold, im neunzehnten Jahrhundert –« Weiter kam der Doktor nicht in seiner Auseinandersetzung, denn in diesem Augenblick krachte ein Schuß, der unmittelbar vor dem offenen Fenster abgefeuert wurde. Die Kugel pfiff durch das Zimmer, und das große Hirschgeweih, das über dem Schreibpulte hing, stürzte polternd herab.

Der Gutsherr sprang von seinem Sitze auf. »Waldemar! Was soll das heißen? Schießt uns der Junge jetzt etwa gar noch in die Stube hinein? Wart', das Handwerk werde ich dir legen.«

Er wollte hinauseilen, wurde aber durch den Eintritt eines jungen Mannes daran verhindert, der die Thür öffnete oder sie vielmehr aufstieß, um sie dann in der rücksichtslosesten Weise wieder ins Schloß fallen zu lassen. Er war im Jagdanzuge, hatte einen großen Jagdhund neben sich und die abgeschossene Flinte in der Hand. Ohne Gruß, ohne Entschuldigung wegen seines gewaltsamen Auftretens, ging er auf Witold zu, stellte sich dicht vor ihn hin und sagte triumphierend:

»Nun, wer hat recht? Du oder ich-«

Der Gutsherr war wirklich zornig. »Ist das eine Art, den Leuten über die Köpfe wegzuschießen?« rief er hitzig. »Man ist ja vor dir seines Lebens nicht mehr sicher. Willst du den Doktor und mich durchaus aus der Welt schaffen?«

Waldemar zuckte die Achseln. »Warum nicht gar! Meine Wette wollte ich gewinnen. Du behauptetest ja gestern, ich würde von draußen den Nagel nicht treffen, an dem der Zwölfender hängt – da sitzt die Kugel.«

Er wies nach der Wand hinauf. Witold folgte der Richtung.

»Wahrhaftig, da sitzt sie,« sagte er voll Bewunderung und gänzlich versöhnt. »Doktor, sehen Sie nur – aber was ist Ihnen denn?« »Herr Doktor Fabian hat wahrscheinlich wieder seine Nervenzufälle,« sprach Waldemar höhnisch, indem er seine Flinte beiseite stellte, aber keine Miene machte, seinem Lehrer beizustehen, der halb ohnmächtig von dem Schreck in das Sofa zurückgesunken war und noch an Händen und Füßen zitterte. Der gutmütige Witold richtete ihn auf und redete ihm nach Kräften zu.

»Erholen Sie sich doch! Wer wird denn gleich ohnmächtig werden, weil ein wenig Pulver verknallt ist; die Geschichte ist ja nicht der Rede wert. Es ist wahr, wir hatten gewettet, aber wie konnte ich denn wissen, daß der Junge die Sache auf so unvernünftige Weise ins Werk setzen würde. Anstatt uns hinauszurufen, damit wir in aller Ruhe zusehen können, feuert er uns ohne weiteres in die Stube hinein. – Ist Ihnen nun besser? Gott sei Dank!«

Doktor Fabian war aufgestanden und bemühte sich, sein Zittern zu beherrschen, es wollte ihm aber noch nicht gelingen.

»Sie hätten uns erschießen können, Waldemar!« sagte er mit bleichen Lippen.

»Nein, Herr Doktor, das hätte ich nicht thun können,« versetzte Waldemar in wenig ehrerbietigem Tone. »Sie standen mit dem Onkel vor dem Fenster zur Rechten, und ich schoß durch das zur Linken, mindestens fünf Schritt seitwärts. Sie wissen doch, ich fehle nie.«

»Künftig aber läßt du das bleiben,« erklärte Witold, mit einem Versuche, die Autorität des Vormundes geltend zu machen. »Der Kuckuck kann doch einmal mit solcher Kugel sein Spiel treiben, und dann ist das Unglück fertig. Ich verbiete dir ein für allemal das Schießen auf dem Hofe.«

Der junge Mann schlug trotzig die Arme übereinander. »Das kannst du, Onkel, aber gehorchen thue ich nicht. Ich schieße doch.«

Er stand vor seinem Pflegevater wie das verkörperte Bild des Trotzes und der Unbändigkeit. Waldemar Nordeck zeigte in seinem Äußeren den echt germanischen Typus, auch nicht der kleinste Zug erinnerte daran, daß die Mutter einem andern Volk entstammte. Der hohe, fast riesige Wuchs überragte selbst die stattliche Gestalt Witolds noch um einige Zoll, aber dem Körper fehlte das Ebenmaß; jede Linie trat scharf und eckig hervor. Das blonde Haar schien in seiner überreichen Fülle eher eine Last für den Kopf zu sein, denn es fiel tief in die Stirn herab und wurde von Zeit zu Zeit mit einer ungeduldigen Bewegung zurückgeworfen. Die blauen Augen hatten einen finstern Ausdruck, und in Momenten der Gereiztheit, wie jetzt, gewann der Blick sogar etwas Feindseliges. Das Gesicht war entschieden unschön, auch hier zeigte sich jede Linie scharf, unvermittelt – nichts mehr von den weicheren Formen des Knaben, aber auch noch nichts von den festen Zügen des Mannes, der Übergang trat hier in fast abstoßender Gestalt auf, und die Verwilderung, die sich schon in dem Äußeren des jungen Mannes kundgab, die gänzliche Hintansetzung aller Formen, diente nicht dazu, den ungünstigen Eindruck zu verwischen, den die ganze Erscheinung machte.

Herr Witold gehörte offenbar zu jenen Menschen, deren Persönlichkeit und Auftreten eine Energie voraussetzen laßt, von der sie in Wirklichkeit auch nicht das geringste besitzen. Anstatt dem Trotze und der Ungezogenheit seines Mündels in entschiedener Weise entgegenzutreten, fand der Herr Vormund es für gut, nachzugeben.

»Ich sagte es Ihnen ja, Doktor, der Junge pariert auch mir nicht mehr,« meinte er mit einer Gemütsruhe, die da zeigte, daß dies der gewöhnliche Ausgang solcher Streitigkeiten war, und daß, wenn es dem jungen Herrn beliebte, einmal Ernst zu machen, der Pflegevater ebenso machtlos war wie der Erzieher.

Waldemar kümmerte sich um beide nicht weiter. Er warf sich der Länge nach auf das Sofa, ohne die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen, daß seine vom Sumpfwasser durchnäßten Stiefel in Berührung mit den Polstern kamen, während der große Jagdhund, der jedenfalls im Wasser gewesen war, dem Beispiele seines Herrn folgte und es sich mit der gleichen Rücksichtslosigkeit auf dem Teppich bequem machte.

Es entstand jetzt eine etwas unbehagliche Pause. Der Gutsherr versuchte brummend seine inzwischen ausgegangene Pfeife wieder in Brand zu setzen, Doktor Fabian aber hatte sich an das Fenster geflüchtet und schickte einen Blick zum Himmel, der deutlicher als Worte aussprach, daß er das Leben hier wirklich für eine »heillose Wirtschaft« erachtete.

Der Gutsherr hatte inzwischen nach seinem Tabaksbeutel gesucht, den er denn auch richtig auf dem Schreibpulte unter den Sporen und Reitpeitschen entdeckte. Im Begriffe, ihn hervorzuziehen, fiel ihm ein noch uneröffnetes Schreiben in die Hand; er nahm es auf.

»Das hätte ich beinahe vergessen! Waldemar, da ist ein Brief an dich.« »An mich?« fragte Waldemar gleichgültig, aber doch mit jener Verwunderung, die ein ungewöhnliches Ereignis hervorruft.

»Jawohl. Eine Krone im Siegel und ein großes Schild mit allerhand Wappengetier. Wird wohl von der Fürstin Baratowska sein. Es ist freilich lange her, daß wir mit einem allergnädigsten Handschreiben beehrt wurden.«

Der junge Nordeck erbrach den Brief und durchflog ihn. Er schien nur wenige Zeilen zu enthalten, aber trotzdem stieg auf der Stirn des Lesenden so etwas wie eine Wetterwolke auf.

»Nun, was gibt es?« fragte Witold. »Sitzt die Verschwörergesellschaft noch immer in Paris? Ich habe den Poststempel nicht angesehen.«

»Die Fürstin ist mit ihrem Sohne drüben in C.,« berichtete Waldemar; er schien die Bezeichnung Mutter und Bruder absichtlich zu vermeiden. »Sie wünscht mich dort zu sehen, ich werde morgen hinüberreiten.«

»Das wirst du bleiben lassen,« sagte der Gutsherr. »Hat sich die hochfürstliche Verwandtschaft jahrelang nicht um dich gekümmert, so braucht sie es auch jetzt nicht zu thun. Wir fragen wahrhaftig nichts danach – du bleibst hier.«

»Onkel, jetzt ist es genug mit dem ewigen Befehlen und Verbieten,« brach Waldemar auf einmal mit solcher Wildheit los, daß jener ihn mit offenem Munde anstarrte. »Bin ich ein Schulknabe, der bei jedem Schritte erst um Erlaubnis fragen muß? Habe ich mit einundzwanzig Jahren nicht einmal das Recht, selbst über die Zusammenkunft mit meiner Mutter zu entscheiden? Ich habe bereits darüber entschieden, und morgen früh reite ich nach C.«

»Nun, nun, nur nicht gleich so bärenwütig!« sagte Witold, mehr erstaunt als erzürnt über diesen plötzlichen Ausbruch eines Jähzorns, den er sich gar nicht erklären konnte. »Meinetwegen reite, wohin du willst! Ich will nichts mit der Polengesellschaft zu thun haben, das sage ich dir.«

Waldemar hüllte sich in trotziges Schweigen; er nahm seine Flinte, pfiff seinem Hunde und verließ das Zimmer. Der Vormund sah ihm kopfschüttelnd nach, auf einmal aber schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er nahm den Brief, den Waldemar achtlos auf dem Tische hatte liegen lassen, und las ihn gleichfalls durch. Jetzt war es Herr Witold, der bei der Lektüre die Stirn runzelte und bei dem schließlich ein Ungewitter losbrach.

»Dachte ich es doch!« rief er, mit der Faust auf den Tisch schlagend, »Das sieht der Frau Fürstin ähnlich. In sechs Zeilen stachelt sie den Jungen zur Empörung gegen mich auf; darum wurde er auf einmal so aufsässig, Hören Sie nur, Doktor, die saubere Epistel:

»›Mein Sohn! es sind Jahre vergangen, ohne daß ich ein Lebenszeichen von Dir erhalten habe.‹ Als ob sie uns eins gegeben hätte!« – schob der Lesende ein. »›Ich weiß nur durch Fremde, daß Du noch auf Altenhof bei Deinem Vormunde lebst. Ich befinde mich augenblicklich in C., und ich würde mich sehr freuen, wenn ich Dich dort sehen und Dir Deinen Bruder zuführen könnte. Ich weiß nun freilich nicht‹ – geben Sie acht, Doktor, jetzt kommt der Stachel! – ›ob Du die nötige Freiheit zu diesem Besuche hast. Wie ich höre, bist Du trotz Deiner inzwischen eingetretenen Mündigkeit noch gänzlich von dem Willen Deines Vormundes abhängig.‹ – Doktor, Sie sind Zeuge davon, wie der Junge uns beide Tag für Tag maltraitiert. – ›An Deiner Bereitwilligkeit, zu kommen, zweifle ich nicht, wohl aber an der Erlaubnis dazu von seiten des Herrn Witold. Ich habe es dennoch vorgezogen, mich an Dich zu wenden, und ich werde ja sehen, ob Du so viel Selbständigkeit besitzest, um diesen Wunsch Deiner Mutter, den ersten, den sie Dir ausspricht, zu erfüllen, oder ob Du ihr selbst diese Bitte nicht gewähren darfst.‹ Das ›darfst‹ ist unterstrichen, – ›Im ersteren Falle erwarte ich Dich in diesen Tagen und schließe den Grüßen Deines Bruders die meinigen bei. Deine Mutter.‹«

Herr Witold war so erbost, daß er den Brief auf den Fußboden schleuderte. »Und so etwas muß man nun lesen! Meisterhaft ausgedacht von der Frau Mutter. Sie weiß so gut wie ich, welch ein Eisenkopf Waldemar ist, und wenn sie ihn jahrelang studiert hatte, sie könnte ihn nicht besser an seiner schwachen Seite fassen. Der bloße Gedanke, daß ihm Zwang geschehen könnte, bringt ihn außer sich. Jetzt mag ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, um ihn zu halten, er wird doch gehen, bloß um zu zeigen, daß er seinen eigenen Willen hat. – Was sagen Sie eigentlich zu der Geschichte?«

Doktor Fabian schien in die Familienverhältnisse hinlänglich eingeweiht zu sein und die bevorstehende Zusammenkunft mit dem gleichen Schrecken zu betrachten, wenn auch freilich aus andern Gründen.

»Um Gottes willen!« sagte er ängstlich. »Wenn Waldemar auch in C. mit seinem gewöhnlichen unbändigen Wesen auftritt, wenn er der Frau Fürstin so vor die Augen kommt, was wird sie denken!«

»Daß er nach seinem Vater geraten ist, und nicht nach ihr,« war die nachdrückliche Antwort des Gutsherrn. »So, gerade so soll sie Waldemar sehen, da wird es ihr wohl klar werden, daß er kein allzu gefügiges Werkzeug für ihre Intriguen abgibt; denn daß da wieder Intriguen gesponnen werden, darauf will ich meinen Kopf verwetten. Entweder der hochfürstliche Geldbeutel ist leer – ich glaube, er ist nie allzu voll gewesen –, oder es soll wieder einmal eine kleine Staatsverschwörung ins Werk gesetzt werden, und dazu liegt Wilicza so recht bequem, dicht an der Grenze. Was sie eigentlich mit meinem Jungen vorhaben, weiß der Himmel, aber ich werde schon dahinter kommen und ihm beizeiten die Augen öffnen.«

»Aber Herr Witold,« mahnte der Doktor. »Wozu den unglücklichen Riß in der Familie noch mehr erweitern, jetzt wo die Mutter die Hand zur Versöhnung bietet! Ware es denn nicht besser, endlich einmal Frieden zu schließen?«

»Das verstehen Sie nicht, Doktor,« sagte Witold mit einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Bitterkeit. »Mit der Frau ist kein Frieden zu schließen, wenn man sich nicht willenlos ihrer Herrschsucht unterwirft, und weil der selige Nordeck das nicht that, hatte er Tag für Tag die Hölle im Hause. Nun, ich will ihn nicht gerade herausstreichen. Er hatte seine argen Fehler und konnte einem Weibe das Leben wohl schwer machen, aber das Unglück kam doch daher, daß er gerade diese Morynska zur Frau nahm. Eine andre hätte ihn vielleicht lenken, vielleicht ändern können, aber freilich, ein wenig Herz hätte dazu gehört, und von dem Artikel hat Frau Jadwiga nie etwas aufweisen können. Herzlos ist sie von jeher gewesen und hochmütig dazu. Nun, die sogenannte ›Erniedrigung‹ der ersten Ehe ist ja durch die zweite wieder gut gemacht worden. Schade nur, daß die Frau Fürstin Baratowska mit Gemahl und Sohn nicht auf Wilicza residieren durfte. Das hat sie nie verwinden können, aber da hatte das Testament zum Glück einen Riegel vorgeschoben, und daß Waldemar nicht noch nachträglich eine Dummheit macht, dafür haben wir mit unsrer Erziehung gesorgt.«

»Wir?« rief der Doktor erschrocken, »Herr Witold, ich habe redlich meine Unterrichtsstunden gegeben, wie es mir vorgeschrieben war; auf das Wesen meines Zöglings habe ich leider nie den geringsten Einfluß üben können, sonst –« Er stockte.

»Wäre er anders geworden,« ergänzte Witold lachend. »Nun, machen Sie sich keine Gewissensbisse darüber! Mir ist der Junge recht, so wie er nun einmal ist, trotz all seiner Wildheit. Wenn Sie also wollen, ich habe ihn erzogen. Wenn das zu den intriganten Plänen der Baratowska nicht stimmt, so soll es mich freuen, und wenn morgen meine Erziehung und ihre Pariser Bildung tüchtig aneinander geraten, so soll es mich noch mehr freuen. Das ist doch wenigstens eine Vergeltung für die boshafte Epistel da.«

Mit diesen Worten ging der Gutsherr aus dem Zimmer. Der Doktor bückte sich nach dem Briefe, der noch immer auf dem Fußboden lag, hob ihn auf, legte ihn sorgfältig zusammen und sagte mit einem tiefen Seufzer:

»Und schließlich wird es doch heißen: Ein gewisser Doktor Fabian hat den jungen Erben erzogen. – O du gerechter Himmel!«


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