Vineta
Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es fand wieder eine jener großen Jagdfestlichkeiten statt, welche gewöhnlich die ganze Umgegend in Wilicza zu versammeln pflegte; auch diesmal waren die ergangenen Einladungen sämtlich angenommen worden und die Gesellschaft, die ausschließlich aus dem polnischen Adel der Nachbarschaft bestand, zahlreicher als je. Der Fürstin war es sehr lieb, daß die Rücksicht auf ihren Sohn darin keine Aenderung verlangte. Sie hätte ihm allerdings das Opfer gebracht, die Einladungen nach seinen Wünschen zu regeln, aber davon war gar nicht die Rede. Waldemar schien es durchaus selbstverständlich zu finden, daß der Umgangskreis seiner Mutter auch der seinige sei, und bei dem äußerst geringen Anteile, den er überhaupt an den geselligen Beziehungen nahm, konnte ihm das auch ziemlich gleichgültig sein. Er selbst verkehrte bis jetzt noch mit niemand in der Umgegend und vermied auch die Bekanntschaften, welche die Fürstin einigermaßen fürchtete, die höheren Beamten aus L. und die Offiziere der dortigen Garnison, obwohl er die meisten von ihnen am dritten Orte kennen gelernt hatte. Man hatte sich in diesen Kreisen denn auch darein gefunden, den jungen Nordeck als gänzlich zu den Baratowski gehörig zu betrachten, und nahm an, daß er vollständig in der Gewalt der Mutter sei, die ihm kein fremdes Element auch nur nahe kommen lasse.

Der Aufbruch der Jagdgesellschaft erfolgte diesmal ungewöhnlich spät. Ein dichter Nebel, der wie festgemauert stand und kaum einige Schritt weit zu sehen gestattete, hatte am Morgen gedroht, die ganze Jagd in Frage zu stellen. Erst in den Vormittagsstunden lichtete es sich soweit, daß das Programm des Tages zur Ausführung gebracht meiden konnte, mit der alleinigen Abänderung, daß das Frühstück im Schlosse statt im Walde eingenommen wurde. Ein Teil der Gäste war schon im Aufbruche begriffen. Die Herren und die jüngeren Damen, welche an der Jagd teilnahmen, verabschiedeten sich von der Fürstin, die mit Leo in der Mitte des großen Saales stand. Wer die Verhältnisse nicht kannte, mußte unbedingt den jungen Fürsten für den eigentlichen Gebieter von Wilicza halten, denn er und seine Mutter bildeten den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft, nahmen alle Artigkeiten, alles Interesse derselben in Anspruch und machten die Honneurs in einer Weise, die an Vornehmheit und Sicherheit nichts zu wünschen übrig ließ, während Waldemar einsam und fast übersehen am Fenster stand, im Gespräche mit dem Doktor Fabian, der natürlich im Schlosse zurückblieb und nur an dem Frühstücke teilgenommen hatte.

Die Haltung des jungen Schloßherrn fiel keinem auf, da er stets freiwillig diese untergeordnete Rolle wählte. Er schien sich durchaus als Gast seiner Mutter zu betrachten, der mit der Repräsentation des Hauses gar nichts zu thun habe, und wies alles, was damit zusammenhing, als lästig und unbequem von sich. Man hatte sich daher allmählich gewöhnt, dem, der so gar keine besonderen Rücksichten beanspruchte, auch keine zu gewähren. Man grüßte ihn stets sehr verbindlich beim Kommen und Gehen, hörte aufmerksam zu, wenn er sich einmal herbeiließ, an der Unterhaltung teilzunehmen, und bequemte sich sogar zu dem Opfer, in seiner Gegenwart deutsch zu sprechen, trotz der allgemeinen Abneigung gegen diese Sprache. Er war und blieb doch nun einmal dem Namen nach der Herr dieser Güter, und man wußte, was seine Fügsamkeit als solcher wert war. Die vergebliche Mühe, die eigensinnige Zurückhaltung zu durchbrechen, in der er sich gefiel, gab sich schon lange niemand mehr und im großen und ganzen nahm die Gesellschaft nicht mehr Notiz von ihm, als er von ihr.

»Nur nicht wieder so wild reiten, Leo!« ermahnte die Fürstin, während sie mit einer Umarmung von ihrem jüngsten Sohne Abschied nahm. »Du und Wanda, ihr wetteifert dabei immer in allen nur möglichen Wagnissen. Ich bitte diesmal ernstlich um Vorsicht.« Sie wandte sich zu ihrem Aeltesten, der jetzt auch herantrat, und reichte ihm mit kühler Freundlichkeit die Hand. »Leb wohl, Waldemar! Du bist ja heute wohl recht eigentlich in deinem Elemente?«

»Durchaus nicht!« war die unmutige Antwort. »Solche große Staats- und Konvenienzjagden, wo der ganze Wald voll von Treibern und Jägern ist und das Wild zum mühelosen Schusse vor den Lauf getrieben wild, sind durchaus nicht nach meinem Geschmacke.«

»Waldemar ist nur froh, wenn er mit seiner geliebten Büchse allein ist,« sagte Leo lachend. »Ich habe dich entschieden im Verdacht, daß du mich geflissentlich durch das ärgste Gestrüpp und den tiefsten Moor geschleppt und mich dem Hunger und Durst preisgegeben hast, nur um mich möglichst bald los zu werden. Ich bin doch auch gerade kein Weichling in solchen Dingen, aber ich hatte schon nach den ersten drei Tagen genug von den Strapazen, die du ›Vergnügen‹ nennst.«

»Ich sagte es dir ja vorher, daß unsre Neigungen darin auseinander gehen,« meinte Waldemar gleichgültig, während sie gemeinschaftlich den Saal verließen und die Treppe hinabstiegen.

Ein Teil der Gesellschaft war bereits unten auf dem großen Rasenplätze vor dem Schlosse versammelt, auch Graf Morynski mit seiner Tochter befand sich dort. Die Herren bewunderten einstimmig das schöne Reitpferd Nordecks, das dieser erst kürzlich hatte nachkommen lassen und das vorgestern eingetroffen war; sie gestanden es dem jungen Gutsherrn zu, daß er in dieser Beziehung wenigstens sehr viel Geschmack zeige.

»Ein herrliches Tier!« sagte der Graf, indem er den schlanken Hals des Rappen klopfte, der sich die Liebkosung geduldig gefallen ließ. »Waldemar, ist dies wirklich der wilde Normann, den Sie in C. ritten? Pawlick stand jedesmal Todesangst aus, wenn er den Zügel halten mußte, denn das Tier war eine Gefahr für jeden, der in seine Nähe kam – es ist ganz eigentümlich sanft geworden.«

Waldemar, der mit seinem Bruder soeben aus dem Schlosse getreten war, näherte sich der Gruppe.

»Normann war damals noch sehr jung,« erwiderte er. »Es war das erste Jahr, wo er überhaupt den Sattel trug. Seitdem hat er sich an Ruhe gewöhnen müssen, wie ich selbst mir das wilde Reiten abgewöhnt habe. Was übrigens die Sanftmut des Tieres betrifft, so fragen Sie Leo danach! Er hat sie gestern kennen gelernt, als er den Versuch machte, das Pferd zu besteigen.«

»Ein Satan von einem Pferde!« rief Leo ärgerlich. »Ich glaube, du hast es eigens darauf abgerichtet, sich wie unsinnig zu gebärden, wenn ein andrer als du den Fuß in den Bügel setzt. Aber ich zwinge es doch noch.«

»Laß das lieber bleiben! Normann gehorcht nur mir und keinem andern. Du bändigst ihn nicht – ich dächte, das hättest du gestern gesehen.«

Eine dunkle Glut schoß in das Antlitz des jungen Fürsten; er hatte einen Blick Wandas aufgefangen, der gebieterisch von ihm forderte, er solle der Behauptung widersprechen, daß er das Pferd seines Bruders nicht habe bändigen können. Das geschah nun zwar nicht, aber der Blick stachelte doch und verschuldete jedenfalls die Heftigkeit Leos, mit welcher er antwortete:

»Wenn es dir Vergnügen macht, deine Pferde so zu dressieren, daß sie einen andern Reiter überhaupt gar nicht in den Sattel gelangen lassen, so ist das deine Sache. Solche Kunststücke habe ich meinem Vaillant allerdings nicht gelehrt.« Er wies nach dem schönen Goldfuchs hinüber, den sein Reitknecht am Zügel hielt. »Im übrigen aber würdest du mit ihm so wenig fertig werden, wie ich mit deinem Normann, Du hast freilich bisher noch nie die Probe machen wollen. Willst du es heute versuchen?«

»Nein,« versetzte Waldemar gelassen. »Dein Pferd ist bisweilen sehr ungehorsam. Du gestattest ihm allerlei Unarten und einen Eigenwillen, den ich nicht dulden würde. Ich käme in die Notwendigkeit, es mißhandeln zu müssen, und das möchte ich deinem Lieblinge denn doch nicht anthun. Ich weiß, wie sehr er dir ans Herz gewachsen ist.«

»Nun, das käme doch auf einen Versuch an, Herr Nordeck,« mischte sich Wanda ein; sie hatte gleich nach der ersten Begegnung das vertrauliche »Cousin Waldemar« ein für allemal fallen lassen. »Ich glaube zwar, Sie reiten beinahe so gut wie Leo.«

Waldemar verzog keine Miene bei dem Angriff. Er blieb vollkommen ruhig.

»Sie sind sehr gütig, Gräfin Morynska, mir doch wenigstens einige Fertigkeit im Reiten zuzugestehen,« erwiderte er.

»O, das sollte keine Beleidigung für Sie sein,« erklärte Wanda in einem Tone, der noch verletzender war, als vorhin ihr »beinahe«. »Ich bin überzeugt, daß die Deutschen ganz gute Reiter sind, aber mit unsern Herren könnten sie es darin doch nicht aufnehmen.«

Nordeck wandte sich, ohne irgend etwas darauf zu erwidern, an seinen Bruder, »Willst du mir deinen Vaillant für heut überlassen, Leo? Auf jede Gefahr hin?«

»Auf jede!« rief Leo mit blitzenden Augen.

»Gehen Sie nicht darauf ein, Waldemar!« fiel Graf Morynski ein, dem die Sache unangenehm zu sein schien, »Sie haben ganz recht gesehen – das Pferd ist ungehorsam und ganz unberechenbar in seinen Launen; überdies hat Leo es an allerlei Tollkühnheiten und Wagestücke gewöhnt, denen ein fremder Reiter, und wäre es der beste, nicht gewachsen ist. Sie setzen sich fraglos dem Abwerfen aus.«

»Nun, probieren konnte es Herr Nordeck doch wenigstens,« warf Wanda hin, »vorausgesetzt, daß er sich in die Gefahr begeben will.«

»Seien Sie ohne Sorge!« sagte Waldemar zu dem Grafen, der seiner Tochter einen unwilligen Blick zusandte. »Ich werde das Pferd reiten, Sie sehen ja, wie dringend Gräfin Morynska wünscht, mich – abgeworfen zu sehen. Komm, Leo!«

»Wanda, ich bitte dich,« flüsterte Morynski seiner Tochter zu. »Das wird ja jetzt eine förmliche Feindschaft zwischen dir und Waldemar. Du reizest ihn aber auch bei jeder Gelegenheit.«

Die junge Gräfin schlug heftig mit der Reitgerte gegen die Falten ihres Sammetkleides, »Da irrst du, Papa. Reizen! Dieser Nordeck läßt sich überhaupt nicht reizen, am wenigsten durch mich.«

»Nun, weshalb versuchst du es denn immer wieder von neuem?«

Wanda blieb die Antwort schuldig, aber der Vater hatte recht – sie konnte keine Gelegenheit vorübergehen lassen, den zu reizen, der einst bei jedem unbesonnenen Worte in leidenschaftlicher Empfindlichkeit aufloderte und der ihr jetzt mit dieser unverwüstlichen Gelassenheit gegenüberstand.

Die übrigen Herren waren inzwischen auch aufmerksam geworden. Sie kannten Nordeck bereits als tüchtigen, wenn auch besonnenen Reiter, aber es galt ihnen als ausgemacht, daß er es darin mit dem Fürsten Baratowski nicht aufnehmen könne, und weniger rücksichtsvoll als Graf Morynski gönnten sie dem »Fremden« die voraussichtliche Niederlage von Herzen. Die beiden Brüder standen bereits bei dem Goldfuchs, Das schlanke, feurige Tier schlug ungeduldig mit seinen Hufen die Erde und machte mit seiner Unruhe dem Reitknecht viel zu schaffen. Leo nahm dem letzteren den Zügel aus der Hand und hielt das Pferd selbst, während sein Bruder aufstieg; die tiefste innerste Genugthuung leuchtete dabei aus seinen Augen; er kannte seinen Vaillant. Jetzt ließ er ihn los und trat zurück.

Der Goldfuchs spürte in der That kaum die fremde Hand am Zügel, als er seinen ganzen Eigensinn zu zeigen begann. Er bäumte, schlug und machte die heftigsten Versuche, den Reiter abzuschütteln, aber dieser saß wie festgewachsen, und setzte dem leidenschaftlichen Ungestüm des Pferdes einen ruhigen, aber so energischen Widerstand entgegen, daß es sich endlich in sein Schicksal ergab und ihn duldete.

Damit war aber auch die Fügsamkeit zu Ende, denn als Waldemar das Tier jetzt antreiben wollte, weigerte es sich entschieden zu gehorchen und war nicht vom Flecke zu bringen. Es erschöpfte sich in allerlei Tücken und Launen. Alle Geschicklichkeit, alle Energie brachte es auch nicht einen Schritt vorwärts. Dabei geriet es aber in eine immer größere Aufregung und nahm zuletzt eine entschieden drohende Haltung an. Bisher war Waldemar noch ziemlich ruhig geblieben, jetzt aber begann sich seine Stirn dunkel zu röten: seine Geduld war zu Ende. Er hob die Reitpeitsche, und ein schonungslos geführter Hieb sauste auf das widerspenstige Roß nieder.

Doch diese ungewohnte Strenge brachte das eigenwillige und verwöhnte Tier zum Aeußersten. Es machte einen Satz, daß die umstehenden Herren rechts und links auseinanderstoben, und schoß dann wie ein Pfeil über den Rasenplatz hin, in die große Allee hinein, die nach dem Schlosse führte. Dort artete der Ritt in einen wilden Kampf zwischen Roß und Reiter aus; das erstere gebärdete sich wie unsinnig. Es tobte förmlich und setzte augenscheinlich alles daran, den Reiter aus dem Sattel zu schleudern. Wenn Waldemar trotzdem seinen Platz behauptete, so konnte es nur mit äußerster Lebensgefahr geschehen.

»Leo, mache der Sache ein Ende!« sagte Morynski unruhig zu seinem Neffen. »Vaillant wird sich beruhigen, wenn du dazwischen trittst. Bestimme deinen Bruder, abzusteigen, oder wir haben ein Unglück.«

Leo stand mit übereinandergeschlagenen Armen da und sah dem Kampfe zu, machte aber keine Miene, einzuschreiten. »Ich habe Waldemar die Gefahr nicht verhehlt, die das Pferd einem Fremden bringt,« erwiderte er kalt. »Wenn er es absichtlich wütend macht, so mag er auch die Folgen tragen! Er weiß es ja, daß Vaillant keine Strenge verträgt.«

In diesem Augenblicke kam Waldemar zurück; er war des Zügels Herr geblieben und zwang das Pferd sogar, eine bestimmte Richtung einzuhalten, denn er jagte in einem Bogen um den Rasenplatz, von einer Fügsamkeit war aber noch lange nicht die Rede. Der Goldfuchs sträubte sich immer wieder von neuem gegen die Hand, die ihn mit so eisernem Griff regierte, und suchte mit seinen blitzschnellen, unberechenbaren Bewegungen den Reiter zum Sturze zu bringen, doch Nordecks Aussehen zeigte, daß das alte Ungestüm wieder in ihm wach geworden war. Flammendrot im ganzen Gesicht, mit sprühenden Augen und fest zusammengebissenen Zähnen gebrauchte er Peitsche und Sporen in seiner erbarmungslosen Weise, daß Leo außer sich geriet. Der Gefahr seines Bruders hatte er ruhig zugesehen, diese Mißhandlung seines Lieblings ertrug er nicht.

»Waldemar, hör auf!« rief er zornig hinüber. »Du ruinierst mir ja das Pferd. Wir haben es jetzt alle gesehen, daß Vaillant dich trägt. Laß ihn endlich in Ruhe!«

»Erst werde ich ihm Gehorsam beibringen.« In Waldemars Stimme klang die wildeste Gereiztheit; er kannte jetzt keine Rücksicht mehr, und Leos Einspruch hatte keine andre Wirkung, als daß das Pferd bei dem zweiten Ritt um den Rasenplatz noch schonungsloser behandelt wurde, als vorhin. Als es zum drittenmal mit seinem Reiter die Runde machte, hatte es sich ihm endlich gefügt. Es widerstrebte nicht mehr, hielt die vorgeschriebene Gangart inne und stand auf einen einzigen Druck des Zügels am Schlosse still, freilich in einem Zustande, als müsse es jeden Augenblick zusammenbrechen.

Nordeck stieg ab. Die Herren umringten ihn, und es fehlte nicht an Komplimenten für seine Reitkunst, wenn auch unleugbar eine Verstimmung auf der ganzen Gesellschaft lag. Leo allein sprach kein Wort; er streichelte stumm das zitternde, schweißtriefende Roß, an dessen glänzend braunem Fell sich Blutspuren zeigten. So furchtbar hatten ihm die Sporen Waldemars zugesetzt.

»Das war ja eine Kraftprobe ohnegleichen,« sagte Graf Morynski; man horte den Worten das Gezwungene an. »Vaillant wird den Ritt so bald nicht vergessen.«

Waldemar war seiner Erregung bereits wieder Herr geworden, nur die Röte auf seiner Stirn und die hochangeschwollene blaue Ader an den Schläfen gaben noch Zeugnis davon, als er erwiderte:

»Ich mußte das Lob der Gräfin Morynska, daß ich beinahe so gut reite als mein Bruder, doch einigermaßen zu verdienen suchen.«

Wanda stand neben Leo mit einem Ausdruck, als habe sie selbst eine Niederlage erlitten, die sie nun auf Tod und Leben rächen müsse; so drohend flammte es aus ihren dunkeln Augen.

»Ich bedaure, daß mein unvorsichtiges Wort dem armen Vaillant diese Mißhandlung zugezogen hat,« entgegnete sie mit fliegendem Atem. »An eine solche Behandlung ist das edle Tier allerdings nicht gewöhnt.«

»Und ich nicht an einen solchen Widerstand,« versetzte Waldemar scharf. »Es ist nicht meine Schuld, daß Vaillant sich nur den Sporen und der Peitsche fügen wollte – fügen mußte er sich nun einmal.«

Leo machte dem Gespräch ein Ende, indem er sehr laut und demonstrativ seinem Reitknecht befahl, den Goldfuchs, der »dem Zusammenbrechen nahe sei«, in den Stall zu führen und alle mögliche Sorgfalt für ihn zu tragen, dann aber rasch ein andres Pferd zu satteln und zur Stelle zu bringen. Graf Morynski, der einen Ausbruch fürchtete, trat zu seinem Neffen und zog ihn beiseite.

»Beherrsche dich, Leo!« sagte er leise und eindringlich. »Zeige den Gästen nicht diese finstere Stirn! Willst du etwa Streit mit deinem Bruder suchen?«

»Und wenn ich es thäte!« stieß der junge Fürst halblaut hervor. »Hat er mich nicht vor der ganzen Jagdgesellschaft preisgegeben mit seiner taktlosen Erzählung von dem Normann? Hat er mir meinen Vaillant nicht fast zu Tode geritten? Und das alles um einer elenden Prahlerei willen!«

»Prahlerei? Besinne dich! Du warst es, der ihm die Probe antrug. Er weigerte sich ja anfangs, darauf einzugehen.«

»Er hat mir und uns allen zeigen wollen, daß er Meister ist, wo es sich um die bloße rohe Kraftäußerung handelt. Als ob ihm jemand das schon bestritten hätte! Das ist ja überhaupt das einzige, was er kann. Aber ich sage es dir, Onkel, wenn er mich noch einmal in dieser Weise herausfordert, so ist es zu Ende mit meiner Geduld, und wäre er zehnmal der Herr von Wilicza.«

»Keine Unvorsichtigkeiten!« warnte der Graf. »Du und Wanda, ihr seid es leider gewohnt, eurem persönlichen Empfinden alles andre unterzuordnen. Ich kann von ihr nie die mindeste Rücksicht erlangen, sobald es sich um diesen Waldemar handelt.«

»Wanda darf doch wenigstens ihre Abneigung offen zeigen,« grollte Leo. »Ich dagegen – da steht er bei seinem Normann, als wären sie beide die Ruhe und Gelassenheit selber, aber man sollte es nur einmal versuchen, ihnen nahe zu kommen!«

Das verlangte Pferd wurde jetzt gebracht, und in dem nun erfolgenden allgemeinen Aufbruch verlor sich der Mißton einigermaßen. Es war aber doch ein Glück, daß der heutige Jagdtag die Brüder voneinander fernhielt und ihnen jedes längere Beisammensein unmöglich machte, sonst wäre es bei der fortdauernden Gereiztheit Leos doch wohl noch zu einem Ausbruch gekommen. Als man erst einmal das Jagdrevier erreicht hatte, trat, für einige Stunden wenigstens, alles andre vor der Lust des Jagens in den Hintergrund.

Waldemar hatte unrecht, wenn er die »großen Staats- und Gesellschaftsjagden« so entschieden verabscheute; sie boten doch immerhin ein prächtiges, glänzendes Bild, zumal hier in Wilicza, wo man dergleichen sehr großartig und echt fürstlich in Scene zu setzen verstand. Die sämtlichen Förstereien waren aufgeboten, um mit ihren Leuten in vollster Gala Staat zu machen. Die ganzen Waldungen waren lebendig geworden; es schwärmte förmlich darin von Forstleuten und Treibern, das Imposanteste aber war unstreitig der heransprengende Jagdzug selbst. Die Herren, meist prachtvolle Gestalten in elegantem Jagdkostüm, auf ihren schlanken feurigen Pferden, die Damen in Amazonentracht an der Seite ihrer Kavaliere, die Dienerschaft hinter ihnen, und dazu das Schmettern der Hörner, das Gekläff der Hunde – es war eine Scene voll Feuer und Leben, und bald verkündeten auch das vorüberfliehende Wild und die Schüsse, die ringsum das Echo des Waldes weckten, daß die Jagd ihren Anfang genommen habe.

Das Wetter ließ jetzt, wo der Nebel gefallen war, nichts mehr zu wünschen übrig; es war ein kühler, etwas verschleierter, aber im ganzen doch schöner Novembertag. Der Wildstand des Forstreviers von Wilicza galt für unvergleichlich; die Anordnungen waren vorzüglich getroffen, die Jagdbeute äußerst ergiebig. Da verstand es sich wohl von selbst, daß man sich bemühte, die unfreiwillige Verspätung von heute morgen wieder einzubringen. Der kurze Nachmittag des Spätherbstes neigte sich schon seinem Ende zu, aber man dachte nicht daran, die Jagd vor der Dämmerung abzubrechen.

Einige tausend Schritt von der Försterei entfernt, die für heute als Rendezvous diente, lag eine Waldwiese, einsam und wie verloren mitten im Dickicht. Das dichte Unterholz und die mächtigen Bäume machten den Platz unsichtbar für jeden, der ihn nicht bereits kannte oder ihn durch Zufall entdeckte; jetzt freilich, wo die Umgebung sich schon herbstlich zu lichten begann, konnte man den Zugang eher finden. Inmitten des Wiesengrundes ruhte eines jener stillen kleinen Gewässer, wie sie der Wald oft in seinem Schoße birgt, ein See oder Teich. Im Sommer mochte er mit seinem wehenden Schilfgrase, seinen träumerischen Wasserlilien dem Orte wohl einen eigenen poetischen Reiz leihen, jetzt aber lag er dunkel und schmucklos da, bedeckt von welken Blättern und umgeben von braunem Rasen, herbstlich öde, wie die ganze Umgebung ringsum.

An den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie unverwandt in das Gewässer.

Unter einem der Bäume, die ihre Aeste weithin über diese Wiese streckten, stand Gräfin Morynska, ganz allein und ohne jede Begleitung. Ihre Zurückgezogenheit mußte wohl eine freiwillige sein. Verloren konnte sie die Jagd nicht haben, denn man hörte den Lärm derselben, wenn auch in einiger Entfernung, doch deutlich genug, auch lag ja die Försterei nahe, wo die junge Dame jedenfalls ihr Pferd zurückgelassen hatte, denn sie war zu Fuß. Sie schien absichtlich die Einsamkeit gesucht zu haben und auch festhalten zu wollen; an den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie unverwandt in das Gewässer und sah doch offenbar nichts von ihm oder von der Umgebung. Ihre Gedanken waren ganz wo anders. Die schönen Augen Wandas konnten sehr finster blicken – das sah man jetzt, wo sie augenscheinlich mit irgend einer grollenden Empfindung kämpfte, aber die tiefe Falte auf der weißen Stirn, die trotzig aufgeworfenen Lippen zeigten, daß diese Empfindung sich nicht so leicht niederkämpfen ließ, sondern ihren Platz behauptete. Die Jagd mit ihrem Lärm entfernte sich mehr und mehr. Sie schien sich nach der Richtung des Flusses hinzuziehen und diesen Teil des Forstes völlig frei zu lassen, all die wirren Töne verklangen in immer weiterer Ferne, nur die Schüsse hallten noch dumpf herüber; jetzt trat auch darin eine Pause ein, und es wurde still, totenstill im Walde.

Eine ganze Weile mochte Wanda so regungslos gestanden haben, als ein Schritt und ein Rauschen in ihrer unmittelbaren Nähe sie aufschreckte. Unwillig richtete sie sich empor und wollte eben der Störung weiter nachforschen, als die Gebüsche sich teilten und Waldemar Nordeck daraus hervortrat.

Auch er stutzte bei dem Anblick der Gräfin – die unerwartete Begegnung schien ihm ebenso unangenehm zu sein wie ihr, aber ein Zurücktreten war nicht mehr möglich; dazu standen sie sich zu nahe gegenüber. Waldemar grüßte leicht und sagte:

»Ich wußte nicht, daß Sie die Jagd bereits verlassen hatten. Gräfin Morynska ist doch sonst als unermüdliche Jägerin bekannt – und sie fehlt bei dem Schlusse des heutigen Tages?«

»Die Frage möchte ich Ihnen zurückgeben,« versetzte Wanda. »Sie, gerade Sie fehlen bei dem letzten Treiben?«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe vollständig genug davon. Mir stört der Lärm und das Durcheinander eines solchen Tages die ganze rechte Jagdlust. Mir fehlt die Mühe, die Aufregung der Jagd und vor allem die Waldesstille und Waldeseinsamkeit.«

Das war es nun gerade, was Wanda vorhin vermißt, was sie hier gesucht hatte, sie wollte das aber natürlich um keinen Preis zugeben, sondern fragte nur:

»Sie kommen von der Försterei?«

»Nein! Ich habe nur meinen Normann dorthin vorausgesendet. Die Jagd geht nach dem Flusse zu, sie muß aber bald zu Ende sein und kommt jedenfalls auf dem Rückwege hier vorüber. Das Rendezvous ist ja in unmittelbarer Nähe.«

»Und was thun wir inzwischen?« fragte Wanda ungeduldig.

»Wir warten,« entgegnete Waldemar lakonisch, indem er seine Flinte abnahm und den Hahn in Ruhe setzte.

Die Falte auf der Stirn der jungen Gräfin vertiefte sich. »Wir warten.« Das klang so selbstverständlich, als setze er auch ihr Bleiben voraus. Sie hatte große Lust, sofort nach der Försterei zurückzukehren, aber nein! Es war seine Sache, den Platz zu räumen, auf dem er sie so ohne weiteres in ihrer Einsamkeit gestört hatte. Sie beschloß zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, ein längeres Zusammensein mit diesem Nordeck aushalten zu müssen.

Er machte indessen gar keine Anstalten zum Gehen; er hatte seine Flinte an einen Baum gelehnt und stand nun mit verschränkten Armen, die Umgegend betrachtend. Die Sonne hatte es heute nicht ein einziges Mal vermocht, den Wolkenschleier zu durchdringen, nur jetzt im Niedergehen färbte sie ihn mit hellerem Lichte. Am westlichen Horizont flammte ein gelber Schein, der fahl und ungewiß durch die Baume schimmerte, und auf der Wiese begannen die Nebel aufzusteigen, die ersten Vorboten des herannahenden Abends. Der Wald sah schon recht herbstlich aus mit seinen halb entlaubten Bäumen und den dürren Blättern, die den Boden bedeckten. Da war auch nicht ein Hauch mehr von jenem frischen Lebensodem, der ihn im Frühling und Sommer durchweht, von jener mächtigen Lebenskraft, die dann in allen Adern und Pulsen der Natur zu pochen scheint – überall nur schwindendes Dasein, langsames, aber unaufhaltsames Vergehen.

Die Augen der jungen Gräfin hafteten wie in düsterem Nachsinnen auf dem Gesicht ihres Gefährten, als wolle und müsse sie dort irgend etwas enträtseln. Er schien die Beobachtung zu spüren, obgleich er abgewandt stand, denn er wendete sich plötzlich nach ihr um und sagte gleichgültig, wie man eine allgemeine Bemerkung hinwirft:

»Es ist doch etwas Trostloses um solch eine abendliche Herbstlandschaft.«

»Und doch hat sie ihre eigene schwermütige Poesie,« meinte Wanda, »Finden Sie das nicht auch?«

»Ich?« fragte er herb. »Ich habe mit der Poesie von jeher nichts zu thun gehabt – das wissen Sie ja, Gräfin Morynska.«

»Ja, das weiß ich,« versetzte sie in dem gleichen Ton. »Aber es gibt doch Augenblicke, wo sie sich unwillkürlich jedem aufdrängt.«

»Romantischen Naturen vielleicht. Unsereiner muß schon zusehen, wie er ohne diese Romantik und Poesie mit dem Leben fertig wird. Ausgehalten muß es ja doch einmal werden, so oder so.«

»Wie gelassen Sie das sagen! Das geduldige Aushalten war doch sonst gerade Ihre Sache am wenigsten. Ich finde, Sie haben sich in diesem Punkt merkwürdig verändert.«

»Nun, man bleibt doch nicht sein Leben lang ein leidenschaftlicher ungestümer Knabe, oder trauen Sie es mir nicht zu, daß ich über Knabenthorheiten hinauskommen kann?«

Wanda biß sich auf die Lippen; er hatte es ihr gezeigt, daß er darüber hinauskommen konnte.

»Ich zweifle nicht daran,« erwiderte sie kalt. »Ich traue Ihnen sogar noch manches andre zu, was Sie freilich nicht zu zeigen für gut finden.«

Waldemar wurde aufmerksam. Sein Blick streifte einen Moment lang scharf und prüfend die junge Dame, dann aber entgegnete er ruhig:

»Dann setzen Sie sich in Widerspruch mit ganz Wilicza. Man ist hier wohl so ziemlich einig darüber, daß ich eine gänzlich ungefährliche Persönlichkeit bin.«

»Weil Sie durchaus dafür gelten wollen. Ich glaube nicht daran.«

»Sie sind sehr gütig, mir ganz unverdientermaßen eine Bedeutung beizulegen,« sagte Waldemar mit unverhehlter Ironie, »Aber es ist doch grausam von Ihnen, mir das einzige Verdienst nehmen zu wollen, das ich in den Augen meiner Mutter und meines Bruders überhaupt besitze – harmlos und unbedeutend zu sein.«

»Wenn meine Tante den Ton hören könnte, mit welchem Sie das sagen, so würde sie ihre Ansicht wohl ändern,« erklärte Wanda, gereizt durch seinen Spott. »Für jetzt stehe ich mit der meinigen allerdings noch allein.«

»Und so wird es auch bleiben,« ergänzte Nordeck. »Man läßt in mir den unermüdlichen Jäger, nach der heutigen Probe vielleicht auch den geschickten Reiter gelten, weiter nichts.«

»Jagen Sie denn wirklich, Herr Nordeck, wenn Sie so den ganzen Tag lang mit Flinte und Jagdtasche umherstreifen?« fragte die junge Gräfin, ihn scharf ansehend.

»Und was sollte ich Ihrer Meinung nach denn sonst thun?«

»Ich weiß es nicht, aber ich vermute, daß Sie Ihr Wilicza inspizieren, sehr gründlich inspizieren. Es gibt nun wohl keine Försterei, kein Dorf, keinen noch so abgelegenen Hof in Ihrem Gebiet, wo Sie nicht bereits gewesen sind. Sogar den Pachtgütern haben Sie Besuche abgestattet, und Sie werden sich wohl überall dort ebenso schnell zurechtfinden, wie in den Salons Ihrer Mutter, wo Sie auch nur sehr selten erscheinen und eine sehr gleichgültige Rolle spielen. Aber es entgeht Ihnen kein Wort, kein Blick, überhaupt nichts, was geschieht. Sie scheinen unsrer Gesellschaft gar keine Beachtung zu schenken, und doch gibt es nicht einen einzigen darunter, der nicht bereits vor Ihnen die Musterung hätte passieren müssen und Ihrer Beurteilung anheimgefallen wäre,«

Sie hatte ihm das alles Schlag auf Schlag mit einer Sicherheit und Bestimmtheit entgegengeworfen, die darauf berechnet war, ihn in Verwirrung zu bringen, und für den Augenblick fehlte ihm auch wirklich jede Antwort. Er stand mit tief verfinstertem Gesicht, mit fest zusammengepreßten Lippen da und rang augenscheinlich mit seinem Aerger. Aber so leicht war diesem Nordeck nicht beizukommen. Als er wieder aufsah, stand die Wolke zwar noch drohend auf seiner Stirn, aber aus seiner Stimme klang nur der schärfste Spott.

»Sie beschämen mich wirklich, gnädige Gräfin! Sie zeigen mir soeben, daß ich vom ersten Tage meines Hierseins an der Gegenstand Ihrer eingehendsten und ausschließlichsten Beobachtung gewesen bin – das ist in der That mehr, als ich verdiene.«

Wanda fuhr auf. Ein Blick sprühendsten Zornes traf den Verwegenen, der es wagte, den Pfeil mit solcher Sicherheit auf sie zurückzuschleudern.

»Ich leugne diese Beobachtung keineswegs,« entgegnete sie stolz, »aber Sie werden sich wohl selbst sagen, Herr Nordeck, daß jedes persönliche Interesse dabei von vornherein ausgeschlossen blieb.«

Er lächelte mit unverstellter Bitterkeit. »Sie haben vollkommen recht. Bei Ihnen setze ich kein Interesse für meine Person voraus. Vor dem Verdachte sind Sie von meiner Seite sicher.«

Wanda wollte die Hindeutung nicht verstehen, aber sie vermied es doch, seinem Blick zu begegnen. »Sie werden mir wenigstens das Zeugnis geben, daß ich offen gewesen bin,« fuhr sie fort. »An Ihnen ist es jetzt, mir meine Beobachtungen zuzugeben oder abzuleugnen.«

»Und wenn ich Ihnen nun nicht Rede stehen will?«

»So habe ich eben recht gesehen, und werde es ernstlich versuchen, meine Tante zu überzeugen, daß ihr Sohn nicht so ungefährlich ist, wie sie denkt.«

Der sarkastische Ausdruck von vorhin spielte wieder um Waldemars Lippen, als er antwortete: »Ihr Urteil mag sehr hoch stehen, Gräfin Morynska, eine Diplomatin aber sind Sie nicht, sonst würden Sie Ihre Ausdrücke vorsichtiger wählen. Ungefährlich! Das Wort gibt zu denken.«

Die junge Dame schrak unwillkürlich zusammen, »Ich wiederholte nur Ihren eigenen Ausdruck von vorhin,« sagte sie, sich rasch fassend.

»Ah so, das ist etwas andres. Ich glaubte schon, es ginge irgend etwas in Wilicza vor, bei dem meine Anwesenheit als eine Gefahr betrachtet wird.«

Wanda gab keine Antwort, sie sah jetzt erst ein, wie grenzenlos unvorsichtig es gewesen war, den Kampf gerade auf dieses Gebiet hinüberzuspielen, wo der Gegner sich ihr so vollständig gewachsen zeigte. Er parierte jeden Streich, gab jeden Schlag zurück und verstrickte sie zuletzt rettungslos in ihre eigenen Worte, und dabei hatte er den Vorteil der Kälte und Besonnenheit für sich, während sie nahe daran war, ihre ganze Fassung einzubüßen. Auf diesem Wege ging es nicht weiter, das sah sie, und so faßte sie denn einen raschen Entschluß und zerriß energisch das Netz, das ihre eigene Unvorsichtigkeit ihr um das Haupt gewoben hatte.

»Lassen Sie doch den Hohn!« sagte sie, ihr großes Auge finster und voll auf ihn richtend. »Ich weiß ja, daß er nicht der erwähnten Sache, sondern einzig und allein mir gilt. Sie zwingen mich endlich doch, einen Punkt zu berühren, den ich sicher nie der Vergessenheit entrissen hätte, wenn Sie mich nicht immer wieder darauf zurückführten. Ob ein solches Benehmen ritterlich ist, will ich dahingestellt sein lassen, aber Sie fühlen wohl so gut wie ich, daß es uns in eine Stellung gebracht hat, die anfängt unerträglich zu werden. Ich habe Sie einst beleidigt, und Sie haben mir das bis auf den heutigen Tag noch nicht verziehen. Nun denn,« – sie hielt einen Moment lang inne und atmete tief auf – »ich war damals im Unrecht gegen Sie; ich gestehe es ein. Ist Ihnen das genug?«

Es war eine eigentümliche Abbitte und noch eigentümlicher die Art, in welcher sie ausgesprochen wurde. Es lag darin der ganze Stolz einer Frau, die recht gut fühlt, daß es für sie keine Demütigung ist, wenn sie sich herabläßt, einen Mann dafür um Verzeihung zu bitten, daß sie ihn zum Spielball ihrer Laune gemacht hat. Gräfin Morynska besaß offenbar das volle Bewußtsein davon, sonst hätte sie sich auch schwerlich zu diesen Worten verstanden, aber die Wirkung derselben war eine ganz andre, als sie erwartete.

Waldemar war einen Schritt zurückgetreten, und sein Auge richtete sich mit einem durchbohrenden Ausdruck auf ihr Antlitz. »Wirklich?« sagte er langsam und jedes Wort schwer betonend. »Ich wußte nicht, daß Wilicza Ihrer Partei so viel wert sei.« »Sie glauben – ?« rief Wanda heftig.

»Ich glaube, daß ich es schon einmal teuer habe bezahlen müssen, Herr dieser Güter zu sein,« unterbrach er sie, und man hörte, daß es jetzt auch mit seiner Ruhe zu Ende ging; es lag in seinen Worten etwas wie wühlende Gereiztheit. »Damals galt es, Wilicza meiner Mutter und ihren Interessen zu öffnen; jetzt soll es diesen Interessen erhalten werden, um jeden Preis, aber man vergißt, daß ich nicht der unerfahrene Knabe mehr bin. Sie haben mir selbst die Augen geöffnet, Gräfin, und jetzt werde ich sie offen halten, auf die Gefahr hin, von Ihnen der ›Unritterlichkeit‹ geziehen zu werden.«

Wanda war totenbleich geworden. Ihre herabhängende Rechte ballte sich krampfhaft in den Sammetfalten des Kleides.

»Genug!« sagte sie, sich gewaltsam beherrschend. »Ich sehe, Sie wollen keine Versöhnung und nehmen Ihre Zuflucht zur Beleidigung, um jede Verständigung unmöglich zu machen, nun gut, ich nehme die gebotene Feindschaft an.«

»Sie irren,« versetzte Waldemar ruhiger. »Ich biete Ihnen keine Feindschaft; das wäre in der That eine Unritterlichkeit gegen – «

»Gegen wen?« rief die junge Gräfin mit flammenden Augen, als er innehielt.

»Gegen die Braut meines Bruders.«

Wanda zuckte zusammen – seltsam, das Wort traf sie wie ein jäher schmerzlicher Stich; ihr Blick heftete sich unwillkürlich auf den Boden.

»Ich habe es bisher versäumt, Ihnen meinen Glückwunsch abzustatten,« fuhr Waldemar fort. »Wollen Sie ihn heute annehmen?«

Sie neigte mit stummem Dank das Haupt; sie wußte selbst nicht, was ihr die Lippen schloß, aber es war ihr unmöglich, in diesem Augenblick eine Antwort zu geben. Es war das erste Mal, daß dieser Gegenstand zwischen ihnen berührt wurde, und mit der bloßen Erwähnung schien es auch genug zu sein, denn Waldemar fügte seinem Glückwunsch nicht eine einzige Silbe hinzu.

Der gelbe Schein am Himmel war längst verblaßt und ein ödes, trübes Grau an seine Stelle getreten; der Abendwind strich durch die halbentlaubten Gebüsche und rauschte in den Kronen der Bäume, die zum Teil noch den bunten Blätterschmuck trugen, aber er hing welk und matt an den Zweigen, und jetzt sank Blatt auf Blatt hernieder und deckte den Rasen und die stille, dunkle Fläche des kleinen Sees. Es rauschte und flüsterte in dem dürren Laub wie eine leise Herbstesklage um all das Leben, das gegrünt und geblüht hatte im Sonnenglanz und nun zu Grabe ging. Düster stand der Wald mit seinen unheimlich dämmernden Schatten, hier auf der nebelatmenden Wiese aber wallten die feuchten Schleier immer dichter empor, schwebten hierhin und dorthin und ballten sich über dem Gewässer zusammen. Dort stand es jetzt wie ein weißes gespenstisches Luftgebilde, unruhig wogend und wallend, und griff mit seinen feuchten Nebelarmen nach den beiden am Rande des Sees, als wollte es sie zu sich hinüberziehen, und zeigte ihnen tausend Bilder und Gestalten, eins das andre verdrängend, eins in das andre fließend, in endlosem Wechsel.

Man hörte nichts als das einförmige Rauschen des Windes, das leise fallende Laub, und doch klang es daraus hervor wie fernes, fernes Meeresbrausen, und aus dem wogenden Nebel tauchte es empor wie eine Fata Morgana, die grünen Zweige uralter mächtiger Buchen, umleuchtet von dem letzten Abendgolde, die blaue wogende See in ihrer unermeßlichen Weite. Langsam sank der glühende Sonnenball ins Meer, und aus der Lichtflut, die sich über die Wellen ausgoß, stieg sie wieder auf, die alte Wunderstadt der Sage, umwoben von Märchenduft und Zauberglanz; das Wunderreich that sich wieder auf mit seinen unermeßlichen Schätzen, und aus der Tiefe klangen die Glocken Vinetas, immer voller, immer mächtiger, wie sie geklungen hatten in jener Stunde auf dem Buchenholm.

Sie hatte nicht Wort gehalten, die Märchenstunde, wenigstens den beiden nicht, die sie damals miteinander erlebten. Fremd und feindselig hatten sie sich getrennt; fremd und feindselig waren sie wieder einander begegnet, und so standen sie sich noch gegenüber. Der Jüngling war zum Manne geworden, der kalt und einsam durch das Leben ging; das Kind war zu einem Weibe voll Schönheit und Glück herangereift, aber was jene Stunde ihnen gegeben, das hatten sie beide doch nie wieder empfunden; erst an diesem düsteren Herbstabend wurde es wieder lebendig. Und als die Erinnerung jetzt zu ihnen herüberwehte, da versanken die Jahre, die dazwischen lagen, versanken Haß, Streit und Erbitterung, und nichts blieb zurück als das tiefe unaussprechliche Sehnen nach einem ungekannten Glück, das zum erstenmal aufgewacht war unter den Geisterklängen Vinetas – nichts als der Traum beim Sonnenuntergang. Waldemar war der erste, der sich daraus emporriß; er fuhr heftig mit der Hand über die Stirn, als müsse er sich gewaltsam losreißen von all den Bildern und Gedanken.

»Wir thun wohl besser, nach der Försterei zurückzukehren und die Jagd dort zu erwarten,« sagte er hastig. »Es fängt an zu dämmern und – man kann ja nicht atmen in diesem Nebelmeere.«

Wanda stimmte ihm sofort bei; auch sie wollte nicht länger sehen, was dieses Nebelmeer ihr zeigte, wollte diesem Zusammensein ein Ende machen um jeden Preis. Sie nahm die Schleppe ihres Reitkleides auf und machte sich zum Gehen bereit. Waldemar warf die Flinte über die Schulter, plötzlich aber hielt er inne.

»Ich habe Sie vorhin beleidigt mit meinem Verdachte; vielleicht war ich ungerecht. Aber – seien Sie aufrichtig gegen mich! – galt die halbe Abbitte, zu der Sie sich herabließen, wirklich Waldemar Nordeck? Oder galt sie nicht vielmehr dem Herrn von Wilicza, mit dem man eine Versöhnung sucht, damit er zuläßt oder doch wenigstens übersieht, was auf seinen Gütern geschieht?«

»Sie wissen also – – ?« fiel Wanda betreten ein.

»Genug, um Ihnen jede Besorgnis darüber zu nehmen, daß Sie vorhin unvorsichtig gewesen sind. Hat man mich wirklich für so beschränkt gehalten, daß ich allein nicht sehen sollte, was man sich sogar schon in L. erzählt, daß Wilicza der Sitz eines Parteigetriebes ist, dessen Seele und Mittelpunkt meine Mutter bildet? Sie dürfen mir ohne jede Gefahr zugeben, was bereits die ganze Umgegend weiß, – ich wußte es, ehe ich hieher kam.«

Wanda schwieg; sie versuchte in seinen Zügen zu lesen, wieviel er bereits wisse, aber in Waldemars Gesicht ließ sich nun einmal nicht lesen. Es war und blieb verschlossen.

»Doch davon ist ja jetzt nicht die Rede,« hob er wieder an, »Ich bat um Antwort auf meine Frage. War der Akt der Selbstüberwindung vorhin ein freiwilliger oder wurde nur ein – Auftrag vollzogen? O, fahren Sie doch nicht so entrüstet auf! Ich frage ja nur, und Sie müssen mir es schon verzeihen, Wanda, wenn ich mißtrauisch bin gegen eine Freundlichkeit von Ihrer Seite,«

Die junge Gräfin hätte diese Worte wahrscheinlich als eine erneute Beleidigung angesehen und demgemäß geantwortet, hätte nicht etwas darin gelegen, das sie wider ihren Willen entwaffnete. Waldemars Haltung war eine andre geworden, seit er in den Nebel dort geblickt hatte; es fehlte das Eisige, Feindselige darin, auch seine Stimme klang anders als vorhin, weicher, halb verschleiert, und Wanda bebte leise zusammen, als er zum erstenmal wieder nach Jahren ihren Namen aussprach.

»Wenn meine Tante mich einst unbewußt zum Werkzeug ihrer Pläne benutzte, so rechten Sie mit ihr darüber, und nicht mit mir!« entgegnete sie leise, und es war, als ob eine unsichtbare Macht den Stachel aus ihren Worten genommen. »Ich ahnte nichts davon; ich war ein Kind, das nur den Eingebungen seiner Laune folgte. Jetzt aber« – sie hob mit ihrem ganzen Stolze das Haupt – »jetzt stehe ich selber ein für mein Thun und Lassen, und was ich vorhin that, geschah auf meine alleinige Verantwortung. Sie haben recht, es galt nicht Waldemar Nordeck; er hat mir seit unserm Wiedersehen keine Veranlassung gegeben, eine Versöhnung mit ihm zu suchen oder auch nur zu wünschen; ich wollte den Herrn von Wilicza zwingen, endlich einmal das geschlossene Visier zu öffnen. Es bedarf dessen nicht mehr. Seit der heutigen Unterredung weiß ich, was ich bisher nur ahnte, daß wir in Ihnen einen erbitterten, erbarmungslosen Gegner haben, der seine Macht im entscheidenden Augenblick brauchen wird, und müßte er auch alle Bande der Familie und der Natur mit Füßen treten.«

»Und an wen sollen mich denn diese Bande ketten?« fragte Waldemar finster. »An meine Mutter vielleicht? Wir wissen es beide, wie wir miteinander stehen, und sie vergibt es mir jetzt weniger als je, daß ich der Erbe des Nordeckschen Reichtums geworden bin und nicht ihr Jüngstgeborener. An Leo? Es ist möglich, daß so etwas wie Bruderliebe zwischen uns existiert, aber ich glaube nicht, daß sie standhalten wird, wenn unsre Wege sich kreuzen, wenigstens von seiner Seite nicht.«

»Leo wäre Ihnen gern als Bruder entgegengekommen, wenn Sie es ihm nicht unmöglich gemacht hätten,« fiel Wanda ein. »Unzugänglich waren Sie immer, auch für ihn, aber es gab doch früher Augenblicke, wo er Ihnen näher treten konnte, wo man eine Ahnung davon erhielt, daß Sie Brüder seien, jetzt dagegen hieße es seinem Stolze zu viel zumuten, wenn er noch länger versuchen wollte, die eisige Abwehr zu durchbrechen, mit welcher Sie ihm und allem gegenüberstehen, was Sie hier umgibt. Es wäre ganz vergebens, wenn Mutter und Bruder Ihnen Liebe entgegentragen wollten; sie würde zerschellen an einer Härte, die nichts nach ihnen und nichts nach irgend jemand in der Welt fragt.«

Sie hielt inne, denn Waldemar stand dicht neben ihr, und sein Auge traf unmittelbar das ihrige.

»Sie urteilen sehr richtig und sehr schonungslos,« sagte er langsam, »Haben Sie sich denn schon einmal gefragt, was mich hart gemacht hat? Es gab doch eine Zeit, wo ich es nicht gewesen bin, wenigstens gegen Sie nicht, wo ein Wort, ein Blick mich lenken konnte, wo ich mich geduldig selbst jeder Laune beugte. Sie hatten damals viel aus mir machen können, Wanda, vielleicht alles. Daß Sie es nicht wollten, daß mein schöner ritterlicher Bruder schon damals bei Ihnen den Preis davontrug, war am Ende nur natürlich, was hatten Sie denn auch mit mir anfangen sollen! Aber Sie begreifen doch wohl, daß das ein Wendepunkt in meinem Leben gewesen ist, und wer da kein Talent hat zum Unglücklichsein, wie ich zum Beispiel, der wird hart und argwöhnisch. Jetzt freilich halte ich es für ein Glück, daß die Jugendschwärmerei so jäh zerrissen wurde, meine Mutter wäre sonst sicher auf den Gedanken gekommen, uns das Drama wiederholen zu lassen, das vor einigen zwanzig Jahren hier spielte, als ein Nordeck eine Morynska heimführte. Sie hätten sich als sechzehnjähriges Mädchen vielleicht auch dem Familienwillen unterworfen und ich – das Schicksal meines Vaters geteilt. Davor sind wir beide bewahrt geblieben, und jetzt ist das ja alles längst versunken und vergessen. Ich wollte Sie nur daran erinnern, daß Sie kein Recht haben, mir Härte vorzuwerfen, oder mich anzuklagen, wenn diese Härte sich gegen Sie und die Ihrigen wendet. – Darf ich Sie jetzt nach der Försterei begleiten?«

Wanda fügte sich schweigend seiner Aufforderung; so gereizt und kampfbereit sie ihm auch im Anfange gegenüberstand, die Wendung, die das Gespräch schließlich nahm, hatte ihr die Waffen aus der Hand gewunden. Sie schieden auch heute als Feinde, aber sie fühlten beide, daß der Kampf zwischen ihnen von dieser Stunde an ein andrer geworden war – vielleicht war er darum nicht leichter geworden.

Nebel atmend wie vorhin lag die Wiese, dichter und dichter umsponnen von den trüben Schatten der Dämmerung. Ueber dem See schwebte noch die weiße Wolke, aber jetzt war sie nur noch ein formlos zerfließender Nebel; das Traumbild, das ihr entstieg, war wieder versunken, ob auch vergessen – das konnten nur die beiden wissen, die jetzt so wortlos nebeneinander hinschritten. Hier in den herbstlich öden Wäldern, in der unheimlichen Dämmerstunde hatte sie der Hauch der alten Meeressage aus dem fernen Norden umweht und ihnen wieder ihre Prophezeiung zugeflüstert: »Wer Vineta nur einmal geschaut hat, den läßt die Sehnsucht danach nicht wieder ruhen sein Leben lang, und müßte sie ihn auch hinabziehen in die Tiefe.«


 << zurück weiter >>