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Die diplomatische Mission, zu der Herr Witold den Doktor Fabian auserlesen hatte, schien dem ersteren in ihrer Ausführung nicht halb so schwierig, wie in ihrer Einleitung. Um genauen Bericht darüber zu erstatten, »was eigentlich da drüben in C. passierte«, mußte der Doktor natürlich Zutritt bei der Fürstin Baratowska haben, und das konnte nur durch Waldemar geschehen, Witold zerbrach sich den Kopf darüber, wie er seinem starrsinnigen Pflegesohn die Sache beibringen könne, ohne gleich von vornherein auf ein entschiedenes Nein zu stoßen. Da kam ihm unerwartet der Zufall zu Hilfe. Die Fürstin hatte bei dem letzten Zusammensein den Wunsch ausgedrückt, den Lehrer ihres Sohnes persönlich kennen zu lernen. Waldemar sprach davon nach seiner Rückkehr und der Gutsherr ergriff mit beiden Händen die willkommene Gelegenheit. Er war zum erstenmal in seinem Leben in der Lage, einen Wunsch der Fürstin Jadwiga vernünftig zu finden. Er hielt den Doktor unerbittlich beim Worte, und dieser, der noch immer gehofft hatte, die Sache werde an dem Eigensinn seines Zöglings scheitern, mußte schon am zweiten Tage mit Waldemar zu der gewünschten Vorstellung nach C.
Waldemar war auch heute zu Pferde. Er war ein leidenschaftlicher Reiter und verabscheute das Fahren auf den sandigen oder steinigen Landwegen, über die er im Galopp hinsprengte. Es fiel ihm nicht ein, Rücksicht auf seinen Lehrer zu nehmen und sich zu ihm in den Wagen zu setzen. Doktor Fabian war an dergleichen Rücksichtslosigkeiten gewöhnt, und von Natur schüchtern und nachgiebig, hatte er nicht den Mut, sich dagegen zu erheben oder deswegen seine Stellung zu opfern. Er besaß kein Vermögen; eine Stellung war überhaupt für ihn eine Lebensfrage. Das Leben in Altenhof sagte ihm wenig zu, aber er nahm im ganzen ja auch nur wenig teil daran. Er erschien nur bei Tische und hin und wieder abends auf eine Stunde, um dem Gutsherrn Gesellschaft zu leisten; sein Zögling nahm ihn wenig genug in Anspruch. Waldemar war stets froh, wenn er die Unterrichtsstunden hinter sich hatte, und sein Lehrer war es noch mehr. Die ganze übrige Zeit stand diesem zur freien Verfügung; er konnte sich ungestört seinem Steckenpferde, den germanischen Studien, hingeben. Diesen geliebten Studien verdankte Herr Witold es allein, daß der jetzige Erzieher seines Pflegesohnes nicht dem Beispiele der sechs Vorgänger folgte und gleichfalls davonlief, denn er sagte sich ganz richtig, daß in einer andern Stellung, wo eine stete Beaufsichtigung der Zöglinge verlangt werde, es mit dem Studieren vorbei sei. Freilich gehörte ein so geduldiger Charakter, wie der des Doktors dazu, unter solchen Verhältnissen auszuhalten; er ertrug es auch heute schweigend, daß Waldemar wirklich vorausritt und ihn erst am Eingange von C. erwartete, wo sie gegen Mittag anlangten.
Sie fanden bei ihrer Ankunft nur Gräfin Wanda im Salon, und Doktor Fabian machte die erste Vorstellung zwar in großer Befangenheit, aber doch in leidlicher Haltung durch. Leider reizte seine sichtbare und ein wenig komische Aengstlichkeit die junge Gräfin sogleich, ihren Mutwillen an ihm zu üben.
»Also Sie, Herr Doktor, sind der Erzieher meines Vetters Waldemar,« begann sie. »Ich spreche Ihnen mein aufrichtiges Beileid aus und beklage Sie von ganzem Herzen.«
Fabian sah erschrocken in die Höhe und dann nicht minder erschrocken auf seinen Zögling, aber dieser schien die Aeußerung gar nicht gehört zu haben, denn seine Miene verriet nicht die geringste Entrüstung.
»Wie meinen Sie, gnädige Gräfin?« stammelte der Doktor.
»Nun, ich meine, daß es ein sehr schwieriges Amt ist, Herrn Waldemar Nordeck zu erziehen,« fuhr Wanda unbekümmert fort und ergötzte sich unendlich an der grenzenlosen Verlegenheit, die ihre Worte hervorriefen.
Doktor Fabian blickte in einer wahren Todesangst zu Waldemar hinüber; er wußte, wie empfindlich dieser war, auch gegen bloße Neckereien. Oft genug hatten weit harmlosere Aeußerungen des Herrn Witold einen wahren Sturm hervorgerufen, aber merkwürdigerweise zeigte sich heute nicht das kleinste Anzeichen davon. Der junge Mann stützte sich ruhig auf den Sessel der Gräfin Morynska, ja, es schwebte sogar ein Lächeln um seine Lippen, als er, zu ihr herabgebeugt, fragte:
»Glauben Sie, daß ich so schlimm bin?«
»Jawohl, das glaube ich,« erklärte Wanda. »Hatte ich doch erst vorgestern bei dem Streite um das Steuer das Vergnügen, Sie in vollem Zorne zu sehen.«
»Aber doch nicht gegen Sie,« sagte Waldemar vorwurfsvoll.
Der Doktor ließ den Hut sinken, den er bisher mit beiden Händen festgehalten hatte. Was war das für ein Ton, der so weich und mild von den Lippen seines wilden Zöglings kam, und was sollte der Blick bedeuten, der ihn begleitete? Das Gespräch ging in dieser Art weiter. Wanda neckte den jungen Mann mit ihrem gewöhnlichen Uebermute, und Waldemar ließ sich das Spiel mit einer unendlichen Geduld gefallen. Hier schien ihn nichts reizen, nichts verletzen zu können; für alles hatte er nur ein Lächeln; er war überhaupt wie ausgetauscht, seit er sich in der Nähe der jungen Gräfin befand.
»Herr Doktor Fabian hört uns ganz andächtig zu,« spottete diese. »Sie freuen sich wohl über unsre muntere Laune?«
Der arme Doktor! Er dachte nicht daran, sich zu freuen. Mit ihm ging alles im Kreise herum. So wenig Erfahrung er auch in Liebesangelegenheiten hatte, hier dämmerte die Wahrheit ihm doch allmählich auf; er fing jetzt an zu merken, was hier eigentlich »passierte«. Also darum hatte Waldemar so schnell in die Aussöhnung gewilligt; darum ritt er unverdrossen in Sturm und Sonnenschein nach C.; daher stammte die Veränderung in seinem ganzen Wesen. Herrn Witold traf sicherlich der Schlag, wenn er die Geschichte erfuhr, er, der einen so tief eingewurzelten Haß gegen die ganze »Polengesellschaft« hegte. Die diplomatische Mission war nun freilich gleich in der ersten halben Stunde geglückt, aber ihr Resultat jagte dem Abgesandten ein solches Entsetzen ein, daß er die ihm anbefohlene Diplomatie vollständig vergaß und wahrscheinlich seinen Schrecken verraten hätte, wenn nicht soeben die Fürstin Baratowska eingetreten wäre.
Die Dame hatte mehr als einen Grund zu dem Wunsche, den Erzieher ihres Sohnes, der diesen auch auf die Universität begleiten sollte, persönlich kennen zu lernen. Jetzt, wo die Aussöhnung erfolgt und eine dauernde Verbindung angeknüpft war, konnte ihr die nächste Umgebung Waldemars nicht gleichgültig sein. Sie überzeugte sich nun freilich schon in den ersten zehn Minuten, daß von dem harmlosen Fabian nichts Feindseliges zu erwarten sei, daß er sich im Gegenteil gebrauchen lassen werde, wenn auch ohne sein Wissen. Von dem steten Begleiter konnte man in Zukunft manches erfahren, was von dem unzugänglichen Waldemar selbst nicht zu erfahren war, und das blieb unter allen Umständen von Wichtigkeit. Die Fürstin erwies dem Doktor die Ehre, ihn für ein geeignetes Werkzeug anzusehen; sie war infolgedessen voll herablassender Freundlichkeit gegen ihn, und die Demut, mit der er diese Herablassung aufnahm, gewann ihm ihre volle Zufriedenheit. Sie verzieh seine Schüchternheit und Unbeholfenheit, oder vielmehr, sie fand beides in ihrer Gegenwart sehr natürlich und geruhte ihn in ein längeres Gespräch zu verflechten.
Waldemar schien mit dem Eintritte der Mutter seine ganze sonstige Einsilbigkeit wieder aufgenommen zu haben. Er beteiligte sich wenig an der Unterhaltung und sagte der Fürstin einige leise Worte. Sie erhob sich sofort und trat mit ihm auf den Balkon hinaus.
»Du wünschest mich allein zu sprechen?« fragte sie.
»Nur auf eine Minute,« entgegnete Waldemar. »Ich wollte dir nur sagen, daß es mir unmöglich ist, dich und Leo nach Wilicza zu begleiten, wie wir verabredet hatten.« Ein leichtes Erschrecken zeigte sich in den Zügen der Mutter. »Weshalb? Legt man deiner Abreise vielleicht Schwierigkeiten in den Weg?«
»Jawohl,« sagte der junge Mann unmutig. »Es sind, wie sich jetzt herausstellt, nach meiner Mündigkeitserklärung einige Förmlichkeiten zu erfüllen, bei denen ich durchaus persönlich zugegen sein muß. Das Testament des Vaters weist in dieser Hinsicht verschiedene Bestimmungen auf; weder Onkel Witold noch ich haben daran gedacht, und gerade jetzt, wo ich fort will, kommt die Aufforderung. Ich werde fürs erste noch hier bleiben müssen.«
»Nun, dann werden wir unsre Abreise gleichfalls verschieben,« meinte die Fürstin, »und ich muß Wanda allein nach Rakowicz senden.«
»Auf keinen Fall!« fiel Waldemar mit der größten Bestimmtheit ein. »Ich habe bereits nach Wilicza geschrieben, daß du in den nächsten Tagen dort eintreffen wirst und daß man die nötigen Vorbereitungen im Schlosse treffen soll.«
»Und du?«
»Ich komme nach, sobald ich hier frei bin. Jedenfalls bringe ich einige Wochen bei euch zu, ehe ich zur Universität gehe.«
»Noch eine Frage, Waldemar,« sagte die Fürstin ernst. »Weiß dein ehemaliger Vormund bereits von dieser Bestimmung?«
»Nein. Ich habe bisher nur von meinem Besuche in Wilicza gesprochen.«
»Dann wirst du unsern Aufenthalt dort also vor ihm vertreten müssen.«
»Ich werde,« entgegnete Waldemar kurz. »Im übrigen habe ich den Administrator angewiesen, sich zu deiner Verfügung zu stellen, bis ich selbst eintreffe. Du hast nur deine Befehle zu geben; es ist dafür gesorgt, daß sie respektiert werden.«
Die Fürstin wollte ihren Dank aussprechen, aber er kam nicht über ihre Lippen; sie wußte ja, daß diese Großmut nicht ihr galt, und die eigentümlich kalte Art, in der sie ihr geboten wurde, ließ ihr nur die Möglichkeit, sie ebenso kalt hinzunehmen, wollte sie sich nicht demütigen.
»Wir dürfen dich also bestimmt erwarten?« fragte sie. »Was Leo betrifft –«
»Leo schmollt noch mit mir wegen unsres vorgestrigen Streites,« unterbrach sie Waldemar. »Er ging bei meiner Ankunft sehr demonstrativ nach dem Strande hinunter, ohne mich sehen zu wollen.« Die Fürstin runzelte die Stirn. Leo hatte gemessenen Befehl erhalten, dem Bruder freundlich zu begegnen, und dennoch zeigte er diesen Trotz, welcher der Mutter gerade jetzt äußerst ungelegen kam.
»Leo ist oft heftig und unbedacht,« entgegnete sie. »Ich werde dafür sorgen, daß er dir zuerst die Hand zur Versöhnung bietet.«
»Nicht doch,« lehnte Waldemar kühl ab. »Wir machen das besser unter uns allein aus. Sei unbesorgt!«
Sie traten wieder in den Salon, wo Wanda sich inzwischen damit unterhalten hatte, den Doktor Fabian von einer Verlegenheit in die andre zu treiben. Die Fürstin erlöste ihn jetzt davon, sie wünschte den Studienplan ihres Sohnes eingehend mit ihm zu besprechen, und er mußte sie auf ihre Aufforderung in ihr eigenes Zimmer begleiten.
»Der arme Doktor!« sagte Wanda, ihm nachblickend. »Mir scheint, Waldemar, Sie haben das Verhältnis geradezu umgekehrt. Sie hegen nicht den mindesten Respekt vor Ihrem Lehrer, aber er hat eine grenzenlose Furcht vor Ihnen.«
Waldemar widersprach nicht dieser nur allzu richtigen Bemerkung; er erwiderte nur: »Finden Sie, daß Doktor Fabian eine Persönlichkeit ist, welche Respekt einflößt?«
»Das nicht, aber er scheint sehr gutmütig und geduldig zu sein.«
Der junge Mann nahm eine verächtliche Miene an. »Mag sein! Aber das sind Eigenschaften, die gerade ich am wenigsten zu schätzen verstehe.«
»Man muß Sie wohl tyrannisieren, wenn man Ihnen Respekt einflößen will?« fragte Wanda mit einem schelmischen Aufblicke.
Waldemar zog einen Sessel heran und nahm an ihrer Seite Platz. »Es kommt darauf an, von wem die Tyrannei ausgeht. In Altenhof möchte ich sie keinem raten, auch meinem Onkel Witold nicht, und hier dulde ich sie auch nur von einer Seite.«
»Wer weiß!« warf Wanda leicht hin. »Ich möchte es nicht versuchen, Sie ernstlich zu reizen.«
Er gab keine Antwort; er war augenscheinlich nur halb bei dem Gespräche und schien einen ganz andern Gedankengang zu verfolgen.
»Fanden Sie es vorgestern nicht wunderschön auf dem Buchenholm?« fragte er plötzlich ohne jeden Uebergang. Eine leichte Röte stieg in dem Antlitze der jungen Gräfin auf, aber sie erwiderte in dem vorigen übermütigen Tone: »Ich finde, daß der Ort etwas Unheimliches hat, trotz all seiner Schönheit, und was nun vollends Ihre Meeressagen betrifft – ich lasse sie mir sicher nicht zum zweitenmal bei Sonnenuntergang erzählen. Man kommt schließlich dahin, an die alten Märchen zu glauben.«
»Jawohl, man kommt dahin,« sagte Waldemar leise. »Sie warfen es mir ja vor, daß ich die Poesie in der Sage nicht begreifen konnte – jetzt habe ich sie auch verstehen gelernt.«
Wanda schwieg. Sie kämpfte wieder mit jener Befangenheit, die sie erst seit vorgestern kannte. Schon vorhin beim Eintritte des jungen Nordeck hatte sich dieses Gefühl ihrer bemächtigt; sie hatte versucht, es wegzulachen und wegzuspotten, und das war auch gelungen in Gegenwart der andern, aber sobald sie sich beide allein befanden, kam es mit neuer Macht zurück; sie konnte den unbefangenen Ton von früher nicht wiederfinden. Dieser seltsame Abend auf dem Buchenholm! Er hatte einen eigentümlichen Ernst in die Sache gebracht, die ja doch nur ein Scherz sein und bleiben sollte und nichts weiter.
Waldemar harrte vergebens auf eine Antwort; es schien ihn fast zu kränken, daß sie ausblieb. »Ich habe vorhin der Mutter mitgeteilt, daß ich nicht sogleich mit nach Wilicza kann,« nahm er von neuem das Wort, »Ich werde erst in drei oder vier Wochen nachkommen.«
»Nun, das ist ja nur eine kurze Zeit,« meinte Wanda.
»Nur eine kurze Zeit?« rief der junge Mann heftig. »Eine Ewigkeit ist es. Sie haben wohl gar keine Ahnung davon, was es mich kostet, hier zurückzubleiben und Sie allein reisen zu lassen?«
»Waldemar, ich bitte Sie,« fiel Wanda mit sichtbarer Beklommenheit ein, aber er hörte nicht darauf; er fuhr mit der gleichen Heftigkeit fort:
»Ich habe Ihnen versprochen, zu warten, bis wir in Wilicza sind, aber damals hoffte ich noch, Sie zu begleiten, jetzt liegt vielleicht ein Monat zwischen unserm Wiedersehen, und so lange kann ich nicht schweigen, so lange kann ich Sie nicht fortwährend in Leos Nähe wissen, ohne die Ueberzeugung, daß Sie mir gehören, mir allein.«
Das Geständnis kam so plötzlich, so stürmisch, daß die junge Gräfin gar keine Zeit hatte, es abzuwehren, und es wäre dieser ausbrechenden Leidenschaft gegenüber auch umsonst gewesen. Er hatte wieder ihre Hand ergriffen und hielt sie so fest wie damals auf dem Buchenholm.
»Weichen Sie nicht so vor mir zurück, Wanda! Sie müssen es ja längst wissen, was mich allein hier festhielt. Ich konnte es ja nie verbergen, und Sie haben es geduldet, haben mich nicht zurückgewiesen, da darf ich doch endlich einmal das Schweigen brechen. Ich weiß, daß ich nicht bin wie die andern, daß mir viel, vielleicht alles fehlt, um Ihnen zu gefallen, aber ich kann und will es lernen. Es ist ja einzig und allein um Ihretwillen, daß ich mir diese Universitätsjahre auferlege. Was frage ich nach dem Studium, was nach dem Leben da draußen? Mich kümmert das alles nichts, aber ich habe es gesehen, daß Sie oft vor mir zurückschrecken, daß Sie bisweilen über mich spotten, und – das sollen Sie nicht mehr. Nur die Gewißheit, daß Sie mein sind, daß ich Sie wiederfinde! Wanda, ich bin allein gewesen seit meiner Kindheit, oft recht allein. Wenn ich Ihnen roh und wild erschien – Sie wissen es ja, mir hat die Mutter, mir hat die Liebe gefehlt. Ich konnte nicht so werden wie Leo, dem das alles zu teil ward, aber lieben kann ich, vielleicht heißer und besser als er. Sie sind das einzige Wesen, das ich je geliebt habe, und ein einziges Wort von Ihnen wiegt die ganze Vergangenheit auf. – Sage mir dieses Wort, Wanda, gib mir wenigstens die Hoffnung, daß ich es einst von dir hören werde, aber sage mir nicht ›nein‹, denn das ertrage ich nicht!«
Er lag wirklich auf den Knieen vor ihr, aber die junge Gräfin dachte jetzt nicht mehr daran, sich des Triumphes zu freuen, den sie einst im kindlichen Uebermute herbeigewünscht. Es war ihr wohl hin und wieder eine dunkle Ahnung gekommen, daß das Spiel ernsthafter werden könne, als sie gedacht, daß es sich nicht mit einem bloßen Scherze werde beendigen lassen, aber mit dem ganzen Leichtsinne ihrer sechzehn Jahre hatte sie den Gedanken von sich gewiesen. Jetzt war die Entscheidung da; sie mußte ihr standhalten, mußte einer offenen leidenschaftlichen Werbung standhalten, die unerbittlich ein Ja oder Nein verlangte. Freilich, bestrickend war diese Werbung nicht; sie hatte nichts Zärtliches, Schwärmerisches, wie es die Empfindungsweise eines jungen Mädchens verlangte, selbst durch das Geständnis seiner Liebe wehte etwas von jenem herben Zuge, der von dem Wesen Waldemars nun einmal nicht zu trennen war, aber aus jedem Worte sprach ein stürmisches, lang zurückgehaltenes Gefühl, sprach die volle Glut der Leidenschaft; zum erstenmal sah Wanda klar, wie ernst er es mit seiner Liebe meinte, und wie mit brennendem Vorwurfe überkam sie der Gedanke: Was hast du gethan!
»Stehen Sie auf, Waldemar!« – in ihrer Stimme bebte die verhaltene Angst. »Ich bitte Sie darum.«
»Wenn ich ein Ja von deinen Lippen höre – sonst nicht!«
»Ich kann nicht – jetzt nicht – stehen Sie doch auf!«
Er gehorchte nicht; er lag noch auf den Knieen, als die Thür, welche in das Vorzimmer führte, unvermutet geöffnet wurde und Leo eintrat. Einen Moment lang stand er wie angewurzelt, dann aber entfuhr ein Ausruf der Entrüstung seinen Lippen. »Also doch!« Waldemar war aufgesprungen; seine Augen sprühten im wildesten Zorne. »Was willst du hier?« herrschte er den Bruder an. Leo war blaß vor innerer Aufregung, aber der Ton der Frage jagte ihm das Blut ins Gesicht. Mit einigen raschen Schritten stand er vor Waldemar.
»Du scheinst meine Gegenwart hier überflüssig zu finden,« sagte er mit blitzenden Augen. »Und doch könnte gerade ich dir die beste Erklärung zu der eben stattgefundenen Scene geben.«
»Leo, du schweigst!« rief Wanda halb bittend, halb befehlend, aber die Eifersucht ließ den jungen Fürsten jede Rücksicht und jede Schonung vergessen.
»Ich schweige nicht,« entgegnete er in vollster Erbitterung. »Mein Wort galt nur bis zur Entscheidung der Wette, und ich habe es jetzt mit eigenen Augen gesehen, wie sie entschieden ist. Wie oft habe ich dich gebeten, das Spiel zu endigen! Du wußtest, daß es mich kränkte, daß es mich zur Verzweiflung brachte. Du triebst es dennoch bis zum Aeußersten. Soll ich jetzt vielleicht dulden, daß Waldemar im Gefühle seines vermeintlichen Triumphes mir als einem Ueberlästigen die Thür weist, mir, der Zeuge davon gewesen ist, wie du dich vermaßest, ihn unter allen Umständen bis zum Kniefall zu bringen? Freilich, du hast es ja erreicht, aber er soll wenigstens die Wahrheit erfahren.«
Waldemar war schon bei dem Worte »Wette« zusammengezuckt; jetzt stand er regungslos da. Seine Rechte faßte krampfhaft die Lehne des Sessels, während die Augen sich mit einem seltsamen Ausdrucke auf die junge Gräfin richteten.
»Was – was soll das heißen?« fragte er mit völlig erloschener Stimme.
Wanda senkte schuldbewußt das Haupt. In ihrem Inneren kämpfte der Zorn gegen Leo mit der eigenen Beschämung, und über das alles hinweg flutete eine heiße Angst; sie wußte ja jetzt, daß der Schlag tödlich traf. Auch Leo antwortete nicht; die plötzliche Veränderung in den Zügen des Bruders ließ ihn inne halten. Er begann überdies jetzt zu fühlen, in welcher unverantwortlichen Weise er Wanda preisgab, und daß er keinen Schritt weiter gehen durfte.
»Was soll das heißen?« wiederholte Waldemar, aus seiner Erstarrung auffahrend, indem er dicht vor das junge Mädchen hintrat. »Leo spricht von einer Wette, von einem Spiel, dessen Gegenstand ich gewesen bin. Antworten Sie mir, Wanda! Ich glaube Ihnen, nur Ihnen allein – sagen Sie mir, daß es eine Lüge ist –«
»Also bin ich ein Lügner in deinen Augen!« brauste Leo auf, aber der Bruder hörte nicht auf ihn; das Verstummen der jungen Gräfin sagte ihm genug – er bedurfte keiner Bestätigung mehr. Doch mit der Entdeckung der Wahrheit flammte auch die ganze Wildheit seiner Natur wieder auf und riß ihn jetzt, wo der Zauber gebrochen war, dem er sich so lange gebeugt, hinweg über alle Schranken.
»Ich will Antwort haben,« brach er in gereizter Wut aus. »Bin ich wirklich nur ein Spielball gewesen, ein Zeitvertreib für eure Launen? Habt ihr über mich gelacht und gespottet, während ich – Sie werden mir antworten, Wanda, auf der Stelle antworten, oder –«
Er vollendete nicht, aber Blick und Ton waren so furchtbar drohend, daß Leo schützend vor Wanda trat, doch sie richtete sich jetzt auch empor. Dieser maßlose Jähzorn gab ihr die Haltung zurück.
»Ich lasse mich nicht so zur Rede stellen,« erklärte sie und war im Begriff, sich mit ihrem ganzen Trotze zu erheben – da begegnete ihr Auge dem Waldemars, und sie hielt inne. Wenn in seinem Antlitz auch nur Zorn und Wut flammten, der Blick verriet doch die innere Qual des Mannes, der seine Liebe verhöhnt und verraten sah, dem in diesem Augenblick das angebetete Ideal vernichtet wurde. Aber die Stimme schien ihn doch zur Besinnung gebracht zu haben. Seine geballten Hände lösten sich, während die Lippen sich so fest aufeinander preßten, als müßten sie jedes Wort verschließen. Die Brust hob und senkte sich gewaltsam unter der furchtbaren Anstrengung, mit der er den Jähzorn niederzwang; er schwankte und stützte sich auf den Sessel.
»Was hast du, Waldemar?« fragte Leo betroffen und mit aufquellender Reue, indem er versuchte, ihm näher zu treten. »Hätte ich gewußt, daß du die Sache so ernst nimmst, ich hätte geschwiegen.«
Waldemar richtete sich empor. Er machte nur eine stumme abwehrende Bewegung gegen den Bruder hin, dann wandte er sich ohne einen Laut weiter zum Gehen, aber jeder Blutstropfen war aus seinem Antlitz gewichen.
Doch jetzt erschien die Fürstin, von Doktor Fabian begleitet. Die immer lauter werdenden Stimmen, die bis in ihr Zimmer drangen, hatten ihr verraten, daß etwas Ungewöhnliches im Salon vorgehe. Sie trat rasch ein, ohne im Augenblick bemerkt zu werden. Wanda stand noch da, zwischen Trotz und Angst schwankend, aber jetzt gewann letztere die Oberhand, und im Tone eines Kindes, das sein begangenes Unrecht einsieht, rief sie den sich Entfernenden zurück:
»Waldemar!« Er hemmte seine Schritte. »Haben Sie mir noch etwas zu sagen, Gräfin Morynska?«
Die junge Gräfin zuckte zusammen; es war das erste Mal, daß dieser Ton eiskalter, schneidender Verachtung ihr Ohr berührte, und die brennende Röte, welche urplötzlich ihr Antlitz übergoß, zeigte, wie tief sie ihn empfand. Jetzt aber vertrat die Fürstin ihrem Sohne den Weg.
»Was ist geschehen? Wohin willst du, Waldemar?«
»Fort!« entgegnete er dumpf, ohne aufzublicken.
»Aber so erkläre mir doch –«
»Ich kann nicht. Laß mich – ich kann nicht bleiben,« und die Mutter zurückdrängend, stürmte er hinaus.
»Nun, so werde ich euch wohl um die Erklärung dieses seltsamen Auftrittes bitten müssen,« wandte sich die Fürstin jetzt zu den beiden andern. »Bleiben Sie, Herr Doktor!« fuhr sie fort, als Doktor Fabian, der bisher ängstlich an der Thür gestanden hatte, Miene machte, seinem Zögling zu folgen. »Jedenfalls waltet hier ein Mißverständnis, und ich werde Sie wohl ersuchen müssen, die Aufklärung bei meinem Sohne zu übernehmen. Er macht es mir durch sein Fortstürmen ja unmöglich, dies selbst zu thun. – Was ist vorgegangen? Ich will es wissen!«
Wanda kam der Aufforderung nicht nach; sie warf sich statt dessen in das Sofa und brach in ein leidenschaftliches Weinen aus, Leo aber trat auf den Wink der Mutter zu ihr und teilte ihr leise das Vorgefallene mit. Die Miene der Fürstin war finsterer bei jedem seiner Worte, und es kostete ihr offenbar Mühe, die ruhige Haltung zu behaupten, als sie sich endlich zu dem Doktor wandte und scheinbar gelassen sagte:
»Wie ich voraussetzte, ein Mißverständnis, nichts weiter! Eine Neckerei zwischen meiner Nichte und meinem jüngsten Sohne hat Waldemar Anlaß gegeben, sich beleidigt zu fühlen. Ich bitte Sie, ihm zu sagen, daß ich das aufrichtig bedaure, aber auch von ihm erwarte, er werde der Thorheit der beiden übermütigen Kinder« – sie betonte die Worte scharf – »nicht mehr Wichtigkeit beilegen, als sie verdient.«
»Es wäre wohl das beste, wenn ich jetzt meinen Zögling aufsuchte,« wagte Fabian zu bemerken.
»Gewiß – thun Sie das!« stimmte die Dame bei, der sehr daran lag, den ebenso unschuldigen wie unwillkommenen Zeugen der Familienscene zu entfernen. »Auf Wiedersehen, Herr Doktor! Ich rechne bestimmt auf Ihre baldige Rückkehr in Begleitung Waldemars.«
Sie sprach die letzten Worte sehr gnädig und nahm die Abschiedsverbeugung des Erziehers mit einem Lächeln entgegen, als sich aber die Thür hinter ihm geschlossen hatte, trat die Fürstin mit einer heftigen Bewegung zwischen Wanda und Leo, und ihr Antlitz verkündete einen Sturm, wie er nur selten bei der gestrengen Mutter und Tante heraufzog. –
Doktor Fabian hatte inzwischen von Pawlick erfahren, daß der junge Herr Nordeck sich auf sein Pferd geworfen habe und fortgeritten sei. Es blieb dem Doktor nichts übrig, als gleichfalls nach Altenhof zu fahren, was er auch schleunigst that, aber bei seiner Ankunft dort erfuhr er, daß Waldemar noch nicht eingetroffen sei. Der Erzieher konnte nicht umhin, sich über dieses Ausbleiben zu beunruhigen, das ihm unter andern Umständen gar nicht aufgefallen wäre. Der Schluß der erregten Scene, die er mit angesehen, ließ ihn in seinen Vermutungen der Wahrheit einigermaßen nahe kommen. Die Fürstin hatte freilich nur von einem Mißverständnisse gesprochen, von einer Neckerei, die ihr Sohn übelgenommen habe, aber das wilde Fortstürmen desselben, seine schneidende Antwort auf den bittenden Ruf der jungen Gräfin – und vor allem der Ausdruck seines Gesichtes zeigte, daß es sich hier um ganz andres handelte. Es mußte etwas Ernstes vorgefallen sein, daß Waldemar, der eben noch geduldig, mit Verleugnung seines ganzen Charakters, sich jeder Laune Wandas beugte, ihr und den Ihrigen in so furchtbarer Erregung den Rücken kehrte, daß er das Haus der Mutter in einer Weise verließ, die auf Nimmerwiederkehr deutete. Aber auch hier in Altenhof verfloß der ganze Nachmittag, ohne daß Waldemar sich zeigte. Doktor Fabian harrte vergebens; er war froh, daß Herr Witold die Abwesenheit seiner beiden Hausgenossen benutzt hatte, um nach der nahegelegenen Stadt zu fahren, von wo er erst gegen Abend zurückerwartet wurde – so entging man wenigstens fürs erste seinen unvermeidlichen Fragen.
Stunde an Stunde verging; der Abend brach herein, aber weder der Inspektor, der in der Försterei gewesen war, noch die Leute, die vom Felde heimkamen, hatten den jungen Herrn gesehen. Jetzt trieb die Angst den Doktor zum Hause hinaus; er ging eine Strecke den Fahrweg hinauf, der nach dem Gute führte und den jeder Ankommende benutzen mußte. In einiger Entfernung zog sich ein sehr breiter und tiefer Graben hin, der meistens voll Wasser stand, aber die Hitze dieses Sommers hatte ihn völlig ausgetrocknet, und die mächtigen Feldsteine, mit denen der Grund förmlich gepflastert war, lagen offen da. Von der Brücke, die hinüberführte, hatte man einen weiten Umblick auf die Felder ringsum. Noch war es völlig hell im Freien, nur der Wald fing schon an, sich in Dämmerung zu hüllen. Ratlos stand Doktor Fabian auf der Brücke und überlegte eben, ob er weitergehen oder umkehren solle – da endlich erschien in der Ferne die Gestalt eines Reiters, der im Galopp näher kam. Der Doktor atmete auf; er wußte selbst nicht recht, was er eigentlich gefürchtet hatte, aber die Befürchtung war ja grundlos gewesen, und voll Freude darüber eilte er am Graben entlang dem Ankommenden entgegen.
»Gott sei Dank, daß Sie da sind, Waldemar!« rief er. »Ich habe mich so sehr Ihretwegen geängstigt.«
Waldemar zügelte sein Pferd beim Anblick seines Lehrers. »Weshalb?« fragte er kalt. »Bin ich ein Kind, das man nicht aus den Augen lassen darf?«
Es war trotz der erzwungenen Ruhe ein fremder Klang in seiner Stimme, der die kaum beschwichtigten Besorgnisse des Doktors wieder aufwachen ließ. Er sah erst jetzt, daß das Roß bis zum Tode erschöpft schien; es war über und über mit Schweiß bedeckt; aus seinen Nüstern floß der Schaum nieder, und die Brust hob sich keuchend. Das Tier war augenscheinlich ruhelos umhergejagt worden, nur der Reiter zeigte keine Spur von Ermüdung; er saß fest im Sattel, hatte mit eisernem Griff die Zügel gefaßt und machte jetzt, statt seitwärts nach der Brücke zu lenken, Miene, über den Graben zu setzen.
»Um Gottes willen!« wehrte Fabian ab. »Sie werden doch nicht eine solche Tollkühnheit begehen – Sie wissen ja, Normann nimmt den Graben nie.«
»So nimmt er ihn heute,« erklärte Waldemar, seinem Roß die Sporen in die Seite setzend; es stieg hoch empor, aber es scheute zurück vor dem Hindernis und mochte auch wohl fühlen, daß die erschöpften Kräfte ihm den Dienst versagen würden.
»Aber so hören Sie doch!« flehte der Doktor, indem er trotz seiner Furcht vor dem bäumenden, schlagenden Tier nahe herantrat. »Sie verlangen Unmögliches; der Sprung mißlingt, und Sie zerschmettern sich im Sturze den Kopf an den Steinen da unten.«
Statt aller Antwort trieb Waldemar seinen Normann von neuem an, »Gehen Sie mir aus dem Wege!« stieß er hervor. »Ich will nun einmal hinüber – aus dem Wege, sage ich.« Der wilde, qualvoll gepreßte Ton zeigte dem Doktor, wie es in diesem Augenblick um seinen Zögling stand und daß er nicht viel danach fragte, ob er sich wirklich da unten auf den Steinen zerschmetterte. In seiner Todesangst vor dem Unglück, das er unvermeidlich herankommen sah, wagte es der sonst so furchtsame Mann, in die Zügel zu greifen, und wollte seine Vorstellungen fortsetzen. In demselben Moment aber sauste ein furchtbarer Hieb der Reitpeitsche auf das widerspenstige Roß nieder; es bäumte sich in die Höhe und schlug wild mit den Vorderfüßen in die Luft, aber es versagte den Sprung. Zugleich schlug ein schwacher Schrei an das Ohr des Reiters; er stutzte, hielt inne und riß dann blitzschnell das Tier zurück – es war zu spät. Doktor Fabian lag bereits am Boden, und als Waldemar in der nächsten Sekunde vom Pferde sprang, sah er seinen Lehrer blutend, ohne Lebenszeichen vor sich liegen.