Vineta
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Rakowicz, der Wohnsitz des Grafen Morynski, konnte sich in keiner Weise mit Wilicza messen. Ganz abgesehen davon, daß die Herrschaft fast um das Zehnfache größer war und allein drei oder vier Pachtgüter von dem Umfange der Morynskischen Besitzung einschloß, fehlten dieser letzteren auch die Waldungen und das prachtvolle Schloß mit seiner Parkumgebung. Rakowicz lag nur eine Stunde von L. entfernt in offener Gegend und unterschied sich wenig oder gar nicht von den übrigen kleineren Edelsitzen der Provinz.

Seit der Abreise ihres Vaters lebte Gräfin Wanda allein auf dem Gute. So selbstverständlich unter andern Umständen ihre Uebersiedelung nach Wilicza gewesen wäre, so natürlich erschien es jetzt, daß die Tochter des Grafen Morynski das Schloß mied, dessen Herr eine solche Stellung zu den Ihrigen einnahm, wie Nordeck es that. Schon das Bleiben der Fürstin gab Anlaß genug zur Verwunderung. Diese kam, wie schon erwähnt, sehr oft nach Rakowicz, um ihre Nichte zu sehen, und war auch jetzt auf einige Tage Gast derselben. Das Zusammentreffen Wandas mit Waldemar blieb ihr vorläufig noch verschwiegen, da sie erst am Abend nach der Rückkehr von jener Fahrt angekommen war. Am zweiten Tage nach ihrer Ankunft, in den Vormittagsstunden, saßen die beiden Damen in dem Zimmer der jungen Gräfin. Sie hatten soeben Nachrichten von den Ihrigen empfangen und hielten die Briefe geöffnet in der Hand, aber diese schienen wenig Erfreuliches zu bringen, denn Wanda sah sehr ernst aus, und die Miene der Fürstin war finster und sorgenvoll, als sie endlich die Zuschriften ihres Bruders und Leos aus der Hand legte.

»Wieder zurückgeworfen!« sagte sie mit unterdrückter Bewegung. »Sie waren schon bis an das Herz des Landes vorgedrungen, und nun stehen sie wieder an der Grenze. Noch immer keine Entscheidung, kein nennenswerter Erfolg! Man möchte verzweifeln.« Wanda ließ gleichfalls das Blatt sinken, das sie in der Hand hielt. »Der Vater schreibt in sehr düsterem Tone,« entgegnete sie. »Er reibt sich fast auf in dem ewigen Kampfe mit all den widerstreitenden Elementen, die er vergebens zusammenzuhalten sucht. Alles will befehlen, niemand gehorchen; die Uneinigkeit wachst unter den Führern – was soll noch daraus werden!«

»Dem Vater läßt sich allzusehr von dem düsteren Zuge beherrschen, der nun einmal in seinem Charakter liegt,« beruhigte die Fürstin. »Es ist doch am Ende natürlich, daß ein Heer von Freiwilligen, das auf den ersten Ruf zu den Waffen eilt, nicht die Ordnung und Disziplin einer wohlgeschulten Armee haben kann. Das will gelernt und geübt sein.«

Wanda schüttelte trübe das Haupt. »Der Kampf währt nun schon drei Monate und auf jedes glückliche Gefecht haben wir drei Niederlagen zu verzeichnen. Jetzt verstehe ich erst die schmerzliche Bewegung des Vaters beim Abschiede; sie galt nicht der Trennung allein. Er ging schon damals ohne die rechte Hoffnung des Sieges.«

»Bronislaw hat von jeher alles im Leben zu schwer genommen,« beharrte die Fürstin. »Ich hoffte mehr von Leos steter Gegenwart und seinem Einfluß auf den Oheim. Er hat noch die volle Spannkraft und Begeisterung der Jugend; ihm heißt jeder Zweifel an dem Siege unsrer Sache Verrat. Ich wollte, er könnte seine unerschütterliche Siegeszuversicht auch den andern mitteilen – es thut ihnen not.«

Sie zog den Brief ihres Sohnes wieder hervor und sah nochmals hinein. »Leo wird trotz alledem glücklich sein,« fuhr sie fort. »Mein Bruder hat endlich seinen Bitten nachgegeben und ihm ein selbständiges Kommando anvertraut. Er steht mit seiner Schar nur zwei Stunden von der Grenze entfernt – und die Mutter und die Braut dürfen ihn nicht auf eine einzige Minute sehen.«

»Um Gottes willen, bringe Leo nicht auf solche Gedanken!« fiel Wanda ein. »Er wäre im Stande, das Unsinnigste, Tollkühnste zu begehen, um ein Wiedersehen möglich zu machen.«

»Das wird er nicht,« versetzte die Fürstin ernst. »Er hat den strengen Befehl, nicht von seinem Posten zu weichen, und also bleibt er. Aber was schreibt er dir denn eigentlich? Der Brief an mich ist sehr kurz und flüchtig; der deinige scheint desto mehr zu enthalten.«

»Er enthält sehr wenig,« erklärte die junge Gräfin mit sichtbarem Unmute. »Kaum das Notwendigste von dem, was uns, die wir unthätig auf die Entscheidung harren müssen, das Wichtigste ist. Leo zieht es vor, mir seitenlang über seine Liebe zu schreiben, und findet mitten im Toben des Krieges noch Zeit genug, sich und mich mit seiner Eifersucht zu quälen.«

»Ein seltsamer Vorwurf in dem Munde einer Braut!« bemerkte die Fürstin mit leisem Spott, »Eine andre würde stolz und glücklich sein, wenn sie selbst in solchen Zeiten noch alle Gedanken ihres Verlobten beherrschte.«

»Es handelt sich um einen Kampf auf Leben und Tod, und da verlange ich Thaten vom Manne – nicht Liebesschwüre,« sagte Wanda energisch.

Die Stirn der Fürstin runzelte sich. »Er wird es an Thaten nicht fehlen lassen jetzt, wo ihm endlich die Gelegenheit dazu geboten wird – oder meinst du, daß dazu notwendig die Kälte und Schweigsamkeit gehört?«

Wanda erhob sich und trat an das Fenster; sie wußte, wohin die Worte zielten, aber sie konnte und wollte nicht fortwährend jenen durchdringenden Augen Rede stehen, die stets mit so unerbittlichem Forschen auf ihrem Antlitz ruhten, als wollten sie die geheimsten Regungen des Innern an das Licht ziehen. Die Fürstin hielt auch ihrer Nichte gegenüber an dem Grundsatze fest, den sie bei Waldemar beobachtete. Sie hatte sich einmal ausgesprochen, und damit ließ sie es genug sein, Wiederholungen waren in ihren Augen ebenso nutzlos wie gefährlich. Seit jenem Abend, wo sie es für notwendig hielt, der jungen Gräfin »die Augen zu öffnen«, war kein Wort zwischen ihnen über diesen Gegenstand gefallen, aber Wanda wußte nur zu gut, daß sie seitdem eine unermüdliche Beobachterin hatte, daß jedes ihrer Worte, ja jeder ihrer Blicke vor Gericht gestellt wurde, und das raubte ihr oft genug alle Sicherheit im Verkehr mit der Tante.

Diese hatte inzwischen die Briefe ihres Bruders und ihres Sohnes zusammengefaltet. »Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir also in den nächsten Tagen Gefechte unmittelbar an der Grenze zu erwarten,« begann sie wieder. »Was könnte uns dabei Wilicza sein, und was ist es uns jetzt!« Die junge Gräfin wandte sich wieder um und richtete die dunkeln Augen auf die Sprechende. »Wilicza?« wiederholte sie, »Tante, ich begreife ja die Notwendigkeit, die dich dort festhält, aber ich wäre der Aufgabe nicht gewachsen. Ich könnte jedes Opfer bringen, nur das eine nicht, Tag für Tag einem Menschen so gegenüberzustehen, wie du jetzt deinem Sohne.« »Das hält auch so leicht kein andrer aus, als wir beide,« sagte die Fürstin mit bitterer Ironie. »Ich gebe dir das Zeugnis, Wanda, daß du recht hattest mit deinem Urteil über Waldemar. Ich habe mir den Kampf mit ihm leichter gedacht. Anstatt ihn zu ermatten, bin ich jetzt nahe daran, zu weichen. Er ist mir mehr als gewachsen.«

»Er ist dein Sohn,« warf Wanda ein. »Das vergißt du immer wieder.«

Die Fürstin stützte finster den Kopf in die Hand. »Er sorgt schon dafür, daß ich es nicht vergesse, zeigt er mir doch täglich, was diese vier Jahre aus ihm gemacht haben. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß er sich mit einer so unglaublichen Kraft aus der Roheit und Verwilderung seiner Jugend emporarbeiten würde. Er hat sich selbst bezwingen gelernt; darum zwingt er auch alles andre, trotz Haß und Widerstand. Wird es mir doch schon schwer, meinen Befehlen die alte Geltung zu verschaffen, sobald sein Wille sich dagegensetzt, und doch sind die Leute mir unwandelbar ergeben. Aber sie haben ihn fürchten gelernt; er imponiert ihnen mit seiner unbeugsamen Energie, mit seinem Gebietertone. Sie scheuen sein Auge mehr, als sie je das meinige gefürchtet haben, – Ich wollte, Nordeck hätte mir den Knaben gelassen – ich hätte ihn für uns erzogen, und er wäre uns vielleicht mehr geworden, als nur der Herr von Wilicza. Jetzt gehört er einzig dem Volke an, dem sein Vater entstammte, und er wird nicht weichen aus jenen Reihen – darauf kenne ich ihn – zeigte man ihm auch das Höchste auf unsrer Seite. Es war ein Unglück, daß ich ihm nie habe Mutter sein können. Das rächt sich jetzt an uns beiden.«

Es lag etwas von einer Selbstanklage in diesen Worten; sie hatten einen beinahe schmerzlichen Klang. Der Ton war ganz neu in dem Munde der Fürstin, wenn sie von ihrem ältesten Sohne sprach. All die weicheren Regungen, die bei ihr so selten die Oberhand gewannen, galten sonst ausschließlich ihrem Jüngsten. Auch jetzt schien sie diese Regungen gewaltsam von sich zu stoßen, denn sie erhob sich plötzlich und sagte abbrechend mit herbem Ausdruck:

»Gleichviel, wir sind nun einmal Feinde und werden es bleiben. Das muß ertragen werden, wie so vieles andre.«

Sie wurden unterbrochen; ein Diener trat ein mit der Meldung, der Haushofmeister von Wilicza sei soeben angelangt und begehre dringend seine Herrin zu sprechen. Die Fürstin sah auf.

»Pawlick? Dann ist etwas vorgefallen. Er soll eintreten, sogleich.« Schon in der nächsten Minute trat Pawlick ein, der Diener des verstorbenen Fürsten Baratowski, der die fürstliche Familie in die Verbannung begleitet hatte, und jetzt den Posten eines Haushofmeisters in Wilicza versah. Der alte Mann schien erregt und eilig zu sein; dennoch versäumte er keine der gewöhnlichen Ehrfurchtsbezeigungen, als er sich seiner Gebieterin näherte.

»Laß nur, laß!« wehrte diese ungeduldig ab. »Was bringst du? Was ist vorgefallen in Wilicza?«

»In Wilicza selbst nichts,« berichtete Pawlick. »Aber auf der Grenzförsterei –«

»Nun?«

»Es hat dort wieder Plänkeleien mit dem Militär gegeben, wie schon öfter in der letzten Zeit. Der Förster und seine Leute haben den Patrouillen alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt, sie schließlich insultiert – es wäre beinahe zum offenen Kampf gekommen,«

Ein Ausruf des heftigsten Unwillens entfuhr den Lippen der Fürstin. »Daß der Unverstand dieser Untergebenen doch immer und ewig unsre Pläne durchkreuzen muß! Gerade jetzt, wo alles daran liegt, die Aufmerksamkeit von der Försterei abzuwenden, fordern sie die Beobachtung förmlich heraus. Habe ich Osiecki nicht befohlen, sich ruhig zu verhalten und auch seine Leute im Zaume zu halten? Es soll sofort ein Bote hinüber und ihm den Befehl nochmals mit aller Strenge einschärfen.«

Wanda war gleichfalls näher getreten. Die Grenzförsterei, die allgemein so genannt wurde, weil sie die letzte auf den Nordeckschen Gütern war und kaum eine halbe Stunde von der Grenze entfernt lag, schien auch sie lebhaft zu interessieren.

»Herr Nordeck ist uns leider schon zuvorgekommen,« fuhr Pawlick zögernd fort, »Er hat den Förster schon zweimal warnen und ihm Strafe androhen lassen; auf diesen neuen Vorfall hin schickte er ihm die Weisung, mit seinem ganzen Personal das Forsthaus zu räumen und nach dem von Wilicza überzusiedeln. Vorläufig soll einer der deutschen Inspektoren des Administrators an die Grenze, bis erst Ersatz geschafft ist –«

»Und was that Osiecki?« unterbrach ihn die Fürstin hastig.

»Er weigerte sich geradezu zu gehorchen und ließ dem Herrn sagen, er sei auf der Grenzförsterei angestellt, und da werde er bleiben – wer ihn daraus vertreiben wolle, der möge es versuchen.«

Die Tragweite des eben berichteten Vorfalls mußte wohl größer sein, als es den Anschein hatte. Das verriet das Gesicht der Fürstin, in dem sich ein unverkennbarer Schrecken ausprägte. Es vergingen einige Sekunden, bevor sie antwortete.

»Und was hat mein Sohn beschlossen?«

»Herr Nordeck erklärte, er werde heute nachmittag selbst hinüberreiten.«

»Allein?« fiel Wanda ein.

Pamlick zuckte die Achseln. »Der Herr reitet ja stets allein.«

Die Fürstin schien die letzten Worte kaum zu hören – sie fuhr aus ihrem Nachsinnen empor.

»Sorge dafür, Pawlick, daß man sofort anspannt! Du begleitest mich nach Wilicza zurück. Ich muß zur Stelle sein, wenn sich da irgend etwas vorbereitet. Geh!«

Pawlick gehorchte. Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als auch schon Gräfin Morynska an der Seite ihrer Tante stand.

»Hast du es gehört, Tante? Er will nach der Grenzförsterei.«

»Nun ja,« erwiderte die Fürstin kalt. »Was weiter?«

»Was weiter? Meinst du, daß Osiecki sich fügen wird?«

»Nein! Er darf es auch unter keiner Bedingung. Seine Försterei ist augenblicklich das Wichtigste für uns, doppelt wichtig für das, was in den nächsten Tagen bevorsteht. Wir müssen dort zuverlässige Leute haben. Die Unsinnigen, uns gerade jetzt diesen Posten zu gefährden!«

»Sie haben ihn uns verloren!« rief Wanda heftig. »Waldemar wird sich den Gehorsam erzwingen.«

»Das wird er in diesem einen Falle wohl nicht thun,« versetzte die Fürstin, »Er vermeidet jeden Gewaltakt. Ich weiß, daß der Präsident ihn eigens darum gebeten und daß er sein Versprechen gegeben hat. Man fürchtet in L. nichts so sehr als eine Revolte auf diesseitigem Gebiet. Osiecki aber wird und darf nur der Gewalt weichen, und dazu schreitet Waldemar nicht. Du hörst es ja, er will allein hinüber.«

»Was du doch nicht zugeben wirst?« fiel die junge Gräfin ein, »Du willst doch nach Wilicza, um ihn zu warnen, ihn zurückzuhalten?«

Die Fürstin sah ihre Nichte groß an, »Was fällt dir ein? Eine Warnung aus meinem Munde würde Waldemar ja alles verraten und ihm sofort die Ueberzeugung geben, daß man auf der Försterei mir gehorcht und nicht ihm. Er würde dann unerbittlich auf der Entfernung Osieckis bestehen, die jetzt vielleicht noch zu verhindern ist und die überhaupt verhindert werden muß, koste es, was es wolle.«

»Und du glaubst, dein Sohn werde es dulden, daß man ihm offen den Gehorsam verweigert? Es ist das erste Mal, daß dergleichen in Wilicza geschieht. Tante, du weißt es, dieser wilde Mensch, dieser Osiecki ist zu allem fähig, und seine Leute sind nicht besser als er.«

»Auch Waldemar weiß das,« versetzte die Fürstin mit vollkommener Ruhe, »und deshalb wird er sich hüten, sie zu reizen. Er hat die Besonnenheit ja jetzt so trefflich gelernt; er läßt sich nie mehr fortreißen, wo er sich wirklich beherrschen will, und seinen Untergebenen gegenüber will er das immer.«

»Sie hassen ihn,« sagte Wand« mit bebenden Lippen. »Auf dem Wege nach der Grenzförsterei hat ihn schon einmal eine Kugel gefehlt. Die zweite könnte besser treffen.«

Die Fürstin stutzte. »Woher weißt du das?«

»Einer von unsern Leuten brachte es von Wilicza mit herüber,« entgegnete Wanda schnell gefaßt.

»Ein Märchen!« meinte die Fürstin verächtlich, »Wahrscheinlich von dem ängstlichen Doktor Fabian erfunden. Er wird einen harmlosen Schuß im Walde, der irgend einem Wilde galt, für einen Mordanfall auf seinen geliebten Zögling gehalten haben. Er zittert ja fortwährend für ihn. Waldemar ist mein Sohn, und das schützt ihn vor jedem Angriff.«

»Wenn die Leidenschaften erst einmal gereizt sind, schützt es ihn nicht mehr,« rief Wanda, die sich wieder unvorsichtig genug fortreißen ließ, »Du hattest dem Förster auch befohlen, sich ruhig zu verhalten. Du siehst, wie das befolgt wird.«

Die Fürstin richtete das Auge drohend auf ihre Nichte.

»Wäre es nicht besser, du spartest diese übertriebene Sorge für die Unsrigen auf? Ich dächte, da wäre sie eher am Platze. Du scheinst ganz zu vergessen, daß Leo sich täglich solchen Gefahren aussetzt.«

»Und wenn wir das wüßten, und es läge in unsrer Macht, ihn zu retten, wir würden nicht einen Augenblick zögern, an seine Seite zu eilen,« brach die junge Gräfin leidenschaftlich aus. »Und Leo ist, wo er auch sein mag, immer an der Spitze der Seinigen. Waldemar steht allein gegen jene wilde zügellose Bande, die du selbst zum Haß gegen ihn gereizt hast und die sich nicht bedenken wird, die Waffen gegen ihren eigenen Herrn zu kehren, wenn er sie herausfordert.«

»Ganz recht, wenn er sie herausfordert. Er wird aber vernünftig genug sein, das nicht zu thun, denn er kennt die Gefahr, und in Zeiten wie die jetzigen spielt man nicht damit. Thut er es dennoch, wagt er trotz alledem einen Gewaltstreich, nun gut – auf sein Haupt die Folgen!«

Wanda bebte leise zusammen vor dem Blicke, der diese Worte begleitete. »Das sagt eine Mutter?«

»Das sagt eine tiefbeleidigte Mutter, die der Sohn aufs Aeußerste getrieben hat. Zwischen Waldemar und mir gibt es nun einmal keinen Frieden, solange wir beide auf dem gleichen Boden stehen. Wo ich nur den Fuß hinsetze, da finde ich ihn auf meinem Wege; wo ich einzugreifen versuche, da steht er und wehrt mir. Welche Pläne hat er uns schon durchkreuzt! Was haben wir schon opfern und aufgeben müssen um seinetwillen! Er hat es dahin gebracht, daß wir uns gegenüberstehen wie zwei Todfeinde, er allein – so mag er allein tragen, was diese Feindschaft auf ihn herabzieht.«

Ihre Stimme hatte einen eisigen Klang. Es war auch nicht ein Hauch mehr von Muttergefühl darin, von jener Weichheit, die sich vorhin einen Moment lang geregt hatte. Jetzt sprach nur die Fürstin Baratowska, die nie eine Beleidigung verzieh oder vergaß und die man nicht tödlicher beleidigen konnte, als wenn man ihr die Herrschaft aus den Händen wand. Waldemar hatte sich dessen schuldig gemacht, und ihm vergab das die Mutter am wenigsten.

Sie war im Begriff zu gehen, um sich für die Abreise fertig zu machen, als ihr Blick auf Wanda fiel. Diese hatte keine einzige Silbe geantwortet. Sie stand regungslos da, aber ihr Auge begegnete mit so düsterer Entschlossenheit dem der Fürstin, daß die letztere inne hielt.

»Eins möchte ich dir doch noch ins Gedächtnis rufen, ehe ich gehe,« sagte sie, und ihre Hand legte sich schwer auf den Arm ihrer Nichte. »Wenn ich Waldemar nicht warne, so darf es überhaupt niemand thun – es wäre g´ Verrat an unsrer Sache. Was schrickst du so zusammen vor dem Worte? Wie würdest du es denn nennen, wenn dem Herrn von Wilicza schriftlich oder mündlich durch die dritte oder vierte Hand eine Nachricht zukäme, die ihm unsre Geheimnisse preisgibt! Er würde vielleicht mit Bedeckung gehen, gehen aber würde er jedenfalls, um vor allen Dingen zu untersuchen, was die Warnung sagen will, sein eigenes Forsthaus nicht zu betreten, mit seinem Förster nicht zu sprechen, den er jetzt wegen eines Konfliktes mit den Patrouillen zur Rede stellen will. Das würde uns die Grenzförsterei kosten. Wanda, die Morynski haben es bisher noch nie zu bereuen gehabt, wenn sie die Frauen ihres Hauses zu Vertrauten ihrer Plane machten. Noch hat sich keine Verräterin unter diesen gefunden.«

»Tante!« rief Wanda mit einem solchen Tone des Entsetzens, daß die Fürstin langsam ihre Hand von ihrem Arm zurückzog.

»Ich wollte dir nur klar machen, was hier auf dem Spiele steht,« fuhr sie fort. »Ich denke, du wirst doch deinem Vater ins Auge sehen wollen, wenn er zurückkehrt. Wie du Leos Blick standhalten willst mit dieser Todesangst, die dich jetzt verzehrt, und die du vergebens zu verbergen suchst, das mußt du mit ihm selber abmachen. Aber,« – hier brach die furchtbare innere Bewegung der stolzen Frau durch die erzwungene Kälte – »aber hätte ich je geahnt, daß meinem Sohne dieser Schlag droht, daß er ihm von Waldemar droht, ich hätte Leos unselige Liebe zu dir aus allen Kräften bekämpft, statt sie zu begünstigen. Jetzt ist es zu spät für ihn – und auch für dich; das hat mir diese Stunde gezeigt.« –

Die Antwort blieb der jungen Gräfin erspart, denn jetzt kam Pawlick mit der Nachricht zurück, daß angespannt sei. Die Fürstin bedurfte nicht viel Zeit zu den Vorbereitungen. In zehn Minuten war sie reisefertig und bestieg den harrenden Schlitten. Der Abschied von ihrer Nichte war kurz und flüchtig; er fand in Gegenwart der Diener statt, und das vorhergehende Gespräch wurde nicht wieder berührt, aber Wanda verstand den Abschiedsblick, der dem ihrigen begegnete. Sie legte schweigend ihre feuchte, eiskalte Hand in die ihrer Tante, und die Fürstin schien zufrieden mit dem wortlosen Versprechen.

Gräfin Morynska war in das Zimmer zurückgekehrt. Sie hatte sich eingeschlossen, um einmal wieder frei aufzuatmen, aber es atmete sich nicht leicht mit dieser Bergeslast auf der Brust. Sie war endlich allein mit sich selber, aber auch mit ihrer Angst, die ihr ahnungsvoll die Gefahr zeigte, an welche die Mutter nicht glauben wollte. Freilich, der Instinkt der Liebe gehörte dazu, und den hatte die Fürstin für ihren ältesten Sohn nie gehabt; der regte sich nur, wenn es sich um Leo handelte. Und hätte sie gewußt, daß jener Gang Waldemars Leben bedrohte, sie hätte ihn auch nicht mit einem Worte davon zurückgehalten, denn dieses Wort konnte ja ihre Parteiinteressen gefährden.

Wanda stand am Schreibtisch, auf dem noch die Briefe ihres Vaters und Leos lagen. Eine kurze Warnung, nur ein paar Zeilen, auf das Papier geworfen und nach Wilicza gesendet, konnten alles abwenden. Waldemar würde der Warnung folgen. Gleichviel, ob er es erriet oder nicht, von wem sie kam, er hatte ja versprochen, vorsichtiger zu sein und kannte die Stimmung auf seinen Gütern. Wenn er überhaupt noch ging, nahm er wenigstens hinreichende Begleitung mit sich, und dann wagte man sich nicht an ihn. Es konnte ihm ja nicht schwer werden, den Gehorsam zu erzwingen, sobald er sich nur entschloß, die Gewalt zu Hilfe zu rufen. Was da auf dem Gebiete der Grenzförsterei vorgegangen war, das streifte nahe an Rebellion, Es kostete dem Gutsherrn nur ein Wort, den Förster verhaften und das Forsthaus militärisch besetzen zu lassen, dann hatte er Ruhe.

»Und dann – ?« Die Fürstin hatte es klar genug überschaut und ausgesprochen, was hierauf folgte. Sie hatte dafür gesorgt, daß ihre Nichte über dieses »Und dann« nicht hinauskam. Wanda war hinlänglich in die Pläne der Ihrigen eingeweiht, um zu wissen, daß die Grenzförsterei jetzt die Rolle spielte, die man früher dem Schlosse zugedacht. Alles, was Waldemar hier so streng verbannt hatte, geschah jetzt dort drüben, nur mit größerer Vorsicht und in größerer Heimlichkeit. Dort lagerte noch ein Teil des Waffenvorrates; dort war die Verbindung, der Mittelpunkt für alle Nachrichten und Botschaften, und ebendeshalb lag so viel an dem Bleiben des dortigen Försters, auf dessen Treue und Verschwiegenheit man unbedingt rechnen konnte. Seine Entfernung war gleichbedeutend mit dem Verluste des ganzen Postens. Das wußte er so gut wie seine Herrin, und deshalb waren sie entschlossen, es auf das Aeußerste ankommen zu lassen.

Nordeck selbst kam nur selten nach dem einsamen abgelegenen Forsthause. Er hatte zu viel mit Wilicza zu thun, um jenem eine besondere Aufmerksamkeit widmen zu können. Auch jetzt wollte er offenbar nur hinüber, um durch sein persönliches Erscheinen einen Widerstand zu brechen, wie er ihm öfter entgegentrat, und dem er keine besondere Wichtigkeit beilegte. Entdeckte er aber, daß man auf der Försterei seinen Befehlen offen Hohn sprach, daß hier gerade der Widerstand gegen ihn organisiert wurde, so ging er schonungslos vor und entriß seiner Mutter auch diesen letzten Posten, wo sie Fuß gefaßt hatte, und die Entdeckung konnte nicht ausbleiben, sobald man ihm verriet, daß ihm von dorther eine Gefahr drohe.

Das alles stand mit unerbittlicher Klarheit vor der Seele Wandas, aber ebenso klar stand dort auch die Gefahr Waldemars. Sie hatte die unumstößliche Ueberzeugung, daß jene Kugel, die ihn kürzlich bedrohte, aus der Büchse des Försters gekommen war, daß der Mann, dessen fanatischer Haß sich bis zum Meuchelmord verstieg, sich auch nicht bedenken werde, seinen Herrn niederzuschlagen, wenn dieser allein vor ihm stand, und sie mußte den Bedrohten gehen lassen. Verrat! Vor diesem furchtbaren Worte sank all ihre Willenskraft machtlos zusammen. Sie war von jeher die Vertraute ihres Vaters gewesen; er baute unbedingt auf seine Tochter und hätte mit Entrüstung den Gedanken von sich gewiesen, daß sie auch nur ein Wort von seinen Geheimnissen preisgeben könne, preisgeben, um einen Feind zu retten. Sie selbst hatte Leo mit ihrer Verachtung gedroht, als er in einer Aufwallung der Eifersucht zögerte, seiner Pflicht zu folgen; jetzt befahl ihr diese Pflicht, die ihn nur von der Seite der Geliebten in den Kampf riß, das Schwerste, schweigend und unthätig zuzusehen, wie die Gefahr hereinbrach, die sie mit einem Federzug abwenden konnte, und diesen Federzug nicht zu thun.

All diese Gedanken stürmten in wildem Wechsel auf die junge Gräfin ein, die ihnen fast zu erliegen drohte. Sie suchte vergebens nach einem Ausweg, einer Rettung. Immer wieder stand dieses furchtbare »Entweder – oder« vor ihr. Wenn sie wirklich noch nicht gewußt hätte, wie es in ihrem Innern aussah, diese Stunde würde es ihr enthüllt haben. Seit Monaten wußte sie Leo in der Gefahr und hatte um ihn gebangt, wie um einen teuren Verwandten, wohl mit Angst, aber doch mit der gleichen Fassung und dem gleichen Heldenmut, wie die Mutter, jetzt aber galt es Waldemar, und jetzt war es vorbei mit der Fassung und dem Heldenmut – sie flohen vor der Todesangst, die Wanda bei dem Gedanken an seine Gefahr durchschauerte.

Aber es gibt einen Punkt, wo auch das wildeste, qualvollste Leiden der Betäubung weicht, auf Augenblicke wenigstens, weil die Kraft zum Leiden völlig erschöpft ist. Mehr als eine Stunde war vergangen, seit Wanda sich eingeschlossen hatte, und ihr Antlitz gab Zeugnis davon, was sie in dieser Stunde durchlebt hatte. Jetzt trat auch für sie einer jener Momente ein, wo sie nicht mehr kämpfen und verzweifeln, wo sie nicht einmal mehr denken konnte. Wie todesmatt warf sie sich in einen Sessel, lehnte das Haupt zurück und schloß die Augen.

Da tauchte leise wieder das alte Traumbild auf, das sich einst aus Sonnenglanz und Meeresrauschen gewoben und mit seinem Zauber die beiden jugendlichen Herzen umsponnen hatte, die damals noch nicht ahnten, was es ihnen bedeutete. Seit jenem Herbstabend am Waldsee war es so oft wieder emporgestiegen und wollte sich mit aller Willenskraft nicht bannen und nicht verscheuchen lassen. War es doch auch vorgestern mit den beiden gewesen auf der einsamen Fahrt durch die winterliche Landschaft. Es flog mit ihnen über das weite Schneegefilde; es dämmerte aus dem Nebel der Ferne und schwebte in dem düstern Wolkenzuge, der sich so tief herabsenkte – keine Oede, kein Eishauch hinderte sein Erscheinen. Auch jetzt stand es urplötzlich wieder da, wie von Geisterhand hervorgerufen, mit seinem goldig verklärenden Schein. Und doch hatte Wanda mit der ganzen Leidenschaft und Energie ihres Charakters dagegen gekämpft. Sie hatte Trennung und Entfernung zwischen sich und den Mann gestellt, den sie hassen wollte, weil er nicht der Freund ihres Volkes war, hatte in dem jetzt wieder so wild aufflammenden Streit der beiden feindlichen Nationen ihre Rettung gesucht – was nützte all das verzweiflungsvolle Kämpfen, der Sieg war ja doch nicht errungen worden. Jetzt galt es keinen Traum und keine Selbsttäuschung mehr. Sie wußte jetzt, welch ein Zauber es gewesen war, der sie damals auf dem Buchenholm umfangen, dessen halb zerrissene Fäden jene Stunde am Waldsee aufs neue und diesmal unzerreißbar geknüpft hatte – sie kannte endlich die Schätze, welche ihr die alte Wunderstadt gezeigt, nur auf flüchtige Minuten, um sie dann wieder mit sich hinabzunehmen in die Tiefe. Nur in einem hatte die Sage wahr gesprochen: die Erinnerung wollte nicht verlöschen, das Sehnen nicht schweigen, und mitten hinein in Haß und Streit, in Kampf und Widerstand klang es süß und geheimnisvoll wie der Glockenklang Vinetas aus dem Meeresgrund. – – –

Wanda erhob sich langsam. Der furchtbare Widerstreit in ihrem Innern, der Kampf zwischen Pflicht und Liebe war zu Ende. Die letzten Minuten hatten ihn entschieden. Sie eilte nicht zum Schreibtisch, und die Feder blieb unberührt. Es galt keine Nachricht und keine Warnung mehr, sie schob nur den Riegel von der Thür zurück, und in der nächsten Minute rief der helle, scharfe Laut der Klingel den Diener herbei. Gräfin Morynska stützte sich auf den Tisch, an dem sie stand – ihre Hand zitterte, aber ihr Antlitz trug die Ruhe eines unabänderlichen Entschlusses.

»Und wenn es wirklich zum Aeußersten kommt, so werfe ich mich dazwischen,« sagte sie mit zuckenden Lippen. »Seine Mutter läßt ihn kalt und gleichgültig der Gefahr entgegengehen – ich werde ihn retten.« –

Die Grenzförsterei lag, wie schon erwähnt, nur eine halbe Stunde von der Grenze entfernt, mitten in den dichtesten Waldungen Wiliczas. Das ziemlich große und stattliche Forsthaus war von dem verstorbenen Nordeck erbaut worden, der es mit nicht unbedeutenden Kosten hatte aufführen lassen; trotzdem sah es wüst und verfallen aus, denn seit zwanzig Jahren war nicht das geringste zu seiner Erhaltung geschehen, weder von seiten der Herrschaft noch von seiten der Bewohner. Der jetzige Förster verdankte seine Stellung ausschließlich dem Einfluß der Fürstin Baratowska, die den Tod seines Vorgängers benutzt hatte, um einen ihrer Günstlinge in den Posten einzuschieben, Osiecki hatte ihn schon seit drei Jahren inne, und seine nur allzu häufigen Uebergriffe, wie seine ziemlich nachlässige Verwaltung der ihm anvertrauten Stellung, wurden von der Gebieterin vollständig übersehen, weil diese wußte, daß der Förster ihr persönlich mit Leib und Seele ergeben war, und daß sie unter allen Umständen auf ihn rechnen konnte. Im Anfang war Osiecki mit seinem Herrn wenig in Berührung gekommen und hatte sich im ganzen dessen Anordnungen gefügt. Waldemar selbst kam nur äußerst selten nach der einsamen und abgelegenen Grenzförsterei; erst seit den letzten Wochen hatten die wiederholten Streitigkeiten zwischen den Forstleuten und dem an der Grenze stationierten Militär sein Einschreiten veranlaßt.

Man befand sich noch immer wie mitten im Winter. Der Wald und das Forsthaus lagen tief verschneit im trüben Licht eines grauen verschleierten Himmels. In dem großen Zimmer des Erdgeschosses befand sich der Förster mit all seinen Leuten, drei oder vier Forstgehilfen und einigen Knechten. Sie hatten sämtlich die Flinten über die Schulter geworfen und warteten augenscheinlich auf das Erscheinen ihres Gutsherrn, aber nach Gehorsam und einem friedlichen Verlassen der Försterei, wie Waldemar es anbefohlen, sah die Sache nicht aus. Die finstern trotzigen Gesichter der Leute verhießen nichts Gutes, und das Aussehen des Försters rechtfertigte vollends die Voraussetzung, daß er »zu allem fähig sei«. Diese Menschen, die tagaus tagein in der Einsamkeit ihrer Wälder lebten, nahmen es schwerlich genau mit dem, was Gesetz und Ordnung von ihnen verlangten, und Osiecki zumal war dafür bekannt, daß er seiner Willkür einen nur allzu weiten Spielraum ließ.

Trotzdem war die Haltung aller für den Augenblick eine ehrerbietige, denn vor ihnen stand die junge Gräfin Morynska. Sie hatte den Mantel zurückgeworfen, das schöne blasse Antlitz verriet nichts mehr von den Kämpfen und Qualen, die es noch vor wenig Stunden durchwühlt hatten, nur ein strenger, kalter Ernst lag jetzt darauf. »Ihr habt uns in eine schlimme Lage gebracht, Osiecki,« sagte sie. »Ihr solltet dafür sorgen, daß die Försterei möglichst unverdächtig und unbeachtet bliebe. Statt dessen sucht Ihr Streit mit den Patrouillen und gefährdet uns alle durch Eure Unbesonnenheit. Die Fürstin ist sehr unzufrieden mit Euch; ich komme in ihrem Namen, um Euch nochmals und mit vollstem Nachdruck jeden Gewaltschritt zu verbieten, sei es gegen wen es sei. Für den Augenblick habt Ihr Euch zu fügen. Euer eigenmächtiges Vorgehen hat schon Unheil genug angerichtet.«

Der Vorwurf machte offenbar Eindruck auf den Förster. Er sah zu Boden, und in seiner Stimme klang etwas wie Entschuldigung, als er mit einem Gemisch von Trotz und Reue antwortete:

»Es ist nun einmal geschehen. Ich habe meine Leute diesmal nicht halten können und mich selber auch nicht. Die Frau Fürstin und die gnädige Gräfin sollten nur wissen, wie es thut, hier Tag für Tag an der Grenze still zu liegen, während drüben gekämpft wird, die Soldatenwirtschaft mit anzusehen und sich nicht rühren zu dürfen, obgleich man die geladene Büchse in der Hand hat. Da reißt schließlich jedem die Geduld, und uns ist sie vorgestern gerissen. Wüßte ich nicht, daß wir hier notwendig sind, wir wären allesamt längst drüben bei den Unsrigen. Fürst Baratowski steht nur zwei Stunden von der Grenze; der Weg zu ihm ist nicht schwer zu finden.«

»Ihr bleibt!« entgegnete Wanda mit Entschiedenheit. »Ihr kennt den Befehl meines Vaters. Er will die Försterei unter allen Umständen behauptet wissen, und dazu seid Ihr uns notwendiger hier, als drüben im Kampf. Fürst Baratowski hat Leute genug zu seiner Verfügung. Aber jetzt zu der Hauptsache – Herr Nordeck kommt noch heute.«

»Jawohl!« sagte der Förster höhnisch, »Er will sich selbst Gehorsam schaffen, hat er gesagt. Wir sollen ja nach Wilicza hinüber, wo er uns fortwährend unter Augen hat, wo wir uns nicht rühren können, ohne daß er hinter uns steht und uns auf die Finger sieht – ja, befehlen kann der Nordeck viel, es ist nur die Frage, ob sich in jetziger Zeit noch einer findet, der ihm gehorcht. Er soll nur gleich ein ganzes Regiment Soldaten mitbringen, wenn er uns aus der Försterei treiben will, sonst möchte die Sache schlimm genug ablaufen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte die junge Gräfin langsam. »Vergeßt Ihr, daß Waldemar Nordeck der Sohn Eurer Herrin ist?«

»Fürst Baratowski ist ihr Sohn und unser Herr,« brach der Förster los. »Und eine Schande ist's, daß sie und wir alle diesem Deutschen gehorchen müssen, weil sein Vater sich vor zwanzig Jahren hier eingedrängt hat und mit den Morynskischen Gütern auch gleich eine Gräfin Morynska an sich riß. Es war schon Elend genug, daß sie jahrelang mit diesem Nordeck aushalten mußte, und der Sohn gibt ihr jetzt noch Schlimmeres zu kosten, wir wissen's ja hinreichend, wie sie mit ihm steht. Wenn sie den auch noch verlöre, sie würde sich wahrhaftig nicht mehr um ihn grämen, als um seinen Vater, und das wäre überhaupt das beste für die ganze Herrschaft. Dann brauchten die Befehle vom Schloß nicht mehr heimlich zu kommen, dann regierte die Fürstin, und unser junger Fürst wäre der Erbe und Herr von Wilicza, wie es sich von Rechts wegen gehört.« Wanda erbleichte; also so weit hatte es das unglückselige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn schon gebracht, daß die Untergebenen kaltblütig erwogen, welche Vorteile der Tod Waldemars seinen nächsten Anverwandten bringen würde, daß sie für den äußersten Fall auf die Verzeihung der Fürstin rechneten. Hier galt es mehr zu verhindern, als nur einen Ausbruch augenblicklicher Wut und Gereiztheit. Wanda sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, aber sie wußte, daß kein Wort, keine Miene ihre innere Angst verraten durfte. Man respektierte sie hier nur als die Tochter des Grafen Morynski, als Nichte der Fürstin, und glaubte unbedingt, daß sie im Namen der letzteren spreche; erriet man, was sie hierher geführt, so war es zu Ende mit ihrer Macht und der Möglichkeit, Waldemar zu schützen.

»Wagt es nicht, Euren Herrn anzugreifen!« sagte sie gebietend, aber so ruhig, als vollziehe sie wirklich nur einen ihr gewordenen Auftrag. »Was auch geschehen mag, die Fürstin will ihren Sohn geschont und gesichert wissen um jeden Preis. Wehe dem, der sich an ihm vergreift! Er hat das Schlimmste zu gewärtigen. Ihr werdet gehorchen, Osiecki, unbedingt gehorchen; die Herrin erwartet es von Euch. Ihr habt sie schon einmal erzürnt mit Eurem Ungehorsam – versucht es nicht zum zweitenmal!«

Der Förster stieß widerwillig sein Gewehr auf den Boden, und unter den übrigen, die bisher schweigend der Unterredung zugehört hatten, gab sich eine unruhige Bewegung kund. Dennoch wagte keiner zu widersprechen oder auch nur zu murren, es galt ja dem Befehl der Fürstin, die man hier als alleinige Autorität anerkannte, und Wanda hätte jedenfalls ihren Zweck erreicht, wäre es ihr nur vergönnt gewesen, länger auf die Leute einzuwirken. Aber in welcher Eile sie auch gekommen war, sie hatte nur einen Vorsprung von Minuten vor Waldemar gehabt. Soeben fuhr sein Schlitten draußen vor. Aller Blicke richteten sich nach dem Fenster – die junge Gräfin schreckte auf:

»Schon jetzt? Oeffnet mir schnell die Seitenthür, Osiecki! Ihr verratet mit keiner Silbe meine Anwesenheit! Ich gehe, sobald Herr Nordeck sich entfernt hat.«

Der Förster gehorchte in möglichster Eile. Er wußte, daß die Gräfin Morynska auf keinen Fall hier von dem Gutsherrn gesehen werden durfte, sollte nicht alles verraten werden. Wanda trat rasch in einen kleinen halbdunkeln Nebenraum, und unmittelbar hinter ihr schloß sich die Thür wieder. Es war die höchste Zeit gewesen – zwei Minuten später erschien Waldemar im Zimmer. Er blieb auf der Schwelle stehen und überflog mit einem langen, festen Blick den Kreis der Forstleute, die sich um ihren Förster geschart und die Büchsen in die Hand genommen hatten. Der Anblick war nicht sehr ermutigend für den jungen Gutsherrn, der allein kam, ohne jede Begleitung, um seine widerspenstigen Untergebenen zum Gehorsam zu bringen, aber seine Miene blieb völlig unbewegt, und genau ebenso klang seine Stimme, als er sich an den Förster wandte:

»Ich habe Euch meine Ankunft nicht ansagen lassen, Osiecki. Ihr scheint trotzdem darauf vorbereitet zu sein.«

»Jawohl, Herr Nordeck,« lautete die lakonische Antwort. »Wir warten auf Sie.«

»Bewaffnet? Und in dieser Haltung? Was sollen die Büchsen in Euren Händen? Setzt sie nieder!«

Die Mahnung der Gräfin Morynska mußte doch wohl gefruchtet haben, denn man gehorchte. Der Förster war der erste, der seine Büchse beiseite stellte, allerdings nicht weiter, als daß er sie mit der Hand erreichen konnte, und die übrigen folgten seinem Beispiel. Waldemar trat jetzt in die Mitte des Zimmers.

»Ich komme, Osiecki, um von Euch Aufschluß über einen Irrtum zu verlangen, der gestern vorgefallen ist,« begann er wieder. »Mein Befehl konnte nicht mißverstanden werden. Ich sandte ihn Euch schriftlich, der Bote dagegen muß Eure Antwort nicht verstanden haben. Was habt Ihr ihm eigentlich aufgetragen, mir zu melden?«

Das hieß nun freilich gerade auf das Ziel losgehen. Die kurze bestimmte Frage ließ kein Ausweichen zu; sie forderte eine ebenso bestimmte Antwort. Dennoch zögerte der Förster damit – er hatte doch wohl nicht den Mut, das, was er gestern dem Boten aufgetragen, seinem Herrn ins Antlitz zu wiederholen.

»Ich bin der Grenzförster,« sagte er endlich, »und meine, daß ich das bleiben werde, solange ich überhaupt in Ihren Diensten bin, Herr Nordeck. Ich habe einzustehen für meine Försterei, und also muß ich auch allein das Regiment hier führen und kein andrer.«

»Ihr habt aber gezeigt, daß Ihr nicht mehr fähig seid, das Regiment zu führen,« entgegnete Waldemar ernst. »Entweder Ihr könnt oder Ihr wollt Eure Leute nicht im Zaume halten. Ich habe Euch wiederholt gewarnt, als die beiden ersten Excesse vorfielen; der vorgestrige war der dritte, und es wird auch der letzte sein.«

»Ich kann meine Leute nicht halten, wenn sie in einer Zeit wie die jetzige mit den Patrouillen zusammen geraten,« erklärte der Förster mit aufflammendem Trotz. »Ich habe da auch keine Macht mehr.«

»Ebendeshalb sollt Ihr nach Wilicza – da werde ich die nötige Macht herleihen, wenn sie etwa fehlen sollte.«

»Und meine Försterei?«

»Bleibt vorläufig unter der Aufsicht des Inspektors Fellner, bis der neue Förster eintrifft, der ursprünglich für Wilicza bestimmt war. Er wird es sich gefallen lassen müssen, fürs erste Euren Posten hier einzunehmen. Ihr selbst bleibt in der Schloßförsterei, bis drüben im Lande wieder Ruhe ist.«

Osiecki lachte höhnisch auf, »Das kann lange dauern.«

»Vielleicht nicht so lange, wie Ihr glaubt. In jedem Fall habt Ihr die Försterei morgen zu räumen.«

Unter den Forstleuten zeigte sich eine einigermaßen bedenkliche Bewegung bei diesem mit voller Entschiedenheit wiederholten Befehl, und der Förster fuhr zornig auf: »Herr Nordeck.«

»Nun?«

»Ich habe schon gestern erklärt – «

»Ich hoffe, Ihr werdet Euch inzwischen besonnen haben,« unterbrach ihn Waldemar, »und mir heute erklären, daß der Bote Euch nicht verstanden hat, als er mir eine ganz unmögliche Antwort zurückbrachte. Nehmt Euch in acht, Osiecki! Ich dachte, Ihr kennt mich doch jetzt hinreichend.«

»Ja wahrhaftig!« stieß der Förster zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie haben dafür gesorgt, daß man Sie kennt in ganz Wilicza.«

»Dann wißt Ihr also, daß ich mir den Gehorsam nicht verweigern lasse und daß ich einen einmal gegebenen Befehl nicht zurücknehme. Das Forsthaus von Wilicza ist augenblicklich leer – entweder Ihr seid morgen mittag mit Eurem ganzen Personal dort, oder Ihr seid entlassen.«

Jetzt wurde ein drohendes Murren laut. Die Leute drängten sich dichter zusammen; ihre Mienen und ihre Haltung verrieten, daß sie nur noch mit Mühe an sich hielten. Osiecki trat dicht vor seinen Gutsherrn hin.

»Oho, das geht nicht so ohne weiteres,« rief er. »Ich bin kein Lohnarbeiter, den man heute annimmt und morgen entläßt. Sie können mir meine Stellung kündigen, wenn es Ihnen beliebt, bis zum Herbste aber habe ich das Recht, hier zu bleiben, und meine Leute, die ich in Dienst genommen habe, gleichfalls. Mein Revier ist die Grenzförsterei – ein andres will ich nicht, und ein andres nehme ich nicht, und wer mich daraus vertreiben will, dem wird es übel bekommen.«

»Ihr irrt,« versetzte Waldemar. »Die Försterei ist mein Eigentum, und der Förster hat sich meinen Anordnungen zu fügen. Pocht nicht auf ein Recht, dessen Ihr Euch selbst verlustig gemacht habt! Was Eure Leute da vorgestern unter Eurer Anführung anstifteten, verdient von Rechts wegen eine strengere Ahndung, als die bloße Versetzung. Ihr habt die Patrouillen insultiert und zuletzt angegriffen – es ist sogar zu Schüssen gekommen. Wenn man Euch nicht sofort verhaftete, so dankt Ihr das nur meiner Geltung in L. Man weiß dort, daß ich den Willen und nötigenfalls auch die Macht habe, mir hier auf meinen Gütern selbst Ruhe zu schaffen, daß ich nicht gern Fremde zwischen mich und meine Untergebenen treten lasse, man erwartet nun aber auch ein ernstliches Einschreiten von mir, und dieser Erwartung werde ich unverzüglich nachkommen. Ihr fügt Euch sofort dem, was ich beschlossen habe, oder ich biete noch heute dem Kommandanten der Truppen die Försterei als Beobachtungsposten für die Grenze an, und morgen hat das Haus Besatzung.«

Osiecki machte eine heftige Bewegung nach seiner Büchse hin, besann sich aber.

»Das werden Sie nicht thun, Herr Nordeck,« sagte er dumpf.

»Das werde ich thun, sobald noch einmal von Ungehorsam oder Widerstand die Rede ist. Entscheidet Euch, Ihr habt die Wahl! Werdet Ihr morgen in Wilicza sein oder nicht?«

»Nein und zehnmal nein!« schrie Osiecki in furchtbarster Gereiztheit. »Ich habe Befehl, nicht von der Försterei zu weichen – also weiche ich nur der Gewalt.«

Waldemar stutzte. »Befehl? Von wem?«

Der Förster biß sich auf die Lippen, aber das unbedachte Wort war einmal heraus; er konnte es nicht zurücknehmen.

»Von wem erhieltet Ihr den Befehl, der dem meinigen so direkt entgegensteht?« wiederholte der junge Gutsherr. »Von der Fürstin Baratowska vielleicht?«

»Nun, und wenn das wäre?« fragte Osiecki trotzig. »Die Frau Fürstin hat jahrelang uns allen befohlen, warum soll sie es denn jetzt auf einmal nicht thun?«

»Weil der Herr jetzt selbst zur Stelle ist, und es nicht taugt, wenn zwei zugleich das Regiment führen,« sagte Waldemar kalt. »Meine Mutter lebt als Gast in meinem Schlosse, über die Angelegenheiten von Wilicza aber entscheide ich allein. – Also Ihr habt Befehl, die Försterei um jeden Preis zu behaupten und nur der Gewalt zu weichen? Dann scheint es sich doch um mehr zu handeln, als nur um einen Exceß Eurer Leute.«

Der Förster verharrte in finsterm Schweigen. Seine eigene Unbesonnenheit hatte jetzt verschuldet, was die Fürstin ihrer Nichte gegenüber so drohend »Verrat« genannt, was Wanda verhindern wollte, als sie selbst hierher eilte. Das eine übereilte Wort verriet dem Gutsherrn, daß der Widerstand, dem er bisher gar keine besondere Wichtigkeit beigemessen, ein planmäßiger und befohlener war, und er kannte seine Mutter zu gut, um nicht zu wissen, daß, wenn sie Befehl gegeben hatte, die Försterei auf alle Gefahr hin zu halten und es sogar auf die Gewalt ankommen zu lassen, dort all die Fäden zusammenliefen, die sie nach wie vor in der Hand hielt.

»Gleichviel!« nahm er wieder das Wort. »Ueber das Vergangene wollen wir nicht rechten, und von morgen an steht die Grenzförsterei unter andrer Aufsicht. Was wir sonst noch miteinander abzumachen haben, kann in Wilicza geschehen. Auf morgen also!«

Er machte eine Bewegung, als wollte er gehen, aber Osiecki vertrat ihm den Weg. Er hatte sich mit einem raschen Griff wieder seiner Büchse bemächtigt, die er jetzt anscheinend nachlässig, und doch bedeutungsvoll genug, in der Hand hielt.

»Ich denke, wir machen das lieber gleich ab, Herr Nordeck! Ein für allemal: ich gehe nicht von meiner Försterei, weder nach Wilicza noch sonst wohin, aber Sie gehen auch nicht von hier, bis Sie die Versetzung widerrufen haben, nicht einen Schritt.«

Er wollte seinen Leuten einen Wink geben, aber es bedurfte dessen nicht mehr. Wie auf Kommando hatte ein jeder seine Büchse wieder ergriffen, und in einer Minute war der Gutsherr umringt. Es waren lauter finstere, drohende Gesichter, die ihn anstarrten, Gesichter, denen man es ansah, daß diese Menschen nicht vor dem Aeußersten zurückschreckten, und das ganze Manöver wurde so rasch, so planmäßig ausgeführt, daß es notgedrungen vorbereitet sein mußte. Vielleicht bereute es Waldemar in diesem Augenblick doch, allein gekommen zu sein, aber er bewahrte seine volle Kaltblütigkeit.

»Was soll das heißen?« fragte er. »Soll ich das etwa für eine Drohung nehmen?«

»Nehmen Sie es, wofür Sie wollen!« rief der Förster wild, »aber Sie kommen nicht von der Stelle ohne den Widerruf. Jetzt sagen wir ›Entweder – oder‹. Hüten Sie sich! Sie sind auch nicht kugelfest.«

»Habt Ihr das vielleicht schon zu erproben versucht?« Der Blick des jungen Gutsherrn richtete sich durchbohrend auf den Sprechenden. »Aus wessen Büchse kam die Kugel, die mir nachgesandt wurde, als ich das letzte Mal von hier nach Hause ritt?«

Ein Blitz tödlichen Hasses, der aus dem Auge Osieckis sprühte, war die ganze Antwort.

»Ich habe noch eine Kugel hier im Laufe und jeder meiner Leute hat eine –« Er faßte die Waffe fester. »Wenn Sie es probieren wollen – uns ist's recht. Also kurz und gut, Sie geben uns Ihr Wort darauf, daß mir allesamt unbehelligt auf der Försterei bleiben und kein Soldat den Fuß hierher setzt – Ihr Ehrenwort, das pflegt bei Ihresgleichen besser zu halten als alles Schriftliche, oder – «

»Oder?«

»Sie kommen nicht lebendig vom Platze,« schloß der Förster, bebend vor Wut und Aufregung.

Die Drohung fand laute, fast tumultuarische Zustimmung bei den übrigen. Sie drängten näher heran; sechs Flintenläufe, die sich bedeutungsvoll emporhoben, unterstützten die Worte Osieckis, aber umsonst. In dem Gesichte Waldemars zuckte keine Muskel, während er sich langsam im Kreise umsah. Er stand so gelassen in der Mitte seiner rebellischen Untergebenen, als führe er die friedfertigste Unterhaltung mit ihnen, nur seine Stirn zog sich finster zusammen, während er doch in unerschütterlicher und überlegener Ruhe die Arme kreuzte.

»Ihr seid Thoren,« entgegnete er in halb verächtlichem Tone, »und vergeßt vollständig, welche Folgen das auf euch selbst herabziehen würde. Ihr seid verloren, wenn ihr mich anrührt. Die Entdeckung kann nicht ausbleiben.«

»Wenn wir's abwarten,« höhnte der Förster. »Wofür ist die Grenze denn so nahe? In einer halben Stunde sind wir drüben – da ist jetzt Krieg, und da fragt niemand danach, was unsre Kugeln hier angerichtet haben. Wir haben es ohnedies satt, hier ewig still zu liegen und niemals dreinschlagen zu dürfen. Also zum letztenmal – wollen Sie uns Ihr Ehrenwort geben?«

»Nein!« sagte der junge Gutsherr, ohne sich zu rühren oder das Auge von dem Sprechenden abzuwenden.

»Besinnen Sie sich, Herr Nordeck!« – der Grimm erstickte fast die Stimme Osieckis – »besinnen Sie sich schnell, ehe es zu spät ist!«

Mit einigen raschen Schritten trat Waldemar zurück an die Wand, wo er wenigstens im Rücken gedeckt war.

»Nein, sage ich. Und da wir denn doch einmal so weit sind,« – er riß einen Revolver aus der Brusttasche und hielt ihn seinen Angreifern entgegen – »besinnt ihr euch, ehe ihr mir den Kampf bietet. Ein paar von euch mindestens bezahlen den Mordanfall mit dem Leben. Ich treffe so gut wie ihr.«

Das entfesselte nun freilich den so lange zurückgehaltenen Sturm. Es erhob sich ein wilder Tumult – zornige Ausrufe, Flüche und Drohungen wurden laut; mehr als einer legte die Hand an den Drücker, und Osiecki wollte soeben das Signal zum allgemeinen Angriff geben, als die Seitenthür hastig aufgestoßen wurde – in der nächsten Sekunde stand Wanda neben dem Bedrohten.

Ihr Erscheinen verhütete nun freilich das Schlimmste, wenigstens für den Augenblick. Die Leute hielten doch inne, als sie die Gräfin Morynska an der Seite ihres Gutsherrn sahen, so nahe, daß ein Angriff, der ihm galt, sie mittreffen mußte. Waldemar dagegen stand einen Moment lang völlig verständnislos da; er vermochte sich dieses plötzliche Erscheinen nicht zu erklären, auf einmal aber blitzte die Wahrheit in ihm auf. Wandas Totenblässe, der Ausdruck verzweiflungsvoller Energie, mit dem sie sich an seine Seite stellte, sagten ihm, daß sie um seine Gefahr gewußt hatte, daß sie um seinetwillen hier war.

Die Lage war zu bedrohlich, als daß sie den beiden Zeit gelassen hätte, eine Erklärung oder auch nur ein Wort miteinander auszutauschen. Wanda hatte sich sofort zu den Angreifern gewandt und sprach zu ihnen, leidenschaftlich und gebieterisch. Waldemar, der des Polnischen nicht mächtig war und erst in der letzten Zeit angefangen hatte, sich einigermaßen damit vertraut zu machen, verstand nur so viel, daß es Befehle und Drohungen waren, die sie seinen Gegnern zuschleuderte, aber ohne Erfolg – sie stand hier an der Grenze ihrer Macht. Die Antworten klangen wild und drohend zurück, und der Förster stampfte mit dem Fuße auf den Boden; er verweigerte augenscheinlich den Gehorsam. Die kurze und hastig geführte Unterredung dauerte kaum einige Minuten, aber niemand wich einen Schritt zurück, niemand senkte die Waffe. Die aufs äußerste gereizte Wut der Leute erkannte keine Autorität und keine Rücksicht mehr an.

»Zurück, Wanda!« sagte Waldemar leise, indem er sie seitwärts zu drängen versuchte. »Es kommt zum Kampfe. Sie können ihn nicht mehr verhindern. Geben Sie mir Raum zur Verteidigung!«

Wanda gehorchte der Mahnung nicht, im Gegenteil, sie behauptete nur fester ihren Platz. Sie wußte, daß er der Uebermacht erliegen mußte, daß die einzige Rettung für ihn in ihrer unmittelbaren Nähe lag. Noch scheute man sich, sie zu berühren, noch wagte es keiner, sie von seiner Seite wegzureißen, aber der Moment nahte, wo auch diese letzte Schonung ein Ende nahm.

»Gehen Sie zur Seite, Gräfin Morynska!« tönte die Stimme des Försters rauh und unheilverkündend mitten durch den Tumult. »Zur Seite – oder ich treffe Sie mit!«

Er hob die Büchse. Wanda sah, wie er den Finger an den Drücker legte; sie sah das von Wut und Haß entstellte Antlitz des Mannes, und bei diesem Anblick schwanden ihr Besinnung und Ueberlegung. Vor ihrer Seele stand nur noch ein einziger klarer Gedanke, die Todesgefahr Waldemars, und zum letzten Mittel greifend, warf sie sich an seine Brust und deckte ihn mit ihrem eigenen Körper.

Zum letzten Mittel greifend, warf sich Wanda an seine Brust und deckte ihn mit ihrem Körper.

Es war zu spät – der Schuß krachte, und schon in der nächsten Sekunde antwortete die Waffe Nordecks. Mit einem dumpfen Schrei stürzte der Förster zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Die Kugel Waldemars hatte mit furchtbarer Sicherheit ihr Ziel getroffen, er selbst stand aufrecht und Wanda mit ihm. Die Bewegung, mit der sie ihn zu schützen versuchte, hatte ihn aus der Bahn des tödlichen Geschosses gezogen, und ihn und sie gerettet.

Das alles geschah so blitzschnell, daß keiner von den übrigen Zeit hatte, sich an dem Kampf zu beteiligen. In ein und derselben Minute sahen sie die Gräfin Morynska sich dazwischen werfen, den Förster am Boden liegen und den Gutsherrn mit hochgehobener Waffe sich gegenüberstehen, zum zweiten Schuß bereit. Es folgte eine sekundenlange totenstille Pause – niemand regte sich.

Waldemar hatte unmittelbar nach dem Schuß Wanda in seine eigene einigermaßen gedeckte Stellung gedrängt und sich vor sie gestellt. Mit einem einzigen Blick überschaute er die ganze Lage. Er war umringt, der Ausgang ihm verwehrt; sechs geladene Büchsen standen gegen seine einzige Waffe. Wenn es überhaupt zum Kampf kam, so war er auch verloren und Wanda mit ihm, sobald sie es versuchte, ihn noch einmal zu schützen. An eine wirkliche Verteidigung war nicht zu denken. Hier konnte nur die Kühnheit retten, die Tollkühnheit vielleicht, aber gleichviel, sie mußte versucht werden.

Er richtete sich zu seiner vollen Höhe empor, warf mit einer energischen Bewegung das Haar zurück, das ihm über die Stirn gefallen war, und die nächsten beiden Flintenläufe mit der Hand zur Seite schlagend, trat er mitten unter die Angreifer. Seine riesige Gestalt überragte sie allesamt, und sein Blick flammte nieder auf die rebellischen Untergebenen, als könne er mit diesem Auge allein sie vernichten.

»Die Waffen nieder!« donnerte er mit der ganzen Kraft seiner mächtigen Stimme. »Ich dulde keine Rebellion auf meinem Gebiet. Da liegt der erste, der es versucht hat. Wer es ihm nachthut, teilt sein Schicksal. Nieder die Büchsen, sage ich.«

Die Leute standen wie gelähmt vor Ueberraschung und starrten sprachlos ihren Herrn an. Sie haßten ihn, sie waren in vollem Aufstand gegen ihn begriffen, und er hatte ihnen soeben den Führer erschossen; das nächste und natürlichste wäre nur gewesen, daß sie Rache dafür übten, hier, wo die Rache in ihre Hand gelegt war. Sie hatten auch zweifellos die Absicht, sich auf Waldemar zu stürzen, aber als er nun mitten unter sie trat und ihre Waffen mit der bloßen Hand zur Seite schlug, als sei er wirklich gefeit gegen die Kugeln, als er Unterwerfung forderte mit der Miene und dem Tone des unumschränkten Gebieters: da regte sich die alte Gewohnheit des blinden Gehorsams, der, ohne nach dem Warum zu fragen, sich dem beugt, der überhaupt befiehlt, da siegte die instinktmäßige Fügsamkeit untergeordneter Naturen gegen eine überlegene Kraft. Sie bebten scheu zurück vor diesen flammenden Augen, die sie längst fürchten gelernt hatten, vor dieser drohenden Stirn mit der hochaufgeschwollenen blauen Ader. Und Waldemar stand ihnen unversehrt gegenüber. Die nie fehlende Kugel Osieckis war machtlos an ihm abgeglitten, aber der Förster lag tot am Boden, mitten ins Herz getroffen – es lag etwas von abergläubischem Grauen in der Bewegung, mit der die Nächststehenden zurückwichen. Langsam senkten sich die drohenden Läufe. Der Kreis um den Gutsherrn wurde weiter und weiter; das Wagnis, mit dem er, der einzelne, einer sechsfachen Uebermacht die Spitze bot, war geglückt.

Waldemar wandte sich um, und den Arm Wandas ergreifend, zog er sie an sich. »Und nun gebt den Weg frei!« befahl er in dem gleichen gebieterischen Ton, »schafft Raum!«

Einige der Leute rührten sich nicht von der Stelle, die beiden vordersten aber wichen zögernd zurück und gaben dadurch in der That die Thür frei. Keiner von den übrigen widersetzte sich. Kein Wort des Widerspruchs wurde laut; schweigend ließen sie ihren Herrn und die Gräfin Morynska durch. Waldemar beschleunigte seine Schritte nicht im mindesten. Er wußte, daß er die Gefahr nur für den Augenblick bewältigt hatte, daß sie verdoppelt zurückkehrte, sobald die Leute zur Besinnung kamen und sich ihrer Ueberlegenheit bewußt wurden, aber er fühlte auch, daß das geringste Zeichen von Furcht verhängnisvoll werden mußte. Noch beherrschte die Macht seines Auges und seiner Stimme die ganze sonst so zügellose Bande – es galt, sie hinter sich zu lassen, noch ehe der Bann gebrochen war, und das konnte schon in der nächsten Minute geschehen.

Er trat mit Wanda ins Freie. Draußen harrte der Schlitten, und der Kutscher mit schreckensbleichem Gesicht eilte ihnen entgegen. Die Schüsse hatten ihn an das Fenster gelockt; er mußte den Vorgang teilweise mit angesehen haben. Waldemar hob rasch seine Begleiterin in den Schlitten und stieg selbst nach.

»Fort!« sagte er kurz und hastig. »Bis zu den Bäumen dort im Schritt, dann aber gib den Pferden die Zügel, und so schnell wie möglich in den Wald hinein!«

Der Kutscher gehorchte. Er mochte wohl um sein eigenes Leben besorgt sein. In wenigen Minuten hatten sie die schützenden Bäume erreicht, und nun ging es in rasender Eile vorwärts. Waldemar hielt noch immer die Waffe mit dem gespannten Hahn in der Rechten, seine Linke aber, umschloß die Hand Wandas so fest, als wolle er sie nicht wieder loslassen. Erst als eine ganze Strecke zwischen ihnen und der Försterei lag und jede Furcht vor nachgesandten Kugeln beseitigt war, gab er seine Verteidigungsstellung auf und wandte sich zu seiner Begleiterin. Er sah es erst jetzt, daß die Hand, welche er in der seinigen hielt, mit Blut bedeckt war – es rieselte noch in einzelnen schweren Tropfen unter dem Aermel des Kleides hervor, und der Mann, der eben noch mit so eiserner Ruhe der Gefahr die Stirn geboten hatte, wurde bleich bis an die Lippen.

»Es ist nichts,« sagte Wanda, hastig seiner Frage zuvorkommend. »Die Kugel Osieckis muß mich gestreift haben. Ich fühle die Wunde erst in diesem Augenblick.«

Waldemar riß sein Taschentuch hervor und war ihr behilflich, es um den verwundeten Arm zu legen. Er wollte reden – da hob die junge Gräfin das totenblasse Antlitz empor. Sie bat nicht, aber es stand ein Ausdruck so angstvollen Flehens darin, daß Nordeck verstummte; er begriff, daß er sie für den Moment wenigstens schonen mußte. Nur ihren Namen sprach er aus, aber es lag mehr in dem einen Wort, als eine ganze stürmische Erklärung faßte: »Wanda!«

Sein Blick suchte den ihrigen, aber umsonst – sie hob das Auge nicht wieder empor, und ihre Hand lag schwer und kalt in der seinigen.

»Hoffen Sie nichts!« sagte sie tonlos und so leise, daß es nur wie ein ersterbender Hauch sein Ohr berührte. »Sie sind der Feind meines Volkes – und ich bin die Braut Leo Baratowskis.« –


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