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Der heiße Sommertag neigte sich seinem Ende entgegen. Die Sonne war bereits gesunken, nur das Abendrot weilte noch am Horizont und warf seinen glühenden Schimmer über das Meer hin, das ruhig, kaum von einem Hauche bewegt, den letzten Abglanz des scheidenden Tages empfing.
Am Strande des Badeortes C., etwas abseits von der großen Strandpromenade, wo sich, wie gewöhnlich um diese Stunde, das bunte und glänzende Gewühl der Badegäste entfaltete, lag ein einfaches Landhaus. Es zeichnete sich vor den andern, meist viel größeren und prächtigeren Häusern und Villen des Ortes nur durch die Schönheit seiner Lage aus, denn seine Fenster boten eine unbegrenzte Aussicht über das Meer hin. Sonst stand es ziemlich einsam und abgeschlossen da und konnte wohl nur von solchen Gästen bevorzugt werden, die das geräuschvolle Badeleben von C. eher mieden als aufsuchten.
In der geöffneten Glasthür, welche auf den Balkon hinaus führte, stand eine Dame in Trauerkleidung. Sie war von hoher, stolzer Gestalt und konnte noch für schön gelten, obwohl sie den Höhepunkt des Lebens bereits erreicht hatte. Dieses Gesicht mit seinen fest und regelmäßig gezeichneten Linien hatte wohl niemals den Reiz der Anmut und Lieblichkeit besessen, aber ebendeshalb hatten die Jahre ihm auch nichts von seiner kalten, strengen Schönheit nehmen können, die sich noch jetzt siegreich behauptete. Das tiefe Schwarz des Anzuges, der Kreppschleier über der Stirn deuteten auf einen schweren, wohl erst kürzlich erlittenen Verlust, aber man suchte vergebens eine Spur vergossener Thränen in diesen Augen, einen Schimmer von Weichheit in den energischen Zügen. War ein Schmerz dieser Frau wirklich nahe getreten, so war er entweder nicht allzu tief gefühlt worden, oder bereits überwunden.
An der Seite der Trauernden stand ein Herr, gleichfalls von vornehmem Aeußeren. Er mochte in Wirklichkeit nur einige Jahre älter als seine Nachbarin sein, und doch hatte es den Anschein, als läge mehr als ein Jahrzehnt zwischen ihnen, denn an ihm waren die Zeit und das Leben nicht so spurlos vorübergegangen. Der ernste, charaktervolle Kopf mit den scharf und tief ausgeprägten Zügen schien schon manchen Sturm durchlebt zu haben; das dunkle Haar war schon hier und da ergraut; in die Stirn grub sich Falte an Falte, und der Blick hatte etwas Düsteres, Schwermütiges, das sich dem ganzen Antlitz des Mannes mitteilte. Er hatte bisher mit angestrengter Aufmerksamkeit auf das Meer hinausgeblickt und wendete sich jetzt mit einer Bewegung der Ungeduld ab.
»Noch immer nichts zu sehen! Sie werden schwerlich vor Sonnenuntergang zurückkehren,«
»Du hättest uns von deiner Ankunft vorher benachrichtigen sollen,« sagte die Dame. »Wir erwarteten dich erst in einigen Tagen. Uebrigens ist das Boot nicht eher zu erblicken, bis es den waldigen Vorsprung dort umsegelt, und dann ist es auch in wenigen Minuten hier,«
Sie trat in das Zimmer zurück und wandte sich zu einem Diener, der im Begriff war, mehrere Reiseeffekten in eins der anstoßenden Gemächer zu tragen.
»Geh hinunter nach dem Strande, Pawlick!« befahl sie, »und sobald das Boot der jungen Herrschaften landet, benachrichtige sie, daß der Herr Graf Morynski eingetroffen ist.«
Der Diener entfernte sich, dem erhaltenen Befehle gemäß. Auch Graf Morynski gab seinen Ausblick vom Balkon auf und trat in das Zimmer, wo er an der Seite der Dame Platz nahm,
»Verzeih die Ungeduld!«, sagte er. »Das Wiedersehen der Schwester sollte mir vorläufig wohl genug sein, aber ich habe mein Kind ja seit einem Jahre nicht gesehen,«
Die Dame lächelte. »Du wirst von dem ›Kinde‹ nicht mehr allzuviel erblicken. Ein Jahr bedeutet viel in solchem Alter, und Wanda verspricht schön zu werden.«
»Und ihre geistige Entwicklung? Du sprachst dich in deinen Briefen stets mit Befriedigung darüber aus.«
»Gewiß! Sie überflügelte stets ihre Aufgaben; ich habe eher zügeln als antreiben müssen. In dieser Hinsicht blieb mir nichts zu wünschen übrig, wohl aber in einer andern. Wanda besitzt einen stark ausgeprägten Eigenwillen und weiß ihn leidenschaftlich zu behaupten. Ich habe mir bisweilen den Gehorsam erzwingen müssen, den sie sehr geneigt war, mir zu versagen.«
Ein flüchtiges Lächeln erhellte das Gesicht des Vaters, als er entgegnete: »Ein eigentümlicher Vorwurf in deinem Munde! Einen Willen haben und ihn unter allen Umständen behaupten, ist ja wohl ein hervorragender Zug deines Charakters, ein Zug unsrer Familie überhaupt.«
»Der aber bei einem sechzehnjährigen Mädchen noch unter keinen Umständen zu dulden ist, denn da äußert er sich nur als Trotz und Laune,« fiel ihm die Schwester ins Wort. »Ich sage es dir im voraus, du wirst noch öfter damit zu kämpfen haben.«
Es schien, als sei diese Wendung des Gespräches dem Grafen nicht besonders angenehm. »Ich weiß, daß ich mein Kind keinen besseren Händen übergeben konnte, als den deinigen,« sagte er ablenkend, »und deshalb freut es mich doppelt, daß Wanda jetzt, wo ich sie wieder zurücknehme, deine Nähe nicht ganz zu entbehren braucht. Ich glaubte nicht, daß du dich so bald nach dem Tode deines Gemahls zur Rückkehr entschließen würdest, und rechnete auf dein Verbleiben in Paris, wenigstens bis zur Vollendung von Leos Studien.«
Die Dame machte eine verneinende Bewegung. »Ich bin in Paris nie heimisch geworden, trotz unsres jahrelangen Aufenthaltes dort. Das Los der Verbannten ist kein beneidenswertes, du weißt es aus eigener Erfahrung, Fürst Baratowski freilich durfte den heimatlichen Boden nicht wieder betreten, seiner Witwe und seinem Sohne aber kann man die Rückkehr nicht verweigern; deshalb habe ich mich unverweilt dazu entschlossen. Leo muß endlich einmal die Luft seines Vaterlandes atmen, um sich ganz als Sohn dieses Landes zu fühlen. Auf ihm ruht jetzt die alleinige Vertretung unsres Geschlechtes. Er ist freilich noch sehr jung, aber er muß es lernen, seinen Jahren voran zu eilen und sich mit den Pflichten und Aufgaben vertraut zu machen, die nach des Vaters Tode an ihn herantreten.«
»Und wo gedenkst du deinen Aufenthalt zu nehmen?« fragte Graf Morynski. »Du weißt, daß mein Haus dir jederzeit –«
»Ich weiß es,« unterbrach ihn die Fürstin, »aber ich danke dir. Für mich handelt es sich vor allem darum, Leos Zukunft zu sichern und ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Namen und seine Stellung vor der Welt zu behaupten. Das war schon schwer genug in den letzten Jahren; jetzt ist es vollends zur Unmöglichkeit geworden. Du kennst unsre Vermögensverhältnisse und weißt, welche Opfer uns die Verbannung gekostet hat. Es muß irgend etwas geschehen. Um meines Sohnes willen habe ich mich zu einem Schritte entschlossen, den ich für mich allein nicht gethan hatte – errätst du, weshalb ich gerade C. zum Sommeraufenthalt wählte?«
»Nein, aber befremdet hat es mich. Das Gut Witolds liegt nur zwei Stunden von hier entfernt und ich glaubte, daß du diese Nähe eher zu vermeiden wünschest. Oder stehst du neuerdings in Verkehr mit Waldemar?«
»Nein,« sagte die Fürstin kalt. »Ich habe ihn nicht gesehen, seit wir damals nach Frankreich gingen, und seitdem kaum eine Zeile von ihm erhalten. Er hat in all den Jahren nicht nach der Mutter gefragt.«
»Aber die Mutter auch nicht nach ihm,« warf der Graf hin.
»Sollte ich mich einer Zurückweisung, einer Demütigung aussetzen?« fragte die Fürstin etwas gereizt. »Dieser Witold hat mir von jeher feindselig gegenüber gestanden und seine unumschränkten Vormundschaftsrechte in verletzendster Weise gegen mich geltend gemacht. Ich bin machtlos ihm gegenüber.«
»Er hätte aber schwerlich gewagt, dir den Verkehr mit Waldemar zu untersagen; dazu stehen die Rechte einer Mutter denn doch zu hoch, wenn du sie nur mit deiner gewöhnlichen Entschiedenheit geltend gemacht hättest. Das ist aber, meines Wissens, nie geschehen, denn – sei aufrichtig, Jadwiga! – du hast deinen ältesten Sohn nie geliebt.«
Jadwiga erwiderte nichts auf diesen Vorwurf. Sie stützte schweigend den Kopf in die Hand.
»Ich begreife es, daß er nicht die erste Stelle in deinem Herzen einnimmt,« fuhr der Graf fort. »Er ist der Sohn eines ungeliebten, dir aufgedrungenen Gatten, die Erinnerung an eine Ehe, die dich noch jetzt mit Bitterkeit erfüllt; Leo ist das Kind deines Herzens und deiner Liebe –«
»Und sein Vater hat mir nie den geringsten Anlaß zu einer Klage gegeben,« ergänzte die Fürstin mit Nachdruck.
Der Graf zuckte leicht die Achseln. »Du beherrschtest Baratowski aber auch vollständig. Doch davon ist jetzt nicht die Rede. Du hast einen Plan? Willst du frühere, halb vergessene Beziehungen wieder aufnehmen?« »Ich will endlich einmal die Rechte geltend machen, deren mich Nordecks Testament beraubte, dieses unselige Testament, in dem der Haß gegen mich jede Zeile diktiert hatte, das die Witwe wie die Mutter gleich rechtlos machte. Es bestand bisher in voller Kraft, aber es spricht Waldemar auch mit dem einundzwanzigsten Jahre mündig. Er hat kürzlich dieses Alter erreicht und ist somit Herr seines Willens. Ich will doch sehen, ob er es darauf ankommen läßt, daß seine Mutter bei ihren Verwandten eine Zuflucht suchen muß, während er zu den reichsten Grundbesitzern des Landes zählt und es ihm nur ein Wort kostet, mir und seinem Bruder auf einem der Güter eine standesgemäße Existenz zu sichern.«
Morynski schüttelte zweifelnd den Kopf. »Du rechnest auf Kindesgefühl bei diesem Sohne? Ich fürchte, du täuschest dich. Seit seiner frühesten Jugend ist er dir entfremdet, und man hat ihn schwerlich gelehrt, die Mutter zu lieben. Ich habe ihn nur als Knaben gesehen und damals den allerungünstigsten Eindruck von ihm empfangen. Eins aber weiß ich mit Bestimmtheit, fügsam war er nicht.«
»Auch ich weiß es,« versetzte die Fürstin mit vollkommener Ruhe. »Er ist der Sohn seines Vaters, wie dieser roh, unbändig, unempfänglich für alles Höhere. Schon als Knabe glich er ihm Zug für Zug, und was die Natur gab, wird die Erziehung bei solch einem Vormunde, wie Witold, wohl vollendet haben. Ich täusche mich durchaus nicht über Waldemars Charakter, aber trotzdem wird er zu leiten sein. Untergeordnete Naturen fügen sich schließlich immer einer geistigen Ueberlegenheit, wenn man es nur versteht, sie in der rechten Weise geltend zu machen.«
»Konntest du seinen Vater leiten?« fragte der Bruder ernst.
»Du vergißt, Bronislaw, daß ich damals ein siebenzehnjähriges Mädchen ohne Erfahrung, ohne Menschenkenntnis war. Jetzt würde ich auch mit einem solchen Charakter fertig werden und mir die Herrschaft über ihn zu sichern wissen. Bei Waldemar steht mir außerdem noch die mächtige Autorität der Mutter zur Seite. Er wird sich ihr beugen.«
Der Graf sah sehr ungläubig aus bei diesen mit großer Entschiedenheit gesprochenen Worten. Zu einer Erwiderung fand er keine Zeit, denn jetzt vernahm man im Vorzimmer einen leichten raschen Schritt. Die Thür wurde in stürmischer Eile geöffnet; ein junges Mädchen flog herein und lag in den nächsten Minuten in den Armen Morynskis, der aufgesprungen war und die Tochter mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an seine Brust schloß.
Die Fürstin hatte sich gleichfalls erhoben. Es schien, als finde sie die gar zu stürmische Begrüßung von seiten der jungen Dame nicht ganz in der Ordnung, indessen äußerte sie nichts, sondern wandte sich zu ihrem Sohne, der soeben eintrat.
»Ihr seid sehr lange ausgeblieben, Leo. Wir warten bereits seit einer Stunde auf eure Rückkehr.«
»Verzeih, Mama! Der Sonnenuntergang auf dem Meere war so schön, daß wir auch nicht eine Minute davon verlieren mochten.«
Mit diesen Worten trat Leo Baratowski zu seiner Mutter. Er war in der That noch sehr jung, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre, und es bedurfte nur eines Blickes in sein Gesicht, um dort die Züge der Fürstin wiederzuerkennen. Die Aehnlichkeit war so auffallend, wie sie nur zwischen Mutter und Sohn möglich ist, und doch trug der jugendlich schöne Kopf des letzteren, mit dem dunkeln, leicht gelockten Haare ein durchaus andres Gepräge. Es fehlte der kalte, strenge Ausdruck darin. Hier war alles Feuer und Leben; in den dunkeln Augen flammte die volle Leidenschaftlichkeit eines heißen, noch ungezügelten Temperamentes, und die ganze Erscheinung war ein solches Bild von Jugendkraft und Jugendschönheit, daß man den Stolz begriff, mit dem die Fürstin jetzt die Hand ihres Sohnes nahm, um ihn dem Oheim zuzuführen.
»Leo hat keinen Vater mehr,« sagte sie ernst. »Ich rechne auf dich, Bronislaw, wo ihm der Rat und die Führung eines Mannes in seiner Laufbahn notwendig ist.«
Der Graf ließ seinem Neffen eine herzliche, warme, aber weit ruhigere Umarmung zu teil werden, als vorhin der Tochter. Das Wiedersehen mit ihr schien für jetzt alle andern Empfindungen bei ihm in den Hintergrund zu drängen. Seine Blicke kehrten immer wieder zu dem jungen Mädchen zurück, das in dem Jahre, wo er es nicht gesehen, die Kindheit fast völlig abgestreift hatte.
Wanda glich ihrem Vater nicht im mindesten. Die Aehnlichkeit, die bei Leo und seiner Mutter so auffallend hervortrat, fehlte hier gänzlich zwischen Vater und Tochter, Die junge Gräfin Morynska war überhaupt ein durchaus eigenartiges Wesen. Die seine graziöse Gestalt gehörte noch halb dem Kinde an und hatte sich augenscheinlich noch nicht zu ihrer vollen Höhe entwickelt, auch die Züge des Gesichts waren noch halb kindlich, obgleich sie bereits den Ausspruch der Fürstin Baratowska rechtfertigten. Etwas bleich war dieses Gesicht, dessen Wangen nur ein leiser Schimmer von Röte färbte, aber die Blässe hatte nichts Krankhaftes und beeinträchtigte nicht im mindesten den Eindruck vollster Jugendfrische. Das reiche, tiefschwarze Haar ließ die Weiße der Hautfarbe noch mehr hervortreten, und unter langen schwarzen Wimpern bargen sich dunkle, feuchtschimmernde Augen. Wanda versprach in der That, dereinst schön zu werden, für den Augenblick war sie es freilich noch nicht, dafür besaß sie aber jenen eigentümlichen Reiz, der manchen Mädchengestalten gerade dann eigen ist, wenn sie auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau stehen. Es war eine reizende Mischung von dem Mutwillen und der Unbefangenheit des Kindes und dem Ernste der jungen Dame, die sich bei jeder Gelegenheit ihrer sechzehn Jahre erinnert. Der Schmelz der ersten Jugend, der erst halb erschlossenen Knospe, der wie ein duftiger Hauch auf der ganzen Erscheinung ruhte, machte sie doppelt anziehend. Die erste Aufregung des Wiedersehens war vorüber und das Gespräch lenkte nun in ruhigere Bahnen. Graf Morynski hatte seine Tochter neben sich auf den Sessel niedergezogen und machte ihr scherzend Vorwürfe über ihre verspätete Rückkehr.
»Ich wußte ja nichts von deiner Ankunft, Papa,« verteidigte sich Wanda. »Und dann hatte ich auch ein Abenteuer im Walde –«
»Im Walde?« unterbrach sie die Fürstin. »Warst du denn nicht mit Leo auf dem Meere?«
»Nur auf der Rückfahrt, liebe Tante. Wir wollten, wie verabredet, nach dem Buchenholm segeln; Leo meinte, der Weg zur See dorthin sei weit näher als der Fußpfad durch den Wald. Ich behauptete das Gegenteil; wir stritten eine Weile darüber und beschlossen endlich, uns gegenseitig den Beweis zu liefern. Leo segelte allein ab, und ich schlug den Waldweg ein.«
»Auf dem du denn auch richtig den Buchenholm erreichtest, als ich bereits eine halbe Stunde dort war,« triumphierte Leo.
»Ich hatte mich verirrt,« erklärte die junge Dame mit großer Bestimmtheit. »Und ich wäre vielleicht noch im Walde, wenn man mich nicht zurecht gewiesen hätte.«
»Wer wies dich zurecht?« fragte der Graf.
Wanda lachte mutwillig, »Ein Waldgeist! Eins von den alten Hünengespenstern, die zuzeiten hier umgehen sollen! Aber du darfst mich jetzt nicht mehr fragen, Papa. Leo brennt vor Begierde, es zu erfahren; er hat mich während der ganzen Rückfahrt mit seinen Fragen gequält, und deshalb erfährt er auch nicht eine Silbe davon.«
»Erfindung!« rief Leo lachend. »Ein Vorwand, um deine verspätete Ankunft zu erklären. Du würdest eher ein ganzes Märchen erfinden, als zugeben, daß ich diesmal recht hatte.«
Wanda war im Begriff, die Neckerei zurückzugeben, als die Fürstin sich einmischte. »Vorwand oder nicht!« sagte sie scharf, »Jedenfalls war dieser einsame und eigenmächtige Spaziergang im höchsten Grade unpassend. Ich hatte dir die Erlaubnis gegeben, in Leos Begleitung eine kurze Meerfahrt zu machen, und ich begreife nicht, wie er dich stundenlang im Walde allein lassen konnte.«
»Wanda wollte es durchaus,« entschuldigte sich Leo, »sie wünschte unsern Streit hinsichtlich des Weges entschieden zu sehen.«
»Jawohl, liebe Tante, ich wollte es« – die junge Dame legte einen so entschiedenen Nachdruck auf das Wort, wie sie es schwerlich gewagt haben würde ohne die schützende Nähe des Vaters – »und da wußte Leo sehr gut, daß es ganz vergeblich gewesen wäre, mich zurückzuhalten.«
Die Miene der Fürstin zeigte deutlich, daß sie es wieder einmal für nötig hielt, dem Eigenwillen ihrer Nichte mit «vollster Strenge entgegenzutreten. Sie war im Begriff, eine sehr ernste Rüge auszusprechen, als ihr Bruder ihr zuvorkam.
»Du erlaubst wohl, daß ich Wanda mit mir nehme?« sagte er, rasch einfallend. »Ich fühle mich doch etwas ermüdet von der Reise und möchte mich auf mein Zimmer zurückziehen. Auf Wiedersehen also!« Damit stand er auf, nahm den Arm seiner Tochter und verließ mit ihr das Zimmer.
»Der Onkel scheint ganz und gar hingerissen zu sein von Wandas Anblick,« bemerkte Leo, als die beiden verschwunden waren. Die Fürstin sah ihnen schweigend nach.
»Er wird sie verziehen,« sagte sie endlich halblaut, »Er wird sie mit derselben blinden Vergötterung umfassen, wie einst ihre Mutter, und Wanda wird bald genug ihre Macht kennen und brauchen lernen. Das war es, was ich fürchtete bei dieser Rückkehr zum Vater. Schon die erste Stunde zeigt, daß ich recht hatte.– Was ist das mit diesem Abenteuer im Walde, Leo?«
Der Gefragte zuckte die Achseln, »Ich weiß es nicht. Vermutlich wieder eine von Wandas Neckereien. Sie machte mich zuerst mit allerlei Andeutungen neugierig, um mir dann hartnäckig jede Auskunft zu verweigern und sich an meinem Aerger zu ergötzen. Du kennst ja ihre Art.«
»Jawohl, ich kenne sie.« Auf der Stirn der Fürstin lag eine leichte Falte. »Wanda liebt es nun einmal, mit allen zu spielen, alle, die in ihre Nähe kommen, ihren Mutwillen fühlen zu lassen. Du solltest ihr das nicht so leicht machen, Leo, wenigstens soweit es dich betrifft,«
Der junge Fürst errötete bis an die Stirn. »Ich, Mama? Ich bin ja oft genug im Streit mit Wanda.«
»Und läßt dich trotzdem am Gängelband ihrer Launen leiten, wie und wohin es ihr beliebt. Laß das gut sein, mein Sohn! Ich weiß, wer bei euren Streitigkeiten schließlich triumphiert–doch das sind für jetzt noch Kindereien. Ich wollte etwas Ernstes mit dir besprechen; schließe die Balkonthür und komme hierher an meine Seite!«
Leo gehorchte; sein Gesicht verriet, daß er verletzt war, vielleicht weniger durch die eben empfangene Zurechtweisung als durch den Ausdruck »Kindereien«.
Die Fürstin nahm jedoch nicht die geringste Notiz von seiner Stimmung.
»Du weißt,« begann sie, »daß ich bereits einmal vermählt war, ehe ich deinem Vater die Hand reichte, und daß ein Sohn aus dieser ersten Ehe existiert. Du weißt auch, daß er in Deutschland erzogen wurde, hast ihn aber bisher noch niemals gesehen. Das wird jetzt geschehen. Du wirst ihn kennen lernen.«
Leo fuhr mit dem Ausdruck der lebhaftesten Ueberraschung empor. »Meinen Bruder Waldemar?«
»Waldemar Nordeck, ja!« Der Nachdruck, den die Fürstin auf den Namen legte, enthielt einen vielleicht unbeabsichtigten, aber ganz entschiedenen Widerspruch gegen jede Zusammengehörigkeit dieses Nordeck mit einem Baratowski. »Er lebt hier in der Nähe auf dem Gute seines Vormundes. Ich habe ihm von unserm Hiersein Nachricht gegeben und erwarte ihn in diesen Tagen.«
Leos früherer Unmut war verflogen. Der Gegenstand des Gespräches interessierte ihn augenscheinlich aufs höchste. »Mama,« sagte er zögernd, »darf ich nicht endlich Näheres über diese düsteren Familiengeschichten erfahren? Ich weiß nur, daß deine erste Ehe eine unglückliche war, daß du mit Waldemars Verwandten und seinem Vormunde gänzlich zerfallen bist, und auch das weiß ich nur aus den Andeutungen des Onkels und der alten Diener unsres Hauses. An dich und den Vater habe ich nie eine Frage über diesen Punkt gewagt. Ich sah, daß sie ihn verletzte und dich erzürnte. Ihr schient beide jede Erinnerung daran verbannen zu wollen.«
In dem Antlitze der Fürstin lag ein seltsamer Ausdruck von Härte, und dieselbe Härte klang auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte: »Gewiß! Demütigung und Erniedrigung deckt man am besten mit Vergessenheit, und an beiden ist jene unselige Verbindung überreich gewesen. Frage mich jetzt nicht danach, Leo! Du kennst die Ereignisse – laß dir daran genügen! Ich kann und will dich nicht Schritt für Schritt in ein Familiendrama einführen, an das ich noch jetzt nicht denken kann, ohne daß der Haß gegen einen Toten sich in mir regt. Ich dachte diese drei Jahre gänzlich aus meinem Leben zu streichen und ahnte nicht, daß ich dereinst selbst gezwungen sein werde, sie wieder hervorzurufen.«
»Und wer zwingt dich dazu?« fragte Leo rasch. »Doch nicht etwa unsre Rückkehr? Wir gehen jedenfalls nach Rakowicz zum Onkel.«
»Nein, mein Sohn, wir gehen nach Wilicza.«
»Wilicza?« wiederholte Leo befremdet. »Das ist ja – Waldemars Herrschaft.«
»Es wäre mein Witwensitz gewesen, ohne jenes Testament, das mich verstieß,« sagte die Fürstin schneidend. »Jetzt ist es das Eigentum meines Sohnes – es wird wohl für seine Mutter Platz darauf sein.«
Leo trat mit ungestümer Bewegung einen Schritt zurück. »Was heißt das?« rief er heftig. »Willst du dich vor diesem Waldemar zu einer Bitte erniedrigen? Ich weiß, daß wir arm sind, aber eher will ich alles ertragen, alles entbehren, ehe ich zugebe, daß du um meinetwillen – «
Die Fürstin erhob sich plötzlich. Ihr Blick und ihre Haltung waren so gebietend, daß der Sohn mitten in seinem leidenschaftlichen Widerspruch verstummte.
»Hältst du deine Mutter für fähig, sich zu erniedrigen?« fragte sie. »Kennst du sie so wenig? Überlaß es mir, mein Sohn, meine und deine Stellung zu wahren! Du brauchst mir wahrlich nicht die Grenze zu ziehen, bis zu der ich gehen darf. Ich kenne sie allein.«
Leo schwieg und sah zu Boden. Die Mutter trat ihm näher und nahm seine Hand.
»Wird dieser Feuerkopf denn nie ruhig denken lernen?« sagte sie milder. »Es wird ihm doch noch so notwendig sein im Leben. Meinen Plan mit Waldemar werde ich allein ausführen. Du, mein Leo, sollst nichts von dem empfinden, was ihm vielleicht Bitteres für mich anhaftet. Du sollst den Blick frei behalten und den Mut ungebeugt für die Zukunft, die deiner wartet. Das ist deine Aufgabe; die meine ist es, dir diese Zukunft zu sichern um jeden Preis. Vertraue deiner Mutter!«
Sie zog den Sohn an sich, der wie in stummer Abbitte ihre Hand an seine Lippen drückte, und als sie sich jetzt niederbeugte, das schöne lebensvolle Antlitz zu küssen, da sah man, daß die kalte strenge Frau es doch wenigstens verstand, Mutter zu sein, und daß Leo, trotz der Strenge, mit der sie ihn behandelte, doch der Abgott dieser Mutter war.