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Neunzehnter Abschnitt.


Dem Friedrich verleidet es beim Winkelhofer; er zieht wieder zur Eva und von da ins Himmelreich; der Leser lernt lachende und weinende Erben kennen.

 

Um dieselbe Zeit stellte es sich immer klarer heraus, daß man nicht gut getan hatte, das Schneckenhaus auf die teuflische Verleumdung des Buckels hin unter den Hammer zu bringen, die wohlmeinenden Schwestern samt uns auf die Gasse zu stellen und den Friedrich dem Vetter Winkelhofer zu überantworten.

Allerdings ... der Vetter Winkelhofer hatte ein Einsehen, und also hatte es der Friedrich bei ihm viel besser als bei uns!

Denn während wir Mehlsuppe lappten, trank der Friedrich den duftenden Kaffee aus geblümter Schale; während wir den schmalzlosen Türkenribelflugsand hinunterwürgten, bekam der Friedrich saftige Fleischstücklein, Grünes und Gediegenes; während wir unsern Durst bei der Wassergelte löschten oder am Brunnenrohr, stand beim Winkelhofer der prickelnde, räße Most auf dem Tische oder, so es Feldarbeit zu verrichten galt, in der Grenzfurche des Ackers. Auch wurde dem Friedrich wenig und nur gesunde Arbeit zugeteilt und es war jedenfalls weit angenehmer, im säuselnden, fächelnden Walde Bürdelein zu binden, dem Vogelsange zu lauschen und die brütenden Stunden zu verträumen oder durch blumige Wiesen zu schreiten oder das schwere Goldkorn, des Landmanns Wonne, in Garben zu einen, als sich in der schmierigen Fabrik, wo Bazillenheere im Sonnenstrahle Fangens spielten, unter Lebensgefahr zwischen den rasselnden Maschinen durchzuzwängen.

Und doch ... wie mag den ein Palast erfreuen, dessen Herz an einer Hütte hängt? Wie mag den der herrlichste Park ergötzen, der sich nach der lauschigen Stille des einsamen Bergtales sehnt? Was soll der mit der Hand der Königstochter, der dem Schäfermädchen zuweint?

Den armen Burschen drückte und quälte und folterte das Heimweh mit all seiner geheimnisvollen, unwiderstehlichen Macht, das Heimweh nach dem Schneckenhause und nach der Mutter Eva.

Das Schneckenhaus auf dem Marktplatze, das war nun freilich für immer verloren; aber die Mutter Eva hoffte er doch wiederzugewinnen, und also ging all sein Sinnen und Sehnen, Dichten und Trachten dahin, wie es möglich sein sollte, dem Winkelhofer zu entkommen und in unserm neuen Schneckenhause ein dauerndes Heim zu finden.

Also erblickte er in dem Vetter, so freundlich der auch mit ihm umging, einen Schergen, der ihn gefangen halte, sein Gemütszustand trübte sich bis zum Verfolgungswahnsinn und bald zeigte es sich, daß sein schwacher Körper dem verzehrenden Sehnsuchtsschmerze nicht stand zu halten vermochte.

Der arme Bruder wurde von Tag zu Tag hagerer, sein eingefallenes Antlitz trug des Todes fahle Blässe, er schlich umher gleich einer wandelnden Leiche, und nur wenn er dem Winkelhofer aus dem Hause oder vom Felde hinweg entwischen konnte und seine Schritte unserm Schneckenhäuslein zulenkte, dann holte er mit seinen langen Füßen weit aus, dann hob sich sein Haupt, dann blitzten seine dunklen Augen in ängstlicher Verschmitztheit und kindlicher Wonne zugleich.

Und er entwischte dem Winkelhofer immer häufiger, und wenn wir's am wenigsten vermuteten, stand er am frühesten Morgen oder am spätesten Abend vor unserer Haustüre und läutete an und begehrte, mit der Eva ein wenig, nur ganz wenig zu schwätzen, oder er hatte einen Knopf abgerissen, der festgenäht werden mußte, oder er wollte eine Geschichte hören oder gar seine Sünden beichten.

Auch wenn die Eva ihre schwere Wollkiste auf dem Kopfe in die Fabrik trug, stand er plötzlich wie aus dem Boden gewachsen in seiner schrecklichen Größe vor ihr und wollte ihr tragen helfen und gab ihr das Geleite, und wenn wir auf dem Äckerlein, das die Eva vom Allmeingute gepachtet hatte, mit unsern Schaufeln den Boden umbrachen oder im Herbste die augenreichen Grundbirnen ausgruben, schlich er, sich gleich einem verfolgten Reh ins aufstrebende Korn oder in die Maispflanzungen duckend, auf uns zu und wollte nimmer von uns fort, also daß die Eva alle ihre Überredungskünste aufbieten mußte, um ihn zur Rückkehr in seine neue, ungeliebte Heimat zu bewegen.

Ging er endlich, so kehrte er sich auf dem Wege wohl dreißigmal um und nahm wohl dreißigmal Abschied und winkte mit seinem Tüchlein, als gelte es gleich der Base Karlina oder den drei amerikanischen Vettern eine Reise übers wilde Weltmeer.

Darob mußten wir dummen Buben wohl manchmal lachen; der Eva aber rannen die Tränen über die Wangen, also daß wir verdutzt innehielten und verstummend in die Seele ihrer Augen schauten.

Es nahm aber sein Leiden bald in dem Maße zu, daß er rings um sich Feinde zu erblicken wähnte, daß er am hellichten Tage Traumerscheinungen hatte, ja daß ihm selbst die von den Eltern eingepflanzten und von der Eva sorgfältig gepflegten religiösen Grundsätze eine Quelle neuer Leiden wurden.

Denn bald glaubte er sich seiner Sünden halber von Gott und allen Heiligen verlassen und lief wiederholt, so gut es seine schwindenden Kräfte zuließen, selbst mitten im strengsten Winter barfuß in die Kirche, um sich durch des Priesters Segen Erleichterung zu verschaffen, bald war es ihm, als hätten die bösen Teufel sein Herz aus der Brust gerissen und trieben nun in der Höhle, die immer schwerer den Lebensodem fand, ihr Unwesen.

Wie grenzenlos aber selbst in dieser entsetzlichen Lage sein Zutrauen zu der allmächtigen Mutter Eva war, das kann folgender Vorfall erweisen.

Da kam er plötzlich, wie hereingeschneit, in unsere Stube, keuchte schwer, warf irre Blicke in alle Zimmerecken, fiel auf einen Stuhl und würgte die Worte heraus:

»Eva ... jetzt ... bin ich ... verloren ... zeitlich und ewig! Hu ... heut Nacht ... sind hundert grausige Teufel gekommen ... allhaarige ... langschwänzige ... und haben mich gepackt ... und haben mir's Herz ... aus der Brust gerissen ... und sind damit fort ... davon gefludert ... bsch ... wie Fledermäuse ... bsch ... fort über alle Schindeldächer ... bsch ... in die Schlucht, in die Hölle! Und jetzt ... ist's aus ... jetzt ... muß ich ... meinem Herzen nachfliegen ... bsch ... auch in die Hölle!«

Und wie der Kranke so sprach, schaute er stieren Blickes ins Weite und hob und senkte seine Arme immer schneller und schneller, um mit Riesenfittichen die Herzensräuber zu verfolgen.

Ahnen die lieben Leser, was die mitleidige Eva tat und wie sie dem gefolterten Kranken half?

Sie drängte ihre Tränen mit Gewalt zurück, tat einen fröhlichen Lacher und rief:

»Hei, Friedrich, das schickt sich wohl, daß du zu mir gekommen bist! Eben hab' ich wollen den Haspel stehen lassen und zu dir gehen und dir dein Herz bringen! Aber jetzt ist's so auch gut und jetzt will ich's dir brühwarm erzählen, wie's mir gegangen ist mit deinen grausigen Fledermausteufeln. Gerade hab' ich die letzt' Nacht kein Aug' zudrücken können und hat's mir keine Ruh' lassen, bis ich auf bin und gedacht hab', schaust halt die wunderschönen Sterne an, bis der Schlaf einkehrt. Und wie ich schau und schau und mich nicht genug kann verwundern über die göttliche Allmacht, da kommt's richtig, wie du sagst, über die Dächer hergefludert ... bsch ... eine pechschwarze Wolke ... bsch ... und will übers Wasser gegen Bergdorf, wo der lieb' Buckel daheim ist. Hei, denk' ich, da haben die grausigen Feinde wieder Unheil gestiftet oder am End' gar irgendwo eine arme Seele erwischt: aber wartet, euch will ich's Handwerk legen! Denk's und nicht faul, mach' ich das heilige Zeichen gegen die Wolke, und ... bsch ... sind die teuflischen Fledermäuse nach allen Weltgegenden verstoben und über mir fällt etwas aus der Luft herab ... gerade, daß ich noch die Hand ausstreck' und daß ich's erwisch'! Richtig ist's dein Herz! Ich hab's gleich gewußt, weil es mir so warm geschlagen hat in der Hand. Und so hab' ich's im Kämmerlein auf den Altar der Mutter Gottes gelegt und jetzt will ich's gleich holen und dir wieder einsetzen, auf daß du wieder Ruhe findest, du arme treue Seele! Mußt aber die Augen fest zumachen; denn weißt, sein eigenes Herz darf keiner mit leiblichen Augen sehen, sonst fällt er um und ist augenblicklich tot!«

So schloß denn der glaubensselige Jüngling seine Augen, die Eva brachte etwas aus dem Kämmerlein, was ich nicht sehen konnte, öffnete die Weste des fiebernden Pfleglings, drückte ihre Hand fest gegen dessen Brust und sagte begütigend:

»So, Friedrich, jetzt ist's wieder drin und kann dir nie und nimmer entrissen werden; denn es ist gesegnet worden von der Muttergottes, und da hat der böse Feind keine Gewalt mehr. Gelt, jetzt ist's dir leichter?«

Und der Friedrich blickte die Eva freudestrahlend an und lächelte und das innere Glück malte auf die blassen Wangen des Dulders zwei Röslein, die einen wunderherrlichen Frühling verkündeten ... nicht hier ... sondern ob den Sternen.

Ob die Eva recht gehandelt, kann ich nicht beurteilen; aber dessen bin ich gewiß: Das schlichte Weib aus dem Volke hätte einen Platz als Arzt in einem Irrenhause auch ausgefüllt.

Nicht lange nachher kam der Friedrich zum letztenmale zu uns.

Er hatte im Frühling, statt in seinem körperlichen Leiden Erleichterung zu finden, das Bett hüten müssen und war von der Winkelhoferin, die selber für eine Menge kleiner und kleinster Kinder zu sorgen hatte, nebenbei schlecht und recht verpflegt worden.

Die übrige Freundschaft des Friedrich aber, seiner leiblichen Mutter Brüder und Schwestern und Vettern und Basen bis zur siebenten Suppe, die hatten sich wiederholt teilnehmend um sein Wohlbefinden erkundigt, und da sie die tröstliche Nachricht erhalten hatte, der arme Friedrich dürfte es wohl in Bälde überstanden haben, da entbrannte die Sehnsucht nach der kleinen Erbschaft aufs neue.

Leider aber standen wir zwei Knirpse ihren wohlmeinenden Absichten ein wenig im Wege. Denn statt ein Einsehen zu haben und dem Friedrich auf seinem Wege das Geleite zu geben, wurden wir trotz unserer kurzen Hälse und trotzdem, daß Schmalhans und das neue Brüderlein, das ja auch ein Hans war, die Speisen teilten, immer runder und gesunder, frischer und lebendiger und es fiel uns nicht im Traume ein, den bedürftigen Leutlein zu ihrem Rechte zu verhelfen.

Da hielt denn die wenig gesetzkundige Sippe etliche Versammlungen ab, in denen die obwaltenden Verhältnisse eingehend besprochen wurden, und es machte sich immer mehr die Ansicht geltend, dieweil das erste Weib meines Vaters das Geldlein in die Ehe gebracht habe und dieweil wir sie eigentlich keinen Pfifferling angingen, sondern fremde Bettler, Zecken und Schmarotzer seien, so müsse das Geldlein von rechtswegen wieder dorthin fließen, wo es hergekommen sei, und also sei es beinahe über jeden Zweifel erhaben, daß wir das Nachsehen, sie aber den Nachlaß des hoffentlich bald seligen Vetters redlich und friedlich unter sich verteilen dürften.

Um sich hierüber jedoch volle Gewißheit zu verschaffen, beschloß die Sippe, den Buckel ins Vertrauen zu ziehen und, sollte er nicht selber in die Sache Klarheit zu bringen vermögen, unter seiner Führung den berühmtesten Advokaten des Ländleins, der im Studierstädtlein saß und im Rufe stand, er könne sogar das Unmögliche möglich machen, um Rat zu fragen oder ihn allenfalls mit einem verständnisinnigen Händedruck zu einer günstigen Deutung des Gesetzes zu bewegen.

Da nun der Buckel diesmal wirklich nicht klar sah oder, um etwas zu verdienen, nicht klar sehen wollte, so zogen die Abgesandten der gesamten Freundschaft an einem schönen Maimorgen in der fröhlichsten Stimmung längs der grünen Ill ins Studierstädtlein, kehrten in jedem Wirtshause ein, tranken sich tapfer zu und ließen die Erbschaft hoch leben.

Doch wie sie zu dem berühmten Advokaten kamen und den warmen Händedruck anbringen wollten, da zeigte es sich, daß der Mann besser war, als die erbseligen Männlein geträumt hatten, oder daß das Gesetz so deutlich sprach, daß auch der findigste Zauberer an ihm nichts zu drehen und zu wenden vermochte.

Denn der Advokat wurde grob, drohte den Versuchern mit gerichtlicher Anzeige, erläuterte das betreffende Gesetz dahin, daß im Falle Ablebens des Vetters Friedrich dessen Gesamtnachlaß, so groß oder klein selber auch sein möge, ganz und ungeteilt den Kindern zweiter Ehe, das ist mir und meinem Brüderlein, zufallen müsse, und daß dagegen kein Kraut gewachsen sei, auch wenn sie zu allen Richterstühlen des apostolischen Glaubensbekenntnisses liefen.

Hierauf verlangte er für seine Mühewaltung zehn bare Gulden und ließ die verdutzte Gesandtschaft im Frieden ziehen.

Auch der Buckel wollte für seine Beihilfe bezahlt sein und wurde auch bezahlt; aber die Rückreise durfte er allein machen oder auch nicht allein, wie der Leser später zu seinem nicht geringen Ergötzen vernehmen wird.

Das alles geschah, ohne daß wir im Schneckenhause die geringste Ahnung davon hatten.

Und wie nun die Winkelhoferin dem kranken Friedrich eines Tages den Kaffee in sein Dachkämmerlein bringen wollte, da fand sie das Bett leer und konnte das Frühstück selber verzehren; denn der Friedrich hatte sich im Vorgefühl des nahenden Todes mit der letzten Kraft erhoben und war, nur dürftig gekleidet und sich an den Häusern haltend, zu uns gekommen und in unserer Stube ohnmächtig zusammengesunken.

Hierauf hatte ihn die Eva gelabt und zu Bette gebracht, und da lag er nun im Kämmerlein neben dem Muttergottesaltare und hatte die Hände fromm gefaltet und war so glücklich wie nie; denn die Eva hatte feierlich erklärt, jetzt brauche er sich nimmer zu fürchten, jetzt dürfe er allweil bei uns bleiben, und wenn der Winkelhofer komme und ihn holen wolle, so schlage sie ihm die Türe vor der Nase zu und drehe den Schlüssel zweimal um.

»Wirf ... ihn ... die Stiege hinab!« sagte, matt lächelnd, der arme Friedrich.

Und der Winkelhofer kam auch wirklich noch am selbigen Tag und benahm sich sanft und weichherzig wie nie zuvor. Der Bursche tue ihm leid, sagte er, und er sehe, wie ihn das Heimweh plage und könne es nimmer länger mitansehen. Er habe auch schon mit dem Advo .... mit dem Vormunde geredet und es sei kein Hindernis, daß der Bub bei der Eva bleiben dürfe, die sich ja als ein braves, gutherziges Mensch erwiesen habe. So ein Kranker müsse auch seine Pflege haben, und also könne ihm die Eva auch weit besser tun und sein Sächlein zukommen lassen, als sein eigen Weib, die Winkelhoferin, an der allweil zehn Fratzen hängen täten und die den ganzen Tag und die halbe Nacht nicht wisse, wo ihr der Kopf stehe. Also solle die Eva halt so gut sein und den Friedrich wieder behalten; er könne ihn nimmer brauchen.

Obschon die Eva den wahren Grund dieser Freundlichkeit und ... Selbstlosigkeit damals noch nicht kannte, so brachte sie es doch nicht übers Herz, gleich dem Echo eben so artig und freundlich zu antworten; denn sie fühlte es nur zu gut, diese Art Freundlichkeit sei mit der gröbsten Grobheit Geschwisterkind.

Um aber den Kranken nicht ohne Not zu ängstigen, nahm sie den Winkelhofer tuschelnd bei der Hand, zog die Türe des Kämmerleins und der Stube hinter sich ins Schloß, führte den Herrn Vetter zur Haustüre und sagte barsch:

»Ei, ei, woher bläst der Wind auf einmal, Winkelhofer? Ja, habt ihr denn keine Angst, ich könnt' ihn auf dem Sterbebett noch schnell heiraten? Das ist unklug von euch; denn ein so schlechtes Mensch, wie ihr mich hingestellt habt, ist zu allem fähig, wenn's darauf ankommt, ein Geldlein zu erhaschen.«

Der Winkelhofer wollte beteuern, es sei der Vetterschaft ja auch ... nicht ums Geldlein zu tun und der Schein trüge halt manchmal und sie hätten der Eva Unrecht getan ...; aber die Eva kam in die Hitze und ließ ihn nicht ausreden.

»Füchse seid ihr alle miteinander,« schrie sie, »und die Wahl tut einem weh, wer von euch weniger nutz ist! Na, habt keinen Kummer: Der Friedrich gehört jetzt schon mir, nachdem ihr ihn ... umgebracht habt! Wahrhaftig, wenn mich nicht der Gedanke trösten und zurückhalten würde, daß Gott alle Tränen sieht, die auf Erden geweint werden, und daß er's hören muß, wenn das Unrecht zum Himmel schreit, ich müßt' euch auf der Stelle ins Gesicht springen, ihr ...!«

Der Winkelhofer wartete die letzten Worte der Eva nicht ab; wahrscheinlich setzte er in die Zurückhaltung der Wildkatze wenig Vertrauen! Darum nahm er die Stiege gar eilig unter die Füße und er hat in späteren Jahren noch bekannt, er sei seiner Lebtag nie eine Stiege so schnell hinuntergekommen wie damals und es nehme ihn alleweil noch Wunder, daß er nicht beide Füße gebrochen habe.

Der Friedrich aber meinte lächelnd, jetzt habe er den Winkelhofer wieder gern, seit ihn der Winkelhofer nimmer möge.

Und weil nun das Seelenleiden des Kranken völlig geschwunden war, hielt er das Leiden des dahinsiechenden Körpers für nichts und lebte förmlich wieder auf gleich dem Kinde, das die Mutter nach langem, bangem, schmerzenreichem Suchen wieder gefunden hat.

Es war aber nur ein Scheinleben, das Aufflackern eines erlöschenden Lichtes, und wenn er für die Tage seiner baldigen Besserung tausend bunte Pläne schmiedete, so wußten wir alle, daß keiner zur Ausführung kommen würde, und wenn er mit vor Lust glänzenden Augen von einer Sommerreise sprach, die er bis zum Bergsee oder gar bis auf den Gletscher auszudehnen vorhatte, so war es uns nur zu deutlich, daß er bald die größte Reise antreten und über alle Berge hinweg ins Himmelreich fliegen werde.

Also beredete ihn die kluge Eva leicht mit sanften Worten, aus der segnenden Hand des Priesters die Tröstungen der Religion zu empfangen, und wie der gute Pfarrer das Kämmerlein verließ, sagte er zur Eva lächelnd:

»Hier hätte es der Beichte und der Vergebung wohl nicht bedurft; denn sein Herz ist das eines Kindes und sein Taufkleid ist rein wie frisch gefallener Schnee. Du aber weine nicht, sondern freue dich im Herrn; denn du sendest einen Engel voraus, auf daß er dir ein Plätzlein bewahre für deine Hinfahrt!«

So sprach der Pfarrer und die Eva sah wohl ein, daß sie dem hilflosen, empfindsamen, verzagten, großen Kinde den wunderschönen Himmel von Herzen gönnen müsse ... und doch, als er hinüberschlummerte, als wir mit brennenden Kerzen in den Händen vor seinem Bette knieten und bebten und seine Seele mit frommem Gebete geleiteten, da rannen ihre und unsere Tränen in unerschöpflicher Fülle; denn, war er auch der Armen einer im Geiste, er war festgewachsen an unseren Herzen, und so blutete der Riß noch lange nach und die Wunde wollte lange nicht verharschen und vernarben.

Noch überzog aber den frischen Hügel nicht auch nur der zarteste Duftflaum des vom mitleidigen Frühling auf die Gräber gestreuten Lebens, da kamen schon die Nachbarn alle herbei, um uns Kinder zur Erbschaft zu beglückwünschen und mit uns allerlei Luftschlösser zu bauen; denn obschon unser beider Erbe samt dem Geldlein, das die Vormundschaftsbehörde aus dem Nachlasse der seligen Mutter für die Zeiten der Not aufbewahrte, die Summe von zweitausend Gulden nicht um ein Beträchtliches überstieg, so galten wir doch namentlich unter den ärmeren Mitbürgern als wahre Glückspilze und waren im Werte und Ansehen bedeutend gestiegen.

Es hatte aber damals die blasse Not wirklich an unsere Haustüre gepocht, und obschon sich die guten Basen mit ihrer besten Kraft anstemmten, der Argen den Eintritt zu wehren, so war doch all ihre Mühe umsonst; denn die Türe hatte, dank der schlechten Arbeit des Tischlers, eine Spalte, und da war sie hereingeschlüpft und spottete nun der beiden Weiblein, die angstvoll des Schlosses achteten.

Die angestrengteste Arbeit der Schwestern vermochte eben nicht, den steigenden Bedürfnissen zu genügen und zwischen den Einnahmen und Ausgaben das Gleichgewicht zu erhalten. Der armselige Notpfennig war zerschmolzen, Schuhe und Kleider offenbarten unsere Armut, die Pfannen wollten aus Mangel an Fett schier Rost ansetzen, und so blieb der Eva nichts übrig, als mit schwerem Herzen das Vertrauen der Kaufleute in Anspruch zu nehmen und die Bezahlung der unentbehrlichsten Lebensmittel auf bessere Zeiten zu verschieben.

Nachdem wir Kinder aber, die sie bisher um den Gotteslohn betreut hatte, richtige und echte Erben geworden waren, glaubte sie in der nachträglichen Bewilligung eines wenn auch noch so kleinen Erziehungsbeitrages einen Ausweg aus der sie schwerängstigenden Lage finden zu können.

Da ihr nun auch die Nachbarn eifrig zuredeten, sie solle nicht so dumm sein und umsonst tun wollen, was sie nun einmal nicht leisten könne, und da auch der Vetter Ludwig, der uns nach dem Scheiden des Vaters zum Vormund bestellt worden war, ein solches Begehren durchaus nicht unbillig fand, so wurde mit vieler Mühe eine Schrift aufgesetzt, des Inhaltes, die Behörde möge der Eva im Hinblick auf ihre Notlage und nicht minder im Hinblick auf unsere besseren Verhältnisse einen Verpflegskostenbeitrag von täglich 8 fr. (sage acht Kreuzern) für jedes der beiden Kinder zukommen lassen und ihr somit für die zwei Jahre, in denen sie und ihre Schwester uns Vater und Mutter gewesen seien, die Summe von 130 fl. als Aushilfe nachträglich zuzuerkennen und anzuweisen die Geneigtheit haben.

Allein die bessere Einsicht der Behörde fand es für angezeigt, dieses Ansuchen in der Erwägung, daß zum Verbrauche dieser Summe keine obervormundschaftliche Bewilligung eingeholt und auch kein Verpflegsvertrag mit der Vormundschaft abgeschlossen worden war, in weiterer Erwägung, daß das unbedeutende Vermögen der Kinder einen solchen Aufwand nicht gestatte, endlich in der Erwägung, daß der Armenfond des Städtleins für die Verpflegung benannter Kinder in subsidio haften müsse, sowie daß der Magistrat gegen einen solchen auch nicht erwiesenen Aufwand Einspruch erhoben habe, auf die Hälfte des erbetenen Betrages zu adjustieren und die Bittstellerin mit ihrer Mehrforderung auf den ordentlichen Rechtsweg zu verweisen. Die Originalurkunde befindet sich in meinen Händen und kann von ungläubigen Gemütern jederzeit eingesehen werden.]

Mein Gott, was half der Eva der ordentliche Rechtsweg mit all seinen teueren Advokaten und Schreibern?!

Sie war so wenig juridisch gebildet, daß sie ihn nicht zu wandeln wußte, und ihr Gemüt litt durch die neue Kränkung so sehr, daß sie ihn nimmer wandeln mochte.

Also nahm sie, was man ihr wohl nach dem Buchstaben, aber nicht nach dem Geiste zugemessen hatte, das Mindere für das Mehrere, befriedigte zur Not die Gläubiger und trug das Kreuz, das sie sich selber aufgeladen hatte, mit Ergebung und wachsender Hoffnung weiter.


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