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Einen Monat später lag an einem Nachmittag Dorian Gray in einem luxuriösen Sessel des kleinen Bibliothekszimmers in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in seiner Art ein sehr hübscher Raum, hoch hinauf in olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen Fries und Stuckreliefs auf dem Plafond und mit einem ziegelfarbigen Teppich, auf dem persische Decken mit langen Seidenfransen herumlagen. Auf einem Tischchen aus Atlasholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe der Cent Nouvelles, von Clovis Eve für Margarete von Valois eingebunden und mit jenen goldenen Gänseblümchen geziert, die die Königin als ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf der Kaminplatte standen einige große, blaue, chinesische Töpfe, in denen große Tulpen standen, und durch die kleinen, in Blei gefaßten Felder der Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages.
Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam prinzipiell zu spät, da sein Grundsatz war, daß Pünktlichkeit einem die Zeit stehle. Der junge Mann sah etwas gelangweilt aus, als er mit ruhelosen Fingern die Seiten einer sorgfältig illustrierten Ausgabe von Manon Lescaut, die er in einem der Bücherständer gefunden hatte, umblätterte. Das abgemessene gleichförmige Ticken einer Louis-XIV.-Uhr machte ihn nervös. Ein- oder zweimal kam ihm die Idee wegzugehen.
Endlich hörte er einen Schritt draußen und die Tür öffnete sich. »Wie spät Sie kommen, Henry!« flüsterte er.
»Zu meinem Bedauern ist es nicht Henry, Mr. Gray«, antwortete eine schrille Stimme. Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.
»Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte …«
»Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie von Ihren Photographien sehr gut. Ich glaube, mein Mann besitzt siebzehn.«
»Also dann achtzehn. Und dann habe ich Sie an einem der letzten Abende mit ihm in der Oper gesehen.« Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine sonderbare Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in einem Wutanfall entworfen und während eines Gewitters angezogen worden. Sie war in der Regel in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert wurde, hatte sie sich ihre Illusionen bewahrt. Sie machte den Versuch, pittoresk auszusehen. Sie hieß Victoria und hatte eine krankhafte Neigung, zur Kirche zu gehen.
»Das war im ›Lohengrin‹, vermute ich, Lady Henry.«
»Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen Komponisten. Sie ist so laut, daß man die ganze Zeit reden kann, ohne daß die anderen Leute hören, was man sagt. Das ist ein unschätzbarer Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Mr. Gray?«
Von ihren dünnen Lippen kam wieder das abgebrochene nervöse Lachen, und ihre Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildpatt zu spielen.
Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bedauere sagen zu müssen, Lady Henry, daß das nicht meine Meinung ist. Ich rede nie, während man spielt – wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man allerdings verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu übertönen.«
»Ah, das ist einer von Henrys Gedanken, nicht wahr, Mr. Gray? Ich bekomme Henrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich sie überhaupt höre. Aber Sie müssen nicht glauben, daß ich gute Musik nicht auch liebe. Ich vergöttere sie, aber ich fürchte mich vor ihr, sie macht mich zu romantisch. Ich habe Klavierspieler einfach angebetet, manchmal zwei auf einmal, versichert Henry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen hat; vielleicht kommt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht wahr? Selbst die, die in England geboren sind, werden nach einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und so gut für die Kunst. Macht sie ganz kosmopolitisch, nicht wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, nicht wahr, Mr. Gray? Sie müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber ich scheue keine Ausgabe, um Ausländer zu haben. Sie geben den Räumen ein so malerisches Aussehen … Aber da ist Henry. Henry, ich kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen. Ich habe ganz vergessen, was es war … und ich habe Mr. Gray getroffen. Wir haben so nett über Musik geplaudert. Unsere Ansichten darüber sind ganz die gleichen. Nein; ich glaube, unsere Ansichten sind ganz die entgegengesetzten, aber er war entzückend. Ich freue mich sehr, ihn getroffen zu haben.«
»Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend«, sagte Lord Henry, seine dunklen geschwungenen Augenbrauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. »Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte stundenlang darum handeln. Die Leute kennen heutzutage den Preis von jeder Sache und den Wert von gar keiner.«
»Ich muß leider gehen!« rief Lady Henry aus, ein verlegenes Schweigen mit ihrem albernen jähen Lachen unterbrechend. »Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Mr. Gray. Adieu, Henry. Du speist wohl nicht zu Hause? Ich auch nicht, vielleicht sehen wir uns bei Lady Thornbury.«
»Ich vermute, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloß die Tür hinter ihr, als sie wie ein Paradiesvogel, der die ganze Nacht im Regen draußen gewesen war, aus dem Raume hinausflatterte, einen feinen Duft von Jasminblüten zurücklassend. Dann zündete er sich eine Zigarette an und warf sich auf das Sofa. »Heiraten Sie nie eine Frau mit strohgelbem Haar«, sagte er nach einigen Zügen.
»Warum nicht, Henry?«
»Weil sie so sentimental sind.«
»Ich habe aber sentimentale Menschen gern.«
»Heiraten Sie überhaupt nie! Männer heiraten, weil sie müde, Frauen, weil sie neugierig sind; beide sind nachher enttäuscht.«
»Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Henry, ich bin zu verliebt dazu. Ja, das ist einer Ihrer Aphorismen. Ich übersetze ihn in Wirklichkeit, wie alles, was Sie sagen.«
»In wen sind Sie verliebt?« fragte Lord Henry nach einer Pause.
»In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend.
Lord Henry zuckte die Achseln. »Ein recht gewöhnlicher Anfang.«
»Sie würden das nicht sagen, wenn Sie sie gesehen hätten. Sie heißt Sibyl Vane.«
»Nie von ihr gehört.«
»Niemand hat von ihr gehört. Später einmal werden es die Menschen. Sie ist ein Genie.«
»Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie ist. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben nie irgend etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Sieg der Materie über den Geist, gerade so wie die Männer den Sieg des Geistes über die Sittlichkeit bedeuten.«
»Henry, wie können Sie?«
»Mein lieber Dorian, es ist Wort für Wort wahr. Ich beschäftige mich jetzt mit der Analyse der Frauen, muß es also wissen. Das Thema ist nicht so verzweifelt schwer, wie ich anfangs geglaubt habe. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Sorten von Frauen gibt, die häßlichen und die geschminkten. Die häßlichen sind sehr nützlich. Wenn Sie als ein respektabler junger Mann gelten wollen, brauchen Sie nur eine von ihnen zu Tisch zu führen. Die anderen sind sehr entzückend. Immerhin, sie begehen einen Fehler: sie schminken sich, um jung auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um dann geistreiche Dinge zu sagen. Rouge und Esprit gingen miteinander; das ist jetzt vorbei. Solange eine Frau es erreicht, zehn Jahre jünger auszusehen als ihre eigene Tochter, ist sie ganz glücklich. Was aber die Konversation anbelangt, so gibt es in ganz London fünf Weiber, mit denen zu reden der Mühe wert ist. Und zwei von diesen fünf kann man nicht in anständige Gesellschaft führen. Na, einerlei – erzählen Sie mir über Ihr Genie! Wie lange kennen Sie sie schon?«
»Henry, Ihre Ansichten erschrecken mich!«
»Lassen Sie das nur sein. Wie lange kennen Sie sie also?«
»Ungefähr drei Wochen.«
»Und wo haben Sie sie aufgestöbert?«
»Ich will es Ihnen erzählen, Henry, aber Sie müssen nicht in einem häßlichen Ton darüber reden. Es wäre übrigens gar nicht geschehen, wenn ich Sie nicht kennen gelernt hätte. Sie haben mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennen zu lernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich Sie getroffen hatte, schien in meinen Adern irgend etwas in Aufruhr zu sein. Wenn ich im Park herumsaß oder Piccadilly hinunterschlenderte, pflegte ich jedem einzelnen Menschen, der an mir vorbeiging, ins Gesicht zu sehen und mit einer tollen Neugierde darüber nachzudenken, was für eine Art Leben er wohl führte. Einige von ihnen fesselten mich, andere machten mich erschaudern. Es war ein erlesenes Gift in der ganzen Luft, ich sehnte mich nach Erlebnissen … An einem Abend also gegen sieben Uhr entschloß ich mich, auf die Suche nach einem Abenteuer zu gehen. Ich hatte das Gefühl, daß dies graue schreckliche London, in dem wir leben, mit seinen Hunderttausenden von Menschen, mit seinen schmutzigen Sündern und seinen glänzenden Sünden, wie Sie einmal gesagt haben, etwas für mich in Bereitschaft haben müsse. Ich dachte an tausenderlei Dinge. Schon die Gefahr allein erfüllte mich mit Wonne. Ich erinnerte mich an das, was Sie mir an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen speisten, gesagt haben: daß nämlich das Suchen nach der Schönheit das eigentliche Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich ging darauf los, wanderte nach dem Osten und verlor bald meinen Weg in einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen kahlen Plätzen. Gegen einhalb acht Uhr ging ich an einem wüsten, kleinen Theater vorbei, vor dem große flackernde Gasflammen brannten und grelle Zettel hingen. Ein gräßlicher Jude in dem erstaunlichsten Rock, den ich je in meinem Leben gesehen habe, stand an der Tür und rauchte eine schlechte Zigarre. Er hatte fettige Locken, und ein riesiger Diamant glitzerte mitten auf seinem schmutzigen Hemde. ›Eine Loge, Herr Graf?‹ fragte er mich und nahm mit pompöser Unterwürfigkeit den Hut ab. Er hatte etwas, Henry, das mich amüsierte. Er war so scheußlich. Sie werden mich auslachen, ich weiß, aber ich ging wirklich hinein und zahlte eine ganze Guinee für die Proszeniumsloge. Ich kann mir auch heute noch nicht erklären, warum ich es getan habe, und doch, lieber Henry, wäre ich nicht hineingegangen, ich hätte den größten Roman meines Lebens versäumt. Ja, Sie lachen, es ist abscheulich von Ihnen.«
»Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über Sie. Aber Sie sollten nicht sagen, daß es der größte Roman Ihres Lebens ist. Sagen Sie, der erste Roman Ihres Lebens. Sie werden immer geliebt werden und Sie werden die Liebe immer lieben. Die grande passion ist das Vorrecht der Leute, die nichts zu tun haben. Sie ist das einzige, wozu die müßigen Stände eines Landes gut sind. Haben Sie keine Angst, ganz erlesene Dinge warten noch auf Sie. Das ist erst der Anfang.«
»Glauben Sie, daß meine Natur so hohl ist?« rief Dorian gekränkt aus.
»Nein, ich glaube, daß Ihre Natur so tief ist.«
»Wie meinen Sie das?«
»Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal in ihrem Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die leeren Menschen. Was sie ihre Treue nennen, nenne ich entweder die Stumpfheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben ganz dasselbe, was Konsequenz im Geistesleben ist: einfach das Zugeständnis der Schwäche. Treue …, ich muß den Begriff einmal analysieren. Die Freude am Besitz ist eines der Elemente. Es gibt eine Menge Dinge, die wir wegwerfen würden, wenn wir uns nicht fürchten müßten, daß ein anderer sie aufliest. Aber ich möchte Sie nicht unterbrechen, erzählen Sie weiter.«
»Ich saß also in einer schrecklichen kleinen Loge, und ein ordinärer Vorhang starrte mir entgegen. Ich schaute hinter der Gardine hervor und sah mir das Haus an. Es war ein schäbiges Ding, ganz voll von Amoretten und Füllhörnern, so wie ein ganz billiger Hochzeitskuchen. Galerie und Parterre waren leidlich voll, aber die zwei Reihen elender Fauteuils vorne waren ganz leer, und auf dem Platze, den sie vermutlich den ersten Rang nennen, war kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und Limonade herum, und eine unglaubliche Menge von Nüssen wurde verzehrt.«
»Es muß ganz so gewesen sein, wie in den Glanzzeiten des britischen Dramas.«
»Ganz so, vermute ich, und sehr deprimierend. Ich begann, mich zu fragen, was ich da anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glauben Sie, Henry, war das Stück, das sie spielten?«
»Ich vermute, der ›Idiotenknabe‹ oder ›Blöde, aber unschuldig‹. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, desto stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik › les grand-pères ont toujours tort‹.«
»Das Stück war gut genug für uns, Henry. Es war ›Romeo und Julia‹. Ich muß zugeben, daß mich die Aussicht, Shakespeare in einem so elenden Loch zu sehen, ärgerte. Trotzdem interessierte es mich etwas. Jedenfalls entschloß ich mich, auf den ersten Akt zu warten. Es war ein schreckliches Orchester da; ein junger Hebräer, der an einem verstimmten Klavier saß, dirigierte, und dabei wäre ich fast davongelaufen, als schließlich doch der Vorhang in die Höhe ging und das Stück anfing. Romeo war ein feister, älterer Herr mit dick aufgemalten Augenbrauen, einer heiseren Tragödenstimme und einer Gestalt wie ein Bierfaß. Mercutio war beinahe ebenso arg. Er wurde von dem Komiker gespielt, der Mätzchen eigener Erfindung einstreute und in der freundschaftlichsten Beziehung zum Parterre stand. Sie waren beide ebenso grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie aus einer Jahrmarktsbude. Aber Julia! Henry, stellen Sie sich ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit einem kleinen blütengleichen Gesicht, einem schmalen griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen wie veilchenblaue Brunnen der Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Sie war das entzückendste Wesen, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie haben mir einmal gesagt, daß Pathos Sie nicht ergreift, aber daß Schönheit, Schönheit an sich, Ihre Augen mit Tränen füllen kann. Ich sage Ihnen, Henry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, weil ein Tränenschimmer über meinen Augen lag. Und ihre Stimme! Ich habe nie so eine Stimme gehört. Zuerst war sie sehr leise in tiefen Molltönen, die langsam und jeder für sich ins Ohr zu fallen schienen. Dann wurde sie etwas lauter und klang wie eine Flöte oder ein fernes Horn. In der Gartenszene hatte sie jenes berückende Zittern, das man hört, wenn die Nachtigallen singen, bevor es Tag wird. Es gab dann Augenblicke später, wo sie die ungestüme Leidenschaft von Geigentönen hatte. Sie wissen, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Ihre Stimme und die Stimme von Sibyl Vane sind die zwei Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Wenn ich meine Augen zumache, höre ich sie, und jede von beiden sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Henry, ich liebe sie. Sie ist mir alles im Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde und am nächsten ist sie Imogen. Ich habe sie im Düster einer italienischen Gruft sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten saugt. Ich bin ihrer Wanderschaft durch die Ardennenwälder gefolgt, als sie in einen hübschen Knaben mit Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig und trat vor das Auge eines schuldigen Königs und gab ihm Raute zu tragen und bittere Kräuter zu kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der Eifersucht haben ihre Kehle, die zart war wie ein Schilfrohr, zusammengepreßt. Ich habe sie in jedem Jahrhundert und in jedem Kleid gesehen. Gewöhnliche Frauen sagen unserer Einbildungskraft nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann sie verwandeln. Man kennt ihre Art ebenso rasch wie ihre Hüte. Man findet sie immer heraus. Es ist nichts Geheimnisvolles in ihnen. Sie reiten in der Früh in den Park und schnattern am Nachmittag beim Tee. Sie haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Manieren, sie sind ganz durchsichtig. Aber eine Schauspielerin! Wie anders ist eine Schauspielerin! Henry, warum haben Sie mir nicht gesagt, daß das einzige Wesen, das geliebt zu werden verdient, eine Schauspielerin ist?«
»Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.«
»Ja gewiß, schreckliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten Gesichtern.«
»Schmähen Sie gefärbte Haare und geschminkte Gesichter nicht. In ihnen liegt, manchmal wenigstens, ein ganz außerordentlicher Reiz«, sagte Lord Henry.
»Ich wollte jetzt, ich hätte Ihnen nie etwas von Sibyl Vane gesagt.«
»Sie hätten gar nicht anders können, Dorian. Immer Ihr ganzes Leben lang werden Sie mir alles sagen.«
»Ja, Henry, ich glaube, das ist wahr. Ich muß Ihnen alles sagen. Sie haben eine sonderbare Macht über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, ich würde es Ihnen beichten. Sie würden mich verstehen.«
»Menschen wie Sie, Dorian, die eigensinnigen Sonnenstrahlen des Lebens, begehen keine Verbrechen. Aber ich danke Ihnen trotzdem für das Kompliment. Und jetzt sagen Sie mir – wollen Sie so gut sein und mir die Streichhölzer herübergeben? Danke –, welches sind Ihre jetzigen Beziehungen zu Sibyl Vane?«
Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und brennenden Augen auf. »Henry, Sibyl Vane ist mir heilig.«
»Nur heilige Dinge sind wert, daß man nach ihnen greift, Dorian«, sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen Ton. »Aber warum sind Sie böse über diese Frage? Ich vermute, sie wird Ihnen eines Tages gehören. Wenn man liebt, beginnt man immer damit, sich selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die Welt einen Roman. Auf jeden Fall nehme ich an: Sie kennen sie?«
»Natürlich kenne ich sie. Schon an jenem ersten Abend, den ich im Theater war, kam der gräßliche alte Jude, als die Vorstellung aus war, in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend über ihn und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot ist und daß ihr Körper in einem Marmorgrabe in Verona liege. Nach dem wilden Ausdruck des Erstaunens in seinem Gesicht vermute ich, daß er den Eindruck hatte, ich habe zu viel Champagner oder so etwas getrunken.«
»Kein Wunder!«
»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht einmal eine lese. Das schien ihn fürchterlich zu enttäuschen und er vertraute mir an, daß alle Theaterkritiker gegen ihn verschworen seien und daß sich jeder einzelne von ihm kaufen lasse.«
»Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er damit ganz recht hätte. Auf der anderen Seite aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können die meisten von ihnen nicht gar so teuer sein.«
»Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen«, sagte Dorian lachend. »Als wir so weit im Gespräch waren, wurden die Lichter im Theater schon ausgelöscht und ich mußte fort. Er wollte noch, daß ich einige Zigarren probiere, die er mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich wieder hin. Als er mich erblickte, machte er eine tiefe Verbeugung und versicherte mir, ich sei ein hochherziger Kunstmäzen. Er ist ein sehr abstoßender Kerl, obwohl er eine außerordentliche Passion für Shakespeare hat. Er erzählte mir einmal mit einem Anflug von Stolz, daß er die fünf Bankerotte, die er bisher gemacht, nur dem ›Barden‹ verdanke; so nannte er nämlich Shakespeare fortwährend. Er schien zu glauben, daß das ein Verdienst sei.«
»Es ist ein Verdienst, mein lieber Dorian, sogar ein großes Verdienst. Die meisten Leute werden bankerott, weil sie sich zu viel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich durch Poesie ruiniert zu haben, ist eine Ehre. Aber wann haben Sie Miß Sibyl Vane zum erstenmal gesprochen?«
»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt, und ich konnte nicht anders: ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen hinuntergeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen; wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war beharrlich. Er schien fest entschlossen, mich nach rückwärts mitzunehmen, ich gab also nach. Es war sehr sonderbar, daß ich gar nicht den Wunsch hatte, sie kennenzulernen, nicht wahr?«
»Nein, ich glaube das nicht.«
»Warum, lieber Henry?«
»Ich werde Ihnen das ein anderes Mal erklären. Jetzt möchte ich gern etwas von dem Mädchen wissen.«
»Von Sibyl? Oh, sie war so scheu und lieb. Sie ist wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich ganz weit in ungeheuerem Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihrer eigenen Macht gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube übrigens, wir waren beide etwas nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der verstaubten Garderobe und hielt weitschweifige Reden über uns beide, während wir uns wie Kinder ansahen. Er bestand darauf, mich ›Herr Baron‹ zu nennen, so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte ganz einfach zu mir: ›Sie sehen mehr aus wie ein Prinz. Ich will Sie den Märchenprinz nennen.‹«
»Mein Wort, Dorian, Miß Sibyl versteht es, Komplimente zu machen.«
»Sie verstehen sie nicht, Henry. Sie hielt mich für eine Person in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einem verbrauchten, müden Weib, die am ersten Abend in einer Art von hochrotem Schlafrock die Lady Capulet gespielt hatte und aussieht, als hätte sie einmal bessere Tage gesehen.«
»Ich kenne diese Art, auszusehen, sie drückt mich nieder«, flüsterte Lord Henry, seine Ringe betrachtend.
»Der Jude wollte mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, aber ich sagte, sie habe keinerlei Interesse für mich.«
»Sie haben ganz recht gehabt. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas unglaublich Gemeines.«
»Sibyl ist das einzige in der Welt, woran mir liegt. Was geht es mich an, woher sie kam! Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ganz und gar himmlisch. Jeden Abend, den ich lebe, gehe ich hin, um sie spielen zu sehen, und an jedem Abend ist sie wunderbarer.«
»Das ist wohl der Grund, weshalb Sie jetzt nie mit mir speisen. Ich dachte mir gleich, daß Sie irgendeinen merkwürdigen Roman erleben. Ich hatte also recht, aber es ist nicht ganz, was ich erwartete.«
»Mein lieber Henry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim Souper zusammen, und ich war mehrere Male mit Ihnen in der Oper«, sagte Dorian und öffnete verwundert seine blauen Augen.
»Sie kommen aber immer sehr spät.«
»I!« rief er aus, »ich muß jeden Abend hin und Sibyl spielen sehen, wenn auch nur einen Akt. Ich dürste nach ihrem Anblick, und wenn ich an die wunderbare Seele denke, die in dem kleinen Elfenbeinkörper eingeschlossen ist, bin ich ganz Ehrfurcht.«
»Wollen Sie heute abend mit mir essen, Dorian?«
Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen«, antwortete er, »und morgen abend Julia.«
»Und wann ist sie Sibyl Vane?«
»Nie.«
»Da wünsche ich Ihnen Glück.«
»Wie schrecklich Sie sind! Alle großen Heroinen der Welt sind in ihr zusammengedrängt. Sie ist mehr als ein Einzelwesen. Sie lachen, aber ich sage Ihnen, daß sie ein Genie ist. Ich liebe sie, und ich will, daß sie mich liebt. Sie, der Sie alle Geheimnisse des Lebens kennen, müssen mir sagen, durch welchen Zauber ich Sibyl Vane zur Liebe zwingen kann. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und traurig werden. Ich will, daß ein Hauch unserer Leidenschaft ihren Staub wieder beleben soll und ihre Asche zu Schmerzen auferwecken. O Gott, Henry, wie bete ich sie an!« Er ging, während er so sprach, im Zimmer auf und ab; rote hektische Flecken brannten auf seinen Wangen; er war furchtbar aufgeregt.
Lord Henry betrachtete ihn mit einem erlesenen Genuß. Wie anders war er jetzt als der verlegene, verschüchterte Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier kennengelernt hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume, hatte Blüten, die scharlachrot flammten, getragen. Aus ihrem geheimen Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und die Begierde war ihr auf halbem Wege entgegengekommen.
»Und was soll jetzt geschehen?« sagte Lord Henry schließlich.
»Ich will, daß Sie und Basil an einem Abend mit mir kommen und sie spielen sehen. Ich habe nicht die leiseste Besorgnis über die Wirkung. Sie werden zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie aus den Händen dieses Juden befreien. Sie ist an ihn noch drei Jahre, genauer zwei Jahre und acht Monate, gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, nehme ich ein Theater im Westend und lasse sie dort auftreten. Sie wird die ganze Welt ebenso verrückt machen wie mich.«
»Das wird kaum gehen, mein lieber Junge.«
»Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, der konzentrierteste Instinkt der Kunst, sie ist auch eine Persönlichkeit; und Sie selbst haben mir oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten und nie Prinzipien die Welt bewegen.«
»Schön, wann sollen wir also hingehen?«
»Lassen Sie mich nachdenken. Heute ist Dienstag, wollen wir morgen annehmen? Morgen spielt sie die Julia.«
»Abgemacht, also im ›Bristol‹ um acht Uhr und ich werde Basil mitbringen.«
»Bitte, nicht acht Uhr, Henry, halb sieben. Wir müssen dort sein, ehe der Vorhang in die Höhe geht. Sie müssen sie im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen.«
»Halb sieben, was für eine Tageszeit! Das wäre ungefähr so, wie ein Abendbrot am Nachmittag essen oder einen englischen Roman lesen. Es muß mindestens sieben sein. Kein anständiger Mensch speist vor sieben. Sehen Sie Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?«
»Der liebe Basil! Ich habe ihn eine ganze Woche lang nicht zu Gesicht bekommen. Das ist sehr häßlich von mir, da er mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen, den er selber gezeichnet hat, geschickt hat; und obwohl ich etwas eifersüchtig auf das Bild bin, da es um einen ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich entzückt. Ich glaube, Sie schreiben ihm besser. Ich möchte ihn nicht allein sehen. Er sagt mir Dinge, die mich nervös machen. Er gibt mir gute Lehren.«
Lord Henry lächelte. »Die Menschen haben eine starke Neigung, gerade das wegzuschenken, was sie selber am notwendigsten hätten. Ich nenne das eine abgründige Freigebigkeit.«
»Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein ganz klein wenig Philister zu sein. Seit ich Sie kenne, Henry, habe ich das entdeckt.«
»Mein lieber Freund, Basil gießt alles, was an ihm entzückend ist, in seine Werke. Die Folge davon ist, daß er fürs Leben nichts übrig hat als seine Vorurteile, seine Grundsätze und seinen gesunden Menschenverstand. Alle Künstler, die ich kennengelernt habe und die persönlich anziehen, sind schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur in ihren Schöpfungen und sind infolgedessen in ihrem Wesen vollständig uninteressant. Ein wirklich ganz großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf auf der Welt. Aber unbedeutendere Dichter sind immer bezaubernd. Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer sehen sie aus. Die bloße Tatsache, daß jemand eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht hat, macht diesen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Gedichte, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Gedichte, die zu leben sie sich nicht trauen.«
»Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Henry«, sagte Dorian Gray, während er aus einer großen goldgefaßten Flasche, die auf dem Tisch stand, etwas Parfüm auf sein Taschentuch goß. »Es wird wohl so sein, wenn Sie es sagen. Jetzt muß ich aber fort, Imogen wartet auf mich. Vergessen Sie nicht, morgen! Adieu!«
Als er den Raum verlassen hatte, sanken Lord Henrys schwere Lider herab, und er begann nachzudenken. Gewiß, sehr wenige Menschen hatten ihn bisher so interessiert wie Dorian Gray. Und doch verursachte ihm die wahnsinnige Bewunderung des Jünglings für eine andere Person nicht den leisesten Ärger oder die geringste Eifersucht. Er freute sich darüber. Dies machte ihn nur zu einem noch interessanteren Studienobjekt. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer angezogen, aber der gewöhnliche Stoff dieser Wissenschaft war ihm trivial und belanglos erschienen. Deshalb hatte er zuerst sich selbst viviseziert, um dann schließlich andere zu vivisezieren. Das menschliche Leben schien ihm der einzige Gegenstand, der einer Untersuchung wert war. Verglichen damit war alles andere ohne Bedeutung. Allerdings, wenn man das Leben in seinem seltsamen Schmelztiegel aus Schmerz und Lust beobachten wollte, konnte man über dem Gesicht keine Glasmaske tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, das Gehirn zu verwirren und die Phantasie mit wüsten Ausgeburten und wirren Träumen zu füllen. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte, um ihre Einzelheiten zu erkennen. Es gab so seltsame Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, wenn man ihre Art begreifen wollte. Und doch, welch ein unendlicher Lohn wird einem dann zuteil! Wie wunderbar erscheint dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft und das durch Gefühle buntgefärbte Leben des Geistes zu beobachten, zu beobachten, wo die beiden Linien sich treffen und wo sie auseinandergehen, an welchem Punkt sie zusammengehen und in welchem sie in Streit sind – das ist ein berauschender Genuß. Was liegt daran, wie viel man dafür bezahlen muß! Man kann nie einen zu hohen Preis für irgendeine Empfindung geben.
Er war sich bewußt – und dieser Gedanke ließ seine achatbraunen Augen freudig aufleuchten – daß durch gewisse Worte, die er gesprochen, musikalische Worte, die er in musikalischem Tonfall gesagt, Dorian Grays Seele sich diesem weißen Mädchen zugewandt und in Verehrung sich vor ihr gebeugt hatte … In hohem Maße war der Jüngling seine Schöpfung. Er hatte ihn vorzeitig reif gemacht. Das war schon etwas. Die gewöhnlichen Menschen haben zu warten, bis das Leben ihnen seine Geheimnisse aufschließt; den wenigen, den Auserwählten aber werden die Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen ist. Manchmal ist das die Wirkung der Kunst, besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die Leidenschaften und den Geist behandelt. Dann und wann aber nimmt eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und erfüllt das Amt der Kunst, ist eigentlich auf ihre Weise ein leibhaftiges Kunstwerk; da ja das Leben ebenso seine vollendeten Meisterwerke schafft wie die Poesie, die Bildhauerei oder die Malerei.
Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit erblüht. Er erntete, während es noch Frühling war. Der Blutschlag und die Leidenschaft der Jugend wohnten in ihm, aber er war sich schon seiner selbst bewußt. Es war entzückend, ihn zu beobachten. Mit seinem wunderschönen Gesicht, mit seiner wunderschönen Seele war er ein Wesen, das man anstaunen mußte. Es lag nichts darin, wie das alles endete, wie das alles enden sollte. Er glich einer jener graziösen Gestalten in einem Mummenschanz oder einem Schauspiel, deren Freuden von unsereinem weit entfernt zu sein scheinen, deren Leid aber unser Schönheitsgefühl erregt und deren Wunden wie rote Rosen sind.
Seele und Leib, Leib und Seele: – wie geheimnisvoll sind die beiden! Animalisches ist in der Seele, und der Leib hat seine Augenblicke der Vergeistigung. Die Sinne können sich veredeln, und der Intellekt kann sich erniedrigen. Wer vermag zu sagen, wo die fleischlichen Triebe endigen oder wo die seelischen Triebe beginnen? Wie leer sind die willkürlichen Erklärungen der Schulpsychologen! Und doch, wie schwierig ist, zwischen den Lehren der einzelnen Gruppen sich zu entscheiden! Ist die Seele ein Schatten, der im Hause der Sünde wohnt, oder ist in Wirklichkeit der Körper in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno dachte? Die Trennung des Geistes vom Stoff ist ein Geheimnis, und die Vereinigung von Geist und Stoff ist ebenfalls ein Geheimnis.
Er dachte darüber nach, ob wir je aus der Psychologie eine so exakte Wissenschaft machen können, daß auch die kleinste Quelle des Lebens uns offenbar würde. Wie jetzt die Dinge liegen, begreifen wir uns selbst nie und die anderen selten. Die Erfahrung hat keinerlei ethischen Wert. Sie ist nur das Schild, das die Menschen ihren Irrtümern umhängen. Die Moralisten haben sie in der Regel als eine Art Warnung betrachtet, haben für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der Bildung der Charaktere in Anspruch genommen, haben sie als das Mittel gepriesen, das uns darüber belehrt, was wir tun und was wir vermeiden sollen. Aber in der Erfahrung liegt keinerlei treibende Kraft. Sie ist ebensowenig eine wirkende Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit beweist, ist, daß unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit und daß wir die Sünde, die wir einmal mit Ekel und Widerstreben begangen haben, oft und dann mit Genuß wiederholen werden.
Er war überzeugt, daß die experimentelle Methode die einzige war, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Analyse der Leidenschaften kommen könne; und sicherlich war Dorian Gray ein bequemes Objekt und schien reiche und fruchtbare Erfolge zu versprechen. Seine plötzliche wilde Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Erscheinung von großem Interesse. Es war kein Zweifel, daß die Neugier stark dabei im Spiele war, Neugier und die Begierde nach Erlebnissen, doch war es trotzdem keine einfache, sondern eine sehr komplizierte Leidenschaft. Was in ihr von den rein sinnlichen Trieben der Jugend war, das hatte die Arbeit der Phantasie umgeformt, in irgend etwas verwandelt, das dem Jüngling selbst ganz fern von allem Sinnlichen zu sein schien und das deshalb um so gefährlicher war. Gerade jene Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft über uns aus. Unsere schwächsten Triebe sind die, über deren Natur wir Klarheit haben. Es kommt oft vor, daß wir mit uns selbst Experimente anstellen und glauben, sie mit anderen zu versuchen.
Während Lord Henry noch von diesen Dingen träumte, wurde an der Tür geklopft; sein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich zum Essen umzukleiden. Er erhob sich und sah auf die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der gegenüberliegenden Häuser in scharlachrotes Gold getaucht. Die Scheiben glühten wie Platten erhitzten Metalls. Der Himmel drüber glich einer welkenden Rose. Er dachte an das junge, lodernde Leben seines Freundes und dachte, wie das alles wohl enden würde.
Als er dann gegen halb eins nachts nach Hause kam, fand er ein Telegramm auf dem Tische in der Halle liegen. Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war. Er teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe.