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Mittag war lange vorbei, als er erwachte. Der Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob er sich rühre, und hatte sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe. Schließlich klingelte es. Viktor trat leise herein mit einer Schale Tee und einem Stoß Briefe auf einem kleinen Tablett aus altem Sevresporzellan und zog die olivengelben Atlasvorhänge, deren Futter blau schimmerte, von den drei großen Fenstern zurück.
»Monsieur hat heute morgen gut geschlafen«, sagte er lächelnd.
»Wieviel Uhr ist es, Viktor?« fragte Dorian Gray noch verschlafen.
»Ein Viertel zwei, Monsieur!«
Wie spät es war! Er richtete sich auf, trank Tee und durchblätterte die Briefe. Einer von ihnen war von Lord Henry und war diesen Morgen von einem Boten gebracht worden. Er zögerte einen Augenblick und legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Dinereinladungen, Einladungen zu Ausstellungen, Programmen von Wohltätigkeitskonzerten und ähnlichen Aufforderungen, mit denen der junge Mann aus der Gesellschaft während der Saison jeden Morgen überschüttet wird. Es war eine recht große Rechnung dabei für ein Toiletteservice Louis XV. aus getriebenem Silber, die er noch nicht gewagt hatte, seinem Vormund zu schicken, der ein außerordentlich altmodischer Herr war und nicht begreifen konnte, daß wir in einer Zeit leben, in der die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit sind; und dann war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen von Wucherern da, die sich anboten, ihm in der kürzesten Zeit jeden Geldbetrag zu den mäßigsten Zinsen zu leihen.
Ungefähr nach zehn Minuten stand er auf, zog einen eleganten Morgenanzug aus seidengestickter Kaschmirwolle an und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer. Das kühle Wasser erfrischte ihn nach dem langen Schlafe. Er schien alles vergessen zu haben, was er durchgemacht hatte. Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein dumpfes Gefühl, als hätte er irgendwie an einer seltsamen Tragödie teilgenommen, aber die Unwirklichkeit eines Traumes lag darüber.
Als er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem kleinen runden Tisch nahe beim offenen Fenster gedeckt war. Es war ein wunderbarer Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt. Eine Biene flog herein und summte um die drachenblaue Schale, die mit schwefelgelben Rosen gefüllt, vor ihm stand. Er fühlte sich vollständig glücklich.
Plötzlich fiel sein Blick auf den Schirm, den er vor das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen.
»Ist es zu kalt für Monsieur?« fragte der Diener, während er ein Omelett auf den Tisch stellte. »Soll ich das Fenster schließen?«
Dorian schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht kalt«, flüsterte er.
War alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es nur seine eigene Phantasie gewesen, die ihn einen Zug von Schlechtigkeit dort hatte erblicken lassen, wo ein Zug der Freude gewesen war? Eine gemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern. Das war absurd. Das würde man einmal Basil erzählen können. Er würde darüber lächeln.
Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an das ganze Erlebnis! Zuerst in dem düsteren Zwielicht und dann am hellen Morgen hatte er den Zug von Grausamkeit um die verzerrten Lippen gesehen. Er fürchtete sich förmlich davor, daß der Diener hinausgehen würde. Er wußte, er würde in dem Augenblick, wo er allein sei, das Bild betrachten müssen. Und er fürchtete sich vor der Gewißheit. Als der Diener den Kaffee und die Zigarren gebracht hatte und sich umdrehte, um zu gehen, empfand er einen ungestümen Wunsch, ihm zu sagen, er solle dableiben. Als sich die Tür hinter ihm schloß, rief er ihn zurück. Der Diener stand da und wartete auf Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand zu Hause«, sagte er mit einem leisen Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging hinaus.
Dorian stand nun vom Tische auf, zündete eine Zigarette an und warf sich auf ein üppig gepolstertes Sofa, das dem Schirm gegenüber stand. Es war ein ganz alter Schirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein blumiges Louis-XIV.-Muster geschnitten und getrieben war. Er musterte ihn neugierig und fragte sich, ob der Schirm schon je vorher das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt habe.
Sollte er ihn überhaupt wegziehen? Warum ihn nicht einfach da stehen lassen? Was konnte die Gewißheit helfen? Wenn die Sache wahr war, war es schrecklich. Wenn sie nicht wahr war, wozu sich darüber aufregen? Aber wie, wenn durch das Schicksal, durch irgendeinen Zufall, der mehr Schrecken hatte als der Tod, andere Augen als die seinen dahinter spähten und die fürchterliche Wandlung sähen? Was sollte er tun, wenn Basil Hallward käme und sein eigenes Bild sehen wollte? Basil würde sicher kommen. Nein; die Sache mußte untersucht werden, und zwar sofort. Alles würde besser sein als diese schrecklichen Zweifel.
Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann zog er den Schirm weg und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.
Er erinnerte sich später oft und nie ohne Verwunderung, daß er im ersten Augenblick das Bild mit einem Gefühl von wissenschaftlichem Interesse betrachtet habe. Daß eine solche Veränderung vor sich gegangen war, konnte er nicht glauben. Und doch war es eine Tatsache. Bestand irgendeine geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form und Farbe angenommen hatten, und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie in Wirklichkeit ausdrückten, was seine Seele sich dachte? Daß sie zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere schrecklichere Ursache? Er schauderte und fürchtete sich, ging zu dem Diwan zurück und lag nun da, das Bildnis in krankhaftem Schrecken betrachtend.
Eine Wirkung hatte es indes gehabt: es hatte ihm klar gemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch sein Weib werden. Seine schattenhafte, selbstsüchtige Liebe sollte einer höheren Kraft Platz machen, sollte sich in eine edlere Leidenschaft umbilden, und das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für die einen ist, Gewissen für die anderen, die Furcht vor Gott für uns alle. Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Gifte, die das Sittlichkeitsgefühl einschläfern konnten. Aber hier war das sichtbare Symbol der Erniedrigung, die man durch Sündhaftigkeit erleidet. Hier war das ewige Zeichen des Unheils, das Menschen der eigenen Seele zufügen.
Es schlug drei, dann vier, und die halben Stunden ließen das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er suchte die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie zu einem Muster zu verwerten; einen Weg aus dem blutigen Irrgarten der Leidenschaft, den er durchwanderte, zu finden. Er wußte nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich ging er an seinen Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm zu vergeben, und zieh sich des Wahnsinns. Er bedeckte Seite nach Seite mit wilden Worten voll Leid und noch wilderen voll Schmerz. Es liegt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst schmähen, haben wir das Gefühl, daß uns kein anderer schmähen dürfe. Die Beichte, nicht der Priester, gibt uns Absolution. Als Dorian den Brief geendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei.
Plötzlich pochte man an die Tür. Er hörte Lord Henrys Stimme draußen. »Mein lieber Junge, ich muß Sie sehen. Lassen Sie mich gleich herein! Ich kann es nicht zugeben, daß Sie sich so abschließen!«
Er gab zuerst keine Antwort und blieb ganz still. Man klopfte nochmals, lauter. Ja, es war besser, Lord Henry einzulassen, ihm zu erklären, daß er ein neues Leben anfange, mit ihm zu streiten, wenn Streit nötig würde, sich von ihm zu trennen, wenn Trennung sein mußte. Er sprang auf, zog den Schirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf.
»Es tut mir alles so leid, Dorian«, sagte Lord Henry, als er eintrat. »Aber Sie dürfen nicht zu viel daran denken.«
»Meinen Sie an Sibyl Vane?« fragte der Jüngling.
»Ja, natürlich«, erwiderte Lord Henry. Er sank dann in einen Stuhl und zog die gelben Handschuhe langsam von den Fingern. »Es ist gewiß schrecklich, wenigstens von der einen Seite aus gesehen; aber es ist doch nicht Ihre Schuld. Sagen Sie, sind Sie hinter die Bühne gegangen, und haben Sie sie gesehen, wie das Stück aus war?«
»Ja.«
»Ich war davon überzeugt. Haben Sie ihr eine Szene gemacht?«
»Ich war brutal, Henry, ganz brutal. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Was geschehen ist, tut mir jetzt nicht mehr leid. Es hat mich gelehrt, mich selbst besser zu kennen.«
»Dorian, ich bin sehr froh, daß Sie es so nehmen. Ich fürchtete, Sie in Gewissensbisse versunken zu finden, wie Sie sich die hübschen lockigen Haare raufen.«
»Das alles habe ich durchgemacht«, sagte Dorian und schüttelte lächelnd den Kopf. »Jetzt bin ich ganz glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was das Gewissen ist. Es ist nicht, was Sie gesagt haben. Es ist das Göttlichste in uns. Spotten Sie nie mehr darüber, Henry – wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß meine Seele befleckt ist.«
»Dorian, das ist wirklich eine entzückend künstlerische Grundlage der Ethik. Ich wünsche Ihnen Glück dazu. Aber wie wollen Sie anfangen?«
»Indem ich Sibyl Vane heirate.«
»Sibyl Vane heiraten?« schrie Lord Henry, stand auf und sah ihn mit verlegenem Staunen an. »Aber mein lieber Dorian –«
»Ja, Henry, ich weiß, was Sie sagen wollen. Irgend etwas Entsetzliches über die Ehe. Sagen Sie es nicht. Sagen Sie mir nie mehr solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht brechen. Sie wird meine Frau.«
»Ihre Frau, Dorian … Haben Sie meinen Brief nicht bekommen? Ich habe Ihnen heute früh geschrieben und den Zettel mit meinem Diener hergeschickt.«
»Ihren Brief? Ja, ich erinnere mich. Ich habe ihn noch nicht gelesen, Henry. Ich fürchtete, daß etwas drinsteht, was ich nicht hören wollte. Sie zerstückeln das Leben mit Ihren Aphorismen.«
»Dann wissen Sie also nichts.«
»Wovon sprechen Sie?«
Lord Henry ging durch das Zimmer, setzte sich zu Dorian Gray, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian,« sagte er, »mein Brief – erschrecken Sie nicht – sollte Ihnen mitteilen, daß Sibyl Vane tot ist.«
Ein schmerzlicher Schrei kam von den Lippen des Jünglings. Er sprang auf und riß seine Hand von Lord Henry los. »Tot! Sibyl tot! Es ist nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie können Sie es sagen?«
»Es ist wahr, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb Ihnen, Sie sollten niemand empfangen, bis ich komme. Es wird natürlich eine Untersuchung sein, und Sie dürfen in die Sache nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art machen einen Mann in Paris zum Helden. Hier in London haben die Leute aber zu viel Vorurteile. Hier darf man sich nie mit einem Skandal einführen. Man muß sich das aufheben, um im Alter noch zu wirken. Ich nehme an, im Theater weiß niemand Ihren Namen. In dem Fall ist alles in Ordnung. Hat Sie jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist eine wichtige Frage.«
Dorian antwortete zuerst nicht. Er war vor Schrecken gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Henry, eine Untersuchung haben Sie gesagt? – Wie meinen Sie das? Hat sich Sibyl –? Henry, ich kann's nicht ertragen. Machen Sie's kurz. Sagen Sie mir alles, auf der Stelle?«
»Es war zweifellos kein Unfall, Dorian, wenn man es dem Publikum auch so darstellen muß. Es scheint, sie hat das Theater mit ihrer Mutter verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann plötzlich gesagt, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder. Schließlich fanden sie sie tot auf dem Boden in ihrer Garderobe liegen. Sie hatte aus Versehen etwas getrunken, irgend etwas Gräßliches, das man in den Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß enthalten haben. Ich vermute, es war Blausäure, denn sie scheint im Augenblick tot gewesen zu sein.«
»Henry, Henry, es ist furchtbar!« schrie Dorian.
»Ja, es ist natürlich sehr tragisch. Aber Sie dürfen in die ganze Sache nicht verwickelt werden. Ich habe im ›Standard‹ gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie eher für noch jünger gehalten. Sie sah so kindlich aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu verstehen. Dorian, Sie dürfen diese Dinge nicht an sich herankommen lassen. Sie müssen ausgehen und heute abend mit mir speisen, und nachher wollen wir in die Oper gehen. Die Patti tritt auf, und alle Welt wird da sein. Sie können in die Loge meiner Schwester kommen. Sie bringt ein paar elegante Weiber mit.«
»Ich habe also Sibyl Vane gemordet«, sagte Dorian halb zu sich selbst, »sie gemordet, so sicher, als hätte ich ihre dünne Kehle mit einem Messer durchgeschnitten. Und doch, sind darum die Rosen weniger lieblich? Die Vögel singen genau so fröhlich im Garten. Und heute abend soll ich mit Ihnen speisen und dann in die Oper gehen und vermutlich nachher irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist! Wenn ich all das in einem Buch gelesen hätte, Henry, ich glaube, ich würde darüber geweint haben. Und dennoch jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen ist, mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar, als daß man weinen könnte. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster leidenschaftlicher Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wissen, ob sie noch ein Gefühl haben, diese weißen, stummen Menschen, die wir die Toten nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, etwas wissen, kann sie uns hören? Ach, Henry, wie habe ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt Jahre her zu sein. Sie war mir alles. Dann kam diese schreckliche Nacht. War es wirklich erst gestern nacht, als sie so schlecht spielte und mir fast das Herz brach? Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend. Aber es machte gar keinen Eindruck auf mich. Ich hielt sie für seicht. Plötzlich geschah dann etwas, was mich ängstigte. Ich kann Ihnen nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar. Ich nahm mir nun vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand plötzlich, daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Henry, was soll ich tun? Sie kennen die Gefahr nicht, in der ich bin, und nichts kann mich aufrecht erhalten. Sie hätte es getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von ihr.«
»Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Henry, während er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein Feuerzeugbüchschen aus Goldbronze hervorholte, »die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, ist, ihn so furchtbar zu langweilen, daß er jedes Interesse am Leben verliert. Wenn Sie dieses Mädchen geheiratet hätten, wären Sie verloren gewesen. Natürlich hätten Sie sie gut behandelt. Menschen, die einem gleichgültig sind, kann man immer gut behandeln. Aber sie hätte bald herausgefunden, daß Sie vollständig gleichgültig gegen sie wären. Wenn eine Frau das bei ihrem Manne herausfindet, läßt sie sich entweder schrecklich gehen oder sie trägt sehr elegante Hüte, die der Mann einer anderen Frau zu bezahlen hat. Ich will nichts über den sozialen Mißgriff sagen, der schauderhaft gewesen wäre, und den ich selbstverständlich nie zugegeben hätte. Aber ich versichere Ihnen, in jedem Falle wäre die Sache ein vollständiger Mißgriff gewesen.«
»Das nehme ich auch an,« murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab schritt, »aber ich glaubte, es sei meine Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß diese schreckliche Tragödie mich verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß Sie einmal gesagt haben, ein sonderbares Schicksal schwebe über guten Vorsätzen – daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem ist es gewiß so.«
»Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, wissenschaftliche Gesetze umzustoßen. Ihr Ursprung ist lediglich Eitelkeit. Ihr Erfolg ist vollkommen gleich Null. Sie verschaffen uns dann und wann einige jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die einen gewissen Reiz für schwache Menschen besitzen. Das ist alles, was man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind nichts anderes als Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man gar kein Konto hat.«
Dorian Gray schritt durch das Zimmer und setzte sich neben Henry: »Warum kann ich diese Tragödie nicht so empfinden, wie ich möchte? Ich kann nicht glauben, daß ich ganz herzlos bin. Glauben Sie das?«
»Sie haben zu viel törichte Streiche in den letzten vierzehn Tagen begangen, um ein Recht auf diesen Ehrentitel zu haben, Dorian«, erwiderte Lord Henry mit seinem sanften, melancholischen Lächeln.
Der Jüngling runzelte die Stirne. »Henry, ich mag diese Erklärung nicht. Aber ich bin trotzdem froh, daß Sie mich nicht für herzlos halten. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin, und doch muß ich zugeben, daß die Sache, die da geschehen ist, mich nicht so ergreift, wie sie sollte. Es scheint mir nur ein wunderbarer Schluß für ein wunderbares Stück zu sein. Sie hat die schreckliche Schönheit einer griechischen Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe, in der ich selbst aber nicht verwundet worden bin.«
»Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Henry, dem es einen erlesenen Genuß bereitete, mit dem unbewußten Egoismus dieses jungen Menschen zu spielen, »es ist wirklich eine außerordentlich interessante Frage. Die wahre Erklärung ist wohl die: Es kommt oft vor, daß sich die wirklichen Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form abspielen, daß sie uns durch die rohe Gewalt, ihre Zusammenhanglosigkeit, ihre alberne Sinnlosigkeit, ihre vollständige Stillosigkeit verletzen. Sie berühren uns genau so, wie uns die Gemeinheit berührt. Sie geben uns ein Gefühl von bloßer brutaler Gewalt, und wir empören uns dagegen. Manchmal jedoch greift eine Tragödie, die künstlerische Schönheitselemente in sich trägt, in unser Leben. Wenn diese Schönheitselemente wirklich sind, so berührt die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkungen. Wir entdecken dann plötzlich, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes sind. Oder eigentlich sind wir beides zugleich. Wir beobachten uns selbst, und das Wundersame des Schicksals erschüttert uns. Im vorliegenden Fall: Was ist wirklich geschehen? Jemand hat sich umgebracht, weil er Sie geliebt hat. Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis zuteil geworden. Ich wäre den ganzen Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben, – es waren ja nicht sehr viele, aber doch immerhin einige – haben immer darauf bestanden, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, sie zu lieben, oder sie aufgehört hatten, mich zu lieben. Sie sind dann dick und langweilig geworden, und wenn ich sie jetzt treffe, schwelgen sie sofort in Reminiszenzen. Was für ein furchtbares Gedächtnis die Weiber doch haben. Es ist etwas Schreckliches und offenbart einen unerhörten geistigen Stillstand. Man sollte die Farbe des Lebens aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind immer gewöhnlich.«
»Ich muß jetzt Mohnblumen in meinem Garten pflanzen«, seufzte Dorian.
»Das ist gar nicht notwendig«, erwiderte sein Freund. »Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten Gefühle an. Ich habe einmal eine ganze Saison lang nichts als Veilchen getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich ist er doch gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn umgebracht hat. Ich vermute, es war, weil sie mir vorschlug, die ganze Welt mir zu opfern. Das ist immer ein schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecken der Ewigkeit. Also würden Sie es glauben? Vor einer Woche bei Lady Hampshire saß ich bei Tisch neben der in Frage kommenden Dame, und sie bestand darauf, die ganze Sache noch einmal durchzugehen, die ganze Vergangenheit wieder aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte meine Romantik in einem Narzissenbeet begraben. Sie zerrte sie wieder hervor und versicherte mir, ich habe ihr Leben zerstört. Ich fühle mich verpflichtet, zu konstatieren, daß sie trotzdem mit großem Appetit aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie doch! Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt darin, daß es eben die Vergangenheit ist. Aber Frauen wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie verlangen immer einen sechsten Akt, und im Augenblick, wo das ganze Interesse an dem Stück vorbei ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, bekäme jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Tragödie würde mit einer Farce enden. Sie sind oft entzückend künstlich, aber sie haben gar kein Gefühl für die Kunst. Sie, Dorian, sind glücklicher als ich. Ich versichere Ihnen, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für Sie getan hat. Die gewöhnlichen Frauen trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie eine Liebhaberei für schmachtende Farben entwickeln. Haben Sie niemals Vertrauen zu einer Frau, die mauve trägt, wie alt sie auch sein mag, oder zu einer Frau über fünfunddreißig, die rosa Schleifen liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Vergangenheit haben. Andere finden einen starken Trost darin, plötzlich die guten Eigenschaften ihrer Männer zu entdecken. Sie schleudern einem ihr eheliches Glück ins Gesicht, als wäre das die fesselndste aller Sünden. Andere tröstet die Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize eines Flirts, hat mir einmal eine Frau versichert; und ich kann es sehr gut verstehen. Übrigens macht nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, daß man ein Sünder ist. Gewissen macht Egoisten aus uns allen. Ja; es gibt wirklich kein Ende der Tröstungen, die die Frauen im modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.«
»Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann teilnahmlos.
»Natürlich der übliche Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft gibt das jeder Frau ihre Frische wieder. Aber wirklich, Dorian, wie anders als alle die übrigen Frauen, denen man begegnet, muß Sibyl Vane gewesen sein. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Ich bin froh, daß ich in einem Jahrhundert leben darf, wo solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit der Vorstellungen, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, Leidenschaft und Liebe.«
»Ich war furchtbar grausam gegen sie. Sie vergessen das.«
»Ich fürchte sehr, Frauen schätzen Grausamkeit, ganz brutale Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll einfache Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, wir haben ihnen ihre Freiheit gegeben, aber sie bleiben trotzdem Sklavinnen, die den ängstlichen Blick auf ihre Herren gerichtet haben. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin ganz überzeugt, daß Sie wundervoll gewesen sind. Ich habe Sie nie wirklich böse gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend Sie ausgesehen haben. Und außerdem, Sie haben mir vorgestern etwas gesagt, was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien; jetzt sehe ich, daß es ganz wahr war, und daß es der Schlüssel zu allem ist.«
»Was war das, Henry?«
»Sie haben zu mir gesagt, daß Sibyl Vane Ihnen alle romantischen Heldinnen vorstelle, daß sie an einem Abend Desdemona sei und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen zum Leben.«
»Sie wird jetzt nie mehr zum Leben erwachen«, flüsterte der Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.
»Nein, sie wird nie mehr zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber Sie müssen an den einsamen Tod in dem schäbigen Garderobenzimmer denken wie an ein sonderbar-schauriges Fragment einer Tragödie aus der Zeit König Jakobs, wie an eine wunderbare Szene aus Webster, Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich gelebt, darum ist sie nie wirklich gestorben. Für Sie war sie ja nicht mehr als ein Traum, ein Trugbild, das durch Shakespeares Dramen flatterte und sie durch ihre Gegenwart noch reizvoller machte, eine Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und froher ertönte. In dem Augenblick, in dem sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte sie, und deshalb schied sie von hier. Trauern Sie um Ophelia, wenn Sie wollen. Streuen Sie Asche auf Ihr Haupt, weil Cordelia erwürgt wurde. Schmähen Sie den Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb. Aber verschwenden Sie Ihre Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene.«
Es entstand ein Schweigen. Der Abend dunkelte im Zimmer. Still auf silbernen Füßen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verblaßten langsam überall.
Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Sie haben mich mir selber klar gemacht«, flüsterte er wie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles, was Sie gesagt haben, habe ich auch gefühlt, aber ich habe mich davor geängstigt, und ich konnte es mir nicht klar machen. Wie gut Sie mich kennen! Wir wollen von dem, was geschehen ist, nie mehr sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte wissen, ob noch etwas so Wunderbares im Leben auf mich wartet.«
»Das Leben hat noch alles für Sie vorrätig, Dorian. Es gibt nichts, was Sie mit Ihrer außerordentlichen Schönheit nicht tun könnten.«
»Aber wenn ich hager und alt und runzlig würde, Henry? Was dann?«
»Ja dann,« sagte Lord Henry und erhob sich, um wegzugehen, »dann, Dorian, würden Sie um Ihre Siege kämpfen müssen. Jetzt werden sie Ihnen noch entgegengetragen. Nein, Sie müssen schön bleiben. Wir leben in einer Zeit, in der zu viel gelesen wird, als daß sie weise wäre, und zu viel gedacht, als daß sie schön wäre. Wir können Sie nicht entbehren. Jetzt müssen Sie sich aber anziehen und in den Klub fahren. Wir kommen sowieso schon zu spät.«
»Ich glaube, ich treffe Sie lieber in der Oper, Henry. Ich bin zu müde, um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge Ihrer Schwester?«
»Siebenundzwanzig, glaube ich. Im ersten Rang. Sie werden ihren Namen an der Tür lesen. Aber es tut mir leid, daß Sie nicht mit zum Diner kommen wollen.«
»Ich fühle mich dazu nicht aufgelegt,« sagte Dorian teilnahmlos, »aber ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie gesagt haben. Sie sind wirklich mein bester Freund. Niemand hat mich je so verstanden wie Sie.«
»Wir sind erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian«, erwiderte Lord Henry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu. Ich hoffe, Sie vor halb zehn zu sehen. Vergessen Sie nicht: die Patti singt.«
Als er die Tür hinter sich schloß, klingelte Dorian Gray. Nach ein paar Minuten kam Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig, daß der Diener hinausginge. Er schien eine unglaubliche Zeit für alles zu brauchen.
Sobald der Diener draußen war, rannte er zu dem Schirm und zog ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nun nicht mehr verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt hatte. Es kannte die Ereignisse des Daseins, so wie sie sich ereigneten. Dieser Zug sündiger Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes verunstaltete, war wohl in demselben Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen das Gift getrunken hatte. Oder war für das Bild die Wirkung der Tat gleichgültig? Nahm es nur von den Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er war begierig, dies zu wissen, und hoffte, eines Tages eine solche Wandlung des Bildes vor seinen Augen geschehen zu sehen, und schauderte bei der Hoffnung zusammen.
Die arme Sibyl! Was für ein Roman es gewesen war! Sie hatte oft den Tod auf der Bühne dargestellt. Dann hatte sie der Tod selbst berührt und weggeholt. Wie mochte sie jene grauenvolle letzte Szene gespielt haben? Hatte sie ihn sterbend verflucht? Nein; sie war ja aus Liebe zu ihm gestorben. Und die Liebe sollte nun immer ein Heiligtum für ihn sein. Nun hatte sie ja alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem furchtbaren Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie denken wollte, sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die Weltbühne geschickt wurde, um die höchste Wirklichkeit der Liebe zu erweisen. Eine wundersam tragische Gestalt? In seine Augen traten Tränen, als er sich ihres Kinderblicks, ihrer gewinnenden, phantastischen Gebärden, ihrer scheuen, zaghaften Anmut erinnerte. Er verscheuchte hastig diese Bilder und blickte wieder auf das Porträt.
Er fühlte, daß nun der Augenblick gekommen sei, zu wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das Leben selbst hatte an seiner Statt entschieden – das Leben und seine unermeßliche Lebensneugier. Ewige Jugend, unendliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle Genüsse, wilde Freuden, noch wildere Sünden – all das sollte er haben. Das Bildnis aber mußte die Last seiner Schmach tragen: so war es.
Ein schmerzliches Gefühl durchschlich ihn, als er an die Entweihung dachte, die dieses schöne Gesicht auf der Leinwand erwartete. Einmal, in knabenhafter Parodie des Narzissus, hatte er die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam anlächelten, geküßt oder doch getan, als ob er sie küsse. Morgen für Morgen hatte er vor dem Bilde gesessen, seine Schönheit angestaunt; manchmal hatte er sich selbst gesagt, er sei in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun mit jeder Laune, der er sich hingab, wandeln? Sollte es ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im versperrten Winkel verstecken, vom Glanz der Sonne, die so oft das wallende Wunder seines Haares noch herrlicher vergoldet hatte, abschließen müßte? Wie schade! Wie schade!
Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die grauenhafte Sympathie, die zwischen ihm und dem Bilde bestand, aufhöre. Es hatte sich verwandelt, da er darum gebeten hatte; es mochte vielleicht wenn er darum bäte, auch wieder unverändert bleiben. Und dennoch – wer, der vom Leben eine Ahnung hat, würde die Möglichkeit, immer jung zu bleiben, aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so phantastisch, mit noch so schicksalsschweren Folgen verknüpft sein? Und überdies, stand es wirklich in seiner Macht? War wirklich jener Wunsch die Ursache des Tausches? Konnte es nicht für die ganze Sache irgendeine merkwürdige, in der Wissenschaft begründete Ursache geben? Wenn die Gedanken eine Wirkung auf einen lebenden Organismus ausüben konnten, konnte es da nicht möglich sein, daß Gedanken auch auf tote unorganische Dinge einwirkten? Mehr noch: konnten nicht, ohne daß Gedanken, bewußte Wünsche eingreifen, Objekte, die ganz außerhalb unserer Person stehen, im Einklange mit unseren Launen oder Leidenschaften erzittern? Atom zu Atom in geheimer Neigung, seltsamer Verwandtschaft sprechen? Doch was lag schließlich an den Gründen? Er wollte nie mehr durch Gebet eine furchtbare Macht versuchen. Wenn dem Bildnis bestimmt war, sich zu wandeln, so sollte es sich wandeln. Daran war nicht zu rütteln. Warum sollte er zu tief in dies Geheimnis eindringen?
Denn es mußte in der Tat ein Genuß sein, diesen Vorgang zu beobachten. Er würde nun fähig sein, seinem Geist in alle seine Verstecke zu folgen. Dies Bild sollte ihm der zauberhafteste Spiegel sein. So wie es ihm seinen Körper geoffenbart hatte, sollte es ihm nun die Seele enthüllen. Und wenn der Winter darüber hereinbrach, dann stand er noch immer an der schwanken Grenzlinie von Frühling und Sommer. Wenn sich das Blut aus dem Gesicht fortschlich und nur eine kreidebleiche Maske mit bleischweren Augen zurückließ, dann bewahrte er noch den Glanz der frühen Jugend. Kein Blütenreiz seiner Lieblichkeit sollte welken. Kein Blutschlag des Lebens aussetzen. Wie die Götter der Griechen würde er stark, behend, heiter bleiben. Was lag daran, was aus dem gemalten Gesicht auf der Leinwand ward? Er selbst war sicher. Das war die Hauptsache.
Er zog den Schirm wieder vor das Bild und lächelte, während er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo der Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper, und Lord Henry beugte sich über seinen Stuhl.