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Neuntes Kapitel

Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ein.

»Es freut mich sehr, daß ich Sie getroffen habe, Dorian«, sagte er ernsthaft. »Ich war gestern abend hier, und da sagte man mir, daß Sie in der Oper seien. Ich habe natürlich gewußt, daß das unmöglich ist. Aber es wäre mir lieber gewesen. Sie hätten hinterlassen, wo Sie in Wirklichkeit waren. Ich habe einen schrecklichen Abend verbracht, halb in der Angst, daß eine Tragödie der andern folgen würde. Ich denke, Sie hätten mir telegraphieren können, als Sie die Nachricht erhielten. Ich habe es durch Zufall in einer Abendausgabe des ›Globe‹ gelesen, die mir im Klub in die Hände kam. Ich bin sofort hierher gelaufen und war unglücklich, daß ich Sie nicht zu Hause antraf. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir die ganze Sache das Herz abdrückt. Ich weiß, was Sie leiden müssen. Aber wo waren Sie? Sind Sie hingefahren und haben die Mutter des Mädchens besucht? Einen Moment habe ich daran gedacht. Ihnen dorthin zu folgen. In der Zeitung stand die Adresse, irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich hatte Angst, zudringlich zu sein, wo ich doch das Leid nicht mindern konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein! Und noch dazu das einzige Kind! Was hat sie zu all dem gesagt?«

»Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« flüsterte Dorian Gray, nippte etwas blaßgelben Wein aus dem zarten, goldgeränderten Becher eines venezianischen Glases und sah überaus gelangweilt aus. »Ich war in der Oper. Sie hätten auch hinkommen sollen. Ich habe dort Henrys Schwester, Lady Gwendolen, kennengelernt. Wir waren in ihrer Loge. Sie ist ganz scharmant, und die Patti hat göttlich gesungen. Sprechen Sie nicht von schrecklichen Dingen. Wenn man über eine Sache nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Henry hat ganz recht: nur was man äußert, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Beiläufig war sie nicht das einzige Kind der alten Frau. Es ist noch ein Sohn da, ein prächtiger Junge vermutlich. Aber er ist nicht beim Theater. Er ist Matrose oder so etwas Ähnliches. Und jetzt erzählen Sie mir etwas von sich. Was malen Sie jetzt?«

»Sie sind in der Oper gewesen«, sagte Hallward sehr langsam mit schmerzerfüllter Stimme. »Sie waren in der Oper, während Sibyl Vane tot in einer schmutzigen Stube lag? Sie können mir erzählen, daß andere Frauen scharmant sind und daß die Patti göttlich gesungen hat, bevor noch das Mädchen, das Sie geliebt haben, die Ruhe eines Grabes zum ewigen Schlaf gefunden hat? Denken Sie doch, Mensch, welche Schrecken auf den kleinen weißen Körper warten.«

»Hören Sie auf, Basil, ich will es nicht hören!« rief Dorian und sprang auf. »Sie dürfen mir über diese Dinge nichts sagen. Was geschehen ist, ist geschehen. Die Vergangenheit ist vergangen.«

»Nennen Sie gestern die Vergangenheit?«

»Was hat die tatsächlich verstrichene Zeit damit zu tun? Nur seichte Menschen brauchen Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann ein Leid ebenso leicht beenden, wie er eine neue Lust erfinden kann. Ich will nicht das Spielzeug meiner Gefühle sein. Ich will sie benützen, mich an ihnen freuen und sie beherrschen.«

»Dorian, es ist schrecklich. Irgend etwas hat Sie ganz verändert. Sie sehen noch genau so aus wie der wunderschöne Junge, der Tag für Tag in mein Atelier kam und mir für mein Bild saß. Aber damals waren Sie ein einfacher, natürlicher und herzlicher Mensch. Sie waren das unverdorbenste Wesen auf der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über Sie gekommen ist. Sie sprechen, als hätten Sie kein Herz, kein Mitleid. Das ist Henrys Wirkung …«

Der junge Mensch wurde ganz rot, ging zum Fenster hinüber, sah einige Augenblicke auf den grün schimmernden, von der Sonne gestreiften Garten. »Ich schulde Henry sehr, sehr viel, Basil,« sagte er schließlich, »mehr als ich Ihnen schulde. Sie haben mich nur gelehrt, eitel sein.«

»Ich bin gestraft genug dafür, Dorian, oder werde es eines Tages sein.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Basil«, rief Dorian aus und drehte sich um. »Ich weiß nicht, was Sie wollen! Was wollen Sie?«

»Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe«, sagte der Künstler traurig.

»Basil«, erwiderte der Jüngling und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie sind zu spät gekommen. Als ich gestern hörte, daß sich Sibyl Vane getötet hat …«

»Sich getötet? Gott im Himmel, ist das ganz sicher?« rief Hallward und sah ihn mit dem Ausdruck des äußersten Schreckens an.

»Mein lieber Basil, Sie glauben doch nicht, daß es nur ein gewöhnlicher Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich selbst umgebracht.«

Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. Er flüsterte: »Wie schrecklich!« und ein Schauer rann durch seinen Körper.

»Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist gar nichts Schreckliches daran. Es ist eine der großen romantischen Tragödien unserer Zeit. Gewöhnlich führen Schauspieler das alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner, treue Frauen oder sonst irgend etwas Langweiliges. Sie verstehen, was ich meine – mittelmäßige Tugend und lauter solche Dinge. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre edelste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. An dem letzten Abend, an dem sie spielte, an dem Abend, an dem Sie sie gesehen haben, spielte sie schlecht, weil sie die wirkliche Liebe erkannt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb sie, so wie wahrscheinlich Julia daran gestorben wäre. Sie tauchte wieder unter in das Reich der Kunst. Sie hat etwas von einer Märtyrerin. Ihr Tod hatte alle pathetische Nutzlosigkeit der Märtyrerschaft, all diese vergeudete Schönheit. Aber wie ich schon gesagt habe: Sie dürfen nicht glauben, daß ich nicht gelitten habe. Wenn Sie gestern in einem bestimmten Augenblick, um einhalb sechs vielleicht oder um dreiviertel sechs, gekommen wären, dann hätten Sie mich in Tränen gefunden. Selbst Henry, der hier war und mir die Nachricht brachte, hatte keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt unsäglich. Dann ging es vorbei. Ich kann ein Gefühl nicht wiederholen. Niemand kann das außer sentimentalen Menschen. Und Sie sind furchtbar ungerecht gegen mich. Sie kommen hierher, um mich zu trösten, das ist reizend von Ihnen. Sie finden mich getröstet und sind wütend. Sie sind ganz so wie alle mitleidigen Menschen. Sie erinnern mich an eine Geschichte, die mir Henry über einen Philanthropen erzählt hat, der zwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht hat, irgendein Unrecht gut machen, zu helfen oder ein ungerechtes Gesetz zu ändern – ich kann mich nicht mehr erinnern, was es genau war. Schließlich gelang ihm das, und nichts konnte größer sein als seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu tun, starb vor Langeweile und wurde ein unversöhnlicher Menschenfeind. Und außerdem, mein lieber, alter Basil, wenn Sie mich wirklich trösten wollen, so lehren Sie mich lieber, was geschehen ist, vergessen, oder es von der rein künstlerischen Seite ansehen. Ist es nicht Gautier gewesen, der über die › consolation des arts‹ geschrieben hat? Ich erinnere mich, daß ich einmal in Ihrem Atelier ein kleines, in Pergament gebundenes Buch in die Hand nahm und dort auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. Nun, ich bin ja nicht wie der junge Mann, von dem Sie mir einmal in Marlow erzählt haben, der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne ihn über alles Elend der Welt hinwegtrösten. Ich liebe schöne Dinge, die man in die Hand nehmen und angreifen kann. Alter Brokat, grün patinierte Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine schöne Umgebung, Luxus, Prunk: all das sind Dinge, die einem viel geben können. Aber die künstlerische Gesinnung, die sie erzeugen oder zum mindesten offenbaren, bedeutet mir mehr. Ein Zuschauer seines eigenen Lebens sein, wie Henry sagt, das ist der Weg, um den Schmerzen zu entrinnen. Ich weiß, Sie sind erstaunt, daß ich so mit Ihnen spreche. Sie haben noch nicht bemerkt, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein Schulknabe, als Sie mich getroffen haben. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Ideen. Ich bin anders, aber Sie müssen mich trotzdem liebhaben. Ich bin verändert, aber Sie müssen immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Henry sehr gern. Aber ich weiß auch, daß Sie besser sind als er. Sie sind nicht stärker, dazu ängstigen Sie sich zu viel vor dem Leben. Aber Sie sind besser. Und wie glücklich waren wir miteinander! Verlassen Sie mich nicht, Basil, und zanken Sie nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann man nicht sagen.«

Der Maler war seltsam bewegt. Dieser junge Mensch war ihm unendlich teuer, und seine Persönlichkeit war der große Wendepunkt seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch mehr Vorwürfe zu machen. Seine Gleichgültigkeit war wahrscheinlich nur eine Laune, die vorbeigehen würde. Es war ja so viel Gutes, so viel Edles in ihm.

»Gut, Dorian,« sagte er schließlich mit einem traurigen Lächeln, »wir wollen nie mehr über diese furchtbare Sache sprechen. Ich hoffe nur, Ihr Name wird nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenbeschau soll heute nachmittag sein. Sind Sie vorgeladen worden?«

Dorian schüttelte den Kopf, und ein Zug des Ärgers ging über sein Gesicht, als das Wort ›Leichenbeschau‹ ausgesprochen wurde. In all diesen Dingen lag etwas so Rohes und Gemeines. »Man kennt meinen Namen nicht«, antwortete er.

»Aber sie wußte ihn doch?«

»Nur meinen Vornamen. Und den hat sie gewiß niemand gesagt. Sie erzählte mir einmal, daß alle sehr begierig seien, zu erfahren, wer ich bin, und daß sie ihnen immer sage, ich heiße der Märchenprinz. Es war hübsch von ihr. Sie müssen für mich eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich möchte von ihr mehr haben als die Erinnerung an ein paar Küsse und einige gestammelte pathetische Worte.«

»Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich Ihnen damit eine Freude bereite. Aber Sie selbst müssen mir wieder sitzen. Ich komme ohne Sie nicht weiter.«

Dorian schrak zurück und rief aus: »Ich kann Ihnen nie wieder sitzen, Basil, das ist unmöglich!«

Der Maler starrte ihn an. »Was für ein Unsinn, mein lieber Junge«, rief er. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie mein Bild von sich nicht gut finden? Wo ist es? Warum haben Sie den Schirm davor gestellt? Lassen Sie es mich sehen. Es ist das Beste, was ich je gemacht habe. Nehmen Sie den Schirm weg, Dorian. Es ist einfach eine Schande, daß Ihr Diener mein Bild so versteckt. Ich hatte gleich, wie ich eintrat, das Gefühl, der Raum sei ganz verändert.«

»Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Sie bilden sich doch nicht ein, daß ich ihn mein Zimmer für mich ordnen lasse. Er stellt manchmal die Blumen in die Gefäße, das ist alles. Nein, ich habe es selbst getan. Das Licht war zu stark für das Bild.«

»Zu stark? Das können Sie doch nicht wirklich glauben? Es hat einen wunderbaren Platz. Lassen Sie mich sehen!« und Hallward schritt in den Winkel des Zimmers.

Ein Schrei des Schreckens entrang sich den Lippen Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und den Schirm. Er sah ganz bleich aus.

»Basil,« sagte er, »Sie dürfen es nicht sehen. Ich will es nicht.«

»Mein eigenes Bild nicht sehen? Das ist nicht Ihr Ernst! Warum soll ich es nicht ansehen?« rief Hallward lachend.

»Basil, wenn Sie versuchen, es anzusehen, gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß ich, solange ich lebe, nie mehr ein Wort mit Ihnen spreche. Es ist mein völliger Ernst. Ich gebe Ihnen keine Erklärung, und Sie sollen mich um keine bitten. Aber denken Sie daran: wenn Sie den Schirm anrühren, dann ist alles zwischen uns vorbei.«

Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian Gray in sprachlosem Staunen an. So hatte er ihn nie vorher gesehen. Der Jüngling war von Zorn ganz bleich, seine Hände waren ineinander gepreßt, und die Pupillen seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerscheiben. Er zitterte am ganzen Leibe.

»Dorian …«

»Sagen Sie nichts!«

»Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht an, wenn Sie es nicht wollen«, sagte der Maler ziemlich kühl, drehte sich um und ging zum Fenster. »Aber, ernsthaft gesprochen, scheint es mir ganz verrückt, daß ich mein eigenes Bild nicht sehen soll, besonders jetzt, wo ich es im Herbst in Paris ausstellen will. Ich werde es vielleicht vorher noch einmal firnissen müssen, werde es also eines Tages doch gewiß sehen. Warum also nicht heute?«

»Es ausstellen? Sie wollen es ausstellen?« rief Dorian Gray, den ein seltsames Angstgefühl überkam. Sollte die ganze Welt sein Geheimnis erfahren? Sollte das Volk das Mysterium seines Lebens begaffen? Das war unmöglich. Irgend etwas – er wußte noch nicht was – mußte sofort geschehen.

»Ja; Sie haben doch wohl nichts dagegen. Georges Pitt will meine besten Bilder für eine Kollektivausstellung in der Rue de Sèze sammeln, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird nur einen Monat weg sein. Ich denke, so lange können Sie es leicht entbehren. Sie sind während dieser Zeit sowieso nicht hier, und wenn Sie es ohnehin hinter einem Schirm versteckt halten, kann Ihnen ja nicht viel daran gelegen sein.«

Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Schweißtropfen standen darauf. Er fühlte, daß er am Rande einer fürchterlichen Gefahr stehe. »Sie haben mir vor einem Monat gesagt, daß Sie es nicht ausstellen würden«, rief er. »Warum haben Sie sich anders entschlossen? Ihr Leute, die ihr behauptet, ihr seid konsequent, habt genau so viel Launen wie die anderen. Der einzige Unterschied ist, daß eure Launen recht sinnlos sind. Sie können nicht vergessen haben, daß Sie mir in der feierlichsten Weise versichert haben, nichts in der Welt könne Sie bewegen, das Bild auf eine Ausstellung zu schicken. Sie haben zu Henry ganz dasselbe gesagt.« Er stockte plötzlich und ein Glanz kam in seine Augen. Er erinnerte sich, daß ihm Lord Henry einmal halb ernst und halb lachend gesagt hatte: »Wenn Sie je eine merkwürdige Viertelstunde erleben wollen, dann lassen Sie sich von Basil sagen, warum er Ihr Porträt nicht ausstellen will. Er hat es mir erzählt, und es war für mich eine Offenbarung.« Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte ihn auf die Probe stellen.

Er ging ganz nahe zu ihm heran, sah ihm fest ins Gesicht und sagte: »Basil, jeder von uns hat ein Geheimnis. Sagen Sie mir das Ihre, und ich werde Ihnen meines sagen. Was für einen Grund hatten Sie, die Ausstellung meines Bildes abzulehnen?«

Der Maler konnte sich eines Schauderns nicht erwehren. »Dorian, wenn ich es Ihnen sagte, würden Sie mich wahrscheinlich weniger liebhaben, und gewiß würden Sie mich auslachen. Keines von beiden könnte ich ertragen. Wenn Sie wollen, daß ich nie mehr mein Bild ansehen soll, dann gebe ich mich zufrieden. Ich kann Sie selbst ja immer ansehen. Wenn Sie wollen, daß die beste Arbeit, die ich je gemacht habe, vor der Welt versteckt werden soll, so gebe ich mich zufrieden. Ihre Freundschaft ist mir mehr wert als Ruhm und Anerkennung.«

»Nein, Basil, Sie müssen es mir sagen. Ich glaube, ich habe ein Recht darauf, es zu wissen.« Das Angstgefühl hatte ihn verlassen, und Neugierde hatte seinen Platz eingenommen. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu kommen.

»Wir wollen uns setzen, Dorian«, sagte der Maler, der unruhig aussah. »Setzen wir uns, und beantworten Sie mir nur eine Frage. Haben Sie an dem Bild etwas Merkwürdiges bemerkt – etwas, das Ihnen zuerst vielleicht nicht aufgefallen ist und das sich Ihnen dann plötzlich enthüllt hat?«

»Basil!« schrie der Jüngling, umklammerte die Lehnen seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, verstörten Augen an.

»Ich sehe, Sie haben es gemerkt. Sagen Sie nichts. Warten Sie, bis Sie hören, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Augenblick an, wo ich Sie kennengelernt habe, hat Ihre Persönlichkeit den außerordentlichsten Einfluß auf mich gehabt. Ich war beherrscht von Ihnen. Meine Seele, mein Gehirn, meine ganze Kraft. Sie wurden für mich die sichtbare Verkörperung jenes unsichtbaren Ideals, dessen Bild uns Künstlern wie ein köstlicher Traum in der Nacht erscheint. Ich habe Sie angebetet. Ich bin eifersüchtig auf jeden Menschen gewesen, mit dem Sie sprachen. Ich wollte Sie ganz für mich allein haben. Ich war nur glücklich, wenn ich bei Ihnen war. Wenn Sie nicht bei mir waren, waren Sie in meiner Kunst trotzdem gegenwärtig. Natürlich habe ich Ihnen nie etwas davon gesagt. Das wäre mir unmöglich gewesen. Sie hätten es auch nicht verstanden. Ich selbst habe es kaum verstanden. Ich wußte nur, daß ich Auge in Auge die Vollkommenheit gesehen hatte, daß sich die Welt meinen Augen als ein Wunder offenbart hatte vielleicht als ein zu mächtiges Wunder. Denn in solch wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr. Nicht weniger die Gefahr, den Gegenstand der Anbetung zu verlieren als ihn zu behalten … Wochen und Wochen vergingen, und ich lebte mehr und mehr in Ihnen. Dann kam ein neues Stadium. Ich hatte Sie als Paris in zierlicher Rüstung gemalt und als Adonis im Jägerrock mit glänzendem Speer. Gekrönt mit schweren Lotosblumen, hatten Sie auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und in den grünen, schlammigen Nil geblickt. Sie hatten sich über das stille Gewässer eines griechischen Gehölzes gelehnt und im stummen Silberspiegel die Pracht Ihres eigenen Antlitzes gesehen. Und all das war gewesen, wie die Kunst sein soll: unbewußt, ideal, weit weg. Dann entschloß ich mich eines Tages, manchmal denke ich, es war ein schicksalsschwerer Tag, ein wundervolles Bildnis von Ihnen zu malen, so wie Sie wirklich waren, nicht im Kostüm toter Zeiten, sondern in Ihrem eigenen Kleide, in Ihrer eigenen Zeit. Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der Zauber Ihrer eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden Schleier und Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, daß mir bei der Arbeit jede Farbschicht mein Geheimnis zu offenbaren schien. Ich ängstigte mich, daß andere die Abgötterei, die ich mit Ihnen trieb, entdecken könnten. Ich fühlte, Dorian, daß ich zu viel gesagt, daß ich zu viel von mir in dieses Bild gelegt hatte. Damals habe ich den Entschluß gefaßt, das Bild nie auszustellen. Es kränkte Sie ein wenig, aber Sie verstanden eben nicht, was es für mich bedeutet. Henry, dem ich davon erzählte, lachte mich aus. Aber das machte mir nichts. Als das Bild fertig war und ich allein mit ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht gehabt hatte … Ein paar Tage später, als es dann aus meinem Atelier draußen war und sobald ich die unerträgliche Wirkung seiner Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, daß es verrückt von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als daß Sie sehr hübsch sind und ich malen kann. Selbst jetzt bin ich der Überzeugung, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, daß jemals das Gefühl, das man beim Schaffen hat, in dem Werk, das man schafft, zum Ausdruck kommt. Die Kunst ist immer viel abstrakter, als wir uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe – sonst nichts. Es scheint mir oft, daß die Kunst den Künstler viel mehr verbirgt als enthüllt. Als ich dann den Antrag aus Paris bekam, entschloß ich mich, Ihr Bild zum Mittelpunkt der Ausstellung zu machen. Es fiel mir nie ein, daß Sie es nie zugeben würden. Ich sehe jetzt, daß Sie recht haben. Das Bild kann nicht ausgestellt werden. Sie dürfen mir wegen der Dinge, die ich gesagt habe, nicht böse sein, Dorian. Ich habe es früher einmal Henry gesagt: Sie sind geschaffen, um angebetet zu werden.«

Dorian Gray atmete auf. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Die Gefahr war vorbei. Für den Augenblick war er sicher. Doch er fühlte unermeßliches Mitleid mit dem Maler, der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und fragte sich, ob er selbst je so von der Persönlichkeit eines Freundes beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu klug und zu zynisch, als daß man ihn je lieben könnte. Würde es je einen Menschen geben, der ihn mit einem solchen merkwürdigen Götzenglauben erfüllen könnte? War das etwas, was ihm das Leben noch aufsparte?

»Es ist mir ein Rätsel,« fuhr Hallward fort, »daß Sie das in dem Porträt gesehen haben. Haben Sie es wirklich gesehen?«

»Ich habe etwas darin gesehen,« antwortete er, »etwas, was mir sehr sonderbar erschien.«

»Und jetzt gestatten Sie mir wohl, es wieder einmal zu betrachten?«

Dorian schüttelte den Kopf. »Sie dürfen das von mir nicht verlangen, Basil. Es ist mir nicht möglich. Sie vor das Bild zu führen.«

»Aber einmal werden Sie es mir erlauben?«

»Nie!«

»Gut … Vielleicht haben Sie recht. Und jetzt adieu, Dorian. Sie sind der eine Mensch in meinem Leben gewesen, der wirklich einen Einfluß auf meine Kunst gehabt hat. Was ich je Gutes gemacht habe, schulde ich Ihnen. Ach, Sie können sich ja doch nicht vorstellen, was es mich gekostet hat. Ihnen all das zu sagen, was ich Ihnen gesagt habe.«

»Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was haben Sie mir denn gesagt? Nichts, als daß Sie das Gefühl haben, mich zu sehr bewundert zu haben. Das ist nicht einmal ein Kompliment.«

»Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine Beichte. Jetzt, da ich sie abgelegt habe, scheint mir, daß etwas von mir fortgegangen ist. Man sollte vielleicht seine Liebe nie in Worte kleiden.«

»Ihre Beichte hat mich enttäuscht.«

»Was haben Sie erwartet, Dorian? Sie haben doch sonst nichts in dem Bilde gesehen? Es war doch sonst nichts zu sehen?«

»Nein, es war sonst nichts zu sehen. Warum fragen Sie? Aber Sie dürfen nicht von Liebe sprechen. Das ist Wahnsinn. Wir beide sind Freunde, Basil, und wir müssen es immer bleiben.«

»Sie haben jetzt Henry«, sagte der Maler traurig.

»Oh, Henry!« rief der junge Mann mit einem leichten Lachen. »Henry verbringt seine Tage damit, unglaubliche Dinge zu sagen, und seine Abende, unwahrscheinliche Dinge zu tun. Das ist genau das Leben, das ich führen möchte. Trotzdem glaube ich nicht, daß ich je zu Henry ginge, wenn ich in Leid wäre. Ich würde eher zu Ihnen kommen.«

»Sie wollen mir wieder sitzen?«

»Das ist unmöglich.«

»Sie zerstören meine künstlerische Existenz, wenn Sie es verweigern. Kein Mensch begegnet zwei Idealen, wenige finden eins.«

»Ich kann es Ihnen nicht erklären, Basil, aber ich darf Ihnen nie wieder sitzen. Es liegt ein sonderbares Schicksal über meinem Bildnis. Es hat ein Leben für sich. Ich werde zu Ihnen kommen und werde mit Ihnen Tee trinken. Das wird genau so angenehm sein.«

»Für Sie angenehmer, fürchte ich«, flüsterte Hallward bekümmert. »Und jetzt adieu. Es tut mir leid, daß Sie mich nicht noch einmal das Bild sehen lassen wollen. Aber da kann man nichts tun. Ich verstehe sehr gut, wie Sie das fühlen.«

Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian Gray zu. Der arme Basil! Wie wenig wußte er doch von dem wahren Grund! Und wie seltsam es war, daß er, statt sich gezwungen zu sehen, sein eigenes Geheimnis zu offenbaren, fast durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine zu entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige Beichte! Des Malers unverständliche Eifersuchtsanfälle, seine ungestüme Verehrung, seine übertriebenen Lobhymnen, sein manchmal so sonderbares Verstummen – all das verstand er jetzt, und er tat ihm leid. In einer Freundschaft, die so von Romantik gefärbt war, glaubte er eine gewisse Tragik zu sehen.

Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt mußte um jeden Preis versteckt werden. Er konnte sich der Gefahr einer Entdeckung nicht ein zweites Mal aussetzen. Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding überhaupt da zu lassen, wenn auch nur eine Stunde lang, in einem Zimmer, zu dem jeder seiner Freunde Zutritt hatte.


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