Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel

An demselben Abend um ein halb neun Uhr wurde Dorian Gray, der aufs sorgsamste angezogen war und im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen trug, von sich tief verbeugenden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Auf seiner Stirne zitterten die überreizten Nerven, und er fühlte eine wahnsinnige Erregung, aber seine Gebärde, als er sich über die Hand der Wirtin beugte, war ebenso leicht und anmutig wie stets. Vielleicht sieht man nie so gelassen und sicher aus, als wenn man eine Rolle spielt. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an diesem Abend gesehen hätte, geglaubt, daß er soeben eine Tragödie durchgemacht habe, die so schrecklich war wie irgendeine unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer umklammert haben, um eine Todsünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und die Tugend geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens wundern. Einen Augenblick spürte er lebhaft die grauenvolle Lust eines Doppellebens.

Es war nur eine kleine Gesellschaft, ziemlich eilig von Lady Narborough veranstaltet. Die Wirtin war eine sehr gescheite Frau mit beträchtlichen Überbleibseln hervorragender Häßlichkeit, wie Lord Henry zu sagen pflegte. Sie war einem unserer langweiligsten Gesandten eine ausgezeichnete Frau gewesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie es sich geziemte, in einem marmornen Mausoleum, das nach ihren eigenen Zeichnungen erbaut worden war, bestattet und ihre Töchter an einige reiche, ziemlich ältliche Männer verheiratet hatte, widmete sie sich jetzt den Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Esprits, wenn sie ihn bekommen konnte.

Dorian war einer ihrer besonderen Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie sei sehr froh darüber, ihn nicht früher kennengelernt zu haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich fürchterlich in Sie verliebt«, pflegte sie zu sagen, »und hätte Ihnen schlankweg die Rose von der Brust weg zugeworfen. Es ist ein großes Glück, daß man zu der Zeit noch gar nicht an Sie dachte. Wie damals die Dinge lagen, habe ich nicht einmal eine Liebelei mit jemand gehabt. Aber das war nur die Schuld Narboroughs. Er war fürchterlich kurzsichtig, und es ist gar kein Vergnügen, einen Mann zu betrügen, der nie etwas sieht.«

Ihre Gäste an diesem Abend waren ziemlich langweilig. Die Sache war so, erklärte sie Dorian hinter einem sehr schäbigen Fächer: eine ihrer verheirateten Töchter sei plötzlich zu Besuch gekommen und habe, was die Sache noch ärger machte, allen Ernstes ihren Mann mitgebracht. »Ich finde das sehr unfreundlich von ihr, mein Lieber«, flüsterte sie ihm zu. »Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg zurückkomme. Aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie haben keine Ahnung, was für ein Leben sie dort führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der ganzen Umgebung war seit der Zeit der Königin Elisabeth kein Skandal, und infolgedessen schlafen sie alle miteinander nach dem Diner ein. Sie sollen aber nicht neben einem der beiden sitzen, Sie sollen neben mir sitzen und mich amüsieren.«

Dorian flüsterte ein anmutiges Kompliment und sah sich im Zimmer um. Ja, es war in der Tat eine langweilige Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte er noch nie gesehen, und die anderen – da war Ernest Harrowden, eine jener Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man in Londoner Klubs so häufig begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann; dann Lady Ruxton, ein aufgeputztes Weib von siebenundvierzig Jahren mit einer Hakennase, die sich immer anstrengte, sich zu kompromittieren, aber so ausgesprochen häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung nie jemand etwas Schlechtes von ihr glauben wollte; Mrs. Erlynne, eine aufdringliche Null mit einem entzückenden Lispeln und venetianischrotem Haar; Lady Alice Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlecht gekleidete, langweilige Person mit einem jener charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie mehr erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat; und ihr Mann, ein rotwangiger, weißbärtiger Mensch, der, wie so viele seiner Kaste, sich einbildete, daß übertriebene Jovialität für den vollständigen Mangel an Einfällen ein Ersatz sei.

Es tat ihm beinahe leid, daß er hingegangen war, bis Lady Narborough mit einem Blick auf die große goldene Pendeluhr, die sich in geschmacklosen Linien auf dem mauvebehängten Kamin spreizte, ausrief: »Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich habe heute früh auf gut Glück zu ihm hinübergeschickt, und er hat fest versprochen, mich nicht sitzen zu lassen.«

Es war ein Trost, daß Henry kommen sollte, und als sie die Tür dann öffnete und er seine langsame, musikalische Stimme irgendeine läppische Ausrede bezaubernd vorbringen hörte, schwand sein Unbehagen.

Trotzdem konnte er bei Tisch nichts essen. Platte nach Platte wurde unberührt weggetragen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin »eine Insulte gegen den armen Adolphe sah, der das ganze Menu eigens für ihn erfunden habe«, und dann und wann blickte Lord Henry zu ihm hinüber, voll Staunen über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen.

»Dorian,« sagte Lord Henry schließlich, als man das Chaud-froid herumreichte, »was ist heute abend mit Ihnen los? Sie sind ja ganz verstimmt.«

»Ich glaube, er ist verliebt«, sagte Lady Narborough »und hat Angst, es mir zu sagen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig wäre. Er hat auch ganz recht.«

»Liebe Lady Narborough,« flüsterte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer ganzen Woche nicht verliebt gewesen – genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol weg ist.«

»Wie ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame. »Ich kann es wirklich nicht verstehen.«

»Ach, Sie begreifen es nur deshalb nicht, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough«, sagte Lord Henry. »Sie ist das einzige Band zwischen uns und Ihren kurzen Kleidern.«

»Sie erinnert sich wirklich nicht an meine kurzen Kleider, Lord Henry. Aber ich erinnere mich sehr gut an sie in Wien vor dreißig Jahren und wie dekollettiert sie damals war.«

»Sie ist noch immer dekollettiert«, antwortete er und nahm eine Olive in seine langen Finger. »Und wenn sie ein sehr schönes Kleid anhat, steht sie aus wie eine Luxusausgabe eines schlechten französischen Romans. Sie ist wirklich wunderbar und voll Überraschungen. Ihre Begabung für Familienliebe ist ganz außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr Haar aus Trauer ganz goldgelb.«

»Wie können Sie so etwas sagen, Henry!« rief Dorian.

»Es ist eine höchst romantische Erklärung«, meinte die Wirtin lächelnd. »Aber ihr dritter Mann, Lord Henry? Sie wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?«

»Doch, gerade das.«

»Ich glaube kein Wort davon.«

»Dann fragen Sie Mr. Gray. Er ist einer ihrer intimsten Freunde.«

»Ist das wahr, Mr. Gray?«

»Sie selbst sagt es, Lady Narborough«, erwiderte Dorian. »Ich fragte, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert und am Gürtel hängen hat. Sie sagte mir, sie tue das nicht, weil keiner von ihnen überhaupt ein Herz gehabt habe.«

»Vier Männer! Auf mein Wort, das ist trop de zèle.«

» Trop d'audacesage ich ihr.«

»Oh, sie hat Mut für alles, mein Lieber. Und was für ein Mensch ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht!«

»Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse«, sagte Lord Henry und nippte an seinem Weine.

Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, es ist wirklich kein Wunder, daß die ganze Welt klagt, wie schlecht Sie sind.«

»Aber welche ganze Welt sagt das?« fragte Lord Henry, seine Augenbrauen hebend. »Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen ausgezeichnet miteinander.«

»Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr schlecht sind!« rief die alte Dame, den Kopf schüttelnd.

Lord Henry sah einige Augenblicke ernst aus. »Es ist ganz ungeheuerlich,« sagte er schließlich, »wie die Leute heutzutage herumgehen und hinter unserem Rücken Dinge über uns sagen, die vollständig wahr sind.«

»Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich in seinem Stuhl vor.

»Ich hoffe«, sagte die Wirtin lachend. »Aber wenn Sie wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so werde ich mich verheiraten müssen, um wieder in Mode zu kommen.«

»Sie werden sich nie wieder verheiraten, Lady Narborough«, unterbrach Lord Henry. »Sie waren zu glücklich. Wenn eine Frau sich wieder verheiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann sich wieder verheiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Die Frauen versuchen ihr Glück, die Männer setzen ihres aufs Spiel.«

»Narborough war nicht vollkommen!« rief die alte Dame.

»Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, teure Frau«, war die Antwort. »Die Frauen lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zum Diner einladen, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist ganz wahr.«

»Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht um eurer Fehler willen liebten, wohin kämet ihr? Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein, und ihr wärt eine Gesellschaft unglücklicher Junggesellen. Das heißt, Sie würde das nicht viel ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.«

» Fin de sièce«, flüsterte Lord Henry.

» Fin du globe«, entgegnete die Wirtin.

»Ich wollte, es wäre fin du globe«, seufzte Dorian. »Das Leben ist eine große Enttäuschung.«

»Ah, mein Lieber!« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an, »sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist ein sehr schlechter Mensch, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch gewesen. Aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein – Sie sehen so gut aus. Ich muß für Sie eine hübsche Frau finden. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Mr. Gray heiraten sollte?«

»Ich sage ihm das immer, Lady Narborough«, erwiderte Lord Henry mit einer Verbeugung.

»Dann müssen wir uns also nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich werde den Adelskalender heute nacht sorgfältig durchgehen und eine Liste der in Frage kommenden jungen Damen machen.«

»Mit ihrem Alter, Lady Narborough?« fragte Dorian.

»Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retouchiert. Aber man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das ist, was die ›Morning-Post‹ eine passende Partie nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.«

»Was für einen Unsinn die Menschen doch über glückliche Ehen reden!« rief Lord Henry. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein, solang er sie nicht liebt.«

»Was für ein Zyniker Sie sind!« rief die alte Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wieder kommen und mit mir speisen. Sie sind wirklich eine wunderbare Nervenstärkung, viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir sagen, was für Leute Sie treffen wollen. Es soll ein entzückender Abend werden.«

»Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und die Frauen, die eine Vergangenheit haben«, antwortete er. »Oder meinen Sie, daß auf diese Weise eine Weibergesellschaft zustande käme?«

»Ich fürchte fast«, sagte sie lachend, während sie aufstand. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Lady Ruxton,« fuhr sie fort, »ich habe nicht bemerkt, daß Sie Ihre Zigarette noch nicht aufgeraucht haben.«

»Nichts für ungut, Lady Narborough. Ich rauche viel zu viel. Ich werde mich in Zukunft einschränken müssen.«

»Bitte tun Sie das nicht, Lady Ruxton«, sagte Lord Henry. »Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist so schlecht wie eine Mahlzeit, mehr als genug ist so gut wie ein Fest.«

Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Lord Henry, Sie müssen einmal an einem Nachmittag kommen und mir das erklären. Es klingt wie eine verlockende Theorie«, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte.

»Sitzen Sie mir ja nicht zu lange bei Ihrer Politik und Ihrem Tratsch!« rief Lady Narborough von der Türe aus, »sonst liegen wir uns oben sicher in den Haaren.«

Die Männer lachten, und Mr. Chapman stand feierlich von dem Fußende des Tisches auf und setzte sich oben an. Dorian Gray wechselte seinen Sitz und setzte sich neben Lord Henry. Mr. Chapman begann mit sehr lauter Stimme über die parlamentarische Lage zu sprechen. Er bellte seine Gegner an. Das Wort »Doktrinär« – ein Wort voller Schrecken für den britischen Geist – tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine alliterierende Vorsilbe diente als Redeschmuck. Er flaggte den Union Jack auf dem Maste des Gedankens. Die angestammte Dummheit der Rasse – gesunder englischer Menschenverstand, nannte er sie wohlwollend – wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.

Lord Henry zog lächelnd die Lippen kraus. Er drehte sich um und blickte Dorian an.

»Geht es Ihnen besser, mein Freund? Sie schienen beim Diner nicht in Ordnung zu sein.«

»Ich bin ganz wohl, ich bin nur müde.«

»Sie waren gestern abend entzückend. Die kleine Herzogin betet Sie an. Sie hat mir erzählt, daß sie nach Selby kommt.«

»Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.«

»Wird Monmouth auch da sein?«

»Natürlich, Henry.«

»Er langweilt mich fürchterlich, fast so sehr wie er sie langweilt. Sie ist sehr klug, zu klug für eine Frau. Es fehlt ihr der unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die Tonfüße machen erst das Gold des Götzen wertvoll. Ihre Füße sind sehr hübsch, aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn Sie wollen. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, härtet es. Sie hat ihre Erfahrungen hinter sich.«

»Wie lange ist sie verheiratet?« fragte Dorian.

»Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender sind es wohl zehn Jahre. Aber zehn Jahre mit Monmouth müssen wie eine Ewigkeit gewesen sein, die Zeit mitgerechnet. Wer kommt sonst noch?«

»Die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Gesellschaft. Ich habe auch Lord Grotrian gebeten.«

»Ich habe ihn sehr gern«, sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn nicht leiden, ich finde ihn aber reizend. Dafür, daß seine Kleidung manchmal etwas überladen ist, entschädigt er dadurch, daß er immer ganz überbildet ist. Er ist ein ganz moderner Typus.

»Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Henry. Vielleicht muß er mit seinem Vater nach Monte Carlo.«

»Was für eine Plage die Familie ist! Versuchen Sie doch, ihn zum Kommen zu bewegen. Übrigens, Dorian, Sie sind gestern abend sehr früh weggegangen. Sie haben uns vor elf Uhr verlassen. Was haben Sie dann getan? Sind Sie gleich nach Hause gegangen?«

Dorian sah rasch zu ihm hinüber und runzelte die Stirn. »Nein, Henry,« sagte er schließlich, »es war schon fast drei als ich nach Hause kam.«

»Waren Sie im Klub?«

»Ja«, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, das stimmt nicht, ich war nicht im Klub. Ich ging nur so herum. Ich habe vergessen, was ich getan habe. Wie neugierig Sie sind, Henry! Sie wollen immer wissen, was man getan hat. Ich will immer vergessen, was ich getan habe. Wenn Sie die genaue Zeit wissen wollen, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen Torschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mir öffnen. Wenn Sie noch irgendeine Zeugenaussage zu meinen Gunsten wünschen, können Sie ihn ja fragen.«

Lord Henry zuckte die Achseln. »Mein lieber Freund, was soll mir daran liegen? Wir wollen in den Salon hinauf. Nein, danke, Mr. Chapman, keinen Sherry. Dorian, Ihnen ist etwas zugestoßen. Sagen Sie mir, was es ist. Sie sind heute abend nicht Sie selbst.«

»Kümmern Sie sich nicht um mich, Henry. Ich bin gereizt und schlecht gelaunt. Ich komme morgen oder an einem der nächsten Tage zu Ihnen. Bitte, entschuldigen Sie mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause.«

»Schön, Dorian. Ich hoffe, ich sehe Sie morgen zum Tee. Die Herzogin kommt.«

»Ich will versuchen, da zu sein, Henry«, sagte er und verließ das Zimmer.

Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl, das er erstickt zu haben glaubte, wiedergekehrt sei. Lord Henrys zufällige Fragen hatten ihm die Ruhe genommen, und er brauchte seine Kaltblütigkeit noch. Dinge, die Gefahr bringen konnten, mußten zerstört werden. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie nur zu berühren, war ihm furchtbar.

Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die Tür seines Bibliothekszimmers verschlossen hatte, öffnete er das geheime Fach, in das er Basil Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Ein mächtiges Feuer brannte. Er legte noch ein Scheit Holz nach. Der Geruch der brennenden Kleider und des eingeäscherten Leders war entsetzlich. Er brauchte dreiviertel Stunden, um alles zu verbrennen. Schließlich fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige Räucherkerzen aus Algier in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte, wusch er sich die Hände mit einem kühlen, moschusduftenden Essig.

Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen wurden merkwürdig hell, und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank, mit Elfenbein und blauem Lapis eingelegt. Er beobachtete ihn, als wäre er ein lebendes Wesen, das fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er zugleich sehnsüchtig begehrte und haßte. Sein Atem ging schnell. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und warf sie gleich weg. Seine Augenlider senkten sich so tief, daß die langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah den Schrank immer noch an. Schließlich erhob er sich von dem Sofa, auf dem er gelegen hatte, ging zum Schrank, schloß ihn auf und berührte eine geheime Feder. Ein dreieckiges Fach kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten sich instinktiv dagegen, griffen hinein und faßten etwas. Es war eine kleine chinesische Schachtel aus schwarzem Lack mit goldenen Tupfen, sehr sorgfältig gearbeitet, die Ecken mit gekrümmten Wellenlinien geziert; und an den seidenen Schnüren hingen runde Kristalle und Troddeln aus Metalldraht. Er öffnete sie. Eine grüne, glänzende, wachsige Masse von seltsam schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.

Er zögerte einige Momente mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln auf dem Gesicht. Dann schauerte er zusammen, obwohl die Luft im Zimmer fürchterlich heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es fehlten zwanzig Minuten an zwölf. Er legte die Schachtel zurück, schloß die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.

Als die Mitternacht metallene Schläge in die dumpfe Luft schickte, schlich Dorian Gray in ordinären Kleidern, ein Tuch um den Hals, leise aus dem Hause. In Bond Street fand er einen Wagen mit einem guten Pferd. Er winkte dem Kutscher und sagte ihm mit leiser Stimme eine Adresse.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Es ist zu weit für mich«, brummte er.

»Da haben Sie einen Sovereign. Sie sollen noch einen halben haben, wenn Sie rasch fahren.«

»Schön, Herr!« antwortete der Mann. »In einer Stunde sind wir da.« Nachdem er sein Geld eingesteckt hatte, drehte er um und fuhr rasch der Themse zu.


 << zurück weiter >>