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Wenn man ohne genau hinzuschauen diesen langsamen und wunderlich düstern Herrn sah, wie er seine massige Verfettung auf unsern Boulevards spazieren führte – ganz flüchtig brauchte man ihn nur zu sehen, so hatte man doch sofort den Eindruck, dass er für sich und allein wie eine Prozession von Leidtragenden daherkam.
Nie gab es ein vollkommeneres Opfer des Missverständnisses zwischen der Menge und dem Dichter. Das Publikum will verblüfft sein. Es hat ein Recht auf Verblüffung und Staunen wie auf Brot, wie auf Traum – und der wahre Traum der Nacht wird so selten und so schwierig! Das Publikum will abends im Theater seinen Traum haben, am Tage etwas zu staunen, ja schon am Morgen, wenn seine Arbeit dämmert, sich von den Mordsgeschichten in den Zeitungen aufregen lassen.
Wenn ein Thaumaturg – und ich wähle absichtlich dieses Wort, vor dem Wilde grossen Respekt hatte – es auf sich nimmt, das Volk zu verblüffen, in Staunen zu setzen, so hat er das Recht, seinen Stoff zu nehmen wo er ihn findet: man verlangt von ihm nicht moralische oder soziale Exempel, sondern Erfindungen, Kunststücke, Worte, ein bisschen Hölle, ein bisschen Himmel und noch was drüber; er muss Protheus und Prometheus sein, alles und sich selbst verwandeln können; er muss für die Leser seiner Zeitschrift oder das Publikum seines Theaters das Geheimnis dieses und des andern Lebens entschleiern, er muss Bekenner, Wahrsager und Zauberer sein, muss die Welt mit der Exaktheit eines Kirchenvaters in der Luft zerreissen und sie gleich darauf wieder neu schaffen nach seiner Dichterphantasie, muss Formeln und Paradoxe von sich geben, Calembours nicht minder, wofern sie nur die Ewigkeit für sich haben.
Um diesen Preis – und er ist reichlich bezahlt – darf er sich Zerstreuung schaffen nach Art der Götter oder gefallenen Engel und für sich selber Aufregungen und Verblüffungen suchen, nachdem er die Grenze der menschlichen Aufregungen und Sensationen weitergeschoben und überschritten hat. Wilde hatte bezahlt. Nun wollte er mit dem Taschengeld seiner künstlerischen Triumphe unter tausend anderen höheren und interessanteren Dingen auch dieses machen: den jungen Mann.
Er machte ihn schlecht.
Nun war das Publikum verblüfft, um ihn zu verblüffen. Denn die einzigen guten oder schlechten, dem Dichter erlaubten Geschicke sind jene, die lang nach des Poeten Tod ein achtzigjähriger Literarhistoriker in törichtem Geschwätz zu Tag fördert. – Wilde im Exil blieb Engländer; ich will sagen, er hatte Mitleid mit den Opfern ohne Hass gegen die Henker: er billigte vollkommen die Verurteilung und Hinrichtung jener Institutsvorsteherin Louise Masset, die man für den Tod ihres Kindes henkte. Er verfolgte leidenschaftlich das Unternehmen in Transvaal, begeisterte sich für Roberts und Kitchener: ein rührender Zug bei einem Exilierten.
Irländer von Geburt, Italiener aus Neigung, Grieche aus Kultur und Pariser aus Paradoxie und Blague, konnte er London nicht vergessen, das ihm in seinen Nebeln von überallher die Triumphe zutrug, London, in das er alle Zivilisationen gebracht hatte, London, das er den Ehrgeiz hatte, zu einem ungeheuerlichen Garten von Blumen, Palästen, Festen, subtilstem Glanz und diskretestem Reiz umzuschaffen.
Seine Impertinenzen gegen die Engländer waren die eines wohlwollenden Monarchen. Wenn er sehr verspätet einen Salon betrat, ohne irgendwie zu grüssen auf die Dame des Hauses zuging und fragte: »Wen darf ich hier kennen?« so geschah das aus blosser Galanterie; er wollte keineswegs den oder den ignorieren, aber doch auch nicht so tun als kenne er alle Welt, um der Dame nicht entgegen zu sein, die vielleicht ein gut Teil ihrer Gäste nicht kannte. Man hat ihm eine grüne Nelke und eine Cigarette vorgeworfen – deshalb hat man ihn wohl auch vierundzwanzig Monate allen Tabaks und aller Blumen beraubt. Man hat ihm vorgeworfen, dass er das Doppelte der 150 000 Francs verbrauche, die er mit seinen Stücken verdiente – man hat ihn in Konkurs erklärt. Man hat seinen Namen von den Affichen und aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen, man hat den Vater seinen Kindern entzogen – und dies, weil ihn das Publikum mit seiner Grausamkeit in Staunen setzen wollte.
Doch war dies noch nicht das letzte. Von dem Tage an, da der arme Mensch den Fuss auf unsere Erde setzte, waren wir Zeugen einer grausamen Tragödie: die Anstrengung, das Leben wieder aufzunehmen. Dieser Riese, den das Ausbleiben des Schlafes, der Nahrung, der Ruhe, der Bücher nicht zerstören konnte, der kaum davon geschwächt war, verlangt am Meere, in Paris, dann in Neapel von der Arbeit eine neue Ära seiner Geschichten und Dramen.
Er scheitert.
Mit vierzig Jahren kann er, zukunftstrunken, nur ohnmächtige Arme nach seiner Vergangenheit ausstrecken, sie als Zeugen aufrufen und sich in einer bittern Erinnerung verlieren. Amerikanische Theater, Verleger verlangen ein neues Werk von ihm; und alles was er tun kann, ist, Leonard Smithers seine seit Jahren gespielte Komödie An Ideal Husband zum Druck zu geben.
Seine schweren Lider senkten sich über teure Visionen: seine Erfolge; er ging langsam mit kleinen Schritten, um sich besser zu erinnern; er liebte die Einsamkeit, in der man ihn liess, damit er näher bei dem wäre, der er gewesen. Wenn er die üble Gewohnheit nicht aufgab, so um zu zweit in dunklen Gassen von ähnlichen Abenteuern in London zu träumen … in London!
Er musste das Vergessen haben, das ihm der Alkohol nicht gab. Denn auch in den Bars war es London, das er suchte. Er war auf die amerikanischen Bars angewiesen, die er nicht liebte. Man hatte ihm eines Abends bei Chatam erklärt, dass man gerne auf seinen Besuch verzichte. Er hatte da auf der Terrasse versucht, seine gar nicht neugierigen Augen an den Leuten zu zerstreuen, die vorbeigingen. Bald gab er es auf: die Leute betrachteten ihn.
Alles in seinem Gesicht hatte die Furche der Tränen; seine Augen glichen Schluchten, ausgehöhlt von einem bleichen Weinen; der kaum gerötete, wulstige Mund, wie ein Gemisch von Schluchzen und geronnenem Blut, das traurig abhängende Doppelkinn, und alles zeigte diese Aufgedunsenheit des Fleisches, die jene Krisen ohne das Ende des Schreckens und gebrochenen Herzens begleiten.
Ein aufgeschwemmtes Gespenst, eine enorme Karikatur beugte er sich über einen Manhattan oder einen Grand Whisky soda und improvisierte immer aufs neue wieder für rasch vorgestellte Neugierige, für Freunde, für irgendwen, der gerade da war, seine Improvisitationen und edierte zum so und so vielten Male seine etwas ermüdeten Paradoxe.
Wohl vornehmlich für sich selbst suchte er seine Geschichten hervor. Er wollte sich zugleich einschläfern und aufwachen, sich überzeugen, dass er immer noch denke, immer noch wüsste.
Er wusste alles.
Die Kommentatoren Dantes und deren Kommentatoren; die Quellen des Dante Gabriel Rossetti; von Dingen und Schlachten wusste er wie ein Jüngling zu diskutieren, worauf er lächelte mit seinem Fegfeuerlächeln und ein Lachen ihn fasste, ein Gelächter über nichts, das seinen Bauch schüttelte, seine Hängebacken und das Gold seiner armen Zähne.
Langsam wichtig, Wort für Wort, erfand er in seinem Fieber stammelnder Arbeit leichte, flüchtige Gleichnisse: die Geschichte von dem Herrn, der ein falsches Geldstück bekommen hat und den illusorischen König zu bekriegen auszieht, dessen Bildnis er gesehen … Aber es fehlte ihm, um die Geschichten aufzuschreiben, der goldene Tisch des Seneca – und der seine.
Er verschwendete sich in seiner Unterhaltung: wohl um sich zu betäuben. Er suchte Schüler, um in ihnen einen Grund zu suchen, sich wiederzufinden, neu zu leben, wiedergeboren zu werden, um nicht an undankbare Plagiatoren denken zu müssen.
Wilde erzählte einmal eine Geschichte vom König und vom Bettler und sagte zum Schluss: »Ich war König, ich will nun Bettler sein.« Aber trotz der guten Adressen blieb er bis auf den letzten Tag der elegante komplette Engländer – und bettelte nicht.
Das wäre ein neues Leben gewesen, dieses Leben, das ihm das Schicksal verweigerte …
Nun wären uns Worte nötig, die sich überstürzen, eine Flucht von Hoffnungen, Worten und Lächeln, ein tolles kreischendes Brechen der Sätze und Onomatopöien in der Atonie eines grausamen, mumifizierten Daseins, um den Dichter zu zeigen, der sich auslöscht, der nicht resigniert, aber sich preisgibt, den Tod fürchtet – vor den Leuten, und ihn, ein Toter den Tod, ruft in dem schmalen Zimmer eines trüben Hotels, Tag für Tag.
Er war auf dem Lande gewesen und in Italien und wollte nach Spanien, zurück an das Mittelmeer – es war nur Paris da, ein nach und nach sich ihm verschliessendes Paris, das ihm nichts mehr bot als Spelunken, um sich zu betrinken, ein taubes Paris, ein ausgehungertes, gehetztes Paris, das hier an Kongestionen, dort an Bleichsucht leidet, eine Stadt ohne Mythe und ohne Ewigkeit.
Und jeder Tag brachte ihm Leiden: er hatte weder Gefolgschaft noch Freunde und verfiel in schlimmste Neurasthenie. Die Not biss nach ihm; die Pension von zehn Francs den Tag von seiner Familie bekommt keinen Zuschuss mehr von Verlegern: er muss arbeiten, Stücke schreiben, zu denen er durch Verträge verpflichtet ist, – und es ist ihm unmöglich, vor drei Uhr nachmittags aufzustehen.
Aber er wird nicht bitter; er lässt sich ablaufen. Eines Tages legt er sich zu Bett, gibt vor, in einem Restaurant mit Muscheln vergiftet worden zu sein; er steht wieder auf, aber nicht gut, mit dem heimlichen Gedanken an den Tod.
Nun erzählt er alle seine Geschichten auf einmal. Es ist die bittere und blendende Girandole eines übermenschlichen Feuerwerks. Die ihn am Ende seines Lebens sahen, wie er die aus Gold und Edelsteinen gewobenen Strähnen abhaspelte, wie er alle diese starken Subtilitäten seiner phantastischen Erfindung, mit denen er die Stickereien seiner künftigen Dramen und Gedichte wirken und malen wollte, hinwarf, – die ihn gleichgültig und stolz dem Nichts die Stirne bieten sahen und ihn seine letzten Sätze husten und lachen hörten, werden die Erinnerung an das hohe und tragische Schauspiel bewahren, das hier kalten Blutes ein Verdammter gab, der nicht ganz zu Grunde gehen wollte.
Es war die Zeit, da die Natur gütig zum letztenmal dem, der sie zu leugnen schien, all ihren Glanz für ihn im Gürtel der Exposition zusammengerafft hatte.
Es starb auch ein wenig an ihrem Ende, denn er starb an allem.
Er hatte die Ausstellung aufrichtig geliebt. Er krittelte nicht daran. Er trank diese Lust auf einen Zug, wie man Blut in den Schlachthäusern trinkt. Er baute in allen Palais sein Palais wieder auf. Er eroberte sich das Universum wieder, den Ruhm, Reichtum, Ansehen, Zeit und Unsterblichkeit.
Es war ein langer und schöner Traum für den Sterbenden. Eines Tages ging er früher die Porte de l'Alma hinaus, das Werk des Rodin aufzusuchen. Er war fast der einzige Wallfahrer dahin. Dieses auch ist Tragödie, und der Meister zeigte ihm die Porte de l'Enfer aus der Nähe. Doch genug der Details: zum Ende.
Dreizehn Leute, die in einem Schlafraum an der Stadtgrenze den Hut vor einem mit der Nummer 13 versehenen Sarge abnahmen, ein rumpelnder Leichenwagen etwas mit schmutzigem Silber besternt, zwei Landauer statt Trauerwagen, ein Lorbeerkranz, zerzauste Blumen, eine Kirche ohne Trauerdrapierung, die dem Tode nicht läutet und dem Zuge nur eine kleine Seitentüre öffnet, eine stille leere Messe ohne Musik, eine Absolution von englischen Lippen skandiert, die aus dem liturgischen Latein einen Brei von neu-konformistischem Schottisch machen, der glänzende Salut eines Gardekapitäns auf der Place Saint-Germain-de-Prés, drei Reporter, welche die Teilnehmer zählen wie auf der Anthropometrie – das ist der Abschied, den die Erde von einem ihrer Kinder nimmt, das sie verherrlichen und ihren Traum weithinbreiten wollte, das ist das stumme Totenglöckchen eines Lebens der Phantasmen und geträumter unerhörter Schönheiten, das ist die Verzeihung und Vergeltung; das ist in einem falschen Morgen die aufgehende Röte der Ewigkeit.
Wilde, der Katholik war, hat nur zwei Sakramente empfangen, das erste im Coma, das letzte im letzten Schlaf. Der Priester, der ihm die Ölung gab, schien, bärtig und englisch, selber ein Konvertit zu sein. Ich habe das Recht, hier zu sagen, dass Wilde genug von Herzen katholisch war als dass es weder der Taufe noch der letzten Ölung bedurft hätte, dass er genügend den römischen Pomp, die Zeremonien und dies alles bis auf die Effekte der bunten Fenster und der Orgel liebte, und man so schon mehr hätte daran wenden können als dieses stumme Gaukelspiel, diese hastige Bestattung und diese drückende Absolution, durch die sich der Vikar die Hände von der Jauche der Ungerechtigkeit rein wusch.
Die Frömmigkeit war in unseren Herzen, bei uns … Ich kann hier Oscar Wilde nicht richten und nicht loben. Sein merkwürdiges Genie zu erhaschen, und zu zeichnen, dazu bedarf es mehr. Man wird es nicht in seinen Schriften finden. Da ist es geistreich und sublim, aber für ihn zu sehr in kleinen Stücken. Sein Werk, das ist der Schatten seines Gedankens, der Schatten seines leuchtenden Wortes.
Man muss einen denken, der alles weiss und alles am besten sagt. Einen Brummell, der Brummell bis ins Geniale wäre. Und der die Schande und das Unglück erfüllt hätte.
Ich will diese Rede über seine Einfachheit schliessen. Wilde, der so viel gelitten, litt von seinem Rufe der Affektiertheit. Es war einmal an einem Abend, als Wilde, der es sonst nicht liebte, sich über seine verlorenen Schätze redend zu ergehen, sich als Vater beklagte. Nachdem er mir von der Bekehrung seines Sohnes Vivian zum Katholizismus erzählt hatte, der ganz einfach seinem Vormund erklärte: ich bin katholisch, sagte Wilde vergnügt: »Und Vivian legt sich mit zwölf Jahren auf ein Kanapee und erklärt, wie man ihn da weghaben soll: ›Lass mich – ich denke!‹ Und das mit meiner Geste zu mir, der Geste, die man so angeulkt und von der man so oft gesagt hat, sie sei erkünstelt!« Das war der Anfang einer Rehabilitation für die Menge.
Und nun schläft der Enkel dieses Maturin, den Balzac bewundert hat und von dem der Gefallene sein fatales Pseudonym Sebastian Melmoth lieh, der Sohn dieses noblen und gelehrten Paars Wilde, das Taufkind des Königs von Schweden, er schläft nun schlecht auf einem Friedhof, der genug weit draussen ist, um allen, die dahin wollen, und dem Gebete den Mut zu nehmen. Kaum dass das Echo adaptierter Geschichten ihn wecken oder wiegen wird. Kaum dass von Zeit zu Zeit ein Skandal ihm seinen toten Namen, den Schatten einer Beleidigung zutragen wird.
Er wird mir, hoffe ich, diese Rede verzeihen, in der ich nichts sonst wollte als aus der Geschichte, der Ergriffenheit und der Gerechtigkeit die Zeugenschaft eines Freundes aus schlimmen Tagen geben, der weder ein Ästhet noch ein Cyniker ist und der ihm in bescheidener Demut den Gruss bietet in sein Schweigen und seine Ruhe.