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Als die ›Zuchthausballade‹ bekannt wurde, schien es manchem, als ob eine solche Rückkehr zur Wirklichkeit oder eine solche jähe Berührung mit ihr gerade nötig war, um ein so ausserordentliches Talent sowohl mit dem Leben als mit der Kunst in Relation zu bringen, dieses Talent, das so geringe Beziehung zu den Dingen gemeiner Erfahrung hatte, das so phantastisch allein war in einer Welt intellektueller Abstraktionen. In dieser Ballade, deren an andern Sätzen geformter Stil förmlich erschrocken ist, sich hier zu neuem Zwecke verwendet zu finden, enthüllte sich ein starker schauspielerischer Intellekt, zu dem am Schlusse Mitleid und Schrecken in eigener Person gekommen sind, nicht länger als die Marionetten eines Spieles. Nach seiner Meinung war das Menschenleben immer etwas wie ein Theater gewesen, eine Komödie in der es des weisen Mannes Rolle ist, abseits zu sitzen und zu lachen oder geringschätzend mitzutun wie in einem Karnevalsvergnügen, unter irgend einer Maske. Der vorurteilsfreie spöttische Intellekt, dem die Humanität nie eine Last gewesen, ist nun nicht mehr im stande, abseits zu sitzen und zu lachen; er hat so viele Masken getragen und hinter so viele Masken geschaut, dass nichts mehr blieb, wonach seine Illusion begehren könnte. Er sah wie die Künstler weiter als die Moral, aber sein eigentümliches Auge übersah sie auf dem Wege, und so kam er schliesslich dazu, die Moral auf dem noch einzig übrigen und möglichen Wege zu finden – um ihrer selbst willen. Und wie die meisten jener, die, nachdem sie müde sich gedacht, dieses Abenteuer probieren, den Gedanken in Tat umzusetzen, so blieb ihm, dieses Abenteuer schmerzlich an sich selber und auf seine eigenen unberechenbaren Kosten zu versuchen. Und in dieser so jungen Bekanntschaft mit dem Leiden und dem Unrecht in der Ordnung der menschlichen Angelegenheiten, da kam er – und nicht unnatürlich – zu einem Extrem: nahm die Humanität in die eine, die Wirklichkeit in die andere Hand und wertete sie höher als ihnen künstlerisch zukommt. Es ist ein merkwürdiger Instinkt des Intellekts, dieser Zwang, die Dinge auf die letzte Spitze ihrer Entwicklung zu treiben, logischer zu sein als Leben oder Kunst, zwei sehr launische und unlogische Dinge, bei denen die Schlüsse durchaus nicht immer Prämissen haben.
Und doch folgte wie es schien nichts auf diesen Wendepunkt in einem Leben. »Was immer wirklich passiert, ist für die Kunst verloren« hatte Wilde gesagt. Einer hoffte, aber er hat sich wohl selbst gekannt vom Anfang an. Nichts folgte. Der Witz blieb bis zum Ende, diese am wenigsten persönliche Art der Rede und das liebste Refugium eines Menschen, der Tatsachen nie um ihrer selbst willen geliebt hat. »Ich sterbe über meine Mittel« war, wie man mir erzählte sein letztes Wort.
Der ganze Mensch war nicht so sehr eine Persönlichkeit als eine Attitüde. Er war kein Denker, aber er tat so; er war kein Dichter, aber er tat so; er war kein Künstler, aber er tat so. Und gerade in seinen Attitüden war er am ehrlichsten. Sie standen für seine Absichten; sie standen für den bessern, unverwirklichten Teil seines Selbst. Deshalb war seine Attitüde dem Leben und der Kunst gegenüber völlig unberührt von seines Lebens Führungsart; seine durchaus rechte und im wesentlichen auszeichnende Begründung der Stellung des Kunstwerkes in der Welt der Gedanken und der Stellung der Schönheit in der Welt der Wirklichkeiten werden in keiner Weise entkräftet von seinem eigenen Versagen, reine Schönheit zu schaffen oder ein durchaus aufrichtiger Künstler zu werden. Ein Talent, so lebhaft am Werke, dass es fast Genie war, trieb und hetzte ihn unausgesetzt zu Tätigkeit, geistiger Tätigkeit. So wie das dienliche Wort immer auf die Lippen kam, so fand ihn auch die passende Attitüde immer bereit, in sie hineinzutreten wie in seinen Schatten. Er besass einen ausserordentlich vernünftigen Verstand, und sieht man näher auf seinen Witz, so wird man da immer eine ganz klare logische Basis finden, wenn er auch in dem Augenblick, da er ihn präsentiert, ihn nicht von seiner Basis, sondern von seiner Spitze tragen lässt. Von rein dichterischen Qualitäten hatte er fast nichts. Sein Stil, selbst der seiner Prosa, wird unehrlich, ein verwirrendes Echo von Pater oder einem Franzosen, sowie er schön zu schreiben versucht. Seine Phantasie hatte etwas von dem flackernden, wippenden Licht längs eines elektrischen Drahtes, durch Reibung aus einem Harten, Direkten gelockt, aber nur auf der Oberfläche spielend.
»Doch nur der Philister legt an die Persönlichkeit den gemeinen Massstab des Schaffens an. Dieser junge Dandy – von Wainright ist die Rede – suchte etwas zu sein, nicht etwas zu machen. Er wusste, dass das Leben selbst eine Kunst ist und so gut seinen Stil hat wie die Künste, die es auszudrücken suchen«; und »Kunst drückt nur sich selber aus«, sagte er in einem andern Aufsatz desselben Buches, das er so passend ›Intentions‹ nannte; und dieses »Prinzip seiner neuen Ästhetik« komplettiert uns seine Ansicht über die Funktion des Lebens. Kunst und Leben haben zwei durchaus getrennte Dinge zu sein, jedes nach Muster gemacht, nicht in natürlichem oder, wie Wilde es genommen haben wollte, in zufälligem Wachstum geworden. Es ist das alte art pour art auf die Spitze getrieben, wo alle Wahrheit falsch wird. Wilde erklärt, dass die höhere Kunst alle Last menschlichen Geistes abwirft und mehr von einem neuen Mittel oder einem frischen Stoff gewinnt als sie von irgend einem Enthusiasmus für die Kunst oder irgend einer Leidenschaft oder irgend einem neuen Aufwachen menschlichen Bewusstseins gewinnen könnte. Er diskutiert Technik; und wenn auch die Kunst ohne sie nicht sein kann, so ist doch Technik nicht die Kunst.
Und so auch mit dem Leben. Wie er es verwirklichte, dass es möglich ist, aufmerkend bewusst zu sein der »Qualität unserer Augenblicke« und sie nach seinem eigenen Ideal zu gestalten, beständiger und gewissenhafter als dies je versucht wurde, so machte er sich viele Seelen, Seelen mit verschlungenen Mustern und sorgfältig studierter Färbung, in unendlich kleine Zellen verwoben, in jeder ein seltenes Parfüm, vielleicht ein Gift. Jede Seele hatte ihr eigenes Geheimnis und durfte nichts wissen von der Seele, die vor ihr war, noch von der, die nach ihr kommen sollte. Und dieser Schausteller von Seelen wusste nicht immer, dass er mit wirklichen Dingen seine Gaukelkünste trieb, denn für ihn waren sie nicht mehr als die bunten Glaskugeln, die der Jongleur in die Luft wirft und fängt, eine nach der andern. Meist waren die Seelen zufrieden damit, Spielzeug zu sein; nur dann und wann nahm eine oder die andere malitiöse Rache und wurde so wirklich, dass selbst der Jongleur es merkte. Aber wenn sie so zu wirklich wurden, er musste sie doch in die Luft werfen und fangen, wenn er auch schon an der Geschicklichkeit seines Spieles das Interesse verloren hatte. Aber da er niemals seine Geistesgegenwart verlor, merkten seine Zuschauer, die Welt, den Unterschied nicht.
Unter diesen Seelen war eine nach dem Muster Flauberts, eine andere nach dem Muster Paters, andere kannten Baudelaire und Huysmans und de Quincey und Swinburne. Jede wurde aufgenommen, gebraucht und fallen lassen, als eine Art stehender Illustration zur »Wahrheit der Masken«. »Eine Wahrheit in der Kunst ist, dessen Gegenteil ebenso wahr ist« – so vertrug sich der Kritiker der Schönheit mit dem Autor der witzigsten Stücke unseres Theaters.
Wilde war nie darum bekümmert und darauf aus, dass er genau und richtig verstanden oder auf einer ganz feinen Wage gewogen würde. Aber man wird seiner gedenken, nicht als eines Künstlers in den englischen Schriften, aber doch in den Traditionen unserer Zeit als eines ausserordentlichen Künstlers in Attitüden des Geistes.