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phantasticus
Bibliothek.
Hoher und weiter Raum. Überall an den Wänden offene Bücherschränke bis zur braungetäfelten Decke empor. Die Mitte des Hintergrundes bildet ein breiter Bogen, der mit einem dunklen Samtvorhang abgeschlossen ist. Links vorne, in die Bücherwand eingelassen, eine schmale, braune Holztür. Weiter rückwärts links ein hohes Bogenfenster, das offensteht, in den Garten und Himmel hinaus. Beim Fenster ein mächtiger Schreibtisch, mit Büchern und Papieren bedeckt. Außerdem auf dem Tisch: ein monumentales Tintenzeug, eine kleine Bronzebüste Goethes und eine Studierlampe mit grünem Seidenschirm. Vorne in der Rechtswand eine geräumige Nische, in die ein Rundsofa eingebaut ist. Dabei ein großer, runder Lesetisch mit Büchern, Zeitschriften usw., darüber eine Pendellampe mit grünem Seidenschirm. An der dem Zuschauer zugekehrten Nischenwand ein hohes, schmales, dunkles Ölbild, einen Herrn im Staatskleide des achtzehnten Jahrhunderts mit Ordensband und Stern darstellend.
Wenn der Vorhang aufgeht, ist die rechte Seite der Bühne von der Nische her, in der die Lampe brennt, matt erhellt. Der Hintergrund der Bühne liegt in tiefer Dämmerung, die sich in das Dunkel des Vorhanges verliert. Durch das Fenster links fällt das drohende Zwielicht eines spätnachmittäglichen Gewitterhimmels herein. Man hört während des ganzen Aktes, bald anschwellend, bald abnehmend, das Rauschen der Gartenbäume. Der Wind stößt von Zeit zu Zeit an die nach innen geöffneten Fensterflügel und bewegt die Papiere auf dem Schreibtisch. Häufiges Wetterleuchten, manchmal ganz ferner Donner.
Der Vater steht, an den Schreibtisch leicht angelehnt, und starrt durchs Fenster hinaus in die Gewitterlandschaft. Er trägt dunklen Anzug und schwarze Binde. Er ist bleich und scheint um viele Jahre gealtert.
Remigius gleichfalls blaß und gramvoll verfallen, sitzt beim Tisch der Nische in einem Lehnstuhl. Er hat ein altes, in Schweinsleder gebundenes Buch seitlich vor sich auf dem Tisch und liest daraus mit gedämpfter, ergriffener Stimme vor: den Anfang des sechzehnten Kapitels des zweiten Buches von Marc Aurels Selbstbetrachtungen in lateinischer Übersetzung.
Es klingt traurig und feierlich wie die Sterbegebete der Priester.
Remigius den Teil vorerst überlesend Vita humana momentum. Natura fluxa, sensus obscurus. Anima vaga, fortuna ambigua. Quod corporis, flumen; quod animae, somnium atque fumus. Vita militia et hospitis in peregrino mora. Quidnam est ergo, quod nos deducat?
Vater vor sich hin, aus schmerzlicher Tiefe Vita humana momentum:
Des Menschen Leben ein Augenblick –
Remigius behutsam nachhelfend
Natura fluxa, sensus obscurus –
Vater
Unrast sein Wesen, sein Fühlen Dunkelheit –
Anima vaga, fortuna ambigua –
Vater
Die Seele ein Kreisel, das Schicksal rätselhaft –
Remigius
Quod corporis, flumen; quod animae somnium atque fumus –
Vater
Was des Leibes, ein Strom; was der Seele, Traum und Rauch –
Remigius
Vita militia et hospitis in peregrino moro –
Vater
Dasein ein Kampf und eines Wanderers Rast in fremdem Land –
Remigius
Quidnam est ergo, quod nos deducat?
Vater mit ratlos erhobener Stimme
Wo ist der Stern, der uns in diesem Wirrsal führte?
Remigius mit inniger Betonung
Sola et unica: philosophia. – Einzig und immer nur: Liebe zur Weisheit. –
Das eben ist der Zweifel dieser Stunde. – Siehst du, Remigius, der diese Sätze schrieb, ein Magier der Seele und ein großer Kaiser – Torheit und Schwachmut, Eitelkeit und Hoffart schmolz ihm die reine Glut des Denkerblicks wie Schlacken von seinem Herzen, und Worte fand er, ins Tiefste alles Menschlichen zu leuchten. Und seinen Sohn, den Kommodus, der Metze Kind, hat auch er nicht gekannt! Auch er nicht! Da stockt alle Weisheit. –
Ja sprängen, wie aus dem Haupte des Zeus die gewaffnete Pallas Athene, ja wüchsen aus Vaters Blut und Gehirn allein, aus selbstherrlicher Zeugung, dem Manne die Kinder, dann, vielleicht dann, wüßte er um seine Söhne und Töchter! – Doch so?! Gemengt mit fremdem Dunkel, empfangen, gebildet, gesäugt von anderem, Fremdem – anima vaga, fortuna ambigua: ihre Seele ein Kreisel, ihr Schicksal rätselhaft.
Remigius
Du lästerst, Vinzenz, lästerst Gott und die ewigen Gesetze alles Werdens!
Vater
Ich lästere nicht, Remigius, sag nicht, daß ich lästere! Einen Ausweg darf ich doch nennen aus all dieser Ohnmacht!
Könnte sie nicht ein Anfang sein – der Demut?
Vater
Demut! – Um dieses Kindes willen habe ich gelebt wie ein Römer! Mehr noch! Wie ein Heiliger hab' ich gelebt um seinetwillen in steter Bereitschaft. Und die Erfüllung kam ja auch. Nur anders, Remigius, anders!
Remigius behutsam
Und du hast doch dies Kind nicht gewollt –
Vater stark aber gedämpft
Ja! Nicht gewollt! – Ich nehme kein Jota von diesem Wort! – Doch als es dann da war und glich mir –
Remigius
War es dennoch ein Glück ...
Vater
Wohl! – Ein Glück das war es. Plötzlich mit qualvollem Ingrimm Aber nicht lange! Denn plötzlich, über Nacht, aus dem Nichts, erschien dann das andere! Wuchs, wuchs, wuchs! Gespenstisch, unheimlich, feindlich! Ergriff Besitz von ihm, nahm überhand, überschwemmte, versandete ihn, durchdrang ihn! Nur ich sah es, niemand anderer! Nur ich! Und habe schon damals die Mischung geprüft, Kinderworte auf die Goldwaage gelegt, und manchmal waren meine Gedanken nicht die – eines Vaters!
Remigius
Ich habe Angst vor dir, Vinzenz, Angst!
Vater in der Leidenschaft des Bekennens
Die Wahrheit! Ich bin nur ein redender Mund der Wahrheit! Mein Geist ist bloß nicht benommen vom Dufte eines Fleisches, weil es aus meinem! Den törichten Stolz des Samens habe ich nie gekannt! Daß meine Lenden zeugen konnten, vermochte nicht, mein Urteil zu umnebeln. Daß ich aber aus jenem einen Menschen bilden wollte, ohne meine Schlacken und mit dem ganzen Edelgold seiner neuen göttlichen Seele, das war die Zeugung, nach der ich brannte!
Remigius
Und war's denn nicht möglich, Vinzenz?
Vater
Sieh diese Bücher, Remigius! Schätze unsterblichen Geistes, aufgebaut wie Pilaster eines Domes empor zum Gewölbe! Erlesen und hochgeschichtet als meiner Liebe Zeugnis und Erbe für ihn. Ist keines darunter, das ich nicht eingestellt mit dem Gedanken, er würde es einst ersehen aus Tausenden in irgendeiner Stunde seines Lebens! In irgendeiner, wo der Mensch sich erheben will über sein Ich oder es verzehnfacht fühlen will in einem anderen, größeren! Aber er! Er mochte meine – seine Bücher nicht! Verschmähte sie, konnte ohne sie leben!
Remigius
Hast du denn der Bücher bedurft, ehe du das Leben kanntest?
Vater
Sie waren mein Leben, ehe ich das kannte, was man Leben heißt, und sie wurden erst recht mein Leben, als ich ums wirkliche wußte. Dies scheint ja nur ein geringes, ein vergeßbares Anderssein, und doch war's ein Abgrund, der zwischen uns klaffte. Und Kassandrastimmen raunten aus seinem Dunkel!
Remigius
Davon hast du mir nie gesprochen!
Vater immer leidenschaftlicher
Nein niemals, nie! Nicht einmal dir, meinem liebsten Freunde! Und weißt du warum, Remigius? – Weil ich feig war, feig und abergläubisch wie eine alte Sybille! Ich wollte meinen Gedanken nicht Fleisch und Blut machen, habe mich gefürchtet vor ihrer lebendigen Wahrheit! In die Wesenlosigkeit selbstquälerischer Träume wollte ich sie niederhalten! Aber sie waren stärker als ich; hinter ihnen stand die Wirklichkeit mit dem furchtbarsten ihrer Gesetze: Ursach' und Wirkung! Und unaufhaltsam vollzog sich das Unaufhaltsame!
Remigius
So wußtest du, daß es so kommen würde?
Vater fast aufschreiend
Ich wußte es, Remigius! – Freilich das Wie des Vollzuges, das konnt' ich nicht vorwissen. Aber daß da ein Mensch war, nicht kalt und nicht warm, nicht hart und nicht geschmeidig – dies stand mir fest vom ersten Stammeln seiner Wünsche an. Mit wund-gesenkter Stimme Wie er heute da drinnen liegt, – daß er mit einer Kinderpistole ... Die Stimme versagt ihm dieser Tod, Remigius, ist nur eine Zufallsmaske der Notwendigkeit. Sein Leben wäre vielleicht fragwürdiger geworden als dieses kindisch-trotzige Sterben, dies unbedachte, armselige Die-Tür-Zuschlagen vor Kampf und Entscheidung. – Mit schmerzvoller Liebe Darum wollte ich ihn ja führen, ich! Ich, der sein Gesundes wußte und sein Brüchiges, seine Federkraft und seine toten Punkte! Meinetwegen hätte er sich hinabstürzen mögen in die Zwielichtschichten der Menschheit! Hochmut der Klasse war nicht mein Widerrat! Aber ohne Vorbehalt hätt' er es wagen müssen, ohne sich vorher gegen Gefahr zu versichern! Glauben können hätte ich müssen, daß seine noch so entwürdigten Hände die Sonne zu sich herunterreißen würden, wenn sie nicht Miene machte, ihn zu sich emporzuziehen auf golden herabgelassenen Tauen! Der Mensch aber war er nicht! ...
Remigius
Du warst ein solcher!
Vater
O, lassen wir das, Remigius! In mir ist gar manches Dunkel! – Aber an ihm wollt' ich es sühnen, gutmachen! Nur eines weiß ich: als wenn es Gottes Ratschluß gewesen wäre, einen Vater zu schaffen, einen wirklichen Weiser an den Kreuzwegen eines jungen irrenden Menschensohns, so hat er mein Maß gerüttelt, meinen Teig geknetet, mich auf Gipfel geführt und versucht in der Wüste! ... Und jetzt ist das alles – sinnlos geworden! Anima vaga – die Seele, das Leben ein Knabenkreisel, der plump in die Ecke kollert, wenn seine Drehkraft erschöpft ist ... Ich habe – habe ein Kind gehabt, aber, Remigius, es – lebt nicht mehr ...
Remigius behutsam, weh
Hattest du es denn, da es lebte?
Vater mit neuem Ansturm der Leidenschaft
Hatte es, soweit es mir glich! Hatte es, hatte es, weil es lebte! Da war noch nicht alles verloren! Ich hätte die Eulennester schon noch ausgemerzt aus dem Morschen seines Stammes! Hätte es schon noch niedergerungen das Fragwürdige in ihm! Durch meiner Liebe Fron! Niedergezwungen das – andere, das Fremde in seinem Blute! Es waren ja so viele nach ihm aus!!
Remigius mit gespanntem Grauen
Wer waren diese vielen?
Vater mit schaudernder Heimlichkeit
Eine! Durch sie Unzählige und diese Zahllosen in – einem!
Remigius geschüttelt
Ich verstehe dich nicht, Vinzenz! Du fieberst!
Vater immer fieberhaft-gesteigerter
Eine! Aber diese eine war – Legion! Ahnenreihen kauerten hinter ihr. Gesichter, Remigius, Gesichter! Und sein Antlitz schillerte von diesen vielen vergangenen Gesichtern! Es waren keine guten Gesichter, Remigius! Fratzen von Krämern! Feixende Visagen von Lakaien, Trinkgeldnehmern und Prozentemachern! Gesichter, Gesichter! Stumpfe Masken von Wirtshausbrüdern, Kegelschiebern und Tarockspielern! Pfiffige Grimassen von Kreaturen, die so können und anders, die Wasser in ihren Wein gießen, die lauer essen, als es gekocht ist! Gesichter, Gesichter! Remigius, Gesichter! Über die Schultern schielten sie ihm, in seinen Mundwinkeln grinsten sie, aus seinen Augenecken zwinkerten sie! Und sie hatten Ohren, die für mich taub waren, hatten Blicke, die mir mißtrauten, Münder, die das Lästern verbissen über mein Heiligstes! Ich hatte keine Macht über sie! Sie waren stärker als ich, als er! Äfften mich und ihn! O wie haßte ich diese Gesichter, und wie haßten diese Gesichter mich! In plötzlich haßvoller Empörung Wer war der Mensch, der meinen Namen trug wie einen Hut, durch Zufall gefunden?! Und meiner Seele durfte er ein Zerrbild sein!!
Remigius außer sich
Dem Fürchterlichen antwortet Gott fürchterlich!
Vater in wilder Lästerung empor
Es gibt keinen Gott. Wäre er gerecht, warum dies mir, gerade mir?! Wäre er gütig, warum bringt er Knaben zur Strecke?! Denn – diese Gesichter, Remigius, die hatten Sinne, die gierig einschlürften, was mir nach Fäulnis stank! Hatten Organe, die Gift ansogen und ausschieden in die Keimzellen seines Lebens! Und wenn mein Blut in ihm einen Anlauf nahm, die Gesichter aus seinem anderen Blute lachten des Hohn! Und war er am Wählen, sie raunten ihm Zweifel ein! Und war er am Glühen, aus ihnen schoß ihm Eiseskälte ins Herz! Sie bogen seinen Edelwuchs, nagten an seinen Wurzeln, höhlten ihn, morschten ihn, stürzten ihn, daß er da drinnen liegt wie eine gebrochene Binse, wie eine taube Ähre, wie – wie – wie ...! Sammelt sich zu etwas Furchtbarem.
Remigius mit abwehrend-beschwörender Geste
Laß es beruhen, Vinzenz! Wühl nicht darinnen!
Vater unbeirrt, ihn übertönend
Und diese Gesichter, Remigius, sie suchten Verbündete, Spießgesellen, Helfershelfer außer seinem Blute, überall, gegen mich! Wo immer mein Widerpart in einer Kreatur Fleisch geworden, sie fingen sein Antlitz auf wie in einem Spiegel und hielten es mir entgegen wie das Haupt der Medusa! Und ich – ich konnte es nicht abhauen, sonst traf ich mein Kind!! – Wild, knirschend, heiser vor Haß, auf Remigius zu und ihn anpackend Hast du den Studenten gekannt, den hinausgeworfenen, gefallenen, den Sudelschreiber, den Zuhälter, Findelbalg, das entgleiste Genie?! Ihn, dem er nachlief, bis in die letzte Stunde! Dem er uns alle opferte, dem sein einziger Abschied galt, der einzige Brief!! Mit den Zähnen hätte ich die Hülle wegreißen mögen, mit den Zähnen die Hülle von diesem letzten Geheimnis meines Kindes! Und tat es nicht! Stellte ihn dem Mörder zu! in furchtbar qualvoll-rasender Abwehr Denn er war der Mörder, nicht ich! Nicht ich! Er gab ihm den Todesstoß, nicht ich! Wer sagt, daß es anders gewesen?! Sein Gesicht war es, das er zuletzt trug! Nicht meines! Das hätte sich nicht in den Staub gewühlt, zerfetzt von einem Bleistück! Das hätte sein Blut nicht verschüttet wie trübes Spülicht! Sein Gesicht war es, nicht meines! Willst du die hämische, hündische, schadenfroh blinzende Fratze sehn im wächsernen Antlitz meines Kindes?! Komm mit mir, Remigius, komm mit! Er drängt Remigius mit sich zum Vorhang.
Remigius sich ihm in den Weg stellend
Laß die Toten ruhen, Vinzenz! Laß die Toten ruhen!
Vater im Paroxysmus
Sie ruhen nicht! Sie leben! Nur ich bin gestorben! Nur mein Antlitz ist weggewischt vom Antlitz meines Kindes! Doch die anderen Gesichter, die toten, gewesenen, leben, leben! Zusammengeballt und -geklittert zu einer einzigen grinsenden, feixenden, zwinkernden, giftigen Fratze, des anderen Fratze! Willst du sie sehen, Remigius, willst du sie sehen?!
Wahnsinn, Vinzenz!
Vater sich losreißend, die Hände emporwerfend
Es soll Wahnsinn sein! Herr Gott im Himmel, laß es Wahnsinn sein! Ein Wunder! Ein Wunder! Wische sie weg die anderen Gesichter! Wische sie weg! Gib ihm endlich das Meine!! Auf den Vorhang zustürzend.
Remigius mit letztem Versuch, sich ihm in den Weg zu stellen
Ich lasse dich nicht, Vinzenz! So geht man nicht zu Toten!
Vater ihn beiseiteschiebend
Weg frei dem Vater zu seinem Kinde! Reißt den Vorhang auseinander, taumelt zurück Gespenster, Remigius, Gespenster! – Aufschreiend Rabanser! Windstöße fegen durchs Zimmer, die Papiere auf dem Schreibtisch fliegen auf, die Lampe verlischt. Der Vater ist zurücktaumelnd bis in den Vordergrund rechts gelangt und steht nun wie zum Sprung geduckt, die Augen auf das Bild des Hintergrundes gerichtet. Seine Glieder beben in furchtbarer Erregung.
Remigius ist nach links zu gegen den Schreibtisch zurückgewichen, den Blick gleichfalls auf den Hintergrund gerichtet.
Jenseits des nun weit offenen Vorhanges ist ein schwarzausgeschlagenes weites Gemach sichtbar geworden, dessen Hintergrund, fast der ganzen Breite nach, von einem rechteckig umgrenzten Ausblick in das ziehende Gewölke des bläulich-bleiernen Gewitterhimmels eingenommen wird. Scharf und dunkel gegen diesen Himmel steht in der Mitte des Gemaches auf einem Podest, zu dem ringsum zwei Stufen emporführen, der Katafalk mit Huberts Leiche, zu Häupten des Toten flankiert von je einem hohen zweiarmigen Leuchter, dessen rote Flammen im Zugwinde heftig flackern und schwelen. Duft von brennendem Wachs und Weihrauch verbreitet sich. Am Himmel Wetterleuchten und ganz ferner Donner.
Auf dem Podeste links, mit gesenktem Haupt, den Blick auf das Antlitz des Verstorbenen gerichtet, bleich, versunken
Rabanser
in seiner gewöhnlichen Tracht, den Mantel um die Schultern, den Hut in der Hand. Durch den Ausruf seines Namens aufgestört, wendet er nun den Blick vom Toten ab, sendet ihn suchend in den Vordergrund der Bühne, und gewahrt den Vater. Über sein Gesicht geht eine jähe Bewegung, sein ganzer Körper strafft sich, verharrt einige Augenblicke so und nimmt dann die ihm eigentümliche lässige Haltung an, in der er langsam vom Podest heruntersteigt, mit ein paar Schritten in den Rahmen des Vorhangbogens tritt und daselbst stehenbleibt. Sein Blick richtet sich nun fest und erwartend auf den Vater.
Rabanser nach einer Pause, mit klarer, kalter Stimme
Sie haben mich gerufen; hier bin ich –
Vater wie einem Gespenst gegenüber, zwischen Haß und Grauen
Wer sind Sie?
Rabanser
Ich heiße Rabanser! Das wissen Sie so gut wie ich.
Vater an sich haltend
Richtig! – Nun ist Ihr Werk vollbracht!
Rabanser bedeutungsvoll, stark
Das meine?
Vater sich zwingend
Rechten wir nicht darüber! Feilschen wir nicht um den Anteil an dieser Schuld!
Rabanser überlegen
Ich feilsche nicht! Lasse sie Ihnen ganz und gerne.
Vater auffahrend, dann mit grimmiger Demut
Gut, gut, gut! Ich löcke nicht wider den Stachel, mucke nicht gegen die Peitsche! Sie haben mich ja an der Kandare!
Rabanser
Nicht daß ich wüßte!
Vater
Doch, doch! Sie halten ja einen Schatz in Händen, um den ich bitten muß, demütig betteln bei einem –
Rabanser scharf, schneidend
Auswürfling!
Vater hohnvoll, aber gebändigt
Gott behüte! Eher zerbiss' ich die Zunge, als daß ich dergleichen auch nur dächte! Ich muß mich ja mit Ihnen verhalten, und wenn ich ersticke!
Was wollen Sie!
Vater mit unterdrücktem Flehen
Den letzten Brief meines Kindes!
Rabanser hart
Der ihn schrieb, hat mich dazu nicht beauftragt.
Vater wieder aufflammend und sich beherrschend
Sie nehmen letztwillige Verfügungen genau! Ich – achte Sie darob. Ich habe Sie – immer geachtet! – Freilich, daß Sie Ihr Mütchen kühlen an einem, der auf der Erde liegt –! Aber nein, nein, nein! Ich wünsche mich bei Ihnen nicht unbeliebt zu machen! Es entglitt mir nur so. Wieder fast demütig Geben Sie mir den Brief.
Rabanser ungerührt
Noch ist es nicht an der Zeit.
Vater
Noch nicht? Noch immer nicht? – Sie haben das Herz eines –! Sich wieder demütig machend Verzeihen Sie! Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen! Genügt Ihnen das? Nur sagen Sie, bitte, was stand in dem Brief? Sind Anklagen in ihm?
Wenn, der ihn schrieb, anzuklagen fähig gewesen wäre, er läge nicht auf der Bahre.
Vater immer unbeherrschter
Bündig gesprochen, junger Herr, knapp, logisch und unwidersprechbar. Er läge nicht auf der Bahre! Er nicht! Ein anderer vielleicht, das wollten Sie doch bedeuten?
Rabanser
Der Kampf, den wir kämpfen, fordert nicht Tod und Blut!
Vater höhnisch
Nicht Tod und Blut! Das doch nicht! Sehr gütig. Aber immerhin! Kampf! Von wem gegen wen?! War auch mein Sohn bei den Kämpfern?
Rabanser
Nein! Er hörte nicht die Stimmen der Ungeborenen. Er warf die Waffen weg, ehe er antrat.
Vater
Da haben Sie wohl recht! Die Stimmen der Ungeborenen hörte er nicht! Darin glich er mir wie ein Ei dem andern! Er war überhaupt ein wenig altmodisch, nicht ganz auf der Höhe, kaum so recht lebensfähig! Sie nannten sich seinen Freund und haben ihn nicht sonderlich geachtet!
Ich baute nicht Türme auf seine Schultern und verfluchte ihn nicht, wenn sie stürzten!
Vater immer ingrimmiger
Ein gutes Wort, ein wahrhaft begnadetes Bild! Auf Alpha und Beta folgt Gamma! Kühl wie Eisblumen! Der Aphorismus eines Henkers! Allein – was war Ihnen dieser Mensch!? Aber die Liebe – nach meinem bescheidenen Dünken – die Liebe will bauen, will bilden nach ihrem Ebenbild! – Schlacken, junger Herr, Schlacken eines törichten Herzens! Immer gewaltiger Liebe ist Willen zum Ich! – Verjährter, tyrannischer Wahn! Ich gebe es zu, ärgern Sie sich nicht daran! – Besonders wir Alten sind einmal so, wir Väter! Wollen uns fortsetzen in Fleisch und Blut! In Seele und Geist! Haben gequadert ein Leben lang, daß unser Sinn nicht Unsinn werde! Wollen Bestand, Veredlung, Erben!
Rabanser
Sklaven!
Vater stark
Sogar das! Wenn es nicht anders geht! Sogar Sklaven! Alle Liebe ist Tyrannei! Aller Bestand ist Tyrannei! Er knechtet die Zeit! Die Jugend johlt: In tyrannos! Aber wir beugen sie!! Rabanser Nur die Armseligen! Die Edlen gehen lieber zugrunde, wenn sie nicht hart genug!
Vater immer hemmungsloser
Nur die Irregeleiteten gehen zugrunde!
Rabanser mit Gestus gegen den Toten hin
Und jener?! Wer hat ihn irregeleitet?
Vater voll Haß
Sie! Wer andrer als Sie?!
Rabanser stark, mit überlegener Ironie
Delirium des schuldigen Bewußtseins!
Vater entfesselt
Sie, der Holzwurm in seinem Gebälk! Sie, die Stimme alles Fauligen in seinem Blut! Ihr verkommenes Beispiel der Lockvogel auf die Kehrichtseite des Daseins! Sein Leben ein Kunstwerk, vorgedacht von meinem Herzen! Sie haben die Luft ihm verpestet, in der er gedeihen gesollt! Sie mit dem Afterwitz einer Kreatur, so die Welt von unten her anschaut und nicht von oben!
Rabanser mit erhobener Stimme, stählern
Was heißen Sie unten und oben! Ist wirklich, wo Sie sind, oben? Ist es so herrlich dort oben, wo Sie sind?! War nicht einer, der lieber Würmer in seinen Mund nahm, als dort zu fristen, wo Sie von ›oben‹ prahlen? Ist Gottes Erde ein Zinshaus, in dem die Bewohner nach dem Stockwerk gelten? Jener hätte lieber in Kellern gehaust und schimmeliges Brot gegessen als Pfauenzungen am Zwietrachttisch seiner Eltern!
Während der letzten Antwort Rabansers hat sich ferner Gesang, ein Chor von Knaben und Jünglingen, verdeutlicht und verstärkt. Nun scheint er, wenn auch noch immer gedämpft, dem Himmelausschnitt im Hintergrunde der Szene zu entströmen. Andere Knaben und Jünglinge in dunkler Kleidung kommen jetzt einzeln und in zwanglosen Reihen in das dunkel ausgeschlagene Gemach. Einige legen Blumen am Sarge nieder. Der Raum füllt sich während des Folgenden allmählich ganz mit solchen jungen schweigenden und trauernden Gestalten, die den Katafalk umgeben und zum Toten emporblicken. Dem
Gesang der Knaben und Jünglinge
hinter der Szene, einer schwermütig-feierlichen Melodie, liegt der folgende Text zugrunde:
Homo natus de muliere, brevi vivens tempore, repletur multis miseriis. Qui quasi flos egreditur et conteritur, et fugat velut umbra, et nunquam in eodem statu permanet. Constituisti terminos eius, qui praeteriri non poterunt. Recede paululum ab eo, ut quiescat, donec optata veniat, sicut mercenarii, dies eius. Hiob 14.
Vater unmittelbar auf Rabansers letzte Worte, ausschreiend, getroffen
Lüge! Lüge! Es muß Lüge sein! Ich will, daß es Lüge ist!!
Rabanser mit heller, mächtiger Stimme
Die Wahrheit! Steigen Sie endlich herab, alter Mann, vom Kothurn Ihres Oben! Herunter vom Schaukelpferd Ihres grausamen Ichwahns! Wie ein Unhold haben Sie gehaust in der Seele dieses Kindes!
Remigius mit erhobener Stimme
Vinzenz!
Vater mit verzweifelter Überredung
Hör nicht auf ihn, Remigius, hör nicht auf ihn! Zur Stimme der Wahrheit will er sich erdreisten, das Niemandskind, und redet nur Schellengeklingel!
Rabanser immer gesteigerter
Wer sind Sie, daß Sie nicht das Knie zu beugen brauchten vor dem neuen Menschen?!
Remigius hochaufgerichtet
Vinzenz!
Vater
Hör nicht auf ihn, Remigius, hör nicht auf ihn! Zur Stimme des Gewissens will er sich erdreisten und schüttet nur Bitterkeit aus wie ein unreifer Knabe!
Wer sind Sie, daß Sie einen Abklatsch fordern dürften von Ihnen als Urbild?!
Remigius
Vinzenz!! Er verliert sich nach links.
Vater
Hör nicht auf ihn, Remigius, hör nicht auf ihn! Zur Stimme der Toten will er sich erdreisten und hat noch kein Leben gemacht!
Die Mutter ist indessen, auf Rosl gestützt, durch die Tür links vorne eingetreten und steht in Starrheit und Abwesenheit des Schmerzes wie eine Somnambule. Beide Frauen sind in schwarzen Gewändern.
Rabanser der Huberts Brief aus der Tasche genommen und entfaltet hat
Die Toten bedürfen nicht meiner Stimme! Ihre erzenen Zungen läuten aus Gräbern!
Vater ausschreiend
Der Brief, Remigius, der Brief!
Rabanser mit erhobener Stimme, lesend und den Gesang, der immer mehr an Kraft zugenommen, übertönend
»O, wäre ich nie emporgetaucht an das Licht, das die Menschen beseligt! Mir war es kein süßes Licht! Die, deren Kind ich bin, haben mein Werden nicht gewollt! Ein Stolpern bin ich ihrer Lust, mehr nicht. Und als ich nicht mehr zu vermeiden war, sahen sie aneinander vorüber. Mein Leben war zwischen Fluch und Fluch! Was in mir des einen war, haßte der andre. So trete ich aus das giftige Unkraut, und den Frieden oder die Wahrheit vielleicht gebe ich Vater und Mutter.«
Die Mutter
ist aufschluchzend in den Stuhl am Schreibtisch gesunken, verbirgt ihr Gesicht in den Händen und verwächst mit Rosl, die zu ihren Füßen kniet, zu einem einzigen Dunklen.
Vater gefoltert
Das schrieb – das schrieb mein Kind!! Plötzlich rasend Ich bin nicht schuldig! Auf die Mutter weisend Sie ist schuldig, das Weib ist schuldig! Mehr schuldig als ich!
Rabanser überwältigend
Schuldig von Anbeginn nur der Mann! Das Weib immer nur Werkzeug! Der das Kreuz hub auf seine Schultern, ein Mann! Die er tilgte, die Sünden von Männern!
Vater außer sich
Ich bin Ihnen nicht rechenschaftpflichtig! Wer gibt Ihnen Fug und Gewalt zu richten?!
Rabanser über ihn hinweg
Nicht Richter ich, nicht Richter an Ihnen! Sie sind gerichtet! Nur die Stimme bin ich von Millionen Hingestorbener am Frevel der Zeugung! Und die Rufe der Ungeborenen wachsen aus mir zum Donner!
Vater
Geklapper, das ich nicht fürchte!
Rabanser
Vielleicht doch! Mächtig, schneidend Wer hieß Sie die Mutter verachten in ihrem Kinde?! Wer hieß Sie das Weib, das Sie verachtet, zur Mutter machen?!
Vater getroffen, stammelnd
Dunst der Sinne, der ihre Seele mir deckte, nur die blanke Hüfte mir freigab!
Rabanser über Raum und Zeit
Sinne?! Sprecht ihr noch von Sinnen?! Längst der heilige Strom eurer Lenden zum knechtischen Rinnsal geworden, das eurer trüben Geschäfte Mühlen euch treibt! Längst der Weiser aus eurem Blut zur Rute geworden, die sicherer Gold als Quellen der Lust aufspürt! Im weiten Umkreis der Schöpfung nur ihr so entartet, Weiber zu trächtigen, derer ihr nicht begehrt! Und es geht doch um Menschen! Wundert es euch, wenn Gottes Ebenbild verpfuscht ist in ihnen? Wenn ihr sie belauert und sie euch vermeiden lernen?!
Vater geschüttelt
Posaunen! Ich höre Posaunen, Remigius! – In jähem Erschaudern Ist denn niemand bei mir mehr, niemand? Er läßt sich schwer am Tische rechts nieder.
Remigius schmerzvoll, wie ein Echo aus dem Dunklen
Niemand!
Es ist seit Beginn der Szene, seit dem Verlöschen der Lampe immer düsterer geworden auf der Vorderbühne. Nur von links durchs Fenster scheint noch stumpf-geisterhaftes Tageslicht herein, das auch immer mehr versiegt. Die Gestalten: Remigius, die Mutter, Rosl gehen immer mehr in Dunkelheit auf. Nur Rabansers Gestalt steht deutlich-schattenhaft unter dem Bogen hochaufgerichtet. Der Gesang hinter der Szene ist ganz leise geworden, ferne Glockentöne werden hörbar.
Rabanser choragetesMagna cum miseratione
Wer darf solchen Herzens
Einen Menschen aufwecken
Aus dem Schlummer des Nichtseins?
Schläft er nicht in süßester Dämmernis
Angstverschont, notgefeit, wunschlos?
Schläft er nicht
Keimgeborgen, erdeneins, gotteins?
Hörtet ihr seine Stimme
Jemals rufen nach euerem Leben?
Ihr ruft ihn, nicht er euch!
Und ist er dann da, ans Licht gezwungen,
Ist nicht sein erster Laut Schrei?
Blendung das erste Gefühl seiner Augen?
Hunger das erste Wissen von seinem Ich?!
Menschenanfang ist Leidbeginn!
Lebensbeginn ist Sterbens Anfang!
Wer ist so ruchlos,
Einen Menschen zu wecken
Aus dem Schlummer des Nichtseins?
Wer, der nicht tausendmal ihn vorher
Gezeugt hat aus seiner Liebe Sehnsucht?
Chorus puerorum
Voces dolorosae
Ach, wie bald war die Wonne vorüber,
Da sie noch lächelnd kamen zu unseren Bettchen,
Da wir uns schmiegten mit jedem kleinen
Schmerzchen an ihre geneigten Wangen!
Selbst das Weinen war Jubel
Und köstlich: Bekennen!
Aber süßeste Tröstung:
Zärtliches Dämmern in ihren verzeihenden Augen
Und der Stimme, die strafte, erneuertes Blühn!
Pater confessor
Vox poenitentiae e tenebris
O, wie ein Zicklein war er,
Da er, ein Kind noch, sprang über Wiesen,
Und im goldenen Flaum seines Scheitels
Koste die Sonne.
Warum war ich der Hirte nicht, liebreich ihn weidend?
Warum kniete ich nicht
Vor dem Wunder der neuen Seele?!
Chorus adolescentium
Voces acerbae
Und immer wieder pocht gläubige Kinderhand
An die Herzen, aus denen sie Blut empfing,
Und nirgends, nirgends wird zögernder aufgetan!
Die Dienstmagd, die unser gewartet,
Vertrauter aus fremdestem Blut,
Gespielin des Zufalls, Geliebte des Zufalls selbst
Weiß mehr um die heimlichen Wünsche
Unsrer Gebete denn jene,
So uns beten gelehrt!
Rabanser
choragetes
O, daß dies anders würde,
Ihr jungen Menschen!
Daß doch ein Tag euch erglühte
Im purpurnen Aufgang der Zeiten,
Daß er doch käme
Auf goldener Adler Fittich gebraust!
Und ihr trätet, ihr Kinder,
Trätet vor euere Eltern,
Fragtet: Wie war es,
Da ihr einander freitet?
Stiegt ihr geheiligten Sinnes
Ins menschenzeugende Bette?
Und es lächelten jene
Holdester Zwiesprach' euch zu:
Cum choro adolescentium
Schön sind deine Mutter-Augen, Kind!
In Frühlingsnächten
Sah ich sie selig vergehn am Hauch meiner Küsse!
Cum choro puerorum
Schön ist deine Vater-Stirne, Kind!
In Kummernächten
Kühlten sie meine Hände von Sorgens fiebernder Qual!
Cum choro adolescentium
Schön ist deine Mutter-Demut, Kind,
Ihr dienendes Feuer
Weihte dem Müden zum Feste alltäglichstes Mahl!
Cum choro puerorum
Schön ist deine Vater-Stärke, Kind!
Und führte das Steuer
Unserem Schifflein durch Wogen und Wetterstrahl!
Cum choro puerorum atque adolescentium
Schön bist du, Kind, ureinigen Willens Vermächtnis,
Unseres Daseins zeugend-gezeugtes Gedächtnis,
Liebendes Sinnbild liebend glücklichster Wahl!
Solus cum sono tubarum
Oder wär' es nur Würfelspiel
Auf gerad oder ungerad,
Männersamen zu geuden in Weiberschoße?!
Coelum erubescit
Chorus puerorum et adolescentium deinde quasi Eumenidum
O, wie sät man uns wahllos
Über die Erde hin!
O, wie mäht man uns zahllos
Kalter Gebärde hin!
Ob es Gesetze gilt,
Die
wir nicht beschlossen,
Ob es Schätze gilt,
Die wir nicht genossen!
Nacktgeborene wir,
Was sind wir? Nur Sternes Bürger!
Wortlosgeborene wir,
Was gilt's uns, in welchen Lauten
Wir Brot aussprechen lernen oder Gott?
Leibes Hunger, der Seele Hunger
Weiß Erde und Himmel nur!
Aber Grenzen sind da, von Vätern gesetzte!
Aber Zungen sind da, von Vätern verhetzte!
Und die Welt loht auf in Glut!
Blut
Lechzt die entfriedete Scholle, Blut!
Unser Blut!
Weh! Weh! Weh!
Aus Millionen Wunden träuft es uns!
Furchtbar entbunden verläuft es uns!
Ach die Sonne ersäuft es uns!
Weh! Weh! Weh!
O, die sich nimmer uns beugen,
Brennende Quellen zu stillen,
In Mutterhuld,
O, die den Menschen zeugen
Nicht um des
Menschen Willen,
Ihrer die Schuld!!
Weh! Weh! Weh!
Vox patris e tenebris infimis
Posaunen! – Posaunen! – Posaunen!
Voces apokalypticae de coelis cantantes
Campanis male sonantibus
Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla
Teste David cum Sybilla.
Finis
Dem zu Beginn des Actus quintus in freier Weise verwendeten Zitate aus den Selbstbetrachtungen des Marc Aurel liegt ein griechischer und lateinischer Text des achtzehnten Jahrhunderts zugrunde. Bei der Übersetzung ins Deutsche diente in einzelnen Wendungen die Übersetzung von Otto Kiefer (Eugen Diederichs, Jena 1906) zum Vorbilde.
Die Uraufführung dieser Tragödie fand am 8. Februar 1919 im Burgtheater zu Wien statt.