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Für die geschichtliche Auffassung erscheint Platon in erster Linie als der große Schriftsteller, derartig, daß man in dieser seiner eindrucksvollen Leistung unwillkürlich das Wesentlichste seiner Wirksamkeit zu sehen geneigt ist: aber er selbst belehrt uns darin (ausdrücklich namentlich im »Phaidros«), daß er die geschriebene Rede nur als künstlerische Nachbildung der gesprochenen gelten lassen und seine eigenste Tätigkeit in der lebendigen Wirkung der mündlichen Lehre suchen wollte.
Es wird kein Zweifel sein, daß diese Auffassung des Philosophen mit der Art zusammenhängt, die er von Sokrates gelernt hatte. In der jahrelangen Verbindung mit ihm hatte Platon den Segen einer unmittelbaren geistigen Lebensgemeinschaft an sich selbst erfahren, und dem gereiften Schüler mochte es als beste Aufgabe erscheinen, ein Gleiches auch seinen Genossen und Jüngern zu bieten. Nicht nur um die Mitteilung und Aneignung von Ansichten und theoretischen Auffassungen handelte es sich ja dabei, sondern um die Erweckung und Bekräftigung von Überzeugungen und Willensrichtungen.
Zugleich aber beruhte diese eigenartige Verkehrsweise auf einem tieferen Grunde: sie wurzelte in dem Bewußtsein jener höheren Vernunfteinheit, die sich über dem Wechselspiel individueller Meinungen erheben sollte – in jenem wahrhaft philosophischen Triebe, der über alle einzelnen Meinungen und Interessen hinaus zu dem Ewigen und Wandellosen führen sollte. Was bei Sokrates ein unbefangener Ausfluß seiner genialen Natur gewesen war, das wurde bei Platon zur bewußten Lebensgestaltung; er knüpfte dieses Prinzip an die letzten Zusammenhänge seiner dadurch selbst bestimmten Weltanschauung, und er hob auf diese Weise seine eigne Tätigkeit auf eine metaphysische Höhe.
Nichts vielleicht in Platons Darstellungen ist so echt und rein sokratisch wie seine Schilderung der weihevollen Vereinigung, welche die getrennten Menschenseelen im Erkenntnistriebe finden. Im »Phaidros«, im »Symposion« hat er dies edelste Bekenntnis abgelegt. Die Verbindungen männlicher Persönlichkeiten, welche das Griechentum kannte, erscheinen hier in höchster, sublimster Vervollkommnung. Aus der Freundschaft gleichstrebender Genossen, aus der Lebensverbindung ebenbürtiger Charaktere fällt, wie es schon in dem frühen Dialog »Lysis« angebahnt war, alles Utilistische praktischer Interessen fort, die (φιλία) wird zu einer Wechselwirkung sittlicher und intellektueller Förderung: und von jener eigenartigen Beziehung zwischen dem reifen Manne und dem aufblühenden Jüngling, die der griechischen Sitte geläufig war, wird bei Platon wie bei Sokrates der gemeine und sinnliche Nebengeschmack abgestreift, und es bleibt auch hier nur ein geistiges Verhältnis des Gebens und Nehmens, des Anregens und Entfaltens übrig. Durch die Gemeinschaft des Denkens und Wollens ineinander die Wahrheit zu erzeugen, das ist für Platon der Inbegriff aller Freundschaft und Liebe, worin Menschen miteinander sich verbinden sollen. Aus dieser Vereinigung des Sterblichen erwächst in immer neuem Leben das Unsterbliche.
Das ist der Sinn der »platonischen Liebe«, der Lehre vom ἔρως, worin sich das tiefste Motiv des Philosophen ausgesprochen hat. Wie er sie mit seinen allgemeinen metaphysischen Theorien in Einklang gebracht hat, kann erst später dargestellt werden: zunächst tritt sie uns als das Lebensprinzip entgegen, das Platon dazu führte, in der gemeinsamen Arbeit der Wissenschaft mit seinen Genossen und Schülern den höchsten Zweck und Inhalt seiner Tätigkeit zu suchen.
Wenn sich dieser hohe Sinn der wissenschaftlichen Lebensgemeinschaft anfangs auch um Platon in der sokratischen Form freier Geselligkeit entwickelt hat, so scheint es, daß nach der ersten sizilianischen Reise der Schaffenstrieb des Philosophen, der sich in der Politik zur Untätigkeit verurteilt sah, sich der festen Gestaltung und planvollen Leitung seiner Schule zugewendet hat. Damals gab er ihr den äußeren Halt in dem Haine Akademos, dem sie ihren Namen verdanken sollte, und den inneren Zusammenhang eines geordneten Lehrganges: sie wurde zu einem rechtlich geschlossenen Verein und zu einer Kultgenossenschaft (ϑίασος) für welche nach mancherlei Anzeichen der apollinische Kult im Mittelpunkte stand. Damals auch schrieb er, wie wir annehmen dürfen, als eine Art von Programm seinen »Phaidros«, der die neue Schule im Gegensatz zu den Rednerschulen als eine Pflegstätte wissenschaftlicher Arbeit, religiöser Gesinnung und sittlich-politischer Erziehung darstellte.
Von den besonderen Einrichtungen, die Platon in der Akademie traf, sind wir auffallend wenig unterrichtet. Die Mittel zum Ankauf des Gymnasiums und des zugehörigen Parks scheint er selbst aus seinem Vermögen, vielleicht mit Unterstützung von Freunden, bestritten zu haben. Die Zugehörigkeit der Mitglieder war an äußere Leistungen nicht gebunden; der Unterricht war unentgeltlich. Das schloß nicht aus, daß Einzelne dem Vereine Stiftungen machten, und so wird sich allmählich das Vermögen angesammelt haben, das der Akademie später gehörte: insbesondere sind wohl auch auf diesem Wege die Bibliothek und die Sammlungen entstanden, welche der gelehrten Tätigkeit der Schule schon zu Platons Lebzeiten und namentlich in der Folge dienten.
Die Verfassung der Schule war die einer freien Kultgenossenschaft: an ihrer Spitze stand selbstverständlich, so lange er lebte, der Stifter selbst, später ein Schulhaupt, das nach Empfehlung des Scheidenden von den Mitgliedern, wie es scheint, auf Lebenszeit gewählt wurde. Wir besitzen die Liste dieser Scholarchen der Akademie zwar nicht lückenlos, aber doch vollständiger als für irgend eine andere Schule der antiken Philosophie bis zu der Aufhebung der Genossenschaft, welche durch ein Dekret des Kaisers Justinian, nach neunhundertjährigem Bestande, im Jahre 529 n. Chr. erfolgte.
Auch von der Art des Unterrichts in der Akademie können wir uns nur im allgemeinen eine Vorstellung machen. Zunächst hat Platon zweifellos in breitester Ausdehnung jene sokratische Methode angewandt, welche darauf hinauslief, durch fortgesetztes Fragen den Jünger an der Meinung, die er zuerst naiv geäußert, irre zu machen, ihn von der Unbegründetheit und Unsicherheit seiner mitgebrachten Ansicht gründlich zu überzeugen, zum Eingeständnis seines Nichtwissens zu zwingen und dann womöglich die Wahrheit geschickt aus ihm herauszufragen. Wenn wir nach Platons Dialogen über seinen mündlichen Unterricht urteilen dürfen, so ist es häufig zunächst bei dem negativen Ergebnis geblieben, das den Stachel weiteren Forschens in der Seele des Schülers zurücklassen sollte: oft aber ist das katechetische Verfahren auch auf die positive Herausarbeitung der rechten Einsicht gerichtet gewesen. Als Beispiele der ersteren Art können mehrere der früheren Schriften des Philosophen gelten, insbesondere der »Lysis« und am meisten der »Protagoras«. Von der positiven Kraft der sokratischen Methode mag als glänzendstes Zeugnis die Stelle im »Menon« erwähnt werden, wo von der Aufgabe her, die Seite des Quadrats zu finden, welches doppelt so groß sein soll als ein gegebenes, aus einem jungen Sklaven der pythagoreische Lehrsatz herausgefragt wird.
Je größer aber die Anzahl der Schüler und je reifer und selbständiger die Zuhörer wurden, um so weniger konnte es Platon vermeiden, zu der Lehrform zusammenhängender Vorträge und, wie wir heute sagen würden, eigentlicher Vorlesungen überzugehen. Daß dies, namentlich in seinem Alter, geschehen ist, geht daraus hervor, daß einige dieser Vorlesungen von Aristoteles und andern Schülern herausgegeben wurden, und in Platons eigner Schriftstellertätigkeit wird es dadurch angedeutet, daß die spätesten Dialoge wie »Timaios« und die »Gesetze« in der Hauptsache fortlaufende Vorträge darstellen, denen gegenüber der Dialog auf eine schematische, minimale Bedeutung herabgesetzt erscheint.
Doch läßt sich sehr wohl denken, daß diese verschiedenen Lehrarten in der Akademie nebeneinander bestanden, die eine mehr für den elementaren, die andere für den höheren Unterricht. Denn die Mitglieder der Schule sind offenbar sehr verschiedenen Alters und ebenso verschiedener intellektueller Entwicklung gewesen.
Manche sind, wie wir es z. B. von Aristoteles wissen, bei noch sehr jungen Jahren in die Akademie eingetreten. Für solche mochten zunächst die logischen Übungen nach somatischer Methode eingerichtet sein. Es galt Begriffe zu bestimmen, zu unterscheiden, einzuteilen, Begriffsverhältnisse festzustellen. Die unter Platons Namen erhaltenen Definitionen und Diäresen deuten auf solchen Schulbetrieb hin. Fast als pedantische Karikatur dieser Art von dialektischen Übungen erscheinen die dichotomischen Ketten, vermöge deren die Begriffe des »Sophisten« und des »Staatsmannes« in den gleichnamigen Dialogen gesucht werden. Auch die Komiker Athens haben sich, wie es scheint, eine Persiflage dieser in der Akademie üblichen Definiererei nicht entgehen lassen.
Anders stand es mit den älteren Männern, welche der Akademie dauernd oder vorübergehend angehörten. Unter den letzteren führt die Überlieferung eine bemerkenswerte Anzahl von Persönlichkeiten auf, die als Tyrannen oder aristokratische Tyrannengegner, als Gesetzgeber ihrer Städte oder wirksame Parteiführer eine politische Rolle gespielt haben, und wenn auch viele dieser Angaben erfunden sein mögen, so ist doch im Ganzen kein Zweifel darüber, daß Platons Verein, namentlich solange er selbst an der Spitze stand, eine ausgesprochene politische Tendenz hatte und als intellektueller Mittelpunkt für alle Gegner der Demokratie gelten mochte: er wahrte diese Stellung gerade dadurch, daß er sich in Athen selbst aller Beteiligung an der praktischen Politik prinzipiell enthielt.
Mit solchen Freunden hat man nun in der Akademie offenbar weniger wissenschaftliche als sozial-politische Fragen erörtert, und sie haben zum großen Teil an den philosophischen Bestrebungen der Genossenschaft nur so weit Anteil gehabt, als sie selbst sich einige Bildung zu erwerben und damit einen Nimbus für ihre politische Stellung zu gewinnen wünschten.
In vorübergehendem, aber deshalb auch vermutlich loserem Verkehr mit der Akademie finden wir ferner auch Gelehrte, die schon sonst eine eigne und angesehene Bedeutung hatten. Zu ihnen dürfen wir besonders den Pythagoreer Archytas und den Astronomen Eudoxos, auch wohl den Polyhistor Herakleides Pontikos rechnen. Sie können nicht eigentlich als Schüler Platons bezeichnet werden, und, wenn sie sich in ihren Lehren vielfach mit ihm berührten, ja sogar ihrerseits, wie es bei Eudoxos unzweifelhaft ist, in einzelnen Fragen auf ihn einwirkten, so gingen sie andrerseits auch ihre eignen Wege.
Daneben hatte die Akademie ihren dauernden Bestand von Mitgliedern, und es machte sich mit der Zeit von selbst, daß die älteren und reiferen von ihnen den Unterricht der zahlreicher zuströmenden Jugend zum Teil übernahmen und bei Platons Oberleitung je nach Neigung und Fähigkeit der einzelnen unter sich teilten. Zu solchen Männern, die in der Akademie selbst aus Schülern zu Lehrern heranwuchsen, gehörten in erster Linie Speusippos, der Neffe des Philosophen, und Xenokrates von Chalkedon, die nach Platons Tode hintereinander das Amt des Scholarchen bekleideten; dazu gehörten wohl auch Menedemos aus Pyrrha, Philippos von Opus und ganz besonders Aristoteles. Dieser hat der Akademie zwei Jahrzehnte lang angehört: von ihr aus begann er seine schriftstellerische Laufbahn, worin er sich anfangs nach Form und Inhalt durchaus an Platon lehnte; in ihrem Rahmen hat er noch zu dessen Lebzeiten nicht nur rhetorische, sondern auch andere wissenschaftliche Vorträge gehalten.
Es wäre natürlich, wenn bei solcher Ausdehnung des Betriebes es zwischen den selbständiger werdenden Lehrern der Akademie gelegentlich zu Reibungen gekommen wäre, und es ist wohl glaublich, daß Platon bei der Rückkehr von der dritten sizilischen Reise Mißhelligkeiten auszugleichen hatte, die inzwischen unter seinen Stellvertretern ausgebrochen waren. Das Nähere jedoch, was darüber berichtet wird, ist ebenso ungewiß, wie die gehässigen Erzählungen, die im Altertum über Zwistigkeiten zwischen Platon und Aristoteles verbreitet waren. Gerade des letzteren Schriften liefern den Beweis, daß selbst dauernde und tiefgehende Abweichungen von der Lehre des Meisters mit der Pietät des großen Schülers vereinbar blieben.
Freilich ist nicht zu verkennen, daß Platon selbst mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit und der Autorität des Schulhauptes für die Einheit und Reinheit der Lehre in seiner Akademie eingetreten sein wird. Ihm war es damit heiliger Ernst: es war ihm nicht um Ansichten, sondern um Überzeugungen zu tun. Seine Schriften zeigen, daß er schon früh zu den Eiferern gehörte, die geneigt sind, den Gegensatz der Meinungen in den sittlicher Richtungen umzudeuten und im Gegner den ethischen Widersacher zu wittern: war er doch davon durchdrungen, daß die rechte Einsicht notwendig mit dem rechten Wollen verbunden sei und daß in der Unwissenheit auch das Böse wurzele. Da ist es wohl zu verstehen, daß diese Art im Alter noch schroffer zutage trat und daß es ihm schwer werden mochte, Widerspruch zu ertragen. Wie er in solchem Falle zürnen und wettern konnte, das sehen wir in dem zehnten Buch der »Gesetze« an der Abkanzlung eines jungen Atheisten. Es ist das reizvollste und charakteristischste Stück des greisen Lehrers: in unvergleichlicher Eigenart verbindet sich hier das immer noch lodernde Feuer der Jugend mit der Härte des Mannes und der Überlegenheit des Alters. Wir glauben gern, daß, der das schrieb, stramme Ordnung hielt bis ans Ende.
Wie weit nun Platon den Unterricht sachlich gliederte und organisierte, ist uns nicht bekannt. In seinen Schriften bietet er mehrfach einen pädagogischen Aufbau der Disziplinen, und charakteristisch ist dabei der propädeutische Wert, welcher der Mathematik für die eigentliche Philosophie beigelegt wird. Wir werden mit der Annahme nicht fehlgehen, daß die Ordnung des Studiums in der Akademie einen ähnlichen Gang einhielt.
Dabei wird es durch die Reihenfolge der platonischen Schriften und das Verhältnis der Schüler zum Meister wahrscheinlich, daß Studium und Unterricht in der Akademie mit der Zeit immer mehr einen gelehrten Charakter angenommen haben, von den dialektischen Übungen und den ethisch-politischen Reflexionen zu naturwissenschaftlichen und historischen Untersuchungen fortgeschritten sind und sich so über den ganzen Umfang auch der besonderen Wissenschaften ausgebreitet haben. Dies brachte offenbar schon das Bedürfnis der zahlreichen, von verschiedenen Anlagen und Interessen herkommenden Mitglieder der Schule mit sich.
Wie weit es dabei Platon selbst zu einer systematischen Einteilung, Scheidung und Anordnung der Wissenschaften gebracht hat, wissen wir nicht. Ansätze dazu zeigen sich in den Schriften gelegentlich; aber vielleicht ist die strenge Sonderung der Gegenstände erst ein Werk des Aristoteles und von der Akademie später aus dessen selbständiger Schule, dem Lyceum, übernommen worden. Zwar soll von den Akademikern die Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik (wir würden heute etwa sagen in Logik, Metaphysik und praktische Philosophie) eingeteilt worden sein: aber diese Gliederung wird von Platon selbst niemals ausgesprochen, und auf seine eigne Lehre kann sie nur hinterher angewendet werden.
Wollten wir überhaupt nur nach Platons Werken gehen, so könnte es scheinen, als ob es mit einer methodischen Gliederung und Anordnung der Unterrichtsgegenstände bei ihm noch nicht allzu weit gekommen wäre; und jedenfalls ist ihm darin Aristoteles sehr überlegen gewesen. Dessen Lehrschriften, wie sie uns erhalten sind, beruhen auf einer strengen systematischen Einteilung der Wissenschaften und halten diese durchgängig ein. Bei Platon dagegen verweben sich in der weitaus größten Anzahl der Dialoge die verschiedenen Probleme und Motive mit so phantasievoller Lebendigkeit, daß sich an die ursprüngliche Frage Untersuchungen aus den mannigfachsten Regionen anschließen. Die Zuteilung zu einem bestimmten Gebiet ist bei einigen Dialogen nach dem Vorwiegen des einen oder des anderen Interesses möglich, bei wenigen eindeutig bestimmt, bei anderen dagegen fast unmöglich. Diese freie Verschürzung der Gedankengänge braucht aber darum noch nicht der akademischen Lehre eigen gewesen zu sein; denn sie hängt wesentlich mit dem künstlerischen Charakter des literarischen Schaffens bei Platon zusammen.