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VI. Der Sozialpolitiker.

Aus dem engen Kreise der Freunde und Schüler, mit denen Platon in Forschung und Lehre verbunden war, sind wir ihm auf den weiteren Boden der Gemeinde gefolgt, deren Glaubensüberzeugungen er wissenschaftlich zu gestalten, zu deuten, zu vertiefen unternahm: nun reißt er uns fort in den weitesten Umkreis seiner Wirksamkeit, wo er an sein ganzes Volk sich wendet, um das Leben der Gesamtheit in seinen innersten Tiefen aufzuwühlen und mit neuem Inhalte zu erfüllen. Erst in dieser Wendung auf das Ganze kommt auch der ganze Mann zutage: erst hier finden die Gegensätze, in die der Philosoph und der Theologe notwendig gerieten, ihre höhere Vereinigung und die streitenden Gedankengänge den Versuch ihres versöhnenden Abschlusses. Wenn es ihm nicht gelang, für die Lebensführung des Individuums die Ideale der Wissenschaft und die der Religion in Einklang zu bringen, so hat er in seiner Sozialethik, der Lehre vom Staate, eine Ausgleichung der Gegensätze wenigstens soweit gefunden, als sie in den Grenzen seiner begrifflichen Voraussetzung überhaupt möglich war.

Hier traten nun freilich noch ganz andre Voraussetzungen hinzu: die politischen und sozialen Zustände Griechenlands, insbesondere Athens, und die Stellung, die Platon von vornherein dazu einnahm. Seine Grundstimmung ist die des glühenden Patrioten, der, von tiefem Schmerz über den äußeren Niedergang und den inneren Zerfall des Staates erfüllt, zu der Überzeugung gelangt ist, daß eine Rettung nur von einer vollständigen Umkehr und einer durchgängigen Neugründung des ganzen Volkslebens zu erwarten sein würde: es ist ein Pessimismus, der nach dem Ausgange des peloponnesischen Krieges bei einem Athener und insbesondere bei einem Mitgliede der aristokratischen Partei wohl begreiflich erscheint.

Das erste und greifbarste Moment ist dabei die Erkenntnis, daß die Demokratie gründlich abgewirtschaftet hat. Der Aufschwung, den sie Athen zu geben schien, ist kurz und trügerisch gewesen: der glänzende Bau des attischen Reichs ist schnell wieder in sich zusammengestürzt. Der Grund davon ist der, daß es ihm vermöge der demokratischen Verfassung an einer konstanten und sachverständigen Leitung fehlte. Wenn ein jeder berufen ist und sich für berufen hält, an den wichtigsten Entscheidungen des öffentlichen Lebens unmittelbar mitzuwirken, wenn die höchste und schwierigste aller Aufgaben, die Staatsleitung nicht durch sachkundig geschulte Männer, sondern von jedem Beliebigen gelöst werden soll, den Volksgunst und Vordringlichkeit emporheben, so ist ein Hin- und Herschwanken des Staatsschiffes, dem der rechte Steuermann mangelt, unvermeidlich.

Zugleich aber verfällt durch diese Verfassung, in der Alles auf den Beschluß der Masse gestellt ist, das Volk der Schmeichelkunst der Redner und Sophisten. Sie, denen es nicht auf das Wahre, sondern auf das Wirksame, nicht auf das Gute, sondern auf das Angenehme ankommt, haben schließlich die Leitung des Staats in der Hand und sie führen ihn an den Rand des Verderbens. Gegen sie richtet sich deshalb Platons erstes hochpolitisches Werk, der »Gorgias«: es ist eine flammende, von düsterer Leidenschaft durchglühte Anklageschrift gegen die Herrschaft der politischen Redner. Der Philosoph schreckt nicht davor zurück, auch auf die großen Namen der attischen Geschichte, einen Miltiades, Themistokles, Perikles seinen Tadel fallen zu lassen. Durch die Rede haben sie geherrscht; aber wie wenig es ihnen gelungen ist, selbst in ihrem Sinn die Mitbürger »besser zu machen«, das haben sie daran erfahren müssen, daß der Wankelmut der Menge sich schließlich von ihnen gewendet hat. Die Redekunst ist unfähig, einen Staat dauernd zum Rechten zu regieren, und eine Verfassung, die ihr die Macht in die Hände spielt, ist von Grund aus verfehlt.

Dazu kommt, daß die Demokratie den Bürger gewöhnt, sich um vielerlei Dinge zu kümmern, die ihn nichts angehen: er fängt an, in alles Mögliche hineinzureden und sich ein Urteil darin anzumaßen. Damit aber wird er von seiner eigentlichen Berufstätigkeit abgelenkt; der kleine Mann schwatzt auf dem Markte und vernachlässigt seine Arbeit: das muß zur Zerrüttung seiner häuslichen Verhältnisse, zur Zerstreuung und Verwilderung seines Lebens, zur Verwirrung seiner Vorstellungen und Interessen führen. Er verlernt, das zu tun, wofür er da ist (τὰ ἑαυτοῦ πράττειν), und unter dem Namen der Freiheit lebt Jeglicher nach Gutdünken und wechselnden Einfällen.

Aber das attische Reich hat noch anderes mit sich gebracht, was Platon beklagt: es ist ein Reich des Handels und der Industrie geworden. Die einfachen Lebensverhältnisse der Vorzeit sind vom Luxus und von rastloser Erwerbsbegierde überwuchert. Aber was helfen, fragt der Philosoph, alle die Flotten und Häfen, wenn in diesem Getriebe der unselige Gegensatz von üppigem, übermütigem Reichtum und bittrer, düstrer Armut von Tag zu Tag sich verschärft? Hierin liegt der wahre Krebsschaden des Staates; dies ist ein Geschwür, das den ganzen Volkskörper vergiftet und zersetzt, und eine Verfassung, die solche Zustände befördert, die dem Erwerb keine Schranken setzt und die Ausbeutung des Armen durch den Reichen nicht hindert, ist unfähig, das bereits hereingebrochene Verderben aufzuhalten.

So verbindet sich bei Platon von Anfang an das politische mit dem sozialen Interesse: und in beiden Beziehungen mahnt er, erschreckt durch die Auswüchse der attischen Lebensfülle, zu der Einfachheit früherer Zustände zurück, zum Landbau, zur Zunftverfassung, zu patriarchalischen Staatseinrichtungen. Es klebt ihm ein gut Stück vom Parteimann an, wenn er den reichen Kulturwert, den das demokratische Athen in der Entfaltung des geistigen Lebens besaß, so völlig übersieht. Als ein undankbarer Reaktionär tritt der Philosoph allen Neuerungen auf das Schroffste entgegen – während er doch selbst die tiefstgreifende und umfangreichste zu betreiben im Sinne hat!

Dieser Widerspruch beruht, wie es scheint, in letzter Instanz darauf, daß Platons politische und soziale Auffassungen dauernd von dem griechischen Prinzip des Stadt-Staates (πόλις) abhängig geblieben sind. Nur in diesen engen Grenzen vermag er sich das öffentliche Leben zu denken: und während das Griechentum selbst gerade in einem Gebilde wie dem attischen Reich einen Zug ins Größere zeigte, wollte Platon in seiner politischen Theorie die Entwicklung wieder auf die primitiven Zustände der Kleinstaaterei zurückschrauben. Wie die »Politeia« einen kleinen Militärstaat, so konstruieren die »Gesetze« einen kleinen Agrarstaat von 5040 Bürgerfamilien. Eine solche Ausdehnung hat Platon im Auge, wenn er es für die Aufgabe der Staatslenkung erklärt zu verhüten, daß der Staat »zu groß oder zu klein« werde, wie sie andrerseits ebenso Reichtum wie Armut fern halten und für einen mittleren Besitzstand aller Bürger sorgen soll. Trotz der Erfahrungen, die Griechenland im Laufe der Zeit der persischen Großmacht gegenüber nicht erspart blieben, war selbst ein Mann wie Platon nicht zu der Erkenntnis gelangt, daß die Zeit der »Polis« vorüber war: das zeigt am besten das Fragment seines »Kritias«. Durch diesen Dialog sollte in der Form einer mythischen Geschichtsphilosophie dargelegt werden, daß ein kleiner, nach den Prinzipien der Platonischen »Politeia« glaubensstark organisierter Stadt-Staat – diese Rolle war Athen zugedacht – der äußeren Übermacht einer mit aller Üppigkeit des irdischen Lebens ausgerüsteten Großmacht dennoch überlegen sei. Die letztere wurde auf die »Atlantis«, eine Rieseninsel jenseits der Säulen des Herakles verlegt. Aber nur bis zu den phantastischen Anfängen ihrer Schilderung ist Platon gelangt: und so sympathisch der Gedanke ist, daß ihm vermutlich eine Art von Idealisierung der Perserkriege vorgeschwebt hat, so begreiflich ist es, daß der Plan schließlich nicht ausgeführt worden ist. Die politische Wirklichkeit in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts, die Abhängigkeit, in welche für lange Zeit die Politik der griechischen Kleinstaaten dem Großkönige gegenüber geriet, hätte ein zu klägliches Gegenbild gegeben.

Für Platons ideale Auffassung dagegen erschien gerade der griechische Kleinstaat als der günstige Boden für die Erfüllung der Grundforderung, ohne die er ein dauernd in sich kräftiges und nach außen wehrfähiges Gemeinwesen für unmöglich hielt: die volle Einheit der Interessen und des Wollens. Nur da ist wahres Gemeinleben, lehrt Platon, wo alle dasselbe wollen, dasselbe bejahen und dasselbe verneinen. Diese Einheit des Wollens ist das Wesentlichste für ein gesundes Staatswesen, und das ist die Krankheit der Demokratie, daß sie jedem Einzelnen sein Wollen freigibt und eben deshalb darauf angewiesen ist, erst aus dem Kampfe der Leidenschaften zu Entscheidungen zu gelangen, die weitab von dem Werte eines wahrhaft gemeinsamen Wollens liegen.

Von hier aus bedarf es nur noch eines Schritts, um das Grundprinzip der Platonischen Staatslehre zu verstehen: wir haben den Sokratiker vor uns, der von dem psychologischen Grundsatze ausgeht, daß jeder Mensch nur will und tut, was er für gut hält, daß also das rechte Wollen und Tun aus dem Wissen des wahrhaft Guten, das schlechte Wollen und Tun dagegen aus der Unkenntnis und der falschen Meinung über das Gute stammt. Zu oft hat Platon in seinen Schriften bis zuletzt diesen Gedanken in der scharfen Form »Niemand tut freiwillig unrecht« ausgesprochen, als daß wir nicht darin ein dauerndes Motiv seines praktischen Denkens und seiner Beurteilung des menschlichen Lebens zu sehen hätten. Deshalb aber erscheint ihm jene Einheit des Wollens, in der allein das Heil des Staats zu suchen ist, nur möglich vermöge der Einheit der Überzeugung: und diese Überzeugung kann selbstverständlich nicht irgend eine beliebige Meinung, sondern sie muß die wahre Erkenntnis vom höchsten Gut, sie kann nichts anderes sein, als die Wissenschaft oder die Philosophie.

Deshalb, sagt Platon, wird der Not der Menschen kein Ende sein, ehe nicht entweder die Herrscher Philosophen oder die Philosophen Herrscher werden. Die Ordnung des öffentlichen Lebens darf nicht durch den Willen oder die Meinung Einzelner oder auch des Volks, sie soll nur durch eine Lehre bestimmt werden, durch die wissenschaftliche Erkenntnis. Wenn erst diese zur Herrschaft in allen Bürgern gelangt, dann bedarf es nicht der eifrigen Gesetzmacherei mehr, in der sich jetzt die Staaten überbieten: aus dieser Lehre wird die Gesinnung folgen, in der alle dasselbe wollen, das höchste Gut, wie die Philosophie es lehrt. Diese Gesinnung ist die Tugend, und so gilt es, daß der Zweck des rechten Staatswesens nur der ist, die Bürger tugendhaft zu machen. Wahrhaft tugendhaft aber wird der Mensch eben nur durch das Wissen, und so folgt schon hieraus die platonische Forderung der Herrschaft der Wissenschaft im Staate.

Diese teleologische Unterordnung des menschlichen Gemeinlebens unter das höchste Gut ist bei Platon im allgemeinsten Sinne gedacht: sie betrifft das politische und das soziale Leben gleichmäßig, und zwischen beiden wird hier so wenig ein begrifflicher Unterschied gemacht, daß der Staat wesentlich als Ordnung der sozialen Verhältnisse aufgefaßt wird. Dabei scheint es in der »Politeia« zunächst, als würde der Zweck des Gemeinlebens lediglich in der Erfüllung der Bedürfnisse der darin zusammentretenden Individuen gesucht: aber sei es nun, daß Platon damit an fremde, etwa kynische Lehren anknüpfte, um sie über sich selbst hinaus zu steigern, sei es, daß er damit in gleicher Absicht von der populären Vorstellungsweise ausgehen wollte – jedenfalls ist es ein besonders gelungenes Kunststück seiner Darstellung, wenn er von der Meinung her, ein Staatsleben wachse aus solchen natürlichen Bedürfnissen der Einzelnen heraus, den Nachweis führt, daß es auch dann eine Erziehung seiner Bürger verlange, die zuletzt auf der höchsten Einsicht, auf der philosophischen Wissenschaft beruhe.

Versuchen wir, heißt es, eine Polis zu gründen! Ein halb Dutzend Menschen mag zunächst zusammenkommen, die jeder ein besonderes Handwerk verstehen, wie es zur Wohnung, Kleidung und Ernährung von Menschen erforderlich ist, Maurer, Weber, Schuster, Bauer usw. Man sieht deutlich, daß hier an eine historische Erklärung vom Ursprung des staatlichen Lebens nicht gedacht sein kann! Eher könnte man sagen, daß bereits in der »Politeia«, wie ausgesprochenermaßen in den »Gesetzen«, der den Griechen geläufige Vorgang einer Koloniegründung vorschwebe. Die werden sich gegenseitig durch Arbeitsteilung unterstützen, indem jeder leistet, was er gelernt hat, und dafür von den andern ihre Erzeugnisse, soweit er ihrer bedarf, als Gegenleistung empfängt. Bald wird sich zeigen, daß noch andere hinzukommen müssen, die mit ihrer Arbeit ergänzend, vorbereitend, zusammenfügend eintreten; schließlich wird der Kaufmann, der Wechsler und der Tagelöhner nicht zu entbehren sein. Je mehr Menschen es werden, um so mehr gesellen sich zu den notwendigen Bedürfnissen die überflüssigen, die des Luxus; neben dem Handwerk stellt sich die Kunst ein. Aber all das Volk will ernährt sein; das Land reicht nicht mehr aus, der »Staat« muß sich vergrößern – er muß fremdes Gebiet rauben, d. h. Krieg führen. Aller Krieg, meint Platon, beruht auf einer solchen Steigerung der Bedürfnisse über das Natürlichnotwendige hinaus. Das Kriegführen aber ist ebenfalls ein Handwerk oder eine Kunst, und es muß nach dem Prinzip der Arbeitsteilung eigens erlernt und als besonderer Beruf von einer Klasse der Bürger betrieben werden.

Damit spricht Platon in unscheinbarer Form einen weit tragenden Gedanken aus, der über die ursprünglichen Zustände des Griechentums, wie sie auch in der Glanzzeit seiner Geschichte bewahrt geblieben waren, weit hinausgreift. Selbst im peloponnesischen Kriege hatte man von einem besonderen Kriegerstande noch nichts gewußt: die Gesamtheit der Vollbürger war in jedem Staate zur militärischen Dienstleistung verpflichtet gewesen, die Heeresbildung war ein wesentlicher Bestandteil der Staatsverfassung. Seit dem korinthischen Kriege jedoch (394 bis 387 v. Chr.) war, insbesondere durch den athenischen General Iphikrates, die Bildung von Söldnerheeren aufgekommen. Dazu hatte nicht zum wenigsten der Umstand beigetragen, daß bei dem allgemeinen Niedergange des Staatsbewußtseins und der patriotischen Gesinnung der wohlhabende Bürger anfing, sich in der Erfüllung der Dienstpflicht gegen Bezahlung vertreten zu lassen. Männer wie Iphikrates und die großen thebanischen Strategen Pelopidas und Epaminondas schufen aus solchem Soldatenmaterial stehende Truppen, die sich den alten Milizen taktisch überlegen erwiesen, dabei aber auch in der Folge sich von dem Meistbietenden mieten ließen. Diese neue Einrichtung sucht Platon dem alten Prinzip der Polis einzugliedern. Auch er verlangt einen eignen Kriegerberuf und Kriegerstand: aber dieser soll aus den besten Bürgern bestehen, die, aller sonstigen Berufsarbeit enthoben, lediglich zum Schutz des Stadtstaates gegen jede Gefahr seines Bestandes verpflichtet sind. Den dazu Auserwählten liegt es aber deshalb ob, nicht nur gegen äußere Feinde gewappnet und geschult zu sein, sondern auch die Heimat vor inneren Zwistigkeiten zu bewahren und in ihr für Ordnung und Gesetzmäßigkeit zu sorgen. Darum sollen sie die Wächter (φύλαϰες) heißen.

Diesen Stand muß die Polis aus sich heraus erziehen: wer dazu gehören soll, muß an Leib und Seele das Beste leisten. Mit allen Eigenschaften des tüchtigen Kriegers muß er das Verständnis für die Zwecke des Staats, für die inneren Zusammenhänge des Gemeinlebens verbinden: er muß tapfer und wissenschaftlich gebildet sein. Mit Rücksicht auf diesen Zweck entwickelt Platon die gymnastische und musische Ausbildung, die den »Wächtern« zu Teil werden soll. Strenge Zucht soll in beiden Richtungen walten: enthaltsames Leben, harte Übungen, stetige Beschäftigung sollen den Leib kräftigen, gefügsam machen und vor allen Ausschweifungen bewahren; aus der bunten Welt der Sagen und Märchen, aus den religiösen Überlieferungen soll der jungen Seele mit sorgfältiger Auswahl nur zugeführt werden, was ihr sittliches Glauben und Wollen zu fördern geeignet ist, und auch in Musik und Gesang soll alles, was die neuernde Kunst an Sinnenkitzel und verweichlichender Sentimentalität herbeibringt, von der Hand gewiesen und nur das ernste, patriotische und religiöse Gefühle weckende Chorlied verwendet werden.

Allein solche Erziehung erfordert ihre Leiter. Wenn der gesamte Stand der »Wächter« sich über alle die Übrigen, die je ihres Handwerks Dienst leisten, als der eigentliche Träger des Staatsgedankens und der Staatsmacht erheben soll, so muß in ihm wieder zwischen den erst in der Ausbildung Begriffenen und den die Ausbildung Leitenden, und ebenso zwischen den Ausführenden und den Bestimmenden unterschieden werden. In beiden Rücksichten wird das Verhältnis sich auf die Jugend und das Alter verteilen. Wir bedürfen also im Stande der Wächter einer in der Erziehung begriffenen Jugend, die nach dem Befehl der Oberen gegen den Feind zu Felde zieht und im Innern die Ordnung wahrt, und eines gereiften Alters, das die höchste Erkenntnis gewonnen hat und nach ihr den Staat regiert. So unterscheidet Platon die Gehilfen oder Beamten (ἐπίϰουροι) von den Regenten (ἄρχοντες), und die letzteren können natürlich keine anderen sein als die Männer der Wissenschaft, die Philosophen.

Einer solchen Einrichtung bedarf der Staat, sucht Platon zu zeigen, auch wenn wir in ihm nichts weiter sehen wollten, als eine Vereinigung, wodurch die Menschen mit Hilfe der Arbeitsteilung eine möglichst vollkommne Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse gesucht hätten. Auch auf dieser naturalistischen und utilistischen Grundlage muß das Gemeinwesen eine Gliederung erfahren, die in der Herrschaft der wissenschaftlichen Einsicht gipfelt, sodaß von ihr die erzieherische Gestaltung aller derjenigen Organe ausgeht, in welchen sich der Lebenszusammenhang des Ganzen darstellt. Die aus der Ideenlehre heraus geforderte Auffassung des Staates als einer Verwirklichung des höchsten Gutes in der menschlichen Gesellschaft kommt nach dieser geistvollen Entwicklung Platons (im zweiten bis vierten Buch der »Politeia«) durchaus mit den Anforderungen zusammen, welche an den Staat als ein Produkt des natürlichen Bedürfnisses zu stellen sind: die Herrschaft in ihm gebührt der Philosophie als der Lehre vom höchsten Gut, von den Zwecken der Welt und des Menschen.

Zugleich aber gewinnen wir durch diese Darstellung die natürliche Gliederung des Staates in seine drei Stände: den Nährstand, den Wehrstand und den Lehrstand. Der erstere umfaßt die große Masse derjenigen, welche vermöge ihrer Fertigkeiten und Geschicklichkeiten alle die Güter erzeugen und verarbeiten, die den äußeren Bestand des gemeinsamen Lebens ausmachen, die Landleute und die Handwerker, denen auch die Händler beizureihen sind; der zweite besteht aus den aktiven Kriegern und Beamten, deren Erziehung sie befähigt, den Staat gegen äußere und innere Feinde zu schützen, seinen Gesetzen Gehorsam zu verschaffen, sein Ansehen nach innen und außen zu wahren; den dritten bilden die »Philosophen«, die Männer der Wissenschaft, die vermöge ihrer Erkenntnis des wahrhaft Guten die Gesetze geben, die »Gehilfen« erziehen und den gesamten Staat regieren.

So betrachtet ist der Staat » der Mensch im Großen«. Seine drei Stände entsprechen den drei Verhaltungsweisen oder den drei Teilen (vgl. oben S. 130 ff.) der individuellen Seele: und Platon geht nun daran, das Ergebnis seiner sozialpolitischen Reflexion mit seiner ethisch-theologischen Psychologie in Einklang zu bringen und daraus weitere Folgerungen zu ziehen. Der Nährstand mit seinen auf Erwerb gerichteten Berufsarbeiten entspricht dem »Begehrlichen«, der Wehrstand mit seinen wesentlich militärischen Aufgaben dem »Muthaften«, der Lehrstand mit seiner Pflege der Wissenschaft dem »Vernünftigen« in der einzelnen Seele.

Diese sich von selbst darbietenden Analogien zwischen Staat und Individuum erlauben nun dem Philosophen, seine Auffassung von den Aufgaben und den je nach ihrer Erfüllung zu bemessenden Vollkommenheitsgraden der Staaten und der Einzelmenschen durch parallele Betrachtungen darzulegen. Die Normen und die Werte sind politisch und ethisch dieselben: im ersteren Sinne betreffen sie den »Menschen im Großen«, im zweiten den »Menschen im Kleinen«.

Das Grundprinzip bleibt dasselbe, das schon im Anfang den Begriff der Arbeitsteilung ausmachte: das rechte Leben im Staat wie im Einzelnen besteht darin, daß jeder der drei Teile »das Seinige« tut (τὰ ἑαυτοῦ πράττειν), daß er genau die Aufgabe erfüllt, zu der er im Zusammenhange des Ganzen berufen ist, – nicht mehr und nicht weniger. Die teleologische Weltanschauung führt auf die Norm, daß ein Jedes seine Bestimmung hat und in dem Maße gut und vollkommen ist als es diese erfüllt. So kommt im Staate dem Lehrstande der Philosophen die Herrschaft und der Betrieb der Wissenschaft zu, dem Wehrstand die pflichttreue Ausführung der Gesetze und die mutige Verteidigung des Vaterlandes, dem Nährstande der unbedingte Gehorsam, die Unterwerfung unter den Willen der Regierenden und die Beschaffung des äußeren Bedarfs für das gemeinsame Leben. Das Zusammenspiel, die »Harmonie« der drei Teile, die durch ihr Wesen verlangte Ordnung macht die Vollkommenheit des Staates aus, und diese bezeichnet Platon mit dem Namen Gerechtigkeit (διϰαιοσύνη).

Für den einzelnen Menschen aber besteht deshalb die sittliche Vollkommenheit unter dem gleichen Namen (in diesem Sinne etwa als » Rechtschaffenheit« zu übersetzen) in einem analogen Verhältnis der drei Seelenteile, wonach die Vernunft herrscht, das »Mutartige« ihr getreue und starke Heerfolge leistet und das »Begehrliche« sich ihr gern fügt. Dazu gehört, daß sich das Vernünftige zur wahren Erkenntnis, zur Weisheit (σοφία), das »Muthafte« zur unerschrockenen Pflichttreue, zur Tapferkeit (ἀνδρία) und das »Begehrliche« zur Mäßigkeit, zur Selbstbeherrschung (σωφροσύνη) entfalte. Hiermit gibt Platon einen systematischen Unterbau für die in der Literatur seiner Zeit und auch bei ihm selbst an anderen Stellen vielfach übliche Aufzählung der Hauptarten der »Tugend«, wobei abwechselnd neben jenen vier auch wohl noch Frömmigkeit (δσιότης) und Besonnenheit (φρόνησις) genannt wurden. Die so gelegentlich in der »Politeia« gegebene Konstruktion der vier » Kardinaltugenden« ist für die spätere Zeit ein viel wichtigeres Lehrstück geworden, als sie es bei Platon selbst gewesen ist.

Bedeutsam aber ist es insofern, als auch darin sich die Tendenz geltend macht, das Körperliche und Sinnliche durch die Zweckmacht der Idee des Guten zu bemeistern und in ihren Dienst zu stellen. Der Dualismus der Ideenlehre bot eben von vornherein, schon seiner philosophischen Anlage nach zwei Möglichkeiten für das Verhältnis der Welt des Werdens zu der des Wesens dar. Der Wertunterschied beider konnte entweder zu realer Scheidung und scharfem Gegensatze gesteigert oder zu einer positiven Unterordnung des einen Reichs unter das andre herabgemildert werden. Beide Motive hat Platon verfolgt, ohne zwischen ihnen eine völlige Ausgleichung zu finden (vgl. oben S. 141). Die negative, schroffere Auffassung wurde durch seine theologischen Überzeugungen unterstützt und auch dann noch festgehalten, als seine metaphysische Entwicklung ihn dazu führte, die zweckvolle Beherrschung der Sinnenwelt durch die Idee zum Prinzip zu erheben. So konnte neben der Tugendlehre der »Politeia« und neben der Güterlehre des »Philebos« die weltflüchtige Ethik des »Phaidon« bestehen bleiben; und so erscheint andrerseits das harmonische System der Tugenden im Staat wie im einzelnen Menschen schließlich doch nur als eine Vorbereitung für das höhere Leben. –

Außerordentlich interessant und gedankenreich ist es nun, wie Platon, nachdem er das Ideal des gerechten Staates und des gerechten Mannes gleichmäßig in der Herrschaft der Vernunft gefunden hat, dazu fortschreitet, auch die ungerechten, verfehlten Staatsverfassungen und die ihnen entsprechenden Charaktertypen der Individuen aus denselben Voraussetzungen abzuleiten: sie müssen natürlich darauf beruhen, daß neben oder statt der Vernunft die beiden andern Teile oder Kräfte (δυνάμεις) zur Herrschaft gelangen. Platon wählt dazu die Form der Entwicklung, daß von dem idealen Zustande der »Gerechtigkeit« durch allmähliche Verschlechterung sich die »falschen« Verfassungen und Charaktere bilden. Diese Darlegung (im achten und neunten Buch der »Politeia«) gehört zu den lebensvollsten und lehrreichsten Stellen in seinen Werken; von einer reichen Erfahrung, einer scharfen Beobachtung des wirklichen Menschenlebens her konstruiert er mit feiner Analyse die Übergänge. Mit der typischen Verfassungsgeschichte verschlingen sich typische Familiengeschichten: es ist eine packende Darlegung der politischen und sozialen Dekadenz, die für den Psychologen, den Charakterologen und den Politiker von höchstem Interesse ist. In dieser Entwicklung schieben sich sukzessive neben der Weisheit die beiden andern Güter, Ehre und Besitz, als beherrschende Mächte des öffentlichen Lebens und des persönlichen Strebens ein. Ehrgeiz und Machtgier, Habsucht und sinnliches Laster schleichen sich allmählich ein, bis aus der Entfesselung der Begierden schließlich der ruchlose Egoismus hervorbricht. So geht es von der idealen Verfassung, die als Aristokratie bezeichnet wird, zur Timokratie, von da zur Oligarchie, weiter zur Demokratie und endlich zur Tyrannis: und diesen verfehlten Staatsverfassungen entsprechen die Menschentypen. Von besonders fesselndem Interesse und von tiefer Wahrheit ist die Schilderung des notwendigen Umschlags der Demokratie in die Tyrannis, aus der trügerischen Freiheit in die elendeste Sklaverei: und eines der eindrucksvollsten Menschenbilder ist das Porträt des Tyrannen, der, während er Angst und Elend um sich verbreitet, in seiner Verbrecherseele selbst der von Furcht am meisten Gepeinigte und am tiefsten Unglückliche von allen ist. Die psychologische Theorie weist dabei die drei letzten Verfassungen, den oligarchischen, demokratischen und tyrannischen Staat bezw. Menschen, der Vorherrschaft des »Begehrlichen« zu und unterscheidet sie durch eine Dreiteilung der Begierden in solche der Notdurft, des Luxus und des Verbrechens. Wie dies nicht ohne Anlehnung an kynische und vielleicht demokritische Unterscheidungen ist, so spielen in die ganze Ausführung zahlreiche Bezugnahmen auf psychologische und ethische Theorien jener Zeit hinein.

Für die ideale Verfassung ergeben sich aus den allgemeinen Forderungen die besonderen staatlichen Einrichtungen. Auch der Interessenstaat erfüllt seine Aufgaben nur als Vernunftstaat in der rechten Ordnung der drei Stände: er hat Dauer nur als Militärstaat, und dieser ist nur möglich als Philosophenstaat. Aus diesen Voraussetzungen erklärt es sich, daß Platon sich in der »Politeia« um den dritten Stand weiter nicht kümmert. Dieser leistet ja seine Aufgabe, wenn er gehorcht und die beiden anderen Stände ernährt: er bringt es also höchstens zu der »gemeinen Tugend«, welche aus utilistischen Motiven den bestehenden Vorschriften folgt, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben. Die Bauern, Handwerker und Händler sind für Platon Bürger zweiter Klasse; sie stehen dem Staatszweck nur als Mittel gegenüber und spielen fast die Rolle, die in der antiken Gesellschaft sonst den Sklaven zufiel, die der arbeitenden Masse. Die Sklaverei selbst hielt Platon, wie es namentlich auch in den »Gesetzen« hervortritt, nicht nur für erforderlich, sondern auch durch die natürlichen Unterschiede der Menschen für gerechtfertigt. Doch trat er für eine milde, zwischen Grausamkeit und Vertraulichkeit die rechte Mitte einhaltende Behandlung der Dienerschaft ein und verlangte, daß niemals Hellenen sich Hellenen zu Sklaven machen sollten, womit er einer der abscheulichsten Härten des antiken Kriegsrechts entgegentrat. Daher gibt die »Politeia« für Handel und Wandel, für die rechtlichen Verhältnisse dieser Masse gar keine Vorschriften.

Um so genauer geht sie auf die Lebensordnung der »Wächter« ein, die durch eine in bestimmten Zeiträumen fortschreitende Gesamterziehung sich in die beiden Klassen der »Beamten« und der »Regenten« gliedern sollen. Sie bilden die Gemeinschaft, in der eigentlich erst der Staat besteht: die Masse des dritten Standes ist nur die unumgängliche Grundlage für sie. Denn sie dürfen nicht arbeiten oder erwerben, weil jede derartige Beschäftigung die Liebe zu ihrem sinnlichen Gegenstande erweckt, das »Begehrliche« aufregt und damit die Seele von ihren höheren Aufgaben abzieht. Die aristokratische Ablehnung der Arbeit, die Verachtung des »Banausischen« findet so ihre philosophische Rechtfertigung.

Die Rücksichtslosigkeit, mit der Platon die Lebensordnung der höheren Stände durchdacht hat, spricht sich ganz naiv in den durchgeführten Analogien aus, welche er aus der Züchtung und der Dressur der Tiere herbeizieht, um seine Einrichtungen zu begründen. Die letzteren aber gehen alle auf denselben Gedanken zurück, der auch die platonische Naturphilosophie beherrscht, daß nämlich alles Einzelne durch den zweckvollen Zusammenhang des Ganzen bestimmt sei. Der Einzelne auch in diesen höheren Ständen ist daher niemals Selbstzweck: das ganze Leben soll durch die Idee bestimmt sein. Um aber das Individuum nur in den Dienst des Ganzen zu stellen, muß es von allen persönlichen Interessen befreit werden: der Wächter, der den Staat verteidigen, der Regent, der ihn leiten soll, darf durch nichts, was ihm persönlich lieb wäre, von dem Wohl des Ganzen abgelenkt werden: er darf weder Familie noch Besitz haben. Alle zusammen sollen nur eine Familie bilden und nur einen Besitz haben.

Die »Gemeinschaft der Weiber, Kinder und Güter«, die Platon demgemäß verlangt, hat mit kommunistischen oder sozialistischen Ideen, wie sie uns wohl sonst auch im Altertum begegnen, prinzipiell nicht das geringste zu tun. Es handelt sich dabei nicht im entferntesten darum, etwa allen Wächtern das gleiche Anrecht an dem Genuß der Erdengüter zu gewähren, sondern vielmehr um einen gemeinsamen Verzicht darauf. Dem dritten Stande sollen Privatbesitz und Familie belassen werden; sie bilden die wesentlichen Motive der Erwerbsarbeit: die beiden oberen Stände haben um der Reinheit ihres Staatsdienstes willen darauf zu verzichten. Ihnen winkt die höhere Aufgabe und der höhere Lohn.

Nur mit Aufhebung der Ehe, lehrt Platon, ist der Staat in der Lage, für einen geeigneten Nachwuchs seiner Bürger in den herrschenden Ständen zu sorgen. Die Regenten haben zu bestimmten Zeiten die Paarung der jungen Männer und Weiber, nötigenfalls mit kleinen Listmitteln, anzuordnen: sie haben darauf zu achten, daß durch die Mischung der körperlichen und geistigen Eigenschaften die Nachkommenschaft an Leib und Seele geradwüchsig werde, daß die Temperamente der Eltern sich in den Kindern ebenso ausgleichen wie die leiblichen Varietäten. Auf diese Weise soll der Normaltypus des Wächters herangezüchtet und erhalten werden. Eltern und Kinder aber dürfen sich nicht kennen: schon zur ersten Ernährung werden alle Kinder allen säugenden Müttern gleichmäßig zugewiesen, und so wachsen sie auch weiter gemeinsam in Staatspflege auf. Daher hat jeder Jüngere in der ganzen vorhergehenden Generation seine Eltern zu verehren, jeder Ältere in der ganzen folgenden seine Kinder zu lieben und – zu erziehen.

Damit hört alle häusliche Gemeinschaft auf. Die Wächter führen ein Lagerleben. Auch in Friedenszeiten ist ja der größte Teil von ihnen auf der Wacht an der Landesgrenze oder in soldatischer Ausbildung und Übung begriffen; in den Perioden ihrer musischen Erziehung werden sie in Gymnasien vereinigt. So bilden sie stets »Syssitien«, Speiseverbände, in denen Wohnung, Kleidung und Nahrung von Staats wegen in streng vorgeschriebener Form geliefert werden. Weiter bedürfen sie nichts und haben sie nichts; Gold und Silber ist ihnen verboten. So kann es zwischen ihnen auch nicht Neid und Streit um Geld und Gut geben, und die Zivilrichter werden ebenso unbeschäftigt sein wie die Ärzte, denen die rauhe, abhärtende und stärkende Lebensweise die Patienten entzieht.

Als äußerste Folgerung endlich erscheint die völlige Gleichstellung beider Geschlechter. Zur Erzielung einer Vollblutrasse müssen beide gleich gut entwickelt werden, und deshalb gehören beide auch unter dieselbe Dressur. An der ganzen gymnastischen Ausbildung und ebenso an dem musischen Unterricht sollen die Frauen gerade so beteiligt werden wie die Männer: was darin nach bisheriger Gewöhnung lächerlich und anstößig erscheinen mag, das wird unter dem Zweckgesichtspunkte des neuen Staates alles Verwunderliche verlieren und als eine natürliche Notwendigkeit sich herausstellen. Die Weiber der »Politeia« turnen nackt mit den Männern, teilen mit ihnen das Leben auf der Wache und im Lager, gehören mit zu den Speiseverbänden, genießen denselben musischen und wissenschaftlichen Unterricht und haben den Zutritt zu den höchsten Ehrenstellen.

Aristoteles bezeugt, daß diese Lehre Platons als die unerhörteste seiner Neuerungen erschienen sei, und wir müssen uns fragen, wie der Philosoph dazu gekommen ist. Logisch notwendig war diese Folgerung nicht: denn das Grundprinzip, wonach »Jedes im Staate das Seinige zu tun habe«, hätte mit viel größerer Konsequenz auf den fundamentalsten Unterschied angewendet werden können und sollen, den die Natur zwischen menschlichen Individuen leiblich und seelisch gemacht hat, den von Mann und Weib. Wenn Platon dies Nächstliegende verschmäht hat, so kann das nicht nur durch die Gleichgültigkeit gegen natürliche Unterschiede erklärt werden, sondern muß andere Gründe haben.

Daß es in dem aufgeregten Athen, in der fiebernden Großstadt jener Tage auch eine Frauenbewegung und eine Frauenfrage gegeben hat, ist nicht zu bezweifeln. Die geistreichen Hetären sind ohne sie nicht denkbar, und trotz aller Abgeschlossenheit des griechischen Bürgerhauses können auch die Frauen von der gewaltigen geistigen und sozialen Gärung, die nach einem neuen Prinzip rang, nicht ausgeschlossen geblieben sein. In der kynischen und zum Teil auch in der kyrenaischen Schule sehen wir die emanzipierten Frauen eine gewisse Rolle spielen. Warum sollte nicht der Gedanke in der Luft gelegen haben, ob man nicht einmal, »um«, wie Aristophanes sagt, »in Athen auch das Letzte nicht unversucht zu lassen«, die Politik in die Hände der Frauen legen sollte? Selbst wenn die »Ekklesiazusen« des großen Dichters schon auf eine wenigstens mündliche Bekanntschaft des Komikers mit der platonischen Lehre zurückzuführen sein sollten, so zeigt sich doch bereits in anderen seiner Stücke, wie in der Lysistrate, derselbe Gedanke im Keim. Es erscheint wohl verständlich, daß Platon, wenn er das menschliche Gemeinleben auf eine völlig neue Grundlage stellen wollte, sich gewissermaßen selbst bis zu der radikalsten Stellung drängte: wer Familie und Privatbesitz strich, der durfte auch den Unterschied von Mann und Weib fortdekretieren.

Oder sollte hier noch ein anderes Motiv mitspielen? Das weibliche Geschlecht war, wie wir besonders aus Euripides wissen, in erster Linie an dem Siegeszuge der dionysischen Religion beteiligt. Kein Fest des Bakchos ohne die rasenden Weiber. In ihrem Enthusiasmus, in ihrer wilden Verzückung wiesen sie ein Maß von physischer Leistungsfähigkeit und von religiöser Inbrunst auf, das von keinem Manne übertroffen wurde. An den höchsten Weihen und Seligkeiten des religiösen Kultus hatten sie ihren reichen, vielleicht den reicheren Anteil: warum sollte ihnen der an den Mühen und Ehren des politischen Lebens vorenthalten sein? warum sollte man ihnen nicht zutrauen, auch darin den Männern ebenbürtig zu sein? Die religiöse Gleichstellung legte auch die politische nahe. Und so drängten alle Motive dazu, daß in Platons Theorie die antike Frauenbewegung ihren äußersten Gipfel erreichte.

Allerdings ist die Gleichstellung der Geschlechter bei Platon nur ein theoretisches Postulat geblieben, das er auch in der Phantasie seiner Verfassungsentwürfe nicht völlig durchgeführt hat. Auch hat er nicht daran gedacht, es etwa in die Praxis der Akademie zu übernehmen. Es wird in der Überlieferung besonders hervorgehoben, daß sogar zwei Frauen seine (und Speusipps) Zuhörerinnen gewesen seien, – zwei in den langen Jahren seiner akademischen Wirksamkeit! Und daß es seinem natürlichen Denken fremd war, sehen wir aus den zahlreichen Wendungen, die ihm in seinen Schriften und sogar in der »Politeia« entschlüpfen, wenn er in altgriechischer Weise von »Weibern und Kindern« im abschätzigen Sinne redet – ganz zu geschweigen des Einfalls im »Timaios«, wo es heißt, daß die Seelen, die sich in ihrer ersten irdischen Existenz als Männer nicht gut bewährt haben, für das zweite Leben in Weiber fahren sollen. –

Das gesamte Gemeinleben der Wächter stellt also eine große Erziehungsanstalt dar, worin unter Verzicht auf alle irdischen Güter jene höhere Tugend gelehrt und geübt werden soll, die zuletzt in der Idee des Guten begründet ist. An den Wendepunkten dieser von Platon mit größter Sorgfalt ausgedachten Erziehung, wo neue Gegenstände oder Übungen beginnen, findet eine Scheidung der Zöglinge statt. Die weniger bewährten gehen in die niederen Dienste als Gehilfen und Beamte ein; die Besseren steigen zu höheren Aufgaben auf, und schließlich werden so diejenigen ausgesiebt, welche an Leib und Seele die vollkommensten sind. Ihnen fällt es zu, Dialektik zu treiben und die Idee des Guten, die Gottheit, zu betrachten: aus dieser Kontemplation treten sie zeitweilig in das praktische Leben zurück, um als Regenten den ganzen Staat zu leiten.

Diese Aristokratie des Wissens und der religiösen Betrachtung ist also schließlich der Angelpunkt des ganzen politischen Systems. Aber auch sie hat etwas durchaus Unpersönliches: diese Regenten sind die Eingeweihten einer erhabenen Lehre; aber was sie von Individualität etwa besessen haben, ist in dem ganzen gleichmachenden Verlauf der Erziehung, in der Beschäftigung mit der Ideenlehre, in der religiösen Betrachtung ausgelöscht. Sie bilden, wie im geringeren Sinne schon alle Wächter, der Masse der Menschen gegenüber ein höheres, zweckvoll herangezüchtetes Geschlecht; aber in diesem Volk von »Übermenschen« hat die freie Individualität, die selbständige Persönlichkeit kein Bürgerrecht mehr.

Das gesamte Menschenmaterial, das höhere nicht weniger als das niedere, wird in diesem Staate geopfert für die Herrschaft einer Lehre. Alle Zwecke des wirklichen einzelnen Menschen verschwinden vor seiner Einstellung in den Dienst der unsichtbaren Welt: aber selbst von der Art und dem Sinn dieser Unterordnung haben nur die allerwenigsten eine Vorstellung, die Philosophen, die zur Erkenntnis Gottes gelangt sind. Für alle anderen, ja selbst für diese, ist der platonische Idealstaat eine Zwangsanstalt, wie sie die wirkliche griechische Polis niemals gewesen ist. Man kann dem Griechentum kein größeres Unrecht tun, als wenn man Platons Entwurf mit den tatsächlichen Zuständen gleichsetzt. Vielmehr enthält er gerade im bewußten Gegensatze gegen die individualistische Zersetzung des wirklichen griechischen Staatslebens eine Überspannung des Prinzips des Stadt-Staates: und diese wird nur dadurch gewonnen, daß das gesamte sozialpolitische Leben in den Dienst eines höheren Prinzips gestellt wird, von dem das Griechentum in diesem Sinne nichts wußte und nichts wissen wollte. Der Staat als das höchste Gebilde des Erdenlebens ist für Platon die Erziehung und Vorbereitung zur Tugend, d. h. zum himmlischen Leben; er ist, wenn anders er seine Aufgabe erfüllt, das Reich Gottes auf Erden.

Nur dies Prinzip ist das Neue in Platons »Politeia«, nicht die einzelnen Vorschläge, die er zu seiner Durchführung macht. Die letzteren knüpfen vielmehr durchgängig an bestehende Einrichtungen der griechischen Welt an oder verfolgen Reformgedanken, die der aufgeregten Projektenmacherei seiner Zeit nicht fremd, waren. Insbesondere waren es Motive aus dorischen Sitten und namentlich spartanischen Institutionen, die der Athener Platon sich mit freier Umbildung zu eigen machte. Um so mehr aber konnte der Philosoph vermöge dieses Anschlusses an historisch Gegebenes die Möglichkeit seiner Vorschläge behaupten und an ihre Verwirklichung glauben. Er war weit davon entfernt, mit seinen Ausführungen ein müßiges Gedankenspiel zu treiben: er dachte allen Ernstes, das Eine gefunden zu haben, was seiner Zeit Not sei, und wenn er sich auch über die Schwierigkeiten klar war, die der Ausführung seines Plans im Wege standen, so war er doch nicht ohne die Hoffnung, daß sein Appell an den alten Patriotismus, seine kräftige Erhebung des Staatsgedankens über die Interessen der Individuen Anklang finden werde. Wenn es ihm nicht in den Sinn kommen konnte, sich an die Masse zu wenden und sie für seine Gedanken zu begeistern, so dachte er um so mehr an die Möglichkeit, daß Männer, welche die Macht in Händen hätten, sich von der Notwendigkeit seiner Reform überzeugten und sie mit Gewalt einführten. Auch darin freilich erfuhr er die bitterste Enttäuschung, und in solchen Stimmungen mochte er dann wohl, wie im »Theaetet«, den Philosophen als seinem Wesen nach ungeeignet für die irdische Welt darstellen und es für das Beste erklären, sich in ihre Angelegenheiten nicht zu mischen, sondern so schnell als möglich aus dieser verderbten Welt in die himmlische Heimat zu fliehen.

Denselben Pessimismus atmet der Dialog »Politikos«. Auch er will zeigen, daß der wahre Staatsmann nur der Dialektiker, der Philosoph sein kann. Aus den reichlichen, aber zum Teil recht dürren Erörterungen über das Wesen der Dialektik soll das Bild der Staatskunst herausgearbeitet werden. Aber in überraschendem Gegensatz zu den individualitätslosen Auffassungen des Staatsideals der »Politeia« erscheint hier die Zeichnung der großen sittlichen Persönlichkeit, die, ihrer Einsicht und ihrer Überzeugung gewiß, uneingeschränkt durch fremde wie durch selbstgegebene Gesetze, mit »königlicher Kunst« die psychischen Mächte des Gemeinwesens zum Wohle des Ganzen ausgleichend leiten soll. Sie wäre berufen, die von Gott verlassene Menschenwelt zur rechten Ordnung zurückzuführen. Allein solch einen Herrscher gibt es nicht, und gäbe es ihn, so wäre er unter den Menschen der Verfolgung und dem Untergange preisgegeben. Darum bedarf statt seiner der wirkliche Staat der Gesetze, deren Mangel zwar darin besteht, daß sie als allgemeine Regeln den individuellen Verhältnissen des Lebens niemals ganz gerecht werden können, die aber doch als Surrogate des idealen Herrschertums so unumgänglich sind, daß sich der Wert der Staaten daran entscheidet, ob sie darin walten oder nicht. Wenn deshalb die Staatsverfassungen dadurch charakterisiert sind, daß nach ihnen entweder Einer oder Mehrere oder Alle gebieten, so stehen unter den wirklichen Staaten das gesetzmäßige Königtum der Tyrannis, die Aristokratie der Oligarchie, die gesetzliche Demokratie der gesetzlosen gegenüber. Solche Gedanken und Definitionen (wie namentlich die später von Aristoteles aufgenommene Lehre von den sechs Verfassungsarten) liegen den sonstigen platonischen Auffassungen (und zwar in den beiden großen Werken, der »Republik« und den »Gesetzen«) inhaltlich und begrifflich sehr fern; sie berühren sich mit ihnen höchstens in dem unbestimmt allgemeinen Prinzip der Unterstellung des Staats unter eine sittliche Weltordnung. Wenn deshalb Platon selbst der Verfasser des »Politikos« ist, so müssen wir in diesem Dialog eine Ausspinnung des dem Philosophen zweifellos naheliegenden Gedankens sehen, wie wohl der Monarch beschaffen sein müßte, von dem die Verwirklichung einer wahrhaft sittlichen Staatsordnung zu erwarten wäre. Die Frage, ob die Monarchie leisten würde, was der Polis nicht gelungen war, mochte nicht nur in den theoretischen Erörterungen der Akademie erwogen worden sein, sondern sie gewann auch um so mehr aktuelle Bedeutung, je gewichtiger sich in die Politik der griechischen Stadt-Staaten das Vordringen der makedonischen Königsmacht einschob. –

Mit der Einsicht in die Unausführbarkeit seines großen sozialpolitischen Reformvorschlags der »Politeia« bringt man endlich die späteren Entwürfe Platons in Zusammenhang, die wir in den » Gesetzen« aufbewahrt finden. Hier wird ausdrücklich gesagt, wenn jener »erste Staat« sich nur für Götter und Göttersöhne eigne, so dürfe man einen »zweitbesten« und »drittbesten« Entwurf versuchen, auf deren Ausführung unter den Menschen eher zu rechnen sei. Nun vermögen wir zwar bei dem Zustande des von Platon nicht mehr endgültig redigierten Werkes (vgl. oben S. 61 f.) die beiden darin durcheinander gewürfelten Entwürfe weder im einzelnen noch auch im Prinzip genau und sicher zu unterscheiden: aber die große Differenz, in der sie sich im ganzen mit der »Politeia« befinden, liegt um so deutlicher auf der Hand.

Sie besteht in erster Linie darin, daß die Bedeutung, welche dort der Wissenschaft zufiel, nunmehr der positiven Religion übertragen wird. Eine Lehre ist es auch jetzt wieder, unter deren Herrschaft das ganze Staatswesen stehen soll, und eine Lehre, die das irdische Leben als einen vorbereitenden Dienst für das himmlische betrachtet und einrichtet: aber es ist nicht mehr die Dialektik und die Metaphysik der Ideenlehre, auf die sich nur eine ganz knappe Hindeutung in dem noch dazu zweifelhaftesten Stück (am Schluß) der Sammlung findet, sondern es ist der herkömmliche religiöse Glaube. Als das Wesentliche dieses Glaubens wird die Überzeugung von dem Vorrang der Seele vor dem Körper, d. h. von ihrer übersinnlichen Natur und Bestimmung bezeichnet; aber er umfaßt den ganzen Götter-, Heroen – und Dämonenglauben des Volksbewußtseins. In der »Politeia« war dieser ebenfalls als erstes moralisches Bildungsmittel herangezogen worden, sollte jedoch zu diesem Zwecke von allen sittlich bedenklichen Bestandteilen In diesem Sinne bekämpfte Platon die poetischen Vorstellungen von den Göttern, die homerischen und hesiodischen Mythen, ganz ähnlich wie Xenophanes damit begonnen hatte. gereinigt werden und trat bei der abschließenden Erziehung der Philosophie in den Hintergrund. Jetzt bildet eine solche ethisch gereinigte Theologie mit ihrem ganzen Kultusapparat die Grundlage des Staatswesens. Zu ihrer Ergänzung werden nur die mathematischen Wissenschaften herangezogen, einerseits weil eine richtige astronomische Weltansicht für den religiösen Glauben unerläßlich ist, andrerseits weil in einem guten Staate, wie in der großen Welt, alles nach Maß und Zahl geordnet sein muß.

Wie die Ideenlehre, so fällt für den Staat der »Gesetze« auch der Philosophenstand und damit die ganze Standeseinteilung der »Politeia« fort; auch der Gedanke eines eigenen Soldatenstandes wird wieder aufgegeben und dafür in der Hauptsache das alte Milizsystem mit der Wehrpflicht aller Bürger wieder angenommen. Aber auch auf die Absonderung des dritten Standes wird verzichtet, und die Motive, die früher dazu geführt hatten, nehmen eine ganz andere Wendung. Platons prinzipielle Abneigung gegen Industrie und Handel wegen der daraus entstandenen sozialen Gefahr des Klassengegensatzes erscheint hier nicht vermindert, sondern verstärkt: vom Handel soll sich der Staat, der deshalb auch nicht unmittelbar an der Küste gelegen sein darf, nur das Unumgängliche gefallen lassen; aber kein einzelner Bürger darf Handel treiben: der Staat läßt dafür Fremde zu, soweit es ihm nötig scheint, oder er übernimmt den Verkehr nach außen selbst. Auch die industrielle Produktion soll sich möglichst in den Grenzen der heimischen Bedürfnisse halten und nicht für den Export arbeiten. Ein solcher nach Möglichkeit auf sich selbst beschränkter Staat kann nur ein Agrarstaat sein.

Das ist die neue Form, in der Platon jetzt das soziale Problem lösen will. Die Zahl der Bürger soll beschränkt sein und ihre dauernde Einhaltung durch die Ehegesetzgebung gesichert werden. Nach derselben Zahl wird das gesamte Gelände in gleiche Lose geteilt, so daß jeder Bürger eins davon zu erblichem Besitz erhält. Für die überzähligen Kinder wird durch Adoption in kinderlose Ehen, durch freie Dienstleistungen oder durch Auswanderung gesorgt. Niemals dürfen mehrere Lose in einer Hand vereinigt werden. Aber auch der bewegliche Besitz ist auf ein sehr geringes Maximalmaß beschränkt. Die Unterschiede darin, wie sie sich aus der eventuellen Verschiedenheit des Bodenertrages und aus dem Fleiß und der Sparsamkeit des Einzelnen sowie aus der Ausdehnung seiner Familie ergeben können, schwanken zwischen so nahen Grenzen, daß es zu erheblichen Vermögensverschiedenheiten nicht kommen kann: es gibt weder Reiche noch Bettler. Gold und Silber dürfen im Lande nicht gehalten werden; für Kauf und Verkauf kursiert ein an sich wertloses Geld, das auswärts nicht gilt.

Wie somit an die Stelle der Besitzlosigkeit der »Wächter« ein engbegrenztes Privateigentum tritt, so ist zwar die Familie in dem neuen Staate wieder eingeführt, aber auch sie steht unter wesentlichen Beschränkungen. Schon die Eheschließung wird staatlich, wenn nicht bestimmt, so doch überwacht, und dasselbe gilt von der Kindererzeugung. Von einem wirklichen Familienleben dagegen ist so wenig die Rede, daß auch hier wiederum die Speiseverbände dieselbe Rolle spielen, wie in der »Politeia«. Denn das Leben aller Bürger soll im Ganzen etwa so geordnet sein, wie das der »Wächter«, und die Gleichstellung der Geschlechter wird in ähnlicher Weise wie dort aufrecht erhalten: die Folge davon ist selbstverständlich, daß auch die Kinder von Staatswegen ihre gemeinsame Erziehung erhalten, und unter den Beamten des Staates der »Gesetze« nimmt den vornehmsten Rang der Erziehungsdirektor ein.

Die Abweichungen jedoch von dem früheren Entwurf, die damit immerhin verlangt sind, bringen es mit sich, daß nunmehr auch das ganze bürgerliche Leben einer gesetzlichen Regelung unterworfen werden muß, der sich die »Politeia« vermöge der Absonderung des dritten Standes enthoben halten durfte. Deshalb bieten die »Gesetze« einen sehr ausführlichen Zivil- und Kriminalkodex, der wegen seiner im einzelnen sichtlichen Anlehnung an die geschichtlich vorliegenden Gesetzgebungen, und in diesem Falle besonders an die attische, von hohem antiquarischen Interesse ist. Die ethisch-religiöse Grundlage dieser Bestimmungen bringt Platon durch die »Prooemien« zum Ausdruck, die als begründende und zugleich ermahnende Reflexionen dem Ganzen und den besonderen Teilen des Gesetzbuchs vorausgeschickt werden sollen. Der Geist dieser Gesetze aber ist die strengste Regelung nicht nur des öffentlichen, sondern auch des Privatlebens bis in die letzten Einzelheiten hinein, ein religiöses und mathematisches Abzirkeln aller Verhältnisse und ein ängstliches Kleben an der überlieferten Lebensform. Zwar spricht Platon den schönen Grundsatz aus, die Aufgabe des Staates sei es, die einheitliche Ordnung mit der Freiheit in Einklang zu setzen, und in staatsrechtlicher Hinsicht sucht er dies Prinzip wirklich durchzuführen; die Verfassung, die er vorschlägt, vereinigt aristokratische, oligarchische und demokratische Tendenzen, indem sie für die Besetzung der Ämter ein gemischtes System zur Anwendung bringt, wonach Wahl, Zensus und Los sich in verschiedenen Verhältnissen verbinden, bei der Wahl aber bald alle, bald nur die Sachkundigen zur Geltung kommen sollen. Allein in der ganzen Handhabung der Gesetze erweist sich dieses agrarische Gemeinwesen als ein Polizeistaat strengster Observanz, nämlich als durch und durch beherrscht von einer religiösen Sittenpolizei.

Dazu kommt als weiteres charakteristisches Merkmal die absichtliche Stabilität dieses Gemeinwesens. Eine Hauptaufgabe des Gesetzgebers ist es, den Staat so einzurichten, daß keine Änderung der Gesetze nötig wird und möglich ist. Deshalb müssen in jeder Richtung alle Regungen niedergehalten werden, die das Althergebrachte zu verändern oder umzustoßen drohen. In Kunst und Gewerbe werden alle Neuerungen prinzipiell abgelehnt, wird jede persönliche Initiative verworfen. Mit ängstlicher Vorsicht schließt sich dieser Staat gegen jedes Eindringen fremder Sitten und Gebräuche, neuer Einrichtungen oder gewerblicher Verbesserungen ab, und nur in Ausnahmefällen soll den Bürgern eine Reise ins Ausland gestattet sein, wobei aber große Sorge getragen wird, daß sie ja nicht etwa bei der Rückkehr Neuerungen importieren.

So ist wiederum die Freiheit der Persönlichkeit auf das äußerste beschränkt und mit der Selbständigkeit der Individuen auch der Fortschritt des Ganzen unterbunden. Dieser agrarische Polizeistaat will nichts als sich erhalten: und wie eng steht es um das innere Leben seiner Bürger! Was tun sie überhaupt? Sie sorgen für ihren notdürftigen Lebensunterhalt – die physische Arbeit dazu lassen sie außerdem in der Landwirtschaft und im Gewerbe durch Sklaven oder fremde Tagelöhner besorgen – und nehmen an den militärischen Übungen, auch wohl einmal am mathematischen und theologischen Unterricht, dazu an den Festen, den Wahlen, den Gerichtssitzungen teil: im übrigen aber fehlt es ihnen an jedem Interesse, an jedem Stachel höherer Betätigung. Wir erschrecken, wenn wir bedenken, daß es ein großer Philosoph ist, der seinem Volke als Ideal eine Lebensordnung von einem so öden geistigen Inhalt, von einem so geringen Maß des Kulturwertes vorschlagen konnte. Ein Platon, der die Griechen zu frommen Bauern machen will!

Am deutlichsten tritt diese befremdende Konsequenz der platonischen Sozialreform in der Behandlung der Kunst zutage, die in den »Gesetzen« fast noch einseitiger ist als schon in der »Politeia«. Es ist merkwürdig, daß Platon, der das Wesen des Schönen so tief und gewaltig erfaßte, der Kunst in seinen Begriffsbestimmungen so wenig hat gerecht werden können: als ob er sich nie zum Bewußtsein gebracht hätte, welche schöpferische Kraft er selbst in jedem seiner Werke entfaltete, hat er alle Kunst immer nur als Nachahmung aufgefaßt und deshalb ihren Sinn und Wert immer nur außer ihrer selbst, in ihrer sittlichen Bedeutung, in der moralischen Stärkung oder der religiösen Erbauung gesehen. Von ihrem Selbstzweck und Eigenwert will er nichts wissen, und wo sie solchen beansprucht, weist er ihn schroff zurück. So hoch und sogar übertrieben die Bedeutung ist, die er der Musik für die Erziehung zuschreibt, so leidenschaftlich wird er – gerade in den »Gesetzen« – gegen die feinere, mannigfaltigere und geistreichere Gestaltung, die sie in seiner Zeit annahm. Er findet nicht heftige Worte genug, um die sittliche Verderbnis zu geißeln, die seiner Meinung nach von solchen Neuerungen ausgehen müsse: insbesondere ist ihm die Darstellung aller weltlichen Gefühle, alles im engeren Sinne Lyrische in der Musik verhaßt; ihre Aufgabe ist wie ihr Ursprung prinzipiell in der Einordnung unter den religiösen Kultus zu suchen.

Nicht anders ergeht es der Dichtung. Am glimpflichsten kommt in Platons Kritik noch die Tragödie fort, obwohl er auch in ihr an allem Sentimentalen wegen der »verweichlichenden« Wirkung Anstoß nimmt: viel schlimmer findet er Epos und Komödie. Insbesondere sind es wieder die unsittlichen oder respektwidrigen Darstellungen des Göttlichen, die er wegen ihrer Wirkung auf die jungen Gemüter gefährlich findet. Deshalb wird schon im »Gorgias« die Dichtung als eine verführerische Schmeichelkunst mit der Sophistik auf eine Linie gestellt und in bezug auf ihren erzieherischen Wahrheitswert sehr niedrig geschätzt. In gleichem Sinne werden die Dichter aus dem Staate der »Politeia« ausgewiesen; in den »Gesetzen« wird dasselbe bestimmt, es sei denn, daß sie sich der Kontrolle seitens der religiösen Sittenpolizei unterwerfen. Es spielt dabei ein tieferer Gegensatz mit: den Griechen galten ihre großen Dichter, insbesondere Homer, als die wahren Volkslehrer; sie waren für die Masse das, was nach Platons Meinung und in seinem Staate die Philosophen und die Theologen werden sollten. So sehr er dabei gelegentlich anerkennen mochte, daß auch im Dichter göttliche Begeisterung, ahnungsvoller »Enthusiasmus« walte – der Dialog »Jon« handelt davon –, so mußte doch um der Einheit der Lehre willen, die im Staat herrschen sollte, die persönlich freie Offenbarung des Dichters vor dem festen und geregelten Dogma der Wissenschaft zurücktreten. Solange ein Volk solcher Lehre entbehrte, mochte es bei den Dichtern Belehrung suchen: der von der Wissenschaft beherrschte Staat durfte die Dichtung nur so weit dulden, als sie sich seiner Zensur unterwarf.

Auch diese schroffe Abwehr alles freien Kunstlebens folgt schließlich nur aus dem übersinnlichen Zuge und Fluge des platonischen Denkens. Das staatliche und gesellschaftliche Leben als die höchste und sinnvollste Erscheinung der Idee in der sichtbaren Welt ist doch nichts weiter als eine Vorbereitung und Erziehung für das höhere, himmlische Leben: diesem Grundgedanken hat die »Politeia« eine mehr philosophische, haben die »Gesetze« eine mehr theologische Darstellungsform gegeben. In beiden Fällen aber muß es bedenklich erscheinen, das Menschenleben mit Gütern zu schmücken, deren Glanz und Schönheit den Blick von jenem wahren Ziele ablenken könnte. Wir haben gesehen, daß Platon den vollen Wert dieser Güter nicht nur persönlich zu schätzen, sondern auch in seiner philosophischen Ethik (im »Symposion«, im »Philebos« und in gewissem Sinne sogar schließlich auch in der »Politeia«) begrifflich zu begründen wußte: wenn er auf sie in seinem Idealstaat verzichten zu sollen geglaubt hat, so bricht darin der asketische Dualismus mit voller Gewalt durch, und so zeigt sich, daß an seinen sozialpolitischen Reformplänen der Theologe mindestens ebensoviel Anteil hatte wie der Philosoph.


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