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Schluß.

Es würde für die dieser Darstellung gesetzten Grenzen eine viel zu weit führende Aufgabe sein, die wissenschaftlichen Wirkungen, welche Platons Lehren im Einzelnen für die Geschichte der Philosophie gehabt haben, auch nur in den wichtigsten Beziehungen näher zu verfolgen: der Universalienstreit des Mittelalters, die Begründung des Begriffs des »Gesetzes« in der modernen Naturwissenschaft, die Erkenntnistheorie des deutschen Idealismus seit Leibniz – sie zeigen schon allein, daß die Ideenlehre eine dauernde und unvergleichlich mächtige Lebenskraft besitzt: sie ist ein schöpferischer Grundtrieb der wissenschaftlichen Erkenntnis und ein immer wiederkehrendes Motiv des philosophischen Denkens geblieben bis auf den heutigen Tag, ebenso wie Platons Werke eine Quelle des Entzückens und der Erhebung gewesen sind und sein werden für Tausende und Abertausende.

Wenn im letzten Kapitel nicht dieses wissenschaftliche Weiterwirken der platonischen Begriffe, sondern wesentlich die Züge hervorgehoben worden sind, in denen das Leben der europäischen Menschheit sich der Verwirklichung der Ideale angenähert hat, die der Philosoph aufstellte, so geschah es, weil das Grundwesen seiner Persönlichkeit es so und nicht anders verlangt. Er ist eben kein stiller Forscher oder absichtsloser Denker: er gehört zu denen, welche die Wahrheit wissen wollen, um sie zu verwirklichen. Darin liegt der Kern seines Lebenswerks. Die Wissenschaft soll die Führerin, die Herrin des Lebens sein; darum aber muß sie selbst von den tiefsten Zwecken und Werten des Lebens erfüllt sein und von ihnen aus die Dinge verstehen lehren. Es ist eine tiefinnerliche Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Leben, die in Platon ihre erste und ihre eindrucksvollste Verkörperung gefunden hat.

Hegel hat uns gelehrt, die Geschichte der Philosophie als den Prozeß aufzufassen, worin der gedankliche Inhalt des ganzen menschlichen Kulturlebens zu begrifflicher Abklärung und Gestaltung gelangt. Alles, was in Staat und Gesellschaft, in Religion und Kunst, in Dichtung und Wissenschaft das Volksleben nach seinen verschiedenen Richtungen als mehr oder minder deutlich bewußtes Motiv bestimmt, das formt sich in der Philosophie zu begrifflicher Einheit. So ist sie das Selbstbewußtsein des Kulturgeistes, und ihre eigene wechselvolle Geschichte ist nur der Spiegel von dessen rastloser Lebendigkeit. Allein das philosophische Denken begnügt sich nicht mit dieser abspiegelnden Wiederholung: indem die das wirkliche Leben beherrschenden Motive in die Klarheit des begrifflichen Wissens erhoben werden und sich darin gegenseitig durchdringen, erfahren sie Umgestaltungen und Umwertungen mannigfacher Art, und in dieser neuen Gestalt werden sie selbst bestimmte Mächte des Kulturprozesses in seinen besonderen Auszweigungen. So entspringen an den großen Verschlingungszentren des philosophischen Denkens kräftige Ströme, die sich in das wissenschaftliche und künstlerische, das religiöse und soziale Leben zurückergießen.

An diesem Doppelprozeß haben die einzelnen Philosophen verschiedenen Anteil. Die einen sammeln als vorwiegend theoretische Denker die zerstreuten Strahlen des Zeitbewußtseins und lassen sich an dem wohlgefügten Bilde genügen, das sich ihnen daraus gestaltet: die andern, die praktischen Denker wollen das volle Licht auf das wirkliche Leben zurückfallen und darin zur erweckenden und befruchtenden Macht werden lassen.

Wir können nicht zweifelhaft sein, zu welcher Art wir Platon zu rechnen haben. Wohl kommt in seinem Philosophieren alles Höchste und Feinste, was die Griechen in ihrem reichen und vielgestaltigen Leben hervorgebracht haben, zu so leuchtend klarer Erscheinung, daß wir immerdar Jeden, der das Wesen dieses vornehmsten aller Kulturvölker an der reinsten Quelle kennen lernen will, in erster Linie an Platons Schriften weisen werden: aber aus diesem vollen Verständnis seines Volkes und seiner Zeit hat Platon ein neues Prinzip gewonnen, und weit entfernt, im Anschauen der übersinnlichen Welt zu ruhen, holt er vielmehr aus ihr die neuen Lebensideale, um sie der alten Wirklichkeit einzubilden. Mit leidenschaftlichem Mute nimmt er den Kampf gegen die Mächte der Erde auf und ringt mit allen Kräften der Seele danach, »die Welt zu bessern und zu bekehren«.

Deshalb gehört Platon nicht zu den »seligen Geistern«, die das große Bild des Wirklichen in sich aufnehmen und es in wunschlosem Frieden anschauen: aber von allen Geistern, die da wollen, ist er der vornehmste gewesen – und geblieben.

 


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