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IV. Der Philosoph.

In Platons Leben, Lehre und Schrift tritt uns die Einheit seiner Persönlichkeit entgegen: sie verknüpft in sich eine Fülle von Bestrebungen und erscheint dadurch im Zusammenhange mit allen geistigen Mächten der Zeit. Wenn es versucht werden soll, diese verschiedenen Verhältnisse und damit die Leistungen Platons auf den verschiedenen Gebieten zu sondern, so ziehen selbstverständlich zunächst seine eigentlich wissenschaftlichen Lehren die Aufmerksamkeit auf sich.

Dabei legt schon der Überblick über seine schriftstellerische Laufbahn die Auffassung nahe, daß das, was wir sein System der Philosophie nennen, nicht ein starr in sich abgeschlossenes, sondern ein in innerer Bewegung und Entwicklung begriffenes Gedankengebilde ist; eben dadurch vermochte es in stetig wachsendem Umfange auch die religiösen und die sozialpolitischen Tendenzen zu assimilieren.

Als den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Leistung hat Platon selbst immer seine Ideenlehre bezeichnet; die Darstellung seiner Philosophie muß deshalb in der Hauptsache eine Geschichte der Ideenlehre sein. Es wird dargelegt werden müssen, aus welchen Motiven und Voraussetzungen sie sich entwickelt – wie sie sich zu einer metaphysischen Lehre gestaltet – wie sie endlich in ihrem eigenen Wesen sich umgebildet hat. Ursprünglich eine logische Theorie, ist sie eine Weltanschauung und ein allgemeines Prinzip der erklärenden Wissenschaft geworden. Dieser Prozeß ist das Wesentliche an Platons Philosophie.

1. Die Ideenlehre.

Platon

(Dialektik.)

Wie jede große Epoche der Geschichte der Philosophie ist auch die sokratisch-platonische durch die Aufstellung des erkenntnistheoretischen Problems, durch die Besinnung auf das Wesen des Wissens bedingt. Diese Wendung des Denkens auf sich selbst vollzieht sich hier zum ersten Male, und es ist die wissenschaftliche Größe Platons, dann das Wesentliche und Entscheidende an dem Auftreten des Sokrates erkannt zu haben.

Im »Charmides«, wo es sich um den Grundbegriff der Selbstbeherrschung (σωφροσύνη) handelt, läßt Platon entwickeln, daß die sittliche Forderung der Selbsterkenntnis (γνῶϑισεαυτόν) die ganz eigene Art desjenigen Wissens verlange, welches nicht wie das sonstige Wissen (ἐπιστήπη) andere Dinge, sondern sich selbst zum Gegenstande habe, das Wissen vom Wissen. Darin liegt ausgesprochen, daß diese »Wissenschaftslehre« in letzter Instanz auf ein ethisches Motiv zurückgeht. Es ist die von Platon in voller Ausdehnung übernommene Voraussetzung des Sokrates, daß nicht nur jede technische, selbst die politische Tüchtigkeit, sondern ebenso die sittliche Tugend auf Wissen beruht. Eben deshalb aber muß man vor allem andern wissen, was Wissen ist. Das Postulat der wissenden Tugend verlangt eine Erkenntnislehre als Grundlage aller Philosophie.

So warm deshalb auch bei Platon die ethischen und die sozial-politischen Motive sein mochten, die ihn im Wissen schließlich nur das erforderliche Mittel für seine letzten Zwecke sehen ließen, und so lebhaft also diese Motive in die Entfaltung des Erkenntnistriebes hineingespielt haben mögen, so bleibt doch der Kernpunkt seiner wissenschaftlichen Lehre eben diese Grundfrage nach dem Wesen des Wissens: ja es ist hauptsächlich ihre Beantwortung, die ihn zunächst über Sokrates hinausgeführt hat.

Dieser war schließlich doch immer dabei stehen geblieben, für jede besondere Frage des praktischen Lebens den allgemeinen Grundsatz zu suchen, nach dem sie entschieden werden müsse. Die Selbstprüfung, die er lehrte, lief darauf hinaus, daß man niemals nach Gewohnheit, Herkommen und unmittelbaren Gefühlen, sondern stets mit Bewußtsein der Gründe handeln solle: sein Lebensideal war das maximenhafte Wollen. In dieser praktischen Form hatte er das Vernunftprinzip gefunden, welches das Besondere der menschlichen Lebenstätigkeit von dem Allgemeinen der Überlegung abhängig machte. Er hatte festgestellt, daß die wissende Tugend, welche der konventionellen Tüchtigkeit als das Höhere gegenübertreten sollte, nur in dem Wissen des allgemeinen Grundsatzes bestehen könne. Wer sich über sein Tun Rechenschaft geben will, muß einen Begriff der Werte und Aufgaben haben, um die es sich dabei handelt. So hatte das Philosophieren des Sokrates, dem Inhalt nach auf Festlegung sittlicher Prinzipien gerichtet, die Form des begrifflichen Wissens angenommen.

Diese Aufgabe war auch für Platon maßgebend; aber sie erweiterte und verschob sich bei ihm nach mehreren Richtungen.

In erster Linie ist dabei der Umstand wirksam gewesen, daß Platon neben dem ethisch-politischen das rein wissenschaftliche Interesse der mathematischen Erkenntnis gewann. Es darf dahingestellt bleiben, ob dies auf Anregung seiner athenischen Jugendbildung, ob es auf die Bekanntschaft mit Männern wie Theodor von Kyrene oder auf frühe Beziehungen zu den Pythagoreern zurückging, Aristoteles allerdings entwickelt in der historisch-kritischen Einleitung zu seiner »Metaphysik« die Stellung Platons wesentlich aus dessen Verhältnis zur pythagoreischen Lehre. Doch ist nicht zu übersehen, daß, als Aristoteles in die Akademie eintrat, Platon durch seine italischen Reisen eine viel intimere Beziehung zu dem pythagoreischen Bunde gewonnen hatte, als wir sie für seine Anfänge anzunehmen berechtigt sind. – jedenfalls tritt diese bedeutsame Ergänzung der sokratischen Einseitigkeit bereits in den Schriften der neunziger Jahre zutage, welche Platons eigne Lehre erst im Werden zeigen. Zwar handelt es sich in allen diesen Schriften schon wegen ihres Gegensatzes gegen die sophistische Rhetorik zunächst um die sittliche Reform des öffentlichen Lebens: aber die Wissenschaft, in der allein das Heil gefunden werden soll, strebt doch schon deutlich über eine bloß moralisierende Selbstverständigung hinaus, und weitere, wenn auch noch so unbestimmte Linien einer theoretischen Weltansicht beginnen sich zu gestalten. Für die Festigkeit des begrifflichen Wissens erscheint die Diskussion der sokratischen Tugendlehre häufig ergebnislos, dagegen gerade die Mathematik als willkommenstes und vollkommenstes Beispiel: und da, wo im »Menon« zuerst die metaphysischen und theologischen Hintergründe der neuen Wissenschaftslehre angedeutet werden, geschieht es an der Entwicklung einer mathematischen Einsicht.

Offenbar ist Platon in seiner Philosophie von mathematischen Motiven ebenso stark beeinflußt worden, wie er selbst fördernd auf die Entwicklung der griechischen Mathematik eingewirkt hat: und den Nerv dieses reziproken Verhältnisses werden wir darin sehen dürfen, daß es eben Platon gewesen ist, der in den mathematischen Problemen das ergiebigste Feld der begrifflichen Untersuchung erkannte, das Gebiet eindeutiger Definitionen und zweifelloser Beweise. So haben denn die mathematischen Studien eine große Rolle in der Akademie gespielt, welche darin ihre wissenschaftliche Verwandtschaft mit den Pythagoreern fand, und aus dieser Vereinigung ist das begriffliche Gepräge der späteren griechischen Mathematik hervorgegangen, wie es in dem Lehrbuche Euklids seine typische Erscheinung gefunden hat.

Was die einzelnen mathematischen Gegenstände anlangt, so lassen Platons Schriften zwar seine Vertrautheit mit der Zahlentheorie der Pythagoreer, aber keine eigne Ausbildung ihrer Probleme erkennen; da es jedoch daran in seiner Schule nicht gefehlt hat, so ist es wohl möglich, daß auch der Meister sich dabei zu der Zeit beteiligte, wo er in den »ungeschriebenen Lehren« seines Alters die Ideenlehre mit der Zahlentheorie in unmittelbare metaphysische Berührung zu bringen suchte. Damit hängt es dann zusammen, daß die Arithmetik als die der Philosophie am nächsten stehende Wissenschaft gepriesen wird. Lebhafter tritt in den Schriften das geometrische Interesse hervor: hier scheint die Akademie hauptsächlich die Lehre von den Proportionen betont zu haben. Platon selbst aber hebt ganz besonders den Fortschritt von der Planimetrie zur Stereometrie hervor: die bisherige Vernachlässigung der letzteren tadelt er in der schärfsten Weise. Wie eingehend er sich damit beschäftigte, zeigt die ihm zugeschriebene Lösung des sog. delischen Problems der Würfelverdopplung durch zwei mittlere Proportionalen.

Bedeutsamer jedoch ist es, daß Platon der mathematischen Forschung das Verlangen zugeführt hat, sie solle von Definitionen und Axiomen ausgehen, und daß er für die Lösung der geometrischen Aufgaben, die im wesentlichen auf die Möglichkeit von Konstruktionen innerhalb gegebener Figuren hinausliefen, analytische, ausschließende und apagogische Methoden in Anwendung gebracht hat. Damit vollzog sich die Einführung begrifflicher Methodik in die Mathematik.

Wenn sich aber so die sokratische Forderung des begrifflichen Wissens bei Platon von den praktischen auf theoretische Probleme erweiterte, so führte dies notwendig auch zu einer Umgestaltung des Verfahrens der Begriffsbildung selbst. Sokrates hatte die Maximen und Wertbegriffe von den einzelnen gegebenen Verhältnissen aus durch Vergleichung und Aufstellung analoger Fälle gesucht: dieses » epagogische« Verfahren genügte für die mathematischen Begriffe nicht. Definitionen wie die, daß der Punkt die Grenze der Linie, die Linie die Grenze der Fläche, die Fläche die Grenze des Körpers sei, waren auf induktivem Wege weder zu finden noch zu begründen. Es mußte Platon, sobald er die Aufgabe des begrifflichen Wissens in der erweiterten Form vor sich sah, die Ergänzungsbedürftigkeit des sokratischen Schemas zum Bewußtsein kommen.

Sie zeigte sich auch noch in anderer Richtung. Den Weg vom Besondern zum Allgemeinen, von den Vorstellungen des populären Bewußtseins zu den Begriffen der Wissenschaft hatte Sokrates gewiesen: aber führte nicht auch ein entgegengesetzter Weg vom Allgemeinen zum Besonderen? Ein begriffliches Wissen mußte auch der Einteilung der Gattungsbegriffe in ihre Arten nachgehen und sich schließlich die Aufgabe stellen, die Ordnung und den Zusammenhang (κοινωνία) aller Begriffe untereinander zur Darstellung zu bringen.

Für die Einteilung (τέμνειν) der Begriffe fand Platon eine einfache Anwendung in dem Schema der eleatischen Untersuchungen vor. Zenon hatte die Probleme der Vielheit und der Bewegung der Einzeldinge mit abstraktem Scharfsinn nach der Methode behandelt, jede Frage kontradiktorisch in dem Sinne zu erörtern, daß erst die eine Möglichkeit und dann ihr Gegenteil besprochen wurde. »Wenn die Welt aus einer Vielheit von Dingen bestehen soll, so ist diese entweder endlich oder unendlich; setzt man sie endlich, so etc.« Diese Methode scheint Platon übernommen zu haben, wenn er als die einfachste und sicherste Form der Begriffseinteilung die kontradiktorische Dichotomie anwendete und empfahl: wenigstens zeigen die beiden ausführlichen Deduktionen, womit in den Dialogen »Sophistes« und »Politikos« die Begriffe des Sophisten und des Staatsmanns durch fortschreitende Determination gewonnen werden, eine allerdings pedantische und ermüdende Anwendung des kontradiktorischen Schemas.

Dazu kam noch ein Weiteres. Die Eleaten benutzten solche Disjunktionen, um aus jedem der angesetzten Fälle die Folgen zu entwickeln: sie verfolgten damit in ihrer polemischen Weise den Zweck, jeden der Fälle durch seine absurden Konsequenzen als unmöglich zu erweisen. Auch dies nahm Platon mit positiver Erweiterung auf: er führte die Methode der hypothetischen Begriffserörterung ein, die darauf hinauslief, die Brauchbarkeit und Sicherheit eines im Denken gewonnenen Begriffs an der Richtigkeit der aus ihm abzuleitenden Folgerungen zu prüfen.

Alle diese Operationen nun, die Aufsuchung der Begriffe, ihre Einteilung, ihre Ordnung, ihre hypothetische Erörterung faßte Platon unter dem Namen Dialektik zusammen, und die Begriffe, mit denen sie beschäftigt ist, nannte er Ideen. Die Dialektik betrachtete er als die göttliche Kunst, aus der allein wahres Wissen erwachsen könne, und eben deshalb auch als die alleinige Grundlage aller wahren Tugend.

Im Verhältnis zu den einfachen Formen der sokratischen Gespräche tritt uns hierin ein mächtig gereiftes und vertieftes logisches Bewußtsein entgegen. Um das Grundverhältnis des Allgemeinen zum Besondern gliedert sich bereits eine große Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Gedankengänge und eine deutliche Einsicht in ihre Verschiedenheit. Zwar ist Platon, wie er keine Wissenschaft systematisch dargestellt hat, auch zu dem geschlossenen Entwurf einer Logik nicht gekommen: aber wo er gelegentlich logische Fragen berührt, wie das Wesen des Urteils und des Schlusses oder die Denkgesetze, da finden wir ihn auf einer Höhe auch der formalen Einsicht, welche uns erkennen läßt, wieviel Aristoteles, der Vater der logischen Wissenschaft, bei ihm gelernt hat. Das schließt nicht aus, daß wir bei Platon vielfach im einzelnen auf Darlegungen stoßen, die logisch beanstandbar sind, daß seine Beweise sich oft in sprachliche Vieldeutigkeiten der Wörter verstricken, auch Fehler wie die unberechtigte Umkehrung allgemeiner Bejahungen etc. nicht selten erkennen lassen. Man wird sich darüber nicht wundern, sobald man bedenkt, daß hier die logische Schulung des philosophischen Denkens überhaupt erst anfängt: wunderlich ist es nur, wenn die à tout prix bewundernde Auslegung uns in solchen Fällen weismachen will, Platon habe die Sophisterei recht gut gewußt, er habe sie nur spottend oder charakterisierend als schriftstellerisches Mittel benutzt.

Eine so umfangreiche Ergänzung des sokratischen Prinzips mußte auch die Auffassung von dem Wesen und dem Werte des Begriffs selbst verändern. Sokrates glaubte, das Allgemeine in den besonderen Vorstellungen der Menschen auffinden und daraus nur zum deutlichen Bewußtsein herausheben zu können, und begnügte sich damit, für die so gewonnenen Grundsätze die allgemeine Anerkennung in Anspruch zu nehmen: bei Platon dagegen erhielten die Ideen ein ganz andres Verhältnis zu den in der Erfahrung vorgefundenen Vorstellungen und damit zugleich eine ganz andre Art der Geltung.

Es konnte Platon nicht verborgen bleiben, daß solche Begriffe, welche im deduktiven Verfahren durch Einteilung eines höheren Begriffs abgeleitet werden oder in der hypothetischen Erörterung zutage treten, ihrem Ursprung und ihrer Bedeutung nach wesentlich andersartig sind als die von Sokrates aus den Erfahrungen und Meinungen der Menschen entwickelten Grundsätze: jene erweisen sich in ihrer Begründung und Geltung unabhängig von den Wahrnehmungen und den daraus entstandenen Ansichten, sie entstammen lediglich dem vernünftigen Denken. Dadurch wurde für Platon von neuem der Gegensatz zwischen Denken und Wahrnehmen maßgebend, der von den großen Metaphysikern, wie Heraklit und Parmenides, aufgestellt, von den Sophisten aufgehoben und auch von Sokrates nur unbestimmt im Sinne eines Wertverhältnisses aufrecht erhalten worden war. Platon mußte sich überzeugen, daß die Begriffe, in denen er mit Sokrates die wahre Erkenntnis und Tugend suchte, ihrem Wesen und Ursprung nach von den Wahrnehmungen durchaus verschieden und aus ihnen nicht ableitbar seien.

Er zog – und das war das Entscheidende – diese Konsequenz auch für diejenigen Begriffe, welche in sokratischer Weise induktiv aus den Wahrnehmungen entwickelt werden mußten. Auch in diesem Falle, fand er, seien die Wahrnehmungen zwar die Veranlassungen, aber nicht die Gründe des Begriffs, und der Inhalt des letzteren stecke nicht fertig und vollständig in den Wahrnehmungen, weder in den einzelnen noch in ihrer Gesamtheit; sondern er werde nur auf Anlaß der Wahrnehmungen von der Vernunft selbständig gefunden. Platon entwickelt dies gern (im »Phaidros« und im »Symposion«) an Wertbegriffen, die ja für Sokrates im Vordergrunde des Interesses gestanden hatten. Wenn wir von schönen Pferden, schönen Frauen, schönen Knaben etc. reden und von diesen Vorstellungen her zu dem Begriffe der Schönheit vordringen wollen, so ist dieser Begriff in keinem jener besonderen Beispiele rein und vollständig enthalten, sondern sie alle zusammen dienen nur dazu, uns jenen reinen Begriff ins Bewußtsein zu rufen, dem keines von ihnen völlig Genüge tut.

Obwohl somit die Begriffsbildung darauf gerichtet bleibt, das Einheitliche und Gemeinsame (τὸ ϰοινόν) zu finden, das in der Mannigfaltigkeit des erfahrungsmäßig Gegebenen sich darstellt, so ist doch dies Gemeinsame (der Inhalt des Gattungsbegriffs) nicht als Teil in den Wahrnehmungsvorstellungen enthalten, sondern darin nur angedeutet und nachgebildet. Die Idee erscheint den Wahrnehmungen gegenüber als Ideal; sie wird nicht in ihnen, sondern nur an ihnen gefunden. Der Vorgang der Begriffsbildung ist nicht eine Zergliederung der Wahrnehmungen, vermöge deren in ihnen allen das Gleiche als enthalten gefunden würde, sondern eine zusammenschauende Intuition, welche das alle die einzelnen Exemplare vereinigende Gemeinsame selbständig erfaßt: die ἐπαγωγή wird zur συναγωγή.

Ist dies Platons Auffassung vom Wesen des durch das Denken zu erkennenden Gattungsbegriffs im Verhältnis zu den Wahrnehmungen, in denen seine Exemplare gegeben sind, so ist damit durchweg die historische Stellung unseres Philosophen zwischen Sokrates und Aristoteles bestimmt. Sokrates erhebt nur die noch unbestimmte Forderung, das Besondre aus dem Allgemeinen zu begreifen, zu erklären und zu beurteilen. Platon verlangt, daß dies Allgemeine durch ein »Zusammenschauen« all des unvollkommenen Einzelnen als ein davon Verschiedenes zum Bewußtsein gebracht werde: Aristoteles dagegen glaubt, dies Allgemeine durch eine Zergliederung des Besonderen auffinden zu können, in welchem es völlig enthalten sei. Man kann das eine die synoptische, das andere die analytische Theorie des Gattungsbegriffs nennen: aber dieser Gegensatz ist für Platon und Aristoteles maßgebend nicht nur logisch, sondern auch metaphysisch; denn ebendeshalb ist das allgemeine Wesen der Dinge für den einen von ihrer wahrnehmbaren Erscheinung verschieden, für den anderen darin enthalten.

Für Platon aber ergab sich aus seiner synoptischen Auffassung, daß niemals ein Wahrnehmungsgebilde der zugeordneten Idee völlig entsprechen könne. Das ist umso erklärlicher, wenn man bedenkt, welche Begriffe ihm zunächst vorschwebten. Auf der einen Seite waren es die sittlichen Begriffe, die Sokrates suchte – normative Bestimmungen, die geeignet sein sollten, über Zwecke und Werte des ethischen Lebens zu entscheiden, aber weit entfernt waren, in den wirklichen Gesinnungen und Handlungen der Menschen erfüllt zu werden –, auf der anderen Seite handelt es sich um die mathematischen Begriffe, die in der Erfahrung niemals vollkommen realisiert sind. Es gibt in der Wahrnehmung kein absolut mathematisches Gebilde. Keine wirkliche Kugel in der Natur, auch nicht eine mit höchster Technik des Menschen gedrehte, tut vollständig der stereometrischen Definition der Kugel Genüge.

Diese wohlbegründeten Überlegungen überträgt Platon auf alle Begriffe überhaupt: es scheint ihm im Wesen der Sache zu liegen, daß die Wahrnehmungsgebilde immer nur unvollkommene Nachbildungen, niemals vollkommene Darstellungen der Begriffe sind: sie sind ihnen ähnlich, aber nicht gleich.

Eine feinsinnige Folgerung aus diesem Verhältnis hat Platon in seiner Sprachphilosophie gezogen, wie sie im »Kratylos« niedergelegt ist. Die Frage nach der Beziehung zwischen den Wörtern und Begriffen, die sie bedeuten, hatten die Sophisten nach einem bei ihnen üblichen Schema dahin beantwortet, daß diese Beziehung entweder rein äußerlich durch konventionelle Bestimmung (ϑέσει) oder sachlich (φύσει) durch eine Verwandtschaft und Ähnlichkeit zwischen Begriff und Wort zu erklären sei. Indem Platon der letzteren Auffassung mit ihren phantastischen Etymologien halb ernsthaft und halb ironisch übertreibend nachgeht, weist er doch mit entschiedenstem Ernste darauf hin, daß auch die sprachliche Erscheinung des Begriffs, wie sie im Worte vorliegt, zwar auf eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Begriffsinhalt, aber niemals darauf Anspruch habe, diesen in seiner Reinheit und Vollständigkeit zum Ausdruck zu bringen.

Ist nun aber der Begriff seinem eigensten Wesen und Inhalt nach nicht in der Wahrnehmung enthalten – wie kommen wir Menschen zu ihm, deren Erkenntnistätigkeit sich doch, an den Leib gebunden, zweifellos an den Wahrnehmungen entwickelt? In der Antwort auf diese Frage zeigt Platon die eigentümliche Gebundenheit des gesamten antiken Denkens, welche die Vorstellung von einer schöpferischen Energie des Bewußtseins nicht aufkommen ließ, sondern alles Erkennen immer nur als ein Abbilden des Empfangenen und Vorgefundenen auffassen wollte. Wenn somit der Inhalt des Begriffs von dem der zugehörigen Wahrnehmungen verschieden und in ihnen nicht gegeben war, so mußte er für Platon irgendwie anders gegeben und von der erkennenden Seele empfangen sein. Wenn das vernünftige Denken den Inhalt seiner Begriffe nicht aus den Wahrnehmungen geschöpft haben konnte, so mußte ihm dieser Inhalt auf irgend eine andere Weise gegeben sein –, so mußte der Begriff die »Besinnung« auf seinen Inhalt darstellen, den die Seele unabhängig von aller Wahrnehmungstätigkeit von vornherein besaß. Aus diesen Motiven entwickelte sich wissenschaftlich die für die platonische Erkenntnistheorie am meisten charakteristische Lehre, daß alles begriffliche Wissen ἀνάμνησις, Erinnerung, sei.

Zur psychologischen Erläuterung dieser zentralen Lehre benutzt Platon (im »Symposion« und namentlich im »Phaidon«) ausdrücklich das Gesetz der Assoziation durch Ähnlichkeit. Wenn die synoptische Begriffsbildung von den Wahrnehmungen zu einer Idee fortschreitet, die in ihnen nicht als solche enthalten ist, so ist das nur dadurch zu erklären, daß dem erkennenden Bewußtsein bei den Wahrnehmungen der Begriff einfällt, der ihnen ähnlich, der ihr Urbild ist. Das aber setzt voraus, daß dies begriffliche Urbild schon vor den daran erinnernden Wahrnehmungen in der Seele vorhanden, obwohl, wie andere erinnerbare Inhalte, nicht bewußt vorhanden war. Ein solches latentes Vorhandensein jedoch ist – wie bei den empirischen Erinnerungen – nur möglich, wenn der Begriff früher wenigstens einmal als bewußte Vorstellung in der Seele gewesen ist. Daher ist begriffliches Wissen nur so möglich, daß die Idee vor dadurch die leibliche Existenz ermöglichten Wahrnehmungstätigkeit von der Seele aufgenommen worden ist, und daß nun bei Gelegenheit der Wahrnehmungen nach dem Gesetz der Assoziation durch Ähnlichkeit die ihnen ähnliche Idee im Bewußtsein reproduziert wird.

Mit geistreicher Kühnheit entwickelt Platon diese Lehre im »Phaidon« an der Idee der Gleichheit selbst, ein Meisterstück seiner Dialektik. Wenn wir zwei Dinge »gleich« nennen, so sind sie in Wahrheit nie vollkommen gleich: denn um sie gleich zu nennen, müssen wir sie vorher irgend wie unterschieden, d. h. ungleich befunden haben. Wenn wir also trotzdem an ihnen den Begriff der Gleichheit zur Anwendung bringen, so können wir ihn nicht aus ihnen entnommen, sondern müssen ihn mitgebracht, d. h. vorher und ursprünglich besessen haben, und wir sind nur durch diese relativ gleichen Dinge an die an sich absolute Idee der Gleichheit »erinnert« worden.

Alles begriffliche Wissen also ist Erinnerung; als ursprünglicher, vor aller Wahrnehmung erworbener Besitz der Seele tritt es wieder in das Bewußtsein, sobald die Idee durch ihr ähnliche Wahrnehmungen wachgerufen wird.

Man kann diese fundamentale Lehre Platons von der ἀνάμνησις über ihren nächsten Wortsinn hinaus nach modernen Auffassungen deuten. Sie enthält erkenntnistheoretisch den wertvollen Gedanken, daß es Vernunftwahrheiten gibt, die, durch keinerlei Tatsachen der Wahrnehmung begründbar, unmittelbar in sich evident sind und auf deren unabweisbare Geltung wir uns nur zu »besinnen« brauchen; in diesem Sinne hat z. B. auch Descartes von den »eingebornen Ideen« gehandelt, indem er dabei – dem sprachlichen Ausdruck zum Trotz – weniger an das psychologische Kriterium des ursprünglichen Vorhandenseins, als an die logische Bedeutung der unableitbar selbstverständlichen Evidenz und Gewißheit dachte. Andrerseits kann man die platonische Lehre mit den Auffassungen der neueren Psychologie und Logik in Beziehung setzen. Danach sind die ersten Vorstellungen des Menschen von unbestimmter Allgemeinheit und besitzen darin die Fähigkeit, daß sie sich in vielen besonderen Wahrnehmungen wiedererkennen lassen; aus ihnen entwickeln sich erst bei geschärfter Aufmerksamkeit die bestimmten Einzelvorstellungen. Von diesen aber geht das bewußte logische Denken aus, um in einer Art rückläufiger Bewegung die Gattungsbegriffe aufzusuchen, deren Inhalt sich (wie ihre sprachliche Bezeichnung) vielfach mit jenen ersten unbestimmten Allgemeinvorstellungen decken muß. So enthält der logisch bearbeitete Gattungsbegriff eine Reproduktion der ursprünglichen, durch die Einzelvorstellungen verdunkelten Allgemeinvorstellung.

Aber solche Ausdeutungen liegen der Lehre Platons fern: sie will vielmehr wörtlich so genommen werden, daß das begriffliche Wissen eine Erinnerung an ein Erkennen enthalte, das vor der leiblich wahrnehmenden Existenz des Menschen gewonnen worden sei. Im »Phaidon« führt Platon den Beweis folgendermaßen: eine Idee wie die der Gleichheit muß die Seele empfangen haben, ehe sie irgend eine Wahrnehmung des irdisch leiblichen Lebens machte. Denn auf solche war sie seitdem allein angewiesen, und in ihnen ist diese Idee nicht zu finden. Danach bleibt nur übrig, daß die Seele jene Idee entweder in einer früheren Existenz oder im Momente der Geburt empfangen haben muß. Das letztere anzunehmen ist absurd, weil sie dann dieselbe Idee im selben Momente auch wieder vergessen haben müßte; somit kann die Aufnahme der Idee nur in die Präexistenz der Seele fallen. Diese Argumentation zeigt, daß die Lehre von der ἀνάμνησις in buchstäblichem, zeitlichem Sinne aufgefaßt sein und auf eine dem irdischen Leben vorhergehende Existenz der Seele bezogen sein will. Es wird dafür ein streng dialektischer, psychologisch-erkenntnistheoretischer Beweis angetreten, während die früheren Darstellungen dieses Lehrstücks, im »Menon«. im »Phaidros« und bei der zurückdeutenden Erwähnung im »Symposion« allerdings auf mythisch-religiöse Zusammenhänge gestellt sind (vgl. unten Kap. 5). –

Noch viel höher jedoch und weiter geht der Flug des platonischen Gedankens über die sokratische Grundlage hinaus in bezug auf den Erkenntniswert der Begriffe. Wenn sich Sokrates mit ihrer Geltung als Prinzipien des ethischen Urteils hatte bescheiden können, so führte die Erweiterung des begrifflichen Wissens auf das theoretische Gebiet bei Platon zu überraschend weittragenden Folgerungen. Wissen ist nach griechischer Auffassung stets Abbildung des Seins im Bewußtsein, Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem Gegenstande. Wenn also das wahre Wissen in den Begriffen bestehen soll, so muß in deren Inhalt auch das wahre Sein, die absolute Wirklichkeit erkannt sein. Mit dieser Wendung schöpft Platon aus dem Sokratismus den Mut zu einer neuen Metaphysik. Die Dialektik erhebt den Anspruch, Erkenntnis des wahren Seins zu sein.

Das kommt in der Doppelbedeutung des platonischen Ausdrucks Idee (ἰδέα, εἷδς) zu Tage. Als Funktionen, als intellektuelle Tätigkeiten sind die Ideen Begriffe und insbesondere Gattungsbegriffe Dabei wird hier von der spezifischen, in den späteren Schriften von Platon selbst und nachher von Aristoteles genau ausgeprägten Terminologie abgesehen, wonach in formal-logischer Hinsicht γένος und εἴδος so unterschieden werden, wie wir jetzt im Deutschen »Gattung« und »Art« unterscheiden.: als Gegenstände dagegen, die in dem Inhalt der Begriffe erkannt und abgebildet werden, sind die Ideen die »Gestalten« der wahren Wirklichkeit, das Sein selbst in seiner inhaltlichen Bestimmtheit. Im letzteren Sinne (den namentlich das »Symposion« ausgeführt hat) ist die »Idee« kein Gedanke, sondern eine Realität. Wir haben die Idee des Schönen (in subjektiver Bedeutung) als Gattungsbegriff nur deshalb, weil ihr Gegenstand, die Idee des Schönen (in objektiver Bedeutung) oder »das Schöne an sich« (αὐτὸ τὸ ϰαλόν) eine absolute Wesenheit, eine Gestalt des wahrhaft Wirklichen ist. Diese Doppelbedeutung des Wortes »Idee« hat in der Ausbildung und Wirkung der platonischen Lehre eine große Rolle gespielt und zu vielfachen Mißverständnissen geführt. Insbesondere sei erwähnt, daß von der späteren Auffassung, wonach die Ideen die urbildlichen Gedanken Gottes wären, bei Platon selbst auch nicht im geringsten die Rede ist.

Ihre eigenste Färbung aber und ihren historischen Glanz gewann die Ideenlehre erst dadurch, daß sie in diesen Ausbau der sokratischen Begriffslehre die Ergebnisse der sophistischen Erkenntnistheorie und namentlich die Theorien des Protagoras aufzunehmen vermochte. In dieser Hinsicht erscheint Platon als der überlegene Geist, der die Gegensätze der Aufklärungsphilosophie zu höherer Einheit verbindet; und dies gelang ihm gerade vermöge seiner synoptischen Auffassung vom Wesen des Begriffs.

Denn die negative und polemische Seite dieser Einsicht ist nichts anderes als die Kritik, der Platon im »Theaetet« die gesamte sophistische Erkenntnislehre unterzieht: sie läuft darauf hinaus, daß aus Wahrnehmungen allein niemals begriffliches Wissen, also überhaupt keine »Wissenschaft« gewonnen werden kann. Zu diesem Zwecke braucht Platon zunächst den Protagoras nur beim Worte zu nehmen: denn dieser hatte alles menschliche Erkennen auf die Wahrnehmung beschränkt und war eben deshalb zu dem Ergebnis gelangt, daß es keine allgemeingültige Wahrheit gebe, vielmehr für Jeden wahr sei, was ihm jeweilig wahr scheine, und somit der (individuelle) Mensch das Maß aller Dinge sei. Platon erkennt diese Konsequenz völlig an; er macht sich sogar die psychophysische Theorie zu eigen, wonach die Wahrnehmung aus dem Zusammentreffen zweier entgegenlaufender Bewegungen zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrzunehmenden Objekt entspringt: dabei entstehe in dem letzteren die Wahrnehmungseigenschaft (αἰσϑητόν), in dem ersteren die Wahrnehmungsvorstellung (αἴσϑησις), worin jene ganz adäquat abgebildet werde. Aber diese relative Wahrheit gilt deshalb auch nur für den Moment des Wahrnehmungsaktes und fällt mit ihm dahin. Wäre daher das Wissen auf die Wahrnehmung und ihren Inhalt beschränkt, so könnte es immer nur bis zu dieser relativen Wahrheit gelangen. Das zeigt sich auch weiterhin bei der Kritik der – vielleicht kynischen – Definition, welche das Wesen der »Wissenschaft« in der richtigen (aus den Wahrnehmungen entwickelten) Meinung und ihrer verstandesmäßigen Begründung (δόξα ἀληϑὴς μειὰ λόγου) suche. Daher kann nach Platon die Wissenschaft (ἐπιστήμη), die zur Tugend erforderlich ist, nur auf einem ganz andersartigen Wege zustande kommen: und das ist eben das dialektische Denken.

Allein damit ist nun der Wahrnehmung zwar die eigentliche und vollständige Wissenschaftlichkeit abgesprochen, andrerseits aber doch eine Art von relativer und momentaner Wahrheit und Erkenntniskraft zuerkannt. Denken und Wahrnehmen erscheinen als zwei verschiedenartige und zugleich auch verschiedenwertige Stufen der Erkenntnistätigkeit; das sokratische und das protagoreische Prinzip treten, beide in ihrer Art und in ihrem Umkreise gültig, in ein Wertverhältnis zueinander, jedoch so, daß sie als ursprünglich und wesentlich verschieden gelten und daß von einem unmittelbaren Übergange von der einen in die andere Erkenntnisweise keine Rede ist. Hierin besteht der entscheidende Unterschied zwischen Platon und Demokrit. Auch der letztere forderte neben der im protagoreischen Sinne aufgefaßten und gewerteten Wahrnehmungserkenntnis (σκοτίη γνώμη) eine durch das Denken zu gewinnende echte Wissenschaft (γνησίῃ γνώμη): aber er meinte die eine aus der anderen finden zu können, er statuierte zwischen ihnen eine nur graduelle, keine prinzipielle Verschiedenheit, und deshalb fand er durch das begriffliche Denken nicht wie Platon eine neue, unkörperliche Welt, sondern nur einen konstruktiven Grundriß der Körperwelt selbst – die Atome, die auch er als »Gestalten« (σχήματα und vielleicht sogar ἐδέαι) bezeichnete.

Diesem Verhältnis der Erkenntnisweisen muß aber nach platonischer Auffassung ein analoges Verhältnis der Erkenntnisgegenstände entsprechen. Gibt es in den Begriffen ein Wissen, das sich zwar an den Wahrnehmungen, aber nicht aus ihnen entwickelt und das von ihnen wesentlich verschieden bleibt, so müssen auch die Ideen, welche der Gegenstand der Begriffe sind, eine eigene und eine höhere Wirklichkeit bilden neben den Gegenständen der Wahrnehmung. Die letzteren aber sind in allen Fällen die Körper und ihre Bewegung, oder wie Platon mit echt griechischer Betonung sagt, die sichtbare Welt: folglich müssen die Ideen, das Objekt der begrifflichen Erkenntnis, eine eigene, davon geschiedene Wirklichkeit, eine unsichtbare und unkörperliche Welt darstellen.

Das ist also die Entdeckung der immateriellen Welt, worin die eigenste Leistung der platonischen Dialektik besteht. Sie ist die strikte Konsequenz der Einsicht, daß der Begriff etwas wesentlich Anderes ist als die Wahrnehmungen, für die er gilt, und der Forderung, daß ihm deshalb auch als Gegenstand etwas wesentlich Anderes entsprechen müsse, als die Körper, die mit ihrer Bewegung in der Wahrnehmung aufgefaßt werden. So werden die Ideen für Platon zu immateriellen Gestalten und Wesenheiten: sie bilden eine eigene, eine höhere Welt neben der wahrnehmbaren Körperwelt. Denn der Wertunterschied, der auf die Erkenntnisweisen zutraf, überträgt sich notwendig auch auf die ihnen entsprechenden Bereiche der Wirklichkeit.

Eine solche Teilung der Welt in verschiedene Wertschichten war der griechischen Vorstellung an sich nicht neu. Vorgebildet durch die der religiösen Phantasie aller Völker geläufige Gegenüberstellung von Himmel und Erde, hatte sie bei den Hellenen ihre theoretische Ausprägung durch die Pythagoreer erhalten. Diese hatten Ordnung (ϰόσμος) und Bestand, Regelmäßigkeit und Harmonie nur in der Welt der Gestirne finden können; die Welt »unter dem Monde« dagegen, die Erde mit allem, was auf ihr geschieht, betrachteten sie als das Reich der Unordnung, des Wechsels und der Unvollkommenheit. Aber auch diese Unterscheidung hielt sich doch zuletzt in den Grenzen der körperlichen Welt, und ebenso war es bei Anaxagoras, wenn dieser die Zweckmäßigkeit der Welt hauptsächlich in dem Umschwung der Gestirne bewunderte. Das vollkommen Neue, das Platon in der Ideenlehre brachte, war der Gedanke, der gesamten wahrnehmbaren Körperwelt die immaterielle Welt der Ideen gegenüberzustellen, die der Gegenstand des begrifflichen Wissens sein sollte. Wohl hatte, wie wir sehen werden, auch diese seine Ansicht ihren religiösen Hintergrund, wohl verband sie sich mit der verwandten pythagoreischen Kosmographie, – aber ihre Eigenart bestand doch in dem Verlangen, daß die höhere Welt die unsichtbare, die immaterielle Welt sein müsse: und diese Eigenart wurzelte in dem Prinzip der Dialektik.

Deshalb bildet den Kern des platonischen Philosophierens der Dualismus, der darin zwischen den beiden Erkenntnisarten, dem Denken und dem Wahrnehmen, und ebenso zwischen ihren beiden Objekten, der immateriellen und der materiellen Welt, statuiert wird. Auf dem Höhepunkt seiner Darstellung in der »Republik« hat Platon in dieser Weise den Grundriß seines Systems gezeichnet. Alle Erkenntnis ist entweder Vernunfteinsicht (νόησις) oder auf Wahrnehmung gegründete Meinung (δόξα). Die erstere hat zum Gegenstande die unsichtbare, unkörperliche Welt: die Vernunfterkenntnis bezieht sich teils auf die Ideen ἐπιστήμη)) teils auf die mathematischen Formen (διάνοια); die Wahrnehmungserkenntnis dagegen teils auf die Körper selbst (πίστις), teils auf ihre künstlichen Abbilder (εἰκασία).

Derselbe Dualismus aber erstreckt sich aus der theoretischen in die praktische Betätigung. Wenn, wie Sokrates annahm, das Wollen des Menschen durch seine Einsicht bestimmt ist, so wird auch der Wert seines Wollens von dem seiner Einsicht abhängen. Aus dem wahren Wissen der Dialektik muß sich eine andre, höhere Tugend ergeben, als aus dem relativen Wissen, der Wahrnehmung und der Meinung. Deshalb unterscheidet Platon zwei in Wesen und Wert verschiedene Arten der Tugend: philosophische und gewöhnliche. Die letztere ist jene bürgerliche Tüchtigkeit, die auf Gewohnheit und Herkommen, auf den aus Erfahrungen angesammelten Meinungen beruht: ihre Regeln, die Moral der Masse und des alltäglichen Lebens, werden von dem Einzelnen nicht aus Überzeugung, sondern aus Klugheitsrücksichten und persönlichen Interessen eingehalten. Die philosophische Tugend dagegen erwächst aus der begrifflichen Einsicht, sie ist sich ihrer Gründe bewußt und weiß darüber Rechenschaft zu geben; sie ist die Lebensführung der Vernunft. Ihre Ziele liegen deshalb in der unsichtbaren Welt, während die »gemeine Tugend« auf die Güter des irdischen Lebens gerichtet ist.

So wird auch auf dem praktischen Gebiete der Gegensatz der sokratischen und der sophistischen Lehre von Platon dadurch überwunden, daß er ihre Geltung verschiedenen Bereichen zuweist. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß der Wertunterschied in dieser Hinsicht noch stärker und schärfer betont wird. In theoretischer Hinsicht konnte dem Wahrnehmungswissen, das für die einzelnen Inhalte der sichtbaren Welt allein anwendbar ist, ein gewisser, wenn auch zunächst untergeordneter Wert zuerkannt bleiben: praktisch dagegen enthielt die Anerkennung, daß die Klugheitsmoral für die große Masse in Geltung bleibe, zugleich ihre Verwerfung für den auserlesenen Teil der Menschheit, der sein Heil im wahren Wissen zu finden berufen sein sollte.

Neben diesem theoretischen und praktischen Dualismus hatte jedoch die Dialektik mit ihrer synoptischen Grundauffassung vom Wesen des Begriffs noch eine andere Seite: der Begriff sollte zwar etwas Anderes sein als die Wahrnehmungen, aber diese sollten ihm doch wenigstens ähnlich sein und dadurch an ihn zu erinnern vermögen. Dies letztere, positive Verhältnis mußte sich nun ebenso wie das gegensätzliche für Platon auf das Verhältnis der sichtbaren zur unsichtbaren Welt, der körperlichen Erscheinungen zu den Ideen übertragen. Auch als immaterielle Gestalten und Wesenheiten sind die Ideen die Urbilder (παραδείγματα), von denen die körperlichen Gebilde der sichtbaren Welt die unvollkommenen, nur ähnlichen, aber nicht gleichen Abbilder (εἴδωλα) enthalten.

Alles Sichtbare ist ein Gleichnis des Unsichtbaren. Wenn Aristoteles andeutet, daß schon die Pythagoreer eine solche Beziehung zwischen den Dingen und den »Zahlen« angesetzt hatten, so mag das auch in Bezug auf den historischen Zusammenhang zutreffen, und wieder spielt dabei die Mathematik und das Verhältnis zwischen mathematischen und empirischen Größen eine vermittelnde Rolle: aber welch ein Fortschritt von der unbestimmten, spielerischen Analogie, womit etwa ein Pythagoreer die Gerechtigkeit auf die Zahl vier oder neun bezog, zu der logischen Deutlichkeit, mit der in der Dialektik das schöne Ding als ein unvollkommenes Abbild des »Schönen-an-sich« betrachtet wird! Auch hierin hat Platon, was er an Vorstellung bei den Pythagoreern vorfand, durch das sokratische Prinzip geadelt.

Auf diesem positiven Verhältnis zwischen Idee und Erscheinung, Begriff und Wahrnehmung beruhte, wie oben gezeigt, jener Vorgang, durch den das begriffliche Wissen als Erinnerung zustande kommt. Aber dieser Vorgang ist nun für einen Mann wie Platon nicht bloß logischer, sondern zugleich ethischer und, wie sich später zeigen wird, religiöser Natur: er ist kein interesseloses Denken, sondern er wühlt die Menschenseele bis in ihre Tiefen auf. Wenn die Wahrnehmung der sinnlichen Dinge in der Seele die Erinnerung an die übersinnliche »Gestalt« weckt, die sie dereinst in der unsichtbaren Welt schaute, so bleibt es nicht bei diesem Einfall, sondern in der noch nicht verdorbenen Seele regt sich ein Staunen und dann eine mächtige Sehnsucht, jenes »Urbild« von neuem in seiner Reinheit und Vollkommenheit zu schauen und sich damit zu der höheren Welt zu erheben: es entsteht die schmerzliche Unruhe, in der sich die Seele aus dem Sinnlichen zum Übersinnlichen emporringt, um es zu erfassen und sich zu eigen zu machen. Das ist der philosophische Trieb, das ist, mit all ihrem Leid und all ihrer Lust, die platonische Liebe.

Darum ist die Wissenschaft, die von diesem Triebe erfüllt ist, die Liebe zur Weisheit, φιλοσοφία. Die spätere Überlieferung schreibt die Prägung dieses Terminus dem Pythagoras zu: doch ist alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß er erst in dem sokratischen Kreise, vielleicht von Platon selbst, seine Bedeutung erhalten hat.. Zwischen dem wandellosen Besitz der Götter und der unempfänglichen Torheit der niederen Wesen steht sie in der Mitte als das Streben nach Wissen. Jene, die Götter, sind die Wissenden; die große Masse der Menschen sind die Unwissenden: die Philosophen sind die, welche wissen wollen.

So vertieft und erfüllt sich das sokratische Ideal des ἔρως. Die sittliche Gemeinschaft des Strebens nach Wahrheit und Vollkommenheit erhält ihre metaphysische Bedeutung: der geistige Inhalt des Umgangs ist, wie es im »Phaidros« und im »Symposion« mit entzückender und ergreifender Schönheit dargestellt wird, die Erhebung zu der immateriellen Welt der Ideen; seine Aufgabe ist, in den verwandten Seelen die Urbilder von neuem zu erzeugen. Der Eros als philosophischer Trieb ist der Drang des Sinnlichen nach dem Übersinnlichen, und es läßt sich schon von hier aus übersehen, wie die Ideenlehre dazu gelangen wird, auch diesem subjektiven Vorgange eine metaphysische Bedeutung zuzuerkennen und damit auch die Schroffheit des Gegensatzes von gemeiner und philosophischer Tugend zu mildern.

2. Die Welt als Wesen und Werden.

(Metaphysik.)

Die Dialektik war von den anthropologischen Gesichtspunkten der Aufklärungsphilosophie, von dem Gegensatze zwischen Sokrates und den Sophisten ausgegangen: aber die erweiterte Behandlung, welche sie dem Problem des Wissens zuwendete, hatte von selbst zu einer metaphysischen Stellungnahme geführt. Dem Denken und dem Wahrnehmen entsprechen nun die unsichtbare und die sichtbare Welt. Hatte Platon so die Schranken durchbrochen, die sich die attische Philosophie im Anfange gesetzt hatte, so mußte sich sein Blick auf die metaphysischen Lehren zurücklenken, die in der ersten, kosmologischen Periode der griechischen Wissenschaft entwickelt worden waren, und indem er mit ihren Ergebnissen und Gegensätzen die Ideenlehre in Beziehung setzte, gewann er den Höhepunkt, auf dem er alle Fäden des früheren Denkens zu einer großen Einheit zusammenziehen konnte.

Das Entscheidende jedoch in der Synthesis, die er so vollzog, bestand darin, daß der Gegensatz zwischen materieller und immaterieller Welt mit dem Grundgegensatz zur Deckung gebracht werden konnte, der in der früheren Philosophie zwischen Heraklit und den Eleaten zutage getreten war. Dieser Gegensatz war das begriffliche Ergebnis der ersten Naturforschung gewesen und dann zur Voraussetzung der vermittelnden Theorien für die Naturwissenschaft des fünften Jahrhunderts geworden: an ihn knüpfte Platon jetzt seine Ideenlehre an.

Das erste Problem der griechischen Philosophie hatte die Frage nach dem einheitlichen und unveränderlichen Prinzip gebildet, das der wechselnden Mannigfaltigkeit des natürlichen Geschehens zugrunde liegt. Aus verschiedenen Versuchen, diesen Grundstoff qualitativ zu bestimmen, hatte sich einerseits die Lehre Heraklits vom ewigen Fluß aller Dinge, in welchem ein bleibendes Sein nicht zu finden sei, andrerseits die Abstraktion der Eleaten entwickelt, die mit dem denknotwendigen Postulat des einheitlichen Seins die Vielheit und den Wechsel der Erscheinungen unverträglich fanden. Nach Heraklit ist die Welt ewiges Werden und das Sein darin nur ein Schein, nach Parmenides gibt es nur das eine wandellose Sein, und alle Veränderung ist Lug und Trug der Sinne. Zwischen diesen beiderseits paradoxen Extremen hatten Nachfolger wie Empedokles, Anaxagoras und die Atomisten einen Ausgleich durch die Annahme einer Mehrzahl an sich unveränderlicher Substanzen gesucht, aus deren wechselnder Verbindung und Trennung sich die Erfahrungswelt in ihrer Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit erklären sollte: so war man zu den naturwissenschaftlichen Grundbegriffen, dem Element und dem Atom, gekommen.

Für Platon bot die Ideenlehre eine ganz andere Handhabe zum Ausgleich jener Gegensätze dar. Die sichtbare Welt der Körper, der Gegenstand der Wahrnehmung, so mannigfach und wechselnd wie diese selbst, erschien ihm als das Reich des heraklitischen Werdens, eines ewigen Entstehens und Vergehens ohne jeden dauernden Bestand: die begriffliche Erkenntnis dagegen, die das Unsichtbare erfassen soll, geht darauf aus, des reinen Urbildes, der bleibenden Einheit sich zu entsinnen, die in all den wechselnden Wahrnehmungsgebilden sich darstellt: die Ideen tragen den körperlichen Erscheinungen gegenüber die Merkmale des eleatischen Seins an sich.

So wurde für Platon die übersinnliche Welt der Ideen, das Reich des Unsichtbaren, zu einer Welt des ewigen, wahren Seins oder des Wesens (οὐσία) und die Körperwelt, das Reich des Sichtbaren, zu einer Welt des Wechsels und des Werdens (γένεσις).

In diesem Sinne brachte zunächst der »Theaetet« die Lehre des Protagoras mit der Heraklits in einen vielleicht etwas engeren Zusammenhang, als er historisch bestand. Platon bezog die Behauptung der Relativität aller Wahrnehmungen, wie es auch nachher die Skeptiker wieder getan haben, auf die stetige Veränderlichkeit des Gegenstandes, d. h. der Körperwelt. Soll die Wahrnehmung, selbst ein Produkt verschiedener und gegensätzlicher Bewegungen, nur das Abbild eines momentanen Zustandes, eines vorübergehenden Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt sein, so hört ihre Wahrheit mit diesem Zustande auf und ist auf ihn von vornherein beschränkt. Eine Welt, wie die der Körper, die in ewigem Entstehen und Vergehen begriffen ist und kein bleibendes Sein enthält, kann nur der Gegenstand einer ebenso unbeständigen und der dauernden Einheit ermangelnden Erkenntnisweise sein, und das ist eben die Wahrnehmung. Die immer nur werdende Welt wird in einer immer nur werdenden, niemals festen und fertigen Tätigkeit der Seele erkannt.

Näher noch lag es andrerseits für Platon, das begriffliche Wissen mit der eleatischen Metaphysik in Verbindung zu bringen. Schon manche formale Züge seiner Dialektik erinnerten an die namentlich von Zenon angewendeten Argumentationen, und sachlich lag eben die Verwandtschaft vor, daß die Idee, als das Objekt der wahren Erkenntnis, eine einheitliche unsichtbare Wirklichkeit, geschieden und unabhängig von allen ihren wahrnehmbaren Erscheinungsweisen, besitzen sollte. Diese intime positive Beziehung der Ideenlehre zum Eleatismus kommt am deutlichsten in den Dialogen »Sophistes« und »Parmenides« zum Wort: beide lassen sicher erkennen, daß es die Absicht Platons war, das abstrakte Sein der Eleaten durch die übersinnliche Welt der Ideen zu ersetzen, und beide Dialoge handeln von den Schwierigkeiten, auf die er damit geriet. Dies ist zweifellos der Sinn beider Schriften und ihre Bedeutung für unser Verständnis der platonischen Philosophie: das gilt unabhängig davon, ob man Platon zumutet, diese Einwürfe sich selbst gemacht zu haben, oder ob man annimmt, sie stammten von dem eleatischen Wortführer beider Dialoge her. Vgl. oben S. 56 ff. Über die Wirkung dieser Einwürfe auf Platon wird weiter unten gehandelt werden: S. 89 ff.

Auf diese Weise nimmt vermöge des Prinzips der Korrelativität zwischen dem Wissen und seinem Gegenstande Platons Ideenlehre über und zwischen den Eleaten und Heraklit eine ähnliche Stellung ein, wie über und zwischen Sokrates und Protagoras. In beiden Fällen verwandelt Platon den Gegensatz in eine Wertabstufung. Die wahre Erkenntnis durch Begriffe, wie sie Sokrates suchte, bezieht sich auf die Ideenwelt, die den Wert des eleatischen Seins besitzt: die relative Erkenntnis durch Wahrnehmung, so wie sie Protagoras aufgefaßt hat, bezieht sich auf die Körperwelt, die auch nur einen relativen Seinswert hat, nämlich den des heraklitischen Werdens.

Es ist nicht zu verkennen, wie stark in diesem Verhältnis das eleatisch-sokratische Moment dem heraklitisch-protagoreischen überlegen bleibt. Das erstere bestimmt prinzipiell die platonische Weltanschauung und läßt das letztere nur als ein untergeordnetes zu. So wie die Wahrnehmung dem begrifflichen Denken gegenüber eine geringere Art der Erkenntnis enthält, so ist auch die Welt des Werdens, das Sinnenreich der Körper, nur eine niedere Wirklichkeit gegenüber der Welt des Wissens, dem übersinnlichen Reich der Ideen.

Am deutlichsten wird das in der Art und Weise, wie Platon das Werden dialektisch bestimmt. Er greift dabei auf das Motiv zurück, das Parmenides, der große Eleat, angewendet hatte, um neben seiner alle Vielheit und Bewegung ausschließenden Seinslehre doch wenigstens hypothetisch von der Erscheinungswelt zu handeln. Er hatte sie als eine Mischung von Sein und Nichtsein angesehen haben wollen. Und genau so betrachtete nun Platon die Ideenwelt als das reine Sein (εἰλιϰρινές), die Körperwelt dagegen mit ihrem ewigen Werden als Mischung von Sein und Nichtsein. Werden ist ja Sein und doch Nichtsein, Nochnichtsein oder Nichtmehrsein, und eben darin besteht die Inferiorität der Welt als Werden gegenüber der Welt als Wesen.

Die eleatische Färbung dieser Gedanken geht aber noch weiter. Für Parmenides hatte das »Sein«, dem urwüchsigen Materialismus des menschlichen Denkens gemäß, Körperlichkeit oder Raumerfüllung, das Nichtsein dagegen den leeren Raum bedeutet. Für Platon war das »Sein« nicht mehr körperlich, sondern vielmehr eine positive immaterielle Wirklichkeit, nämlich die Idee: das »Nichtsein« (μὴ ὄν) dagegen blieb ihm wie den Eleaten der leere Raum. Deshalb aber wurde für ihn die »Welt als Werden«, die Körperwelt, eine Mischung der Ideen mit dem leeren Räume. Sie hörte damit auf, bloßer Schein oder reines Nichts zu sein; sie wurde zu einer geringeren, unreineren, abgeschwächten Stufe der Wirklichkeit: deshalb hieß die Ideenwelt ihr gegenüber das wahre Sein (τὸὄντως ὄν).

So haben wir schließlich bei Platon zwei Welten vor uns: die eine ist unsichtbar, ewig, unentstanden und unvergänglich, unveränderlich, wahrhaft wirklich – die immaterielle Welt der Ideen; die andere ist sichtbar, in steter Veränderung begriffen, in ihrem Sein mit dem räumlichen Nichtsein gemischt – die materielle Welt der Körper und ihrer Bewegungen.

Diese Zweiweltenlehre ist das originelle und typische Merkmal der platonischen Metaphysik: ihr Springpunkt liegt in dem Begriffe der Immaterialität. Denn innerhalb der physischen Welt hatten, wie oben erwähnt, schon die Pythagoreer den Wertunterschied einer höheren und einer niederen Wirklichkeit gemacht. Man kann Platons Zweiweltenlehre als die Sublimierung jener pythagoreischen Anschauung bezeichnen: die Gestirnwelt, als körperlich und bewegt, gehört bei ihm noch zu der Welt als Werden – erst in der neuen Welt, der immateriellen, findet er die absolute Ruhe, das reine, stets sich selbst gleiche Sein.

Die schroffe Gegenüberstellung dieser beiden Welten, der metaphysische Dualismus, ist die Konsequenz des erkenntnistheoretischen Dualismus von Denken und Wahrnehmen. Das begriffliche Wissen erkennt die Welt, die ist und nie wird, Wahrnehmung dagegen und Meinung (ἰστις) richten sich auf die Welt, die wird und nie ist. Diese Formel, die sich bei Platon noch spät (im »Timaios«) findet, bezeichnet den Grundriß der Weltanschauung, die uns in der mittleren Zeit des Philosophen entgegentritt: im »Phaidros«, in der ersten Hälfte des »Phaidon«. Sie steht, wie wir später sehen werden, seiner religiösen Überzeugung am nächsten, und sie ist unter allen seinen Lehren die eindrucksvollste und geschichtlich wirksamste gewesen.

Sie barg aber auch eine Fülle von Schwierigkeiten in sich, die dem Philosophen selbst und seinen reiferen Genossen nicht entgangen sind. Die scharfe Kritik, die später Aristoteles daran geübt hat, ist allen Hauptpunkten nach schon in den Dialogen »Sophistes« und »Parmenides« angelegt, und ihre Wirkungen treten deutlich in Platons späteren Schriften hervor.

Die erste Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung des Inhalts der Ideenwelt. Wenn nach Platons logischem Entwurf jeder Gattungsbegriff die Erkenntnis einer Idee bedeuten sollte, so bevölkerte sich die unsichtbare Welt mit den Urbildern aller sichtbaren Dinge; dann war darin auch das Böse und Häßliche vertreten, dann schlüpften in das Reich der reinen Gestalten auch allerlei schmutzige Gesellen, die Gattungsbegriffe des Gemeinen, des Unschönen und des Verabscheuungswürdigen. Im »Parmenides« wird Sokrates darauf hingewiesen, daß das logische Prinzip keine Möglichkeit biete, das Ideenreich von solchen Eindringlingen sauber zu halten. Aber der Einwurf läuft darauf hinaus, daß der Charakter des Gattungsbegriffs den Wertunterschied beider Welten nicht begründe, oder daß, wie es später Aristoteles formuliert hat, die Ideenwelt nichts anderes sei als die Wahrnehmungswelt, noch einmal vorgestellt im Begriffe.

Prinzipiell hat sich Platon aus dieser Aporie nicht herauszuziehen vermocht: in seinen Beispielen dagegen läßt sich die Richtung erkennen, worin er es versuchte. Am häufigsten nennt er Eigenschaftsbegriffe wie Wärme und Kälte, Leichtigkeit und Schwere, gern auch mathematische Verhältnisse wie Gleichheit, Größe, Kleinheit, Einheit, Zweiheit; an den wichtigsten Stellen, wo die Weltanschauung der Ideenlehre in Frage steht, erscheinen Wertprädikate wie das Schöne, das Gute, das Gerechte. Aber neben diesen Ideen der Qualitäten begegnen uns auch solche von Stoffen wie Feuer oder von Zuständen wie Ruhe und Bewegung, Farbe und Schall, weiterhin aber die Gattungsbegriffe der natürlichen Wesen wie Tier und Mensch, endlich sogar gelegentlich Ideen von menschlichen Kunstprodukten wie Tisch und Bett. Aristoteles berichtet zwar, in der späteren Zeit habe Platon Ideen von Artefacten und Verhältnissen nicht mehr anerkannt; doch kann das, wenigstens den Schriften nach, nicht streng genommen worden sein. Relationsideen spielen noch im »Phaidon« eine große Rolle, und in einem der spätesten Stücke der »Republik« (in der ersten Hälfte des 10. Buches) ist von der Idee des Bettes die Rede. Freilich handelt es sich an dieser Stelle um ein schnell aufgerafftes (und wenig glücklich durchgeführtes) Argument, das die menschliche Kunsttätigkeit durch den Nachweis herabsetzen soll, sie sei nichts als Abbildung eines Abbildes. Danach wird man im allgemeinen sagen dürfen, daß Platon das Bestreben vorschwebte, die typischen und besonders die normativen Bestimmungen des empirischen Daseins in der höheren Wirklichkeit der Ideen aufzufinden: aber dies ist niemals prinzipiell ausgesprochen und hat sich deshalb auch nicht zu einem bestimmten Kriterium für eine Auswahl der Gattungsbegriffe, die sich zur Aufnahme in die Ideenwelt eignen, entwickeln können. Wenn somit Herbart Platons Ideen als »absolute Qualitäten« definiert hat, so drückt das vielleicht eine Tendenz des Philosophen richtig aus, entspricht aber nicht der Gesamtheit seiner wirklichen Lehre. An sich bleibt deshalb die letztere der Inbegriff aller möglichen Gattungsbegriffe.

Um so schwieriger gestaltete sich für Platon auch die Frage nach der Ordnung und dem Zusammenhange der Ideen: auch hier erwies sich das formale Prinzip der Dialektik als unzulänglich. Daß die gesamte Ideenwelt in letzter Instanz eine Einheit und ein System bilden müsse, folgt als notwendiges Postulat aus dem eleatischen Motiv dieser Lehre, und die einzelnen dialektischen Operationen, insbesondere die Begriffseinteilung, legten den Gedanken eines solchen Zusammenhanges (ϰοινωνία)der Ideen direkt nahe. Aber die Ausführung stieß auf große Schwierigkeiten. Da die Ideen von sehr verschiedenem Grade der Allgemeinheit waren, so ließen sich nicht nur von demselben Sinnendinge mehrere Ideen, sondern auch zum Teil die einen von den anderen aussagen. Danach konnten freilich die Verhältnisse der Subordination und der Koordination zwischen ihnen festgestellt werden: allein das gelang doch immer nur für gewisse begrenzte Gruppen. Die sogenannte platonische Begriffspyramide, welche von der Basis der niedersten singularen und partikularen Begriffe durch schrittweis fortgesetzte Abstraktion zu dem allgemeinsten aller Begriffe als ihrer Spitze aufsteigen soll, hat Platon selbst nicht einmal verlangt, geschweige denn ausgeführt. Erst spätere, von Platon abhängige Schulen der antiken Philosophie haben dies versucht und sind dabei, der Natur der Sache und der logischen Gesetzmäßigkeit zufolge, auf das Ergebnis gestoßen, daß die Spitze der Pyramide, der oberste und allgemeinste Begriff, auch der inhaltloseste, daß es der des ganz unbestimmten Etwas oder des Nichts sein müsse. Vielmehr hat Platon zwar gelegentlich im Zusammenhange seiner Untersuchungen auch die allgemeinsten Begriffe erörtert, so in der »Politeia« das Verhältnis von Sein und Bewußtsein, so im »Theaetet« Sein und Nichtsein, Identität und Verschiedenheit usw.: aber im Ganzen hat er auf den Versuch einer logischen Ordnung der Ideenwelt verzichtet und zu andern Mitteln gegriffen, um eine systematische Einheit darin herzustellen.

Dazu müssen wir es rechnen, wenn der Philosoph in seinem Alter auf den unglücklichen Gedanken geriet, die Ideenwelt als Zahlensystem zu entwickeln. Wir kennen diesen Versuch kaum mehr aus Platons Schriften, in denen er nur zuletzt leise angedeutet ist wie im »Philebos«, sondern in der Hauptsache aus Aristoteles (insbesondere dessen Metaphysik) und späteren mehr oder minder fragmentarischen Berichten. So dunkel die Sache im einzelnen bleibt, so deutlich lassen sich ihre Motive im allgemeinen verstehen. Die Pythagoreer, die auf einen systematischen Entwurf der wissenschaftlichen Lehren ausgingen und eine logische Grundlage dafür noch nicht besaßen, hatten dazu ihre Zahlentheorie herangezogen, indem sie auf jedem Gebiete die einzelnen Begriffe mit den einzelnen Zahlen des dekadischen Systems durch mehr oder minder sinnreiche oder willkürliche Analogien in Beziehung setzten, so z. B. etwa den Punkt als eins, die Linie als zwei, die Fläche als drei, den Körper als vier u. s. f. bezeichneten. Sie gewannen so wenigstens eine Art von Ordnung der Begriffe. Wenn nun Platon auf dieses Surrogat zurückgriff, so wirkte dabei der Umstand mit, daß die Pythagoreer das ganze System der Zahlen aus der Eins entwickelten und daß dieses Verhältnis der Einheit zur Vielheit in Platons Überlegungen über die Verhältnisse der Idee zu ihren Erscheinungen, weiterhin aber der höheren zu den niederen Ideen ebenfalls eine große Rolle spielte. Deshalb wurden nun solche Voraussetzungen der Zahlentheorie wie der Gegensatz des Ungraden und des Graden, den noch dazu die Pythagoreer mit dem des Begrenzten und des Unbegrenzten gleichgesetzt hatten, oder das Verhältnis der Eins zur Zwei etc. für Platon zu metaphysischen Ausgangspunkten einer dialektischen Ableitung aller Ideen aus einem einheitlichen Prinzip. Die verschiedenen Fassungen dieses Prinzips und die Einzelheiten in der Ausführung des ganzen unfruchtbaren Gedankens dürfen hier um so eher übergangen werden, als sie dunkel und kontrovers sind und als die größten Zweifel darüber bestehen, wieweit die überlieferten Lehren auf Platon selbst oder auf seine nächsten Schüler wie Speusippos zurückgehen.

Sehr viel deutlicher und zugleich glücklicher war der andere Ausweg, den Platon wählte, indem er die logische Ordnung der Ideenwelt mit der teleologischen vertauschte. Denn wenn er zu der Auffassung gelangte, daß die höchste, alle anderen umfassende und bestimmende »Gestalt« in der übersinnlichen Welt die Idee des Guten sei, so konnte die Unterordnung der übrigen Begriffe unter dieses einheitliche Prinzip nicht mehr die logische Subordination der Arten unter die Gattung, sondern nur das Verhältnis der Mittel zum Zweck sein. Freilich ist auch in diesem Falle eine Rangordnung der teleologischen Verhältnisse von Platon nicht ausgeführt, vielmehr fallen alle Ideen unter die des Guten sozusagen mit einem Schlage: aber es ist damit doch eine sachliche Einheit und ein bedeutsamer Mittelpunkt des Systems gewonnen. Die Gedankengänge aber, die Platon dazu führten, hingen mit weiteren Problemen zusammen, die sich aus dem Dualismus der Zweiweltenlehre entwickelten.

Sie gruppieren sich alle um die Frage nach dem Verhältnis der Erscheinungen zu der ihnen entsprechenden Idee. Wenn Platon der letzteren eine gesonderte Realität in der übersinnlichen Welt zuschrieb (χωρισμός) und wenn dies Reich des Unsichtbaren (τόπος γοητός) von der sichtbaren Welt nicht nur verschieden, sondern auch real geschieden sein sollte – wie verhielten sie sich zueinander? Das war eine Frage, die Platon nicht ursprünglich gestellt hatte. Sein Interesse war es nur gewesen, der Vernunfterkenntnis neben den Wahrnehmungen eine eigne Wahrheit und eben deshalb auch einen eignen Gegenstand zu geben: erst als so die beiden Welten einander gegenüberstanden, wurde ihr Verhältnis zum Problem.

Die Grundvorstellung, mit der Platon diese Frage zuerst antwortet hat und auf die er immer wieder zurückgekommen ist, ergab sich aus der synoptischen Theorie der Begriffsbildung und aus der Lehre vom Wissen als Erinnerung: das Verhältnis der Idee zur Erscheinung (φαινόμενον) ist dasselbe wie das des Begriffs zu den Wahrnehmungen, nämlich Ähnlichkeit und zwar in der Weise, daß auch realiter die Ideen als Urbilder gelten, denen die Erscheinungen ähneln, freilich nur unvollkommen ähneln. Das Verhältnis der Erscheinung zur Idee ist also Nachahmung (μίμησις). Dabei ist wohl zu beachten, daß dies Verhältnis zunächst nicht im genetischen Sinne, sondern nur als ein Ausdruck der inhaltlichen Beziehung gedacht wird: ebenso war es bei den Pythagoreern gewesen, wenn sie die Zahlen als Urbilder aller Dinge betrachteten. Erst später, im »Timaios«, hat Platon dieser Auffassung die Wendung gegeben, daß die Entstehung der körperlichen Dinge auf eine nachahmende Tätigkeit (des weltbildenden Gottes) zurückgeführt wurde, die zum Urbild die Ideen genommen habe.

Zunächst verursachte der Begriff der Nachahmung eine dialektische Schwierigkeit. Wir nennen zwei Erscheinungen ähnlich, weil sie beide der ihnen gemeinsamen Idee ähnlich sind: setzt nicht aber die Ähnlichkeit zwischen Idee und Erscheinung wieder ein höheres Gemeinsames, ein Drittes voraus, vermöge dessen sie verglichen werden können? und so fort bis ins Unendliche! Sollen der empirische Mensch und der »Mensch-an-sich« ähnlich sein, verlangt das nicht einen »dritten Menschen«, der den Vergleichspunkt abgibt? Diesen Einwurf (τρίτος ἄνϑρωπος) erhebt der Dialog »Parmenides«, und Aristoteles hat ihn später aufgenommen. Wenn er uns heute etwas sophistisch vorkommt, so läßt er doch erkennen, daß sich der platonische Gedankenkreis bei dem Begriffe der Nachahmung nicht beruhigte.

Eine andere Auffassung des Verhältnisses, die sich gelegentlich bei Platon findet, ist aus der Reflexion auf den Umstand erwachsen, daß die Idee eine Einheit (μονάς) im Verhältnis zu der Vielheit ihrer Erscheinungen sein sollte. Den eleatisierenden Dialogen lag diese Problemstellung besonders nahe, aber auch der »Philebos« geht genau darauf ein. Wie kann das Eine Vieles, wie können die Vielen Eins sein? Hier bot sich nun zunächst der Überlegung das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen dar, und wenn dieses auf die Beziehung zwischen Begriff und Wahrnehmung oder zwischen Idee und Erscheinung angewendet wurde, so ist klar, daß dabei, logisch gesprochen, nicht mehr der Inhalt, sondern der Umfang der Begriffe in Betracht gezogen war. So ist es zu verstehen, wenn Platon von einem Teilhaben (μετέχειν) der Erscheinungen an den Ideen redet. Den letzteren allein kommt die wahre Wirklichkeit zu, und die werdenden und vergehenden Erscheinungen sind nur insofern, als sie an dem »Wesen« Anteil haben. Auch diese Auffassung hat Platon in einer gewissen Unbestimmtheit gelassen; sie setzt offenbar voraus, daß alle Teile des Umfangs eines Begriffs diesem selbst ähnlich sind, aber sie bringt dies Verhältnis nicht auf einen scharfen Ausdruck. So wichtig deshalb dieser Gedanke durch den Einfluß geworden ist, den er auf die Ausbildung der aristotelischen Logik ausgeübt hat, so wenig konnte es Platons letztes Wort über das Verhältnis von Idee und Erscheinung sein.

Einen Schritt weiter führt uns eine dritte Bezeichnung der Sache, die darin vorliegt, daß Platon von einer Gegenwart der Idee an der Erscheinung (παρουσία) redet. Die Dinge in der Erfahrungswelt werden einer Idee ähnlich, wenn diese »zu ihnen kommt«, und sie verlieren solche Eigenschaft wieder, wenn die Idee »von ihnen fortgeht«. Es ist namentlich im »Phaidon«, daß Platon das Verhältnis von dieser Seite betrachtet, und man ist dabei zunächst versucht, in dieser Darstellung nur eine bequeme Art von sinnlicher Veranschaulichung des schwierigen dialektischen Verhältnisses zu sehen. Denn es ist dabei geradezu von einem »Kommen und Gehen« der Ideen die Rede, wodurch den Sinnendingen die wechselnden Eigenschaften mitgeteilt und wieder entzogen werden sollen. Diese Vorstellungsweise aber enthält neben anderen Problemen die große Schwierigkeit, daß jenes »Kommen und Gehen« der in der übersinnlichen Welt befindlichen Ideen sich nicht nur jeder anschaulichen Darstellung entzieht, sondern auch mit dem Wesen der Ideen, mit ihrer Unveränderlichkeit und Unbeweglichkeit völlig unvereinbar ist.

Betrachtet man aber diese Untersuchungen in der zweiten Hälfte des »Phaidon« genauer, so sieht man, daß sie aus einem Gedanken entspringen, der hier zuerst mit voller Deutlichkeit hervortritt. Wenn bis dahin und auch noch in der ersten Hälfte des »Phaidon« der Kernpunkt der Ideenlehre stets in der Überzeugung gesucht wird, daß es ein »an sich Schönes«, ein »an sich Gutes« usw. gebe, so wird nun der Schwerpunkt darauf gelegt, daß das einzelne sinnliche Ding nur deshalb schön oder gut sei und heißen dürfe, weil es an der Idee der Schönheit oder der Güte teilhabe, bezw. diese Idee ihm »beiwohne«. In der Idee also liegt der Grund, weshalb die Erscheinung sich so verhält, wie die Wahrnehmung sie im einzelnen zeigt; aus der Gegenwart der Idee erklärt sich die Eigenschaft des Sinnendinges, aus ihrem Kommen das Entstehen, aus ihrem Gehen das Aufhören der Eigenschaft. Die Ideen sind die Ursachen der Erscheinungen.

Damit ist in die Ideenlehre ein Motiv eingeführt, das ihr ursprünglich fehlte: sie bekommt die Aufgabe, eine erklärende Theorie für die Erscheinungen zu sein. In ihrem ersten Entwurf wollte die Dialektik nur den schwankenden Wahrnehmungen und Meinungen gegenüber ein festes Wissen haben; sie fand es in den Begriffen und postulierte als deren Gegenstand eine übersinnliche Welt. Mit dieser sollte sich das philosophische Denken befassen, die Sinnenwelt mit ihrem Wechsel sollte ihm gleichgültig sein. Jetzt aber wird von der Ideenlehre behauptet, daß sie und sie allein auch die Erscheinungswelt begreiflich mache.

Diese Änderung der Aufgabe hat Platon dadurch angedeutet, daß er jener Darstellung im »Phaidon« eine Erzählung vorausschickt, die zu den umstrittensten Stellen seiner Werke gehört (Phaid. 96 ff.). Er läßt den Sokrates berichten, wie er sein Bedürfnis, die Ursache (αἰτία) des Entstehens und Vergehens zu erforschen, vergeblich zuerst bei den mechanischen Theorien der Naturphilosophen, sodann bei der teleologischen Lehre des Anaxagoras zu befriedigen gesucht habe und schließlich zu der Einsicht gekommen sei, daß nur in der Ideenlehre (die dabei als schon längst feststehend angesehen wird; vergl. dort p. 100b) auch diese Probleme ihre Lösung finden können. Die Erzählung trifft weder auf die Entwicklung des Sokrates noch auf die Platons selbst zu, und auch als ein Rückblick auf die Geschichte der vorplatonischen Philosophie kann sie nicht interpretiert werden: ihr Sinn ist vielmehr die Behauptung, daß die von der Naturphilosophie begehrte Erklärung des natürlichen Geschehens nur von der Ideenlehre zu erwarten sei. Die Welt als Werden ist nur aus der Welt als Wesen, das Geschehen ist nur aus dem Sein zu begreifen.

Nur diese Deutung der Stelle ist mit dem vereinbar, was wir sonst über Platons Entwicklung wissen. Das naturphilosophische Interesse, das hier dem Sokrates in den Mund gelegt wird, lag notorisch nicht nur diesem, sondern seinem ganzen Kreise, insbesondere auch Platon selbst fern, dessen frühere Schriften nichts davon erkennen lassen und der es erst verhältnismäßig spät gewonnen hat. Im Kampfe gegen die Sophistik, vermutlich mit Hilfe der Mathematik, hatte er seine Dialektik geschaffen: aber je mehr sich diese zu einer metaphysischen Lehre, zu einer Weltanschauung auswuchs, um so mehr erweiterte sich Platons wissenschaftliches Interesse auch auf die Fragen der Naturforschung Daß dabei auch die Bedürfnisse der Akademie mitsprachen, wurde oben S. 36 erwähnt.; und es verstand sich von selbst, daß er seiner Ideenlehre die Kraft zutraute, auch dieser Probleme Herr zu werden. Daher die emphatische Zuversicht, mit der er sich im »Phaidon« dazu anheischig macht, obwohl er sich die Schwierigkeit der Sache nicht verbirgt. Er sagt (vielleicht nicht ohne Rücksicht auf die sogleich zu erwähnenden Erörterungen des »Sophistes«), jene Aufgabe müsse durchaus in weiterer Forschung gelöst werden. Möge man das Verhältnis von Idee und Erscheinung als Nachahmung, als Teilnahme, als Parusie oder als welche Art von Gemeinschaft immer auffassen – das Wichtigste und Sicherste bleibe, daß die einzige Ursache der Erscheinungen in der Idee zu suchen sei.

Das wesentlich Neue bestand also darin, daß die Ideen auch als Ursachen des Geschehens, des Entstehens und Vergehens sinnlicher Dinge und Eigenschaften aufgefaßt werden sollten. Aber eben darin lag auch eine große, vom platonischen Standpunkte aus nie vollständig zu lösende Schwierigkeit. Sie ist mit voller Deutlichkeit und Schärfe in dem Dialog » Sophistes« dargelegt und bildet den Wendepunkt in der Entwicklung der Zweiweltenlehre.

Denn die Kritik, die in diesem Dialog an der platonischen Ideenlehre vollzogen wird, ist durchgängig von dem Gedanken beherrscht, daß die Ideen, so wie Platon sie ursprünglich in seiner Dialektik gedacht hat (und, setzen wir hinzu, nach deren Motiven notwendig hat denken müssen), völlig unfähig sind, als Ursachen der Erscheinungen, sofern diese ein Geschehen enthalten, angewendet zu werden. Die »Ideenfreunde«, heißt es hier (p. 246 ff.), stellen Wesen und Werden (οὐσία und γένεσις)als zwei verschiedene Welten einander gegenüber; die eine soll vom Denken, die andere durch Wahrnehmung erkannt werden; die eine soll das unsichtbare Reich des ewig Gleichen und Unveränderlichen, die andre das sichtbare Reich des stets Bewegten und immer im Entstehen und Vergehen Begriffenen sein. Bei dieser Verteilung der Prädikate (die der platonischen Dialektik genau entspricht) fällt alles Wirken und Leiden in den Bereich der Welt des Werdens. Die Starrheit, welche den Ideen in ihrer absoluten Unveränderlichkeit beiwohnt, erlaubt nicht, sie als Ursachen anzusehen. Als solche müßten sie selbst tätig, d. h. beweglich sein, müßten sie Seele, Leben und Vernunft haben: nur dann könnten sie als Kräfte (δυνάμεις) aufgefaßt werden, aus denen sich die Erscheinungen erklärten. Da sie das nach der Ideenlehre nicht sind, so ist diese ebenso unfähig, die Erscheinungswelt begreiflich zu machen, wie die eleatische Seinslehre, an deren Stelle sie treten wollte. Unter Rückweis auf p. 56f. und 87 hebe ich nochmals hervor: 1) daß die im »Sophistes« kritisierte »Ideenlehre« m. E. nicht irgend eine andre sonst völlig unbekannte, etwa eine megarische (wie sie Schleiermacher und Zeller konstruiert haben), sondern einzig und allein die platonische selbst sein kann, und 2) daß die Bedeutung dieser Kritik für die Umbildung der platonischen Metaphysik ganz dieselbe bleibt, ob sie nun von Platon selbst oder irgend einem Andern herrührt. Denn auch im ersteren Falle beweist sie, daß Platon sich der Aufgabe bewußt wurde, aus den Ideen die Erscheinungen abzuleiten, und auch im letzteren Falle war sie der Anlaß zu der teleologischen Umbildung seiner Metaphysik.

Den positiven Vorschlag, den diese Kritik im »Sophistes« hinsichtlich einer Theorie der Ideen als Kräfte macht, finden wir bei Platon nicht weiter verfolgt: er ist erst in der späteren Literatur, bei den Peripatetikern, Stoikern und Neupythagoreern wirksam geworden. Dagegen wird nun kein Zweifel sein, daß wir von dieser Kritik aus die eigenartige Umbildung zu verstehen haben, welche der Denker zum Schluß dem Verhältnis von Idee und Erscheinung gegeben hat.

Die Aufgabe war die, an dem Charakter der Ideen als ewig unveränderlicher, selbst in keiner Weise bewegter oder tätiger Gestalten festzuhalten und in ihnen doch die »Ursachen« des Werdens und der Erscheinungen zu sehen. Auf die einfachste Form gebracht, würde die Frage so lauten: wie kann etwas Ursache sein, ohne selbst sich zu bewegen oder tätig zu sein?

Die Antwort auf diese Frage hat Platon gegeben, – nicht in der scharfgeschliffenen Begriffsform, wie es nach ihm und durch ihn Aristoteles vermochte, aber aus der Tiefe seiner inneren Lebensanschauung und aus den letzten Grundlagen seiner Dialektik. Wenn diese überall das Prinzip inne gehalten hatte, die Vorgänge des erkennenden Bewußtseins mit ihren Gegensätzen und Beziehungen in gegenständliche Wirklichkeiten mit ihren Gegensätzen und Beziehungen umzusetzen, so vollzog Platon dies zum letzten Male an jener Erregung des philosophischen Triebes, worin er den Lebensnerv der dialektischen »Erinnerung« gefunden hatte. Wie in des Menschen Seele bei der Wahrnehmung sinnlicher Dinge jene höchste Liebe entsteht, der Drang nach dem Übersinnlichen, die Sehnsucht, das reine Urbild von neuem zu schauen und ihm im begrifflichen Denken ähnlich zu werden – so muß auch das Sinnending selbst, die körperliche Erscheinung, von demselben Drange nach dem Übersinnlichen erfüllt sein, von der Sehnsucht (ὀρέγεσδαι), die Idee in sich darzustellen und ihr ähnlich zu werden.

Schon im »Symposion« hatte Platon den ganzen Lebensprozeß der sichtbaren Welt auf die Liebe zurückgeführt, diesen Eros aber als die Sehnsucht des Vergänglichen nach dem Unvergänglichen, des Sterblichen nach dem Unsterblichen bestimmt. In hinreißendem Fortschritt geben die Reden dieses glänzendsten aller Dialoge immer tiefere und weitere Auffassungen vom Wesen des Eros, und schon in der schalkhaften Phantasie des Aristophanes bricht der ernste Gedanke hervor, daß in der Liebe die getrennten Stücke der Erscheinungswelt zu der ursprünglichen und höheren Einheit zurückstreben, auf die sie hindeuten. Auf dem Höhepunkt aber enthüllt sich das Geheimnis der Zeugung als der das ganze Weltall durchdringende Trieb, in der endlosen Reihe vergänglicher, sinnlicher Gestalten die ewige Wahrheit der Idee zur Erscheinung zu bringen.

So allein kann die Idee Ursache der Erscheinung sein, ohne daß sie aufhört, Idee zu sein. Sie bleibt in übersinnlicher Reinheit, in unbewegter und unveränderter Hoheit, und doch ist alles Drängen und Treiben der Sinnendinge und ihrer Bewegungen nur durch sie bestimmt. Sie ist das Ziel, auf das alles Geschehen hindrängt und durch das es deshalb bestimmt ist: das »Wesen« ist der Zweck des »Werdens«. Die einzige Form, worin die Idee Ursache der Erscheinungen sein kann, ist die Zweckursache. Die Zweiweltenlehre der Dialektik kann eine erklärende Theorie, eine völlig ausgebildete Philosophie nur werden als – teleologische Weltanschauung.

3. Die Ideen als Zweckursachen.

(Ethik und Physik.)

Was Platon im »Phaidon« von seiner Ideenlehre verlangte, das hat er in den großen konstruktiven und systematischen Dialogen zu leisten gesucht, im »Philebos«, in dem metaphysischen Hauptstück der »Politeia« und im »Timaios«. Sie alle entfalten den Grundgedanken, daß »das gesamte Werden um des gesamten Wesens willen sei«. Der Dualismus der Zweiweltenlehre soll überwunden, die Einheit der Welt wiedergewonnen werden. Während das religiöse Motiv in Platons Denken, wie sich später zeigen wird, jenen Dualismus verschärfte, drängte der philosophische Zug seiner Natur auf die Seite der Versöhnung, in der Richtung, daß auch das wahrnehmbare Universum als erfüllt und beseelt von den Gestalten der unsichtbaren Welt, als ein großer zweckvoller Zusammenhang begriffen werden sollte. So gewann die Ideenlehre eine sachliche Tiefe, die ihr erlaubte, das Menschenleben und die Natur unter ein und demselben Gesichtspunkte zu betrachten und zu verstehen.

Damit hing es nun zunächst zusammen, daß die Welt des Wesens ihre Einheit in der Idee des Guten fand und durch die Art, wie sich ihr die übrigen Ideen unterordneten, selbst schon zu einem teleologischen System wurde. Die Idee des Guten ist, wie sie in der Republik weihevoll geschildert wird, die Sonne in der Welt des Unsichtbaren, der Quell alles Seins und alles Wissens: so wie in der sichtbaren Erdenwelt alles lebt durch die Wärme und erkennbar ist durch das Licht der Sonne, so ist die Idee des Guten in der Wesenswelt die Ursache des Seins und des Erkennens: aber diese Ursache ist nun eben nichts anderes als der Zweck. Denn die Idee des Guten-an-sich hat keinen anderen Inhalt: sie erscheint, wenn die Untersuchung, wie im »Philebos«, von der Betrachtung des menschlichen Willenslebens ausgeht, eben als dessen Ziel; aber alles, was dabei als Inhalt angegeben werden kann, ist nur ein bestimmtes, einzelnes Gut neben andern Gütern. Der Begriff des Guten-an-sich ist lediglich der des absoluten Zwecks, also eine wesentlich formale Bestimmung.

Nur in dieser Verallgemeinerung kann die Idee des Guten auch als bestimmende Macht für die Welt des Werdens angesehen werden. Es ist der Begriff des Weltzwecks, der als Ursache alles Geschehens gedacht wird: und es liegt in der Natur der Sache, daß das »Gute« nicht mehr inhaltlich definiert werden kann; denn es ist kein besonderer Zweck, sondern vielmehr der einheitliche und übergreifende Inbegriff aller Zwecke. Es sei nicht versäumt, auf die Analogie aufmerksam zu machen, welche zwischen diesem Ergebnis und der Konsequenz des S. 91 Anm. erwähnten Versuchs besteht, für die logische Begriffspyramide einen absoluten und einfachen Abschluß in dem allerallgemeinsten Begriffe zu finden.

Dies Verhältnis betont Platon in solchem Grade, daß sich ihm die gesamte Ideenwelt in die Idee des Guten zusammendrängt. Damit wird diese selbst zu einer Einheit, welche dem gesamten »Wesen« (οὐσία) gleichgesetzt und danach schlechtweg als » die Ursache« bezeichnet werden kann (im »Philebos«). Der Weltzweck wird gedacht als das System der Zwecke, die im einzelnen die besonderen Ideen ausmachen, und als eine solche einheitliche Gesamtheit ist das »Wesen« die Ursache des Werdens.

Das teleologische System der Ideenwelt hat Platon ebensowenig ausgeführt wie das logische: aber wir begreifen, daß, wenn er später auf das pythagoreische Zahlensystem verfiel, er das Gute als das Eine oder die Eins bezeichnete, aus der sich zuerst die höhere Vielheit der Ideen und dann die niedere Vielheit der Sinnendinge entwickeln sollte. Das ist wenigstens, wie es scheint, die sicher auf Platon selbst zurückzuführende Absicht der dunklen Untersuchungen, die wir nur aus der Darstellung und der Kritik des Aristoteles kennen und bei der es namentlich zweifelhaft bleibt, welche Stelle den Zahlen im Verhältnis einerseits zu den Ideen und andrerseits zu den Erscheinungen zugewiesen wurde. Jedenfalls lag darin, wenn auch in phantastischer Form, der Entwurf eines großartigen Entwicklungssystems vor, worin das unsichtbare und das sichtbare Universum aus einem einheitlichen Zweckgedanken begriffen werden sollten. Das ist Jahrhunderte später die Aufgabe des Neuplatonismus geworden.

Als absoluter Zweck aber bedeutet das Gute den »Sinn« der Welt und die in ihr waltende Vernunft (νοῦς). Wenn Platon diese weitere Bezeichnung für das Gute (im »Philebos«) einführt, so lehnt er sich dabei gewiß an Anaxagoras an, der ebenfalls den Namen für die Zweckmacht im Universum von der zwecksetzenden Tätigkeit des Menschen hergenommen hatte. Aber in dem einen wie in dem andern Falle muß man sich hüten, dem Ausdruck die Bedeutung zu geben, als sei unter Vernunft dabei ein denkendes Wesen, ein Geist zu verstehen. Bei Platon ist vielmehr die Idee des Guten als Weltvernunft eine absolute Realität, die ihrerseits erst, wie in der »Politeia« ausdrücklich gelehrt wird, »Sein« und »Erkennen« zweckvoll bestimmt und über beide hinausragt. So verlangt es Platons Auffassung; so schwierig auch die Ausführung des Gedankens sein, ja ihm selbst gewesen sein mag.

Mit ähnlicher Vorsicht muß man endlich die Wendung behandeln, durch welche die Idee des Guten als Gott bezeichnet wird. Bei der Bedeutung, die ihr durch die erwähnten Bestimmungen für das gesamte Universum zuerkannt war, wäre das unvermeidlich und dem Sprachgebrauch der Philosophen angemessen gewesen, auch wenn nicht die religiöse Weltanschauung dahinter gestanden hätte, von der Platon persönlich erfüllt war. Gewinnen wir aber so in seiner Philosophie einen immateriellen Monotheismus, so darf dieser doch nicht so aufgefaßt werden, als sei der »Gott« des platonischen Systems eine geistige Persönlichkeit. Einer solchen Vorstellung liegen die wissenschaftlichen Aufgaben, aus denen sich die Merkmale und Beziehungen der Idee des Guten bei Platon ergeben haben, so fern, daß es eine von vornherein schief gestellte Frage ist, wenn man darüber streitet, ob der Philosoph das Prädikat der Persönlichkeit der Gottheit abgesprochen oder zugesprochen habe, ob sein Monotheismus pantheistischer oder theistischer Art gewesen sei. Das sind Unterschiede, die erst das spätere Denken hervorgetrieben hat, als durch die philosophische und die religiöse Entwicklung die Bedeutung der Persönlichkeit in den Vordergrund getreten war.

So bedeuten denn in dieser Phase des teleologischen Idealismus für Platon das Gute, das Eine, die Ursache, die Vernunft und die Gottheit ein und dasselbe. – den absoluten Weltzweck. Es ist das wichtigste Lehrstück aller Wissenschaft (μέγιστον μάϑημα), und nur seine Bezeichnung wechselt nach den verschiedenen Gegenständen und Problemen, auf die es angewendet wird.

Wenn danach der »Philebos« in großen Zügen die teleologische Weltanschauung entwirft, so erhält sie ihre besondere Färbung durch die Hinzunahme des mathematischen Moments. Hatte dies schon früh auf die Dialektik Einfluß geübt, so gewinnt es hier metaphysische Bedeutung, indem es unter eleatische und pythagoreische Gesichtspunkte gerückt wird.

Die Idee des Guten ist die Zweckursache der Erscheinungswelt, diese aber ist eine »Mischung« aus dem » Unbegrenzten« und der » Begrenzung« (ἄπειρον und πέρας) Dabei wird unter dem »Unbegrenzten« das Nichtsein der Eleaten (μὴ ὅν – der leere Raum verstanden. Er ist eine Voraussetzung der Sinnen weit, er ist, wie es im »Timaios« genauer bezeichnet wird Im »Philebos« sind die Ausdrücke »Unbegrenzt« und »Begrenzung« in solcher Allgemeinheit gebraucht, daß sie auch auf Anderes als auf den Raum und die Figuren angewendet werden könnten. In Platons Schriften ist das nicht geschehen, wohl aber, wie es scheint, in der späteren Zahlenspekulation. Denn bei dieser ist von einem »Unbegrenzten« und einer »Begrenzung« auch in der Ideenwelt die Rede gewesen. Nach solchen Beziehungen kann man etwa eine Vorstellung davon gewinnen, wie die Zahlen zwischen Ideen und Raumformen als ein vermittelndes Prinzip eingeschoben werden sollten., »das worin etwas geschieht« oder »das Aufnehmende« oder »die Bildsamkeit«, die alle Gestalten annehmen kann und selbst keine besitzt. Ihm gegenüber bedeutet die »Grenze« nichts anderes als die geometrischen und stereometrischen Figuren, und der Sinn der Lehre ist also der: die Körperwelt ist geformter Raum, und ihre Formung geschieht durch die Ideen als Zweckursachen. Das Wesenhafte in der Sinnenwelt ist das Maß, durch das der Körper zur Erscheinung der übersinnlichen Idee wird. Es bedarf nur des Hinweises darauf, wie nahe diese Auffassung dem innersten Wesen der griechischen Kunst steht.

Hieraus begreift es sich nun, weshalb die platonische Philosophie auch sachlich einen so hohen Wert auf die Mathematik legen mußte: diese ist ja die Lehre vom Maß, von den Zahlen und Formen, durch die der unendliche Raum zu einer Gestaltenwelt und damit zu einem Abbild der Ideen wird. Die mathematischen Gebilde, Zahlen und Figuren sind also das Mittelglied zwischen den Ideen und den wahrnehmbaren Körpern, sie sind wie die ersteren ewig, unentstanden und unvergänglich, und deshalb Gegenstand einer Vernunfterkenntnis; aber sie sind nicht so »rein«, so völlig immateriell wie die Ideen selbst, sie haben als Raumformen etwas Sinnliches, Sichtbares an sich. Darum steht die Mathematik der Dialektik nach, aber sie ist an Wissenswert der Wahrnehmung weit überlegen, welche die einzelnen, wechselnden Körper zu ihrem Gegenstand hat.

Sehr eigenartig wird nun aber die Bedeutung des Raums Das »Unbegrenzte« oder die »Bildsamkeit« ist von der späteren Literatur, einem Ausdruck des Aristoteles zufolge, als Materie (ὅλη) bezeichnet worden. Das ist jedoch völlig unzutreffend, sofern unter Materie, wie es tatsächlich geschieht, eine stoffartige Realität verstanden wird. Deshalb sind ausführliche Untersuchungen nötig gewesen, um zu der Einsicht zu führen, daß das, was Platon selbst als »Bildsamkeit«, was die traditionelle Darstellung seiner Lehre als Materie bezeichnete, in Wahrheit nichts anderes bedeutet als den Raum. Unter diesen Umständen aber ist es besser, den zu Mißverständnissen unvermeidlich Anlaß gebenden Ausdruck »Materie« in die Schilderung der platonischen Metaphysik überhaupt nicht erst einzuführen. in der platonischen Metaphysik. Als das »Unbegrenzte« oder, wie Platon gern sagt, das »Große und Kleine«, das »Mehr und Minder«, ist er völlig unbestimmt, die reine Negation (στέρησις) und deshalb das »Nichtseiende«, das weder durch Wahrnehmung noch durch Denken, d. h. gar nicht erkannt werden kann. Die Vernunft erkennt Ideen und Formen, die Sinne fassen stets schon geformten Raum auf: der Raum selbst, das absolut Formlose, ist (so würde man jetzt sagen) ein Grenzbegriff, der kein Gegenstand des Wissens sein kann. Was uns zu seiner Annahme nötigt, ist die Unvollkommenheit der Sinnendinge, ihre Unangemessenheit zu den Ideen. Diese Unzulänglichkeit kann ihren Grund weder in den Ideen noch in den mathematischen Formen haben – sie kann nur auf dem »Unbegrenzten« beruhen. Deshalb bildet der Raum neben der »Ursache« eine zweite Ursache, die Nebenursache (συναίτιον), und deshalb muß diesem »Nichtseienden« schließlich doch wieder eine Wirklichkeit, ein wirkendes und gegenwirkendes Sein zuerkannt werden. Und während die »Ursache« die Vernunft ist, stellt sich die Nebenursache als Naturnotwendigkeit {ἀνάγϰη) dar.

Das ist nun die letzte Etappe, auf welche bei Platon der Dualismus zurückgeschoben wird: er bedeutet hier, daß für das Zweckmäßige und das Zweckwidrige, für das Gute und das Böse in der Welt zwei verschiedene Ursachen angenommen werden müssen. Mag die Idee noch so sehr von den Erscheinungen nachgebildet werden, – in ihnen steckt noch ein Anderes, Fremdes, das einen anderen Ursprung haben muß. Überall in der Welt des Werdens wirkt neben der ideellen Zweckursache eine »Mitursache«, ein Prinzip der Hemmung und des Widerstandes. Daher gilt im »Timaios« die Welt, obwohl sie zweckvoll zur Nachahmung der Ideen gebildet wird, doch nur als »nach Möglichkeit« gut. Viel zu ernst und tief faßte Platon (das zeigt sich erst recht in seiner Theologie) die Dinge der Erdenwelt auf, als daß er daran gedacht hätte, den Riß, der durch sie geht, den Gegensatz des Vernünftigen und des Notwendigen, des Guten und des Bösen zu vertuschen: dieser Gegensatz hat metaphysische Bedeutung und bedarf zu seiner Erklärung einer metaphysischen Dualität. Nur des Guten Urheber, sagt Platon, kann Gott sein: für das Schlechte muß eine andre Ursache gesucht werden. Und wo er in den »Gesetzen« beweist, daß alles Geschehen in der Welt durch »Seelen« als ursprünglich bewegende Kräfte erklärt werden müsse, folgert er sogleich, daß mindestens zwei Seelen anzunehmen seien, eine gute und eine böse, die eine als die Ursache des Guten, die andere als die des Bösen in der Welt. – Der metaphysische Höhepunkt, der in der Idee des Guten erreicht ist, gestattet nun einen weiten und großartigen Ausblick auf die gesamte empirische Welt, auf das Menschenleben und auf die Natur: und indem beide unter dem Gesichtspunkte betrachtet werden, daß sich in ihnen jenes höchste Gut verwirklicht, geht die platonische Lehre einerseits in die philosophische Ethik, andrerseits in die Naturphilosophie über.

Die Darstellung jener metaphysischen Lehre erscheint in der Komposition des »Philebos« als eine Voruntersuchung, nach der die Grundfrage des Dialogs entschieden werden soll: was ist das Gute, das Ziel des Menschenlebens? Von vornherein nimmt dabei Platon seine Stellung über den gegensätzlichen Antworten, welche diese Frage vor ihm gefunden hat. Er lehnt die Lehre (des Aristipp), daß die Lust das Gute sei, ebenso ab wie die, welche das Gute nur in der Einsicht (φρόνησις) suchte, wie es Sokrates, Antisthenes und Demokrit, freilich mit verschiedener Färbung getan hatten). Der Besitz des höchsten Gutes muß glücklich machen, und das tut weder die Lust allein noch die Einsicht allein. Dazu kommt, daß Lust und Einsicht beide Gattungsbegriffe sind, die je eine Mannigfaltigkeit verschiedener und verschiedenwertiger Zustände unter sich haben. So läßt sich von vornherein übersehen, daß die Frage nach dem Inhalt des höchsten Gutes für den Menschen keine einfache Antwort finden, sondern auf ein System der Güter führen wird, die auf der Beziehung des Menschen zu den verschiedenen Wertschichten der Wirklichkeit beruhen muß. Maßgebend wird dabei in letzter Instanz freilich immer die Teilnahme an der Idee des Guten sein, aber auch alles dasjenige wird zu einem Gut für den Menschen werden, was selber an dieser Idee irgendwie seinen Anteil hat und sie zu verwirklichen geeignet ist.

Die Durchführung dieses Gedankens, schon im »Symposion« angelegt und im »Philebos« mit feinsinnigster Durcharbeitung eines reichen Stoffs erörtert, entwickelt sich in glücklichster Weise an der Idee der Schönheit. Ihr inniger Zusammenhang mit der des Guten war in dem Begriffe der ϰαλοϰἀγαϑία gegeben, den Sokrates aus der Lebensauffassung der athenischen Gesellschaft aufgenommen, vertieft und verfeinert hatte. Dazu kam, daß der »philosophische Trieb«, der für Platon eine zugleich ethische und intellektuelle Erregung, Sehnsucht, Gestaltung und Erzeugung bedeutete, als Eros am Schönen sich entzünden und auf das Schöne gerichtet sein sollte. So galt, obwohl es in Begriffen nie von Platon wörtlich ausgesprochen worden ist, doch das Schöne als die vornehmste Form der Erscheinung des Guten in der Sinnenwelt. Der Glanz des Schönen ist es, der zuerst und am mächtigsten die Seele zum Staunen, zur Sehnsucht, zur Besinnung auf die übersinnliche Idee erregt. Das Schöne ist das wertvollste und wirksamste Bindeglied zwischen der unsichtbaren und der sichtbaren Welt, der Ariadnefaden, der die irrende Seele aus der Verworrenheit der körperlichen Gestalten hinaus- und emporleitet in die reine Höhe der Wesenswelt.

In diesem Sinne hatte schon das »Symposion« den Siegeszug der »Liebe« aus der Sinnenwelt in das übersinnliche Reich geschildert. An schönen Gestalten der Körperwelt entzündet sie sich; aber sie sucht dahinter, wenn sie die rechte Liebe ist, die Schönheit der Seelen, die sich in Werken der Sittlichkeit, der Kunst und Wissenschaft, in Erziehung und politischer Tätigkeit entfaltet: von da aber wendet sie sich der ganzen belebten Welt zu und sucht die Spuren der Schönheit in aller Gestaltung der irdischen Wirklichkeit und in der Vollkommenheit des Sternenhimmels, – um so schließlich zu jener reinen Schönheit aufzusteigen, die in der übersinnlichen Welt ihre Heimat hat.

Eine ähnliche Verschmelzung des ästhetischen Wohlgefallens mit dem ethischen zeigt nun die Reihenfolge der Güter im »Philebos«. Die gemeine Sinnenlust zunächst wird ausgeschlossen. Sie erwächst aus Begierden und erzeugt Begierden; je heftiger sie ist, um so weniger gibt sie dem Menschen ein beständiges Glück. Vielleicht ist es ein Gedanke Demokrits, den Platon verfolgt, wenn er ausführt, daß ebenso wie die sinnliche Wahrnehmung nur eine scheinbare, keine wahre Wirklichkeit erfaßt, so auch die Sinnenlust nur ein scheinbares, kein wahres Glück gewährt. Andrerseits scheint es gegen Demokrit gerichtet, wenn Platon es ablehnt, in der bloßen Ruhe, in der Indifferenz und Schmerzlosigkeit ein Gut anzuerkennen: denn alles Gute muß das positive Gefühl des Wohlgefallens an sich tragen.

Ein solches nun zeigt sich ohne Verstrickung in die sinnliche Gemeinheit zuerst noch innerhalb der Sinnlichkeit selbst bei dem reinen, begierdelosen und deshalb auch schmerzlosen Wohlgefallen an schönen Empfindungen, bei Farben, Tönen und Formen: es sind die physiologischen Elemente des ästhetischen Genusses, die Platon dabei im Auge hat. Sodann gehört zu den Gütern alles was den Menschen befähigt, sich in der Sinnenwelt zu orientieren, sein empirisches Wissen und Vermögen, seine »richtigen Vorstellungen« und technischen Fertigkeiten. Daran soll sich drittens die vernünftige Einsicht schließen, jene φρόνησις, die über das alltägliche Kennen und Können hinaus zum Bewußtsein der Gründe fortschreitet und sich darüber Rechenschaft zu geben weiß. Höher noch steht die harmonische Lebensgestaltung, das Durchdringen der irdischen Existenz mit dem Inhalt des Wesens und des Maßes: und das höchste endlich ist die Teilnahme an diesem ewigen Wesen, an der Idee des Guten selbst. So ist das Ideal des Menschendaseins in Schönheit, Maß und Wahrheit beschlossen.

Das ist Platons philosophische Ethik, – eins der echtesten und kostbarsten Erzeugnisse des griechischen Geistes. Sie strahlt jene Durchleuchtung des Sinnenlebens durch die Ideale der Schönheit und der Wahrheit aus, die in aller Dichtung und bildenden Kunst der Hellenen zu uns redet – sie ist gebunden unter das Maß und erfüllt von Harmonie. Deshalb hat Platon hier in voller Reife und auf der Höhe seines metaphysischen Denkens das Menschensein in reineren und lichteren Farben gesehen als in der theologischen Ethik, die er durch die Zweiweltenlehre zu begründen versucht hatte (vgl. unten cap. 5).

Zum Erwerb solcher Güter in ihrer aufsteigenden Reihe soll die rechte Erziehung den Menschen heranbilden: daher entspricht ihr auch im wesentlichen der Gang der Erziehung, den Platon von der rechten Staatsleitung in der »Politeia« und mit geringen Modifikationen auch in den »Gesetzen« verlangt hat. Das Erste ist die Gymnastik, die Ausbildung des Leibes, deren Aufgabe es ist, seine Schönheit zu pflegen, herzustellen und zu erhalten und ihn zum gefügigen Organ der Seele zu machen. Daran schließt sich die »musische« Ausbildung, die Schulung der Seele von den elementaren Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens zur Beschäftigung mit der Dichtung und vor allem mit der Musik Die auffallende Bevorzugung, welche dabei die Musik vor der Dichtung erfährt, ist offenbar in dem Wettstreit begründet, den bei den Griechen Dichtung und Wissenschaft um die intellektuelle Herrschaft führten (vgl. unten Ende des VI. Kap.): eine solche Rivalität hatte die Philosophie von der Musik nicht zu befürchten.: ihr Ziel soll es sein, die Liebe zur Schönheit in die Seele zu pflanzen als den Keim alles höheren Lebens. Das Dritte, wozu schon nur die Befähigteren gelangen, ist die Beschäftigung mit den Wissenschaften des Maßes, den mathematischen, worin die Einbildung der Ideen in das sinnliche Dasein betrachtet wird, der Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und musikalischen Theorie. Das ist die Vorbereitung zu dem höchsten Wissen, der Dialektik, die ihre Betrachtung auf die Idee des Guten selbst richtet. Sie bleibt in der »Politeia« nur den auserwählten Herrschern vorbehalten, während die »Gesetze« fast ganz darauf verzichten. Der Grundgedanke dieser Pädagogik bleibt der, den Menschen vom Sinnlichen durch die Schönheit bis an die Schwelle der unsichtbaren Welt und womöglich in sie hinein zu leiten.

Charakteristisch für diese ausgleichende, harmonisierende Stimmung des greisen Philosophen ist es auch, wie in den spätesten Teilen der »Politeia« und noch mehr in den »Gesetzen« der relative Wert der »richtigen Meinung« und der darauf beruhenden gewöhnlichen Tugend anerkannt wird: sie gelten nicht nur als das, womit es bei der großen Masse der Menschen immer sein Bewenden haben muß, sondern auch für den zu Höherem Bestimmten als notwendige und unerläßliche Vorbereitung auf das dialektische Wissen und die darin begründete philosophische Tugend: aus den Gegensätzen sind Entwicklungsstufen geworden.

Dies aber hängt mit der Art und Weise zusammen, in der Platon den Staat und das ganze menschliche Gemeinleben als eine Verwirklichung der Idee des Guten betrachten wollte; jedoch schlingen sich um die Ausführung dieser Gedanken so viel andere Motive, daß sie eine Darstellung für sich allein verlangt (cap. 6). –

Den andern Flügel des metaphysischen Lehrgebäudes bildet die Naturphilosophie, welche zeigen soll, wie das physische Universum durch die Idee als Zweckursache bestimmt ist. Sie ist im »Timaios« dargestellt, und Platon legt Gewicht darauf, daß, weil es sich hier um die Welt als Werden handelt, die ganze Untersuchung nicht auf begriffliche Gewißheit Anspruch habe, sondern sich mit der Wahrscheinlichkeit von Ansichten (εἰϰότες μῦϑοι) bescheiden müsse. Trotzdem fühlt man heraus, wie wertvoll für seine persönliche Weltanschauung gerade diese »Ansichten« gewesen sind; sie werden zum großen Teil sehr feierlich als Glaubensartikel vorgetragen, und nicht nur seine nächste Umgebung, darunter auch Aristoteles, sondern die ganze Philosophie der folgenden Jahrhunderte hat diese Ansichten durchweg als dogmatische Lehrstücke behandelt, ja sogar vielfach darin das Hauptsächlichste der wissenschaftlichen Leistung von Platon gesehen.

Letzteres hat sich daraus ergeben, daß der Philosoph, nachdem er einmal prinzipiell für dies Gebiet die volle Strenge des dialektischen Wissens preisgegeben hatte, um so weniger Bedenken trug, der ganzen Darstellung ein theologisches Gepräge zu geben und seine Naturlehre in der Form einer Schöpfungsgeschichte vorzutragen. Dies macht zum nicht geringen Teile den Reiz des Werks und seine ästhetische Wirkung aus: um so vorsichtiger müssen wir sein, wenn wir zunächst nur den philosophischen Inhalt herausheben wollen, der in der theologischen Einkleidung steckt.

Auch hierin knüpft Platon an ältere Theorien an. Der »Timaios« entwickelt seine prinzipielle Stellung mit deutlicher Anspielung auf den Gegensatz der Weltbildungslehren von Demokrit und Anaxagoras. Von seiner metaphysischen Auffassung her erklärt sich Platon zunächst für die Ansicht, daß die Welt aus dem ungeordneten Urzustände zu ihrer zweckmäßigen Gestaltung durch die »Vernunft« gelangt sei, und er sucht daraus zu folgern, daß ein solches zwecktätiges Prinzip nur die beste, d. h. nur eine, die möglichst vollkommene Welt habe bilden können, so daß die (atomistische) Annahme einer endlosen Vielheit zufällig entstandener Welten ausgeschlossen sei. Und ebenso lehnt er die mechanistische Erklärung in der Überzeugung ab, daß dies eine, einzige Weltall ein in sich harmonisches und zweckmäßiges Lebewesen, ein vollkommener Organismus sei. Mit großer Feierlichkeit wird am Schluß des Werkes dieser Grundgedanke wiederholt, und der Philosoph ist sich offenbar völlig darüber klar, welch ein neues Prinzip er damit in die griechische Naturwissenschaft einführt. In der Tat hat durch ihn und durch seinen großen Schüler Aristoteles die teleologisch-organische Auffassung des sichtbaren Universums für zwei Jahrtausende abendländischer Wissenschaft den Sieg davongetragen.

Die Lebendigkeit aber vermag Platon nur als Beseeltheit zu denken, und so kehrt seine Naturansicht in gewissem Sinne zu den ursprünglichen Volksmeinungen und religiösen Vorstellungen zurück, welche die ionischen Naturphilosophen überwunden hatten. In diesem Sinne ist der »Timaios« ein wesentliches Lehrstück aus Platons Theologie; ja, es ist dasjenige Werk, worin der Denker am meisten seine theologischen und seine philosophischen Gedanken ineinander gearbeitet und zu einer völligen Ausgleichung zusammenzuschmelzen versucht hat. Am deutlichsten ist dies eben am Begriffe der Seele und an der geschickten Verwebung, womit im »Timaios« das allgemeine naturphilosophische Prinzip der Seele in die theologische Vorstellung von der Menschenseele übergeführt wird.

Jenes allgemeine Prinzip nun entwickelt sich folgerichtig aus den metaphysischen Grundlagen des teleologischen Idealismus und trifft mit der populären Vorstellung von Leben und Beseeltheit ungezwungen zusammen. Zwischen dem Sein oder den Ideen und dem Nichtsein oder dem Raum bilden die mathematischen Formen eine Vermittlung in sozusagen statischem Sinne – insofern, als sie die dauernde Art und Weise darstellen, worin der Raum zur Nachahmung der Ideen gestaltet wird: da aber die Körperwelt, worin dies geschieht, das Reich des Entstehens und Vergehens, des ewigen Werdens ist, so bedarf es noch eines dynamischen Zwischengliedes, eines Prinzips der Bewegung, und das ist der alten Vorstellung nach eben die Seele. Sie ist die Ursache der Bewegung, dasjenige, was sich selbst bewegt und damit auch den Leib zu bewegen vermag, sie ist eben damit auch das Prinzip des Lebens.

In dieser Bedeutung als bewegende Kraft oder Lebenskraft ist die Seele selbst ein Bewegliches und Lebendiges und gehört zur Welt als Werden; aber sie ist darin das »Erste«, das Ursprüngliche und das Wertvollste: nicht sie ist aus den Körpern, sondern die Bildung und Bewegung der Körper ist aus ihr zu erklären. Im »Phaidros« kurz berührt, wird diese Lehre im »Phaidon« gegen die materialistische Behauptung, die Seele sei nur ein Zusammenspiel, eine »Harmonie« des Leibes, verteidigt und sodann dem dialektischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele zu Grunde gelegt. In den »Gesetzen« wird sie mit großem Nachdruck gegen den materialistischen Atheismus ins Feld geführt.

Neben dem Merkmal der ursprünglichen Bewegung hat aber der Begriff der Seele schon in der populären Auffassung noch ein anderes: das Bewußtsein. Und der Zusammenhang beider Merkmale ist bei Platon, wie auch sonst in der griechischen Vorstellung, z. B. bei Demokrit, der, daß im Bewußtsein die Bewegung »geschaut«, d. h. innerlich wiederholt und nachgebildet wird. So ist die Erkenntnis in der Seele nur das »Bemerken« ihrer Bewegung. Für diese Verknüpfung spricht aber in Platons Naturlehre auch deren metaphysische Voraussetzung: schon im »Philebos« ist angedeutet, daß die »Vernunft«, die als Gott oder Weltzweck ein objektives Prinzip ist, zur Ursache des Geschehens, zur weltgestaltenden Tätigkeit nur dadurch werden kann, daß sie »Seele« hat, d. h. in Bewußtsein übergeht.

Wenn deshalb im »Timaios« die gesamte sichtbare Welt als ein großes, einheitliches Lebewesen betrachtet werden soll, so kann sie dies Leben nur der Seele verdanken, die das Prinzip zugleich der Bewegung und des Bewußtseins ist: und so verlangt die platonische Naturphilosophie den Begriff einer einheitlichen, das gesamte Universum belebenden, bewegenden und vorstellenden Weltseele.

Die Zwischenstellung, die dieser gebührt, zeigt sich nun in den beiden Momenten, aus denen Platon sie »gemischt« denkt, dem Einfachen und dem Teilbaren, dem Identischen (ταὐτόν) und dem Veränderlichen (ϑάτερον). So ist die Weltseele als »Einheit in der Mannigfaltigkeit« auf der einen Seite mit dem ewig sich gleich bleibenden Wesen der Idee und auf der anderen Seite mit dem steten Wechsel der Erscheinungen verwandt. Deshalb ist in der sichtbaren Welt überall Gleichmäßigkeit mit Veränderlichkeit gepaart. Die Seele teilt der Welt eine gleichförmige und eine veränderliche Bewegung mit, und diesen beiden Bewegungen in ihr entsprechen die zwei Arten des Bewußtseins oder der »Erkenntnis«: das Wissen, das auf das Gleichmäßige, und die Wahrnehmung, die auf das Veränderliche geht. So erfahren schließlich die Prinzipien der Dialektik auch eine naturphilosophische Auswertung.

Bis hierher ist Platons Lehre von der Weltseele begrifflich konsequent und durchsichtig: nun aber gewinnt sie einen phantastischen Anstrich dadurch, daß sie mit jenem anderen Prinzip in Verbindung gesetzt wird, das im »Philebos« zur Vermittlung zwischen der Idee und der Erscheinung eingeführt worden war, der mathematischen »Begrenzung«. Die Weltseele soll nicht nur das Prinzip aller Bewegung und aller Erkenntnis, sie soll auch der Inbegriff der mathematischen Ordnung des Weltalls sein. Die Beschreibung ihrer Bildung, Einteilung und Bewegung wird deshalb im »Timaios« zu dem Entwurf von Platons astronomischer Weltansicht. Die beiden, schief gegeneinander gestellten Kreise, der Äquator und die Ekliptik, sollen dem »Identischen« und dem »Veränderlichen« entsprechen, dem ewig unveränderten Umschwung der Fixsterne und dem wechselnden Umlauf der »Planeten«, Mond, Sonne, Venus, Merkur, Mars, Jupiter, Saturn.

Sieht man dabei von den dunkeln und wunderlichen Konstruktionen ab, wodurch die Verhältnisse im einzelnen bestimmt werden sollen, so ist das platonische Weltbild in den Hauptzügen dies: der Kosmos ist eine Kugel, die alles Wirkliche umfaßt; in der Mitte, fest um die Achse geballt, ruht die Erde ebenfalls als Kugel, um sie bewegen sich in dem einen Kreise die Planeten, in dem andern der Fixsternhimmel Des letzteren Bewegung erfolgt in vierundzwanzig Stunden von Ost nach West; als äußerste Sphäre umspannt er die Kreise der Wandelsterne und nimmt sie in seiner Bewegung mit, während sie zugleich noch ihre eigene Bewegung von West nach Ost ausführen. Hierauf beruhen die Aberrationen, die rückläufigen Bewegungen und ähnliche Erscheinungen der Wandelsterne. Aus solchen Voraussetzungen erwuchs das astronomische Hauptproblem der platonischen Schule: welche einfachen und gleichförmigen Bewegungen man auch für die Wandelsterne annehmen und wie man sie kombiniert denken müsse, um die scheinbaren Unregelmäßigkeiten ihres Umlaufs zu erklären. Es wird sich kaum sicher feststellen lassen, wieweit Platon mit Rücksicht auf diese Aufgabe die im »Timaios« vorgetragene Auffassung später ausgebildet oder modifiziert hat – ob er der Epizyklentheorie näher getreten ist, die zu seiner Zeit Eudoxos aufstellte und die später ihre verwickelte Ausführung durch Kallippos und Aristoteles finden sollte, – oder ob er mehr auf die Erörterungen der Pythagoreer einging, bei denen damals die Vorstellung von der Achsendrehung der Erde auftauchte und schon die Ahnung von der Bewegung um die Sonne sich regte.

Die Gesamtbewegung des Weltalls ist die Zeit, die »mit der Welt geschaffen ist« und durch den Umlauf der Gestirne gemessen wird. Daher könnte eigentlich von einem der Welt vorhergehenden Zustande nicht geredet werden; allein eine genaue Antwort auf die Frage, ob die Welt in der Zeit einen Anfang habe, wird man bei Platon nicht finden, wohl aber die um so energischer betonte Behauptung, daß sie ein »immer lebendes«, unvergängliches Ding sei. In ihrem Umschwung muß daher schließlich immer wieder eine Konstellation eintreten, die einer als anfänglich angenommenen genau gleich ist. Den Zeitraum, der dazu erforderlich ist, bezeichnet Platon als das »volle Weltjahr« und bestimmt es gelegentlich auf 10 000 Erdjahre.

Das Wichtigste in der ganzen Lehre ist die Grundvorstellung, daß alles einzelne Geschehen in der Welt zwecklos durch das Gesamtgeschehen bestimmt ist, und darin besteht die charakteristische Eigenart dieser organischen Weltbetrachtung gegenüber der mechanistischen, welche, wie es am schärfsten in Demokrits Weltbildungslehre zutage getreten war, den Gesamtumschwung eines Weltsystems als das Ergebnis aller der einzelnen Bewegungsantriebe betrachten wollte, die von den zusammengeratenen Atomen mitgebracht würden.

Der Weltseele analog, aber in absteigender Vollkommenheit sind nun die einzelnen Seelen gebildet, die das Lebensprinzip für die einzelnen Organismen darstellen. Die vornehmsten darunter sind die Gestirnseelen, die sichtbaren Götter: sie teilen ihren leuchtenden Leibern, die aus Feuer gebildet sind, nicht nur die vollkommensten Bewegungen im Weltraum, die kreisförmigen, sondern auch die Bewegung um sich selbst mit, und sie sind auch die Träger der höchsten Vernunfterkenntnis. Schwieriger, phantastischer und widerspruchsvoller wird die Darstellung des »Timaios«, wenn sie zu den niederen Seelen der Menschen und Tiere übergeht. Auch diese sollen ursprünglich dem Himmel angehört haben, aus ihm aber auf die Erde verpflanzt und dazu bestimmt sein, nach mancherlei Wandelungen und Wanderungen in jene Heimat zurückzukehren. So vielfach dabei ethische und religiöse Motive mitspielen, so ist doch hervorzuheben, daß dies Schwärmen der Seelen durch die Welt hier, wo es sich um die naturphilosophische Darstellung handelt, in der Hauptsache als eine Ordnung des Ganzen, als ein Weltgesetz, als eine in dem Leben des Kosmos begründete Notwendigkeit erscheint.

In diesem Rahmen werden endlich die besonderen Fragen der Physiologie und der Pathologie behandelt. Platon benutzt sehr eingehend die Kenntnisse und die Theorien der Naturforschung seiner Zeit: als seine Quellen werden wir neben Demokrit die sog. jüngeren Physiologen und die ihnen nahe stehenden Ärzte anzusehen haben. In das Detail können wir ihm hier nicht folgen; es sei nur hervorgehoben, daß namentlich in der Physiologie der Sinnesorgane jene Korrespondenz der Bewegung und der Wahrnehmung entwickelt wird, die in dem Prinzip der Weltseele begründet war, auf diesem Gebiete aber durch Demokrits Zurückführung der qualitativen Differenzen der Wahrnehmung auf quantitative Differenzen der Reize erläutert werden durfte.

Allein die Körperwelt hat außer der »Ursache«, deren zweckmäßige Wirksamkeit durch die Seele als Bewegung und Wissen zur Erscheinung kommt, auch noch die »Mitursache«, den Raum. Er ist die Voraussetzung für die begrenzten Gestalten, die in der Bewegung Zustandekommen und andrerseits ihr Substrat bilden: die Unterschiede zwischen ihnen haben zwar den Sinn und den Zweck, die Ideen zu verwirklichen; sie sind aber in ihren Grundlagen durch das Wesen des Raumes und seine stereometrische Formbarkeit gegeben. Aus diesen Motiven ist Platons Lehre von den Elementen zu verstehen.

Er übernimmt von Empedokles die bekannte, dem populären Bewußtsein bis heute geläufige Vierzahl: Erde, Wasser, Luft und Feuer; aber er sucht sie auf zwei verschiedenen Wegen konstruktiv zu begründen, einmal dialektisch-teleologisch, und das andere Mal geometrisch. Da die Welt wahrnehmbar, d. h. sichtbar und tastbar sein sollte, so bedurfte sie des lichten und des festen Elements, des Feuers und der Erde. Zwischen beiden aber mußte es vermittelnde Übergänge geben, und zwar, da es sich um stereometrische Verhältnisse handelte, zwei mittlere Proportionalen: deshalb verhält sich das Feuer zur Luft wie diese zum Wasser, und wiederum die Luft zum Wasser wie dieses zur Erde. Wenn man in diesen künstlichen Kombinationen nur insofern Sinn finden kann, als dabei etwa an die abgestuften Verhältnisse der Aggregatzustände gedacht wird, so ist die andere Vorstellungsart um so deutlicher. Sie geht auf die pythagoreische Elementenlehre und ihre Benutzung der einfachen, regelmäßigen stereometrischen Figuren zurück. Auch Platon behauptet, die Form des Feuers sei das Tetraeder, die der Luft das Oktaeder, die des Wassers das Ikosaeder, die der Erde der Kubus. Dem fünften unter den regelmäßigen Körpern, dem Dodekaeder, entspricht bei Platon kein Element; bei Philolaos war es der Äther gewesen, den als das Element der siderischen Welt später Aristoteles wieder aufgenommen hat. Dieser Ausschluß des Äthers, bezw. des Dodekaeders hängt damit zusammen, daß Platon nur diejenigen Körper als elementar anerkennen wollte, deren Begrenzungsflächen sich aus rechtwinkligen Dreiecken zusammensetzen lassen, also entweder Quadrate oder gleichseitige Dreiecke sind. Die ersteren bestehen aus (vier resp. zwei) gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecken, die letzteren aus (sechs bezw. zwei) rechtwinkligen Dreiecken, deren Hypotenuse zweimal so groß ist als die kleinere Kathete. Es mag im Sinne der arithmetischen Bedeutung der platonisch-pythagoreischen Geometrie darauf hingewiesen werden, daß im ersteren Falle sich die Kathete zur Hypotenuse wie 1:√2 im zweiten sich die kleinere zur größeren Kathete wie 1:√3 verhält. Platon ging nämlich von der Voraussetzung aus, daß die Körper aus nichts anderem als aus solchen ihren Begrenzungsflächen ähnlichen Flächen bestehen, und so lehrte er, daß die Körper aus Dreiecksflächen zusammengesetzt seien. Deshalb fiel ihm der physikalische Körper mit dem mathematischen zusammen, geradeso wie es in der neueren Philosophie bei Descartes der Fall ist. In beiden Lehren soll danach der wirkliche, wahrnehmbare Körper, der zugleich der Träger der Bewegung ist, seinem wahren Wesen nach nichts anderes sein als ein begrenztes Stück des Raumes. Für Platon war das die unausweichliche Konsequenz der metaphysischen Grundlage, welche er seiner Physik im »Philebos« gegeben hatte. Die Körperwelt ist der zur Nachbildung der Ideen geformte Raum.

An Stelle der Atome also, welche Demokrit als das wahrhaft Seiende (ἐτεῇ ὄν) der Erscheinungswelt zu Grunde gelegt hatte, setzt Platon einfache, unteilbare Dreiecksflächen von bestimmten Größenverhältnissen der Seiten und der Winkel. Die mathematischen Beziehungen sind es, vermöge deren der Raum, das Nichtseiende, die relative Wirklichkeit gewinnt, die er als Körperwelt für die Wahrnehmung besitzt. Der so zusammengesetzte einzelne Körper kann durch die Bewegung in seine Elemente zersetzt werden, so daß diese eine neue Verbindung einzugehen imstande sind, und so erklärt sich Platon die empirische Verwandlung der Elemente ineinander. In solchen Vorgängen entfaltet sich die Naturnotwendigkeit, die »Mitursache« für die Welt des Werdens. Ihre hauptsächliche Bedeutung suchte Platon – und hiermit dürfte er sachlich wiederum Demokrit gefolgt sein – darin, daß jedes der vier Elemente seinen ihm bestimmten Ort in dem geordneten Zusammenhang des Weltalls habe und daß deshalb seine natürliche und notwendige Bewegung durch die Richtung auf diesen Ort bestimmt sei. So erklärte er sich das, was in der populären Auffassung die Richtung der Schwere genannt wird: und damit machte Platon von neuem auch die mechanische Bewegung der Körper von dem lebendigen und einheitlichen Zusammenhange des ganzen Kosmos abhängig.


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