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Es war in Paris seit mehreren Jahren nicht so kalt . . . Zum ersten Male seit vier Jahren gibt es eine ordentliche Eisbahn auf den Seen im Bois und auf dem Teich im Jardin du Luxembourg. Sogar die Seine macht Miene, zuzufrieren – und das Quecksilber im Thermometer fällt. Wenn man nachts durch eine der breiten Avenuen heimwärts schreitet, jagt ein nichtswürdiger, eiskalter Wind heran und packt den Wanderer unangenehm an der Gurgel.
Zusammengekauert, zusammengerollt wie arme frierende Katzen oder mit dem scharfkantigen, ausgemergelten Rücken gegen die Wand gelehnt, sieht man unter den Torbogen, an den Häusermauern, in Erstarrung, im Betäubungsschlaf hindämmernde Gestalten. Sie scheinen zusammengebrochen, auf der Flucht vor dem Winterwind. Mein Gott, man ist nicht überrascht, sie zu sehen, denn man sieht sie in jeder Nacht. Aber bei zwölf Grad Kälte gewinnt das Bild eine so besondere Totentanzstimmung!
84 In Berlin hat man verstanden, daß auch der Nichtsteuerzahler das Recht auf einen Platz am Ofen hat. Man hat die Wärmehallen gegründet – eine ausgezeichnete, vernünftige und praktische Gründung. In Paris ist man noch lange nicht so weit. Bei Tage können die Obdachlosen sehen, wo sie bleiben. Sie stehen frierend und jammervoll vor den Cafés, den Hotels, den Läden, sie drängen sich zu den Öfen in den Omnibuswartehallen, sie treiben sich im Inneren der Bahnhöfe herum, oder im Musée du Louvre, wo sie zu den Bettlerbildern des Höllen-Breughel das traurige Vis-à-vis bilden. Nachts liegen Hunderte und Tausende so unter den Torbogen, in den Winkeln, hinter irgend einer Mauer, die einen kleinen Schutz gegen den Wind bietet. Die städtischen Nachtherbergen können nur einen geringen Teil der Obdachlosen aufnehmen. Die meist von katholischen Vereinen gegründeten privaten Unternehmungen, wie das »Oeuvre de l'Hopitalité de nuit«, genügen noch weniger. Und beim »Père Fradin« in der Rue St. Denis und in ähnlichen »Hotels« kostet der Eintritt zwanzig Centimes. Man hat nicht immer gleich zwanzig Centimes!
In einem sehr hübschen, sehr lesenswerten Buche »Paris« (Leipzig, Dieterich) hat Herr Walter Gensel mit großem Fleiße alles zusammengestellt, was einem Paris-Besucher von Nutzen sein kann. Herr Alfred Sohn, der Sohn des alten Sohn, hat diese Paris-Schilderungen mit künstlerischen Zeichnungen begleitet. In dem Kapitel über »Arme und Bettler« gibt der Verfasser einen kurzen Überblick über das Walten der öffentlichen und privaten Wohltätigkeit in Paris. 85 Er bemerkt, daß die »Assistance publique«, die große Wohltätigkeitsbehörde, die über allen diesen Anstalten und Stiftungen als Verwalterin thront, jährlich durchschnittlich fünfzig Millionen einnimmt und verausgabt, darunter achtzehn Millionen, die sie von der Stadt erhält, drei und eine halbe Million aus der Lustbarkeits- oder Theatersteuer, der Rest aus den Zinsen großer Schenkungen und ihrem Einkommen aus liegendem Besitz. Herr Gensel bemerkt weiter, daß die »Assistance publique« im Jahre 1895 dreimalhunderttausend Frank für Nachtherbergen ausgegeben hat.
Das klingt alles sehr schön, und die »Assistance publique« sieht da wirklich wie eine segenspendende, glückverbreitende Weihnachtsfee aus. In Wahrheit ist sie ein altes habgieriges Weib, das zunächst daran denkt, selber fett zu werden, sich selber zu mästen. Vor zwei Jahren, als die Frage gerade aktuell war – es war wieder einmal eine Familie verhungert – hat Marcel Prévost »Madame l'Assistance« geschildert: »Diese Behörde ohne Ordnung, ohne Kontrolle, ohne Sparsamkeit, die ein so ungeheures Budget verschlingt und so wenig Gutes leistet, macht den Eindruck einer dicken Eiterbeule, die aus dem Jammerbilde von Paris hervorgewachsen ist.« Das ist nicht sehr galant, aber es ist nur gerecht.
Diese »Assistance publique« verfügt über eine Armee von Beamten. Eine ganze Bureaukratie der Wohltätigkeit! Die »unbesoldeten Ehrenämter«, die man in Berlin kennt, existieren hier nicht. Man kann sich denken, welch eine Summe im Jahre für die Gehälter dieser Beamtenschaft draufgeht! Weiter: Die 86 Organisation der »Assistance« ist mehr als mangelhaft. In jedem der zwanzig Pariser Arrondissements gibt es nur ein Bureau. Das ist viel zu wenig – denn namentlich in den ärmeren Arrondissements ist es natürlich unmöglich, daß eine Zentralstelle die Bedürfnisse der Arrondissementsbewohner kennt und dauernd diese dichtgesäte notleidende Bevölkerung überwacht. Was kann ein Berliner Bezirksvorsteher, wenn er nur den Wunsch und das Talent zum Helfen hat, in seinem kleinen Kreise wirken! Die Herren der Pariser Zentralstellen mögen die besten Wünsche und das größte Talent besitzen – sie stehen einer Aufgabe gegenüber, die der eifrigste Philanthrop nicht erfüllen könnte.
Es liest sich sehr schön: »Die ›Assistance publique‹ verausgabt jährlich 300 000 Frank für Nachtherbergen.« Es liest sich sehr schön – sehr beruhigend – aber wenn man des Nachts durch die Pariser Straßen geht, stolpert man beinahe über die armen Teufel, die halb erstarrt auf der Straße sitzen. Und man ist gar nicht mehr beruhigt. Man sagt sich auch, daß solche Zustände absolut nicht nötig sind. Man sagt sich, daß durchaus möglich wäre, allen Obdachlosen im Winter ein Nachtquartier in irgend welchen Hallen oder Baracken zu verschaffen. Gewiß, die Armut ist in Paris viel größer als in Berlin, aber auch der Reichtum ist viel größer. In einer Stadt, wo der in Amerika vergoldete Marquis de Castellane einen »Wohltätigkeitsbazarpalast« für eine Million baut, sollte man auch Wärmehallen bauen können. In einer sentimentalen Regung hat sich neulich der – nebenbei gesagt sozialistische – Gemeinderat mit der Frage beschäftigt. Man hat sehr 87 menschenfreundliche Reden gehalten und schließlich beschlossen, täglich einige Hundert Eintrittsmarken für die privaten Nachtherbergen zu verteilen. Dann ist man zu interessanteren Dingen übergegangen. Von den Leuten, die nachts auf der Straße sitzen, wird nicht mehr gesprochen. Man erträgt nichts so leicht wie die Leiden der anderen.
* * *
Es geht in Paris eine Sage: die Sage, daß zu nächtlicher Stunde, ehe das erste fahle Morgenlicht die Gespenster verscheucht, in der Gegend der Hallen, in den Spelunken und bei den Weinwirten, im »Chat qui pelote« und im »Chien qui fume«, ein fröhliches Prasserleben herrscht – ein ausgelassenes, bizarres Treiben, in dem sich die befrackten Epikuräer der Boulevards und die »starken Männer der Halle« verbrüdern, die Damen der hohen Eleganz und die Frauenzimmer der tiefen Gosse verschwestern. Diese Sage geht in Paris. Eine Sage wie viele andere . . . Ein gutmütiger Nachtschwärmer traktiert in einem Austernrestaurant drei oder vier schläfrige Weibsbilder mit Sekt; eine Gesellschaft von mehr lärmenden als lustigen Soupergästen, die den angebrochenen Abend würdig beschließen wollte, läßt sich im »Rauchenden Hund« von einem armseligen Individuum eintönig sentimentale Lieder singen; das sind die nächtlichen »Orgien« in der Gegend der Hallen. Sehr bescheidene Sinnesfreuden und höchstens Freuden des Stumpfsinns.
Es gibt anderes im Hallenviertel zu sehen. Mit einigen Londoner Freunden, die etwas »nächtliches Paris« genießen wollten, bin ich neulich wieder in das 88 alte »Caveau« hinabgestiegen. Das »Caveau« ist eine Kneipe in der Rue des Innocents, dicht bei den Hallen. Man tritt zuerst in einen Raum, der sich wenig von den Lokalen aller »marchands de vin« unterscheidet. Es ist drei Uhr, und der Raum ist gefüllt. Dicke Marktfrauen, in große wollene Tücher gewickelt, breitschultrige Fleischer in blauen, über den Anzug geworfenen Hemden, Fischhändler in weißen Hemden sitzen an den Tischen und löffeln die warme Suppe aus. In einer Wand sieht man eine Öffnung; hinter der Öffnung führt eine Wendeltreppe in eine ungewisse Tiefe. Die Treppe ist so schmal, daß gerade eine Person mit Mühe und Not sich von Stufe zu Stufe hinunterzwängen kann. Man muß sich bücken, um nicht mit dem Kopf gegen die steinerne Decke zu stoßen. Von unten, aus der Tiefe, kommt etwas wie Gesang.
Wenn man unten angelangt ist, steht man in einem dunstigen, qualmigen Kellerraum. Ein paar rötlich rauchige Wandlaternen beleuchten den Schauplatz. Der Keller ist durch breite vierkantige Pfeiler in mehrere Gewölbe geteilt, und in jedem Gewölbe sitzen an bierbeschmutzten Tischen und manchmal auf den Tischen Individuen beiderlei Geschlechts. Aber man sieht weder die rundlichen Marktfrauen (sie kämen gar nicht durch das Treppenloch) noch die Fleischer und Fischhändler. Die Gesellschaft hier unten ist meist weniger solide. Zuhälter, Frauenzimmer mit auf die Stirn geklebten Ringellöckchen und einige Lastträger aus den Hallen, die hier im Warmen bei einem Glase Bier den Morgen erwarten – denn das »Caveau« bleibt die Nacht hindurch geöffnet.
89 Dicht neben dem Treppenaufgang sitzen zwei Polizisten – schläfrig, halb eingenickt. Ich glaube, daß man auch ohne sie nur wenig zu befürchten hätte. Der Fremde wird in diesen Lokalen gewöhnlich zwar mißtrauisch, aber doch respektvoll angesehen. Allerdings – wenn die Sache einmal schief ginge – – das Entrinnen aus der Höhle des Polyphem wäre ein Kinderspiel gegen das Entrinnen aus diesem Kellerloch!
Ein Droschkenkutscher, der seine Jacke ausgezogen hat, steigt auf einen Stuhl und singt Lieder. Erst einige Lieder von Liebe und Untreue und dann einige patriotische. Ein Lied, in dem die Verbrüderung mit Rußland gefeiert wird. Und die ganze Kellergesellschaft brüllt den Refrain nach. Die, die kein Bett haben, wärmen sich am Patriotismus!
Durch die frierende Nacht gingen wir nach der nahen Rue St. Denis. Ich fragte einen Polizisten nach der Herberge des Vater Fradin. Zufrieden, eine kleine Zerstreuung zu haben und sich Bewegung machen zu können, kam er mit. Als wir vor einem hohen, dunklen Hause standen, pochte er mit der Faust gegen die hölzerne Tür. Ein wütendes Hundegebell, dann eine Stimme hinter der Tür: »Wer da?« – »Ein paar Herren, die Ihre Herberge sehen wollen. Halten Sie Ihren Hund fest!«
Ich habe früher andere, ähnliche Pariser Nachtherbergen besucht. Die größte von ihnen, das »Château Rouge«, ist inzwischen verschwunden. Sie gleichen einander – sie sind alle gleich schauerlich – es herrscht in allen das gleiche Elend, in allen der gleiche penetrante Armutsgeruch. Bei Fradin dürfen nur Männer übernachten. Sie sitzen, eng aneinander gedrängt, auf 90 den Bänken, den Kopf auf die Tischplatte gelegt, oder sie liegen auf dem Boden oder auf den Kellerstufen – denn die Herberge besteht aus einem »Rez de Chaussée« und mehreren Kellern. Sie zahlen zwanzig Centimes Eintrittsgeld und zwanzig Centimes für eine Suppe. Diese Preise sind mehr als zu hoch.
Auf dem Rückwege erzählte mir der freundliche Polizist, daß der Vater Fradin in einem Bretterschuppen dicht bei den Hallen angefangen. Er ist allmählich ein so reicher Mann geworden, daß er das Haus in der Rue St. Denis hat kaufen können. Nächstens wird er seine sehr hübsche Tochter verheiraten – sie bekommt, sagte der Polizist, hunderttausend Frank Mitgift und später das Doppelte.
Es war noch keine von den allerkältesten Nächten. Immerhin, es wehte ein hübscher Winterwind. Überall auf der Straße lungerten die Ärmsten der Armen – die, welche weder ins »Caveau« noch zum Vater Fradin gehen können. Auf dem Damm längs den gigantischen dunklen Hallen hielten die mit Bergen von Gemüse beladenen Marktwagen. Sie hielten in endlosen Zügen in allen Straßen, die zu den Hallen führten. Auf dem Bürgersteig waren in großen Bataillonen die grünen, weißen und blauroten Kohlköpfe aufgereiht. Die »Starken der Halle« – breitschultrige Männer mit malerischen roten Zipfelmützen – luden immer neue frisch duftende Waren ab. Neben einem Kohlenbecken verzehrten die Händler eine Zwiebelsuppe, die ein Koch aus einem großen Kessel schöpfte. Die Wagen der Fischhändler, der Fleischer kamen heran. Ein Auktionator versteigerte in einem Kreise schlecht gelaunter, noch 91 schlaftrunkener Schankwirtinnen Körbe voll Champignons.
Und es war ein fataler Kontrast – all diese hungrigen armen Teufel, die aus dem Dunkel der Nacht herüberguckten, und diese ungeheure Fülle von Eßwaren. Der ironische Zufall will, daß nirgends in Paris so viel gehungert wird wie gerade in dem Viertel, wo es am meisten zu essen gibt. 92