Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Die Menagerie

(August 1906)

Man beginge eine leichte Übertreibung, wenn man behaupten wollte, daß »kein Mensch« mehr in Paris sei. In den Champs Elysées fahren noch immer Equipagen, in den Boisrestaurants erscheint zur Erbauung der Hundstagsengländer und der Sommersachsen noch bisweilen eine lebendige Demimondaine, und beinahe, wie in der Saison, haben noch gestern drei herrschaftliche Automobile drei Unglücksfälle verursacht. Beruf, Liebe und andere Geschäftsrücksichten haben diesen und jenen in Paris zurückgehalten, aber die meisten Mitglieder der besitzenden Klassen weilen doch seit langem in reineren Lüften. Sie stärken ihre Glieder und ihre Nerven im Salzwasser oder auf den Bergen, leben, obwohl sie keine Strandburgen bauen und Bridge statt Skat spielen, ungefähr wie unsre Sommerfrischler und huldigen jenem schönen Müßiggang, jener »oisiveté du sage«, die La Bruyère als die edelste Arbeit gefeiert.

Es gibt neben diesen friedlichen Genüßlingen eine besondere Abart von Erholungsbedürftigen, eine Abart, die wirklich aus dem Müßiggang eine Arbeit zu machen sucht. Jene Erben eines stolzen Namens oder eines großen Vermögens, jene in Paris vermählten Amerikanerinnen und jene vom Papst geadelten Dampfnudelfabrikanten, die zur Pariser »Gesellschaft« gerechnet werden wollen, finden selbst in den heißesten Sommermonaten nicht die wohlverdiente Ruhe. Die drei führenden Blätter der eleganten Welt, der »Figaro«, 208 der »New-York Herald« und der »Gaulois«, erzählen täglich auf langen Spalten von den Fahrten und Festen ihrer bevorzugten Kundschaft, und so nimmt man aus respektvoller Ferne an den Vergnügungen all dieser Beneidenswerten teil. Man sieht, wie unermüdliche Leute im Automobil von Schloß zu Schloß jagen, heute in der Vendée bei ihren Freunden Tennis spielen und morgen an der Loire bei anderen Freunden dinieren, und wie die Jachtmen, die Klubmen und andere Gentlemen mit liebenswürdiger Grazie hin und her hüpfen. In dem koketten, blumenumgürteten Dinard auf der bretonischen Küste tanzen das amerikanische Geld und der französische Adel allnächtlich bis zum frühen Morgen, und auf der normannischen Küste, in Trouville, Deauville, Cabourg und Houlgate herrscht ein ewiger Rausch. Man erfährt, wie die Baronin Henri de Rothschild, die Baronin de Neufville und ähnliche Damen morgens, mittags und abends gekleidet sind, und wer am Golf, am Taubenschießen und am Kotillon teilgenommen. Und man empfindet in seiner stillen Ecke eine unsagbare Hochachtung vor soviel unverwüstlicher Ausdauer und vor einer so großen, durch keines Gedankens Blässe angekränkelten Lebenskraft.

Eine der Straßen, die in Trouville durch den Ort zum Strande führen, heißt »Rue de Paris«. Ein Chronist, der im »Echo de Paris« den Gesellschaftstratsch mit Hingebung auszubreiten pflegt, widmet in seiner gestrigen Chronik dieser Straße schwärmerische Zeilen. »Man könnte«, sagt er, »Bände über den Zauber schreiben, den in Trouville dieser Name: die »Rue de Paris« ausübt. Wenn die Muselmänner von Mekka, 209 die Poeten von Damaskus oder die Mystiker vom heiligen Lande sprechen, tun sie es nicht mit strahlenderen Blicken und in wärmeren Tönen, als wenn die Pariser Badegäste auf der normannischen Küste die ›Rue de Paris‹ erwähnen.« Der Uneingeweihte könnte durch diese schwungvollen Worte zu dem Glauben verführt werden, daß die »Rue de Paris« eine glänzende Prachtavenue sei, eine Prachtavenue mit Hotelpalästen, mit Cafés und überraschenden Läden. Aber die »Rue de Paris« ist nur eine enge Straße von sehr unscheinbarem und unmodernem Äußeren: sie ist eng und unscheinbar wie jene wandernden Menagerien, in denen so oft die königlichen Löwen gezeigt werden.

Die »Rue de Paris« in Trouville ist die Menagerie, in der sich die Löwen und die Löwinnen der Mode zwischen allerlei geringeren Geschöpfen produzieren. Diese Helden und Heldinnen der Gesellschaft meiden den Strand, auf dem der Seewind den Frisuren gefährlich wird, und sie meiden das Bad, wo sie ihre distinguierten, aber oft schon etwas schadhaften Gestalten den frivolen Blicken der Menge enthüllen müßten. Ihr Luftbedürfnis ist befriedigt, wenn sie in der »Rue de Paris« zwischen einer Hotelküche und einer Konditorei auf und ab wandeln, und sie finden den Salzgeruch erst schön, wenn er mit den Parfüms von Pinand und Léoty gemischt ist. Sie stehen oder promenieren in der Straße, tauschen Grüße und Blicke und heucheln Geist und Erhabenheit. Wenn man sie aus der Ferne sieht, könnte man meinen, daß ihr Witz wie Feuerwerksraketen hervorprasselt. Wenn man näher kommt, erkennt man, daß sie vom Wetter, vom Essen und von Spielverlusten sprechen.

210 Eine ganz besondere Stellung in dieser Gesellschaftsmenagerie nehmen die sogenannten Pariser Persönlichkeiten ein. Es ist nicht leicht zu sagen, wer eine Pariser Persönlichkeit ist, und es ist noch schwerer, zu erklären, wodurch man eine Pariser Persönlichkeit wird. Die scharfsinnigen Gelehrten, die ernst schaffenden Künstler, die großen Bankdirektoren und die politischen Führer sind keine Pariser Persönlichkeiten, aber der verschimmelte Hanswurst Rochefort, der schön-geistige Vicomte de Montesquion und der blankgebügelte Katholik Artur Meyer sind so pariserisch wie nur möglich. Man kann eine Pariser Persönlichkeit werden, wenn man zwanzig Jahre lang an keinem Abonnementsabend in der Oper fehlt, oder wenn man täglich im Café Anglais oder bei Voisin frühstückt. Aber niemand kann diesen Titel erwerben, der Besseres zu tun hat, als eine Pariser Persönlichkeit zu sein.

Die »Rue de Paris« ist reich an Leuten, die alljährlich nach Trouville gehen, um auch im Sommer ihren Ruf als Pariser Persönlichkeiten zu konservieren. Der kleine Karikaturenzeichner Sem, ein pfiffiger Naturbursche, der sich frühzeitig ausgezeichnet, und der Maler Boldini, der sich längst schon ausgemalt, spielen dort die Rolle der satirischen Lästermäuler. »Eine der berühmtesten Gruppen in der ›Rue de Paris‹«, schreibt der entzückte Chronist im »Echo«, »ist seit fünf Jahren die Gruppe Helleus, Boldinis und Sems. Ihre Ironie ist sprichwörtlich, und wenige Frauen wagen sich ohne Zittern in ihre Nähe.« Man kann diese armen Frauen bedauern, deren lose Reize so schnell zu zittern beginnen, aber die Männer der »berühmten Gruppe« verdienen 211 noch höheres Mitleid. Seit fünf Jahren sind sie in den Augen der Mitwelt die gefürchteten Spötter, die Satiriker der »Rue de Paris«, und wie die Limonadenverkäufer müssen sie nun in jedem Sommer pünktlich an der Ecke stehen und ihre Ironie zusammenbrauen. Vielleicht möchten sie weit lieber in die Einsamkeit flüchten, sich am Strande in den Sand legen oder gar einmal ein Bad nehmen. Sie müssen fürchten, dann weniger beachtet zu werden und ihren Rang als Pariser Persönlichkeiten zu verlieren, und sie opfern der Gesellschaft ihre heimlichen und wahren Wünsche.

Voltaire erzählt von einem indischen Fakir, namens Bababec, der nackt auf einem mit Nägeln gespickten Stuhle saß und deshalb von den Indern sehr geehrt und geachtet wurde. Ein aufgeklärter Menschenfreund, ein gewisser Omri, bewog den Fakir, seinen Nagelsitz zu verlassen und normal und vernünftig gleich allen anderen Menschen zu leben. Bababec wusch sich, benahm sich zwei Wochen lang ganz gescheit und gab zu, daß er hundertmal glücklicher wäre als früher auf seinem Marterstuhl. Aber am fünfzehnten Tage kehrte Bababec reuig zu seinen Nägeln zurück, weil er fand, daß die Inder ihn nicht mehr genügend beachteten. »Er nahm wieder seine Nägel, weil er der Achtung bedurfte.« Die Pariser Gesellschaft oder doch eine gewisse Gattung der Pariser Gesellschaft besteht aus solchen Bababecs. 212

 


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