Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Der letzte Weg des großen Barons

(1906)

Der »große Baron«, wie Edouard Drumont den Baron Alphonse de Rothschild zu nennen pflegte, hat das eine Auge, das ihm nach seinem Jagdunglück geblieben war, zum ewigen Schlummer geschlossen. Er ist achtundsiebzig Jahre alt geworden, und die Ärzte, die immer auf wissenschaftliche Ordnung halten, haben sich auf eine Lungenentzündung geeinigt. Von dem alten 184 Stammhause in der Rue Laffitte aus, in das man seine Leiche gebracht, und ohne Blumen und Redebegleitung hat der große Baron heute jenen Weg angetreten, den niemand, kein Milliardär und kein Hungerleider, zu Fuße zurücklegt. Seine Witwe, sein Sohn, der blasse junge Edouard, und seine Tochter erben das enorme Vermögen; aber was bestehen bleibt, ist nur ein Reichtum, und was zu Ende gegangen ist, ist ein Reich.

Die Mitglieder des Hauses Rothschild sind in Paris kaum zu zählen, und ihre Paläste und ihre Gärten würden, wenn man sie vereinigen wollte, ein ganzes Stadtviertel bedecken. In der Rue Saint-Florentin, in der Avenue du Bois, im Faubourg Saint-Honoré, in der Avenue de Marigny, in der Rue de Monceau und in einem halben Dutzend anderer Straßen residieren Leute, die Rothschild heißen, und die allesamt miteinander verbrüdert, vervettert und verschwägert sind. Aber all diese Rothschilds sind nicht besonders interessant, unterscheiden sich im Grunde nicht von anderen Millionären, und der einzige, der etwas Besonderes schien und gewissermaßen eine Tradition verkörperte, war der Chef der Familie, der große Baron. Ich weiß nicht, ob er so intelligent war, wie behauptet wird, aber er machte wenigstens den Eindruck eines intelligenten Mannes, und das ist schon sehr viel. Er hatte in seinem Auftreten etwas wirklich Vornehmes, nicht die steife englische Vornehmheit, sondern die graziöse französische, und solange er lebte, konnte man von der »Dynastie Rothschild« sprechen, während man jetzt nur eine »Familie Rothschild« kennen wird. Er wirkte auf dem riesigen goldenen Postament nicht zu klein, und er 185 war nicht wie jene Bilder, die man nur mit Erstaunen in einen kostbaren Rahmen gespannt sieht.

Er war 1868, nach dem Tode seines Vaters, des Barons James, das Oberhaupt und der eigentliche Leiter des Hauses geworden. Nach dem Kriege trat er an die Spitze des Bankiersyndikats, das die Zahlung der fünf Milliarden garantierte, und er unterschrieb sich mit seinen beiden Brüdern für zwei Milliarden siebenhundert und fünfzig Millionen. Er war der Geldleiher und Bankier der meisten Staaten Europas, der Ratgeber aller französischen Finanzminister, und der Mann, zu dem man in schwierigen Krisen vertrauensvoll hinblickte. Als dann auch das Bankwesen sich mehr und mehr demokratisch organisierte, als die großen Institute mit ihrer Armee von Aktionären den alten Patriarchen den Rang streitig machten, wollte er lieber die Geschäfte seines Hauses einschränken, als an diesem Wettkampfe teilnehmen. Er besaß nicht den Ehrgeiz so vieler bedeutender Bankiers, die überall mit dabei sein müssen, aber er besaß den Ehrgeiz, die Stütze und der Wächter des französischen Kredits zu heißen. Vor vielen Jahren hat Forain zwei kleine Balletteusen gezeichnet, die im Balettfoyer der Oper auf einen Herrn deuten und einander, voll Ehrfurcht und Hoffnung, zuflüstern: »Rothschild!« Und ganz ähnlich, in demselben Tone der Hoffnung, sprach man an der Börse in kritischen Zeiten diesen Namen aus.

Sehr wenige Pariser konnten so sehr als »bekannte Erscheinungen« gelten wie der alte Alphonse Rothschild. Am Vormittag gegen halb elf, wenn er in seinem Palais in der Rue Saint Florentin, dicht am Konkordiaplatz, 186 das einst das Palais Talleyrands gewesen war, mit seinen Beamten und den unvermeidlichen Kunsthändlern konferiert hatte, sah man ihn zu Fuß oder in seinem Wagen auf dem Wege zu dem Bankhause in der Rue Laffitte. Man traf ihn auf den Rennplätzen von Auteuil und Longchamp, auf der Strandpromenade von Trouville, des Abends in den kleinen Theatern, die er den großen vorzog, und bei den Empfängen der Botschafter. Er war Regent der Bank von Frankreich, Präsident der Nordbahn, Mitglied in zehn Klubs und überladen mit Ehrenämtern. Sein spitz geschnittener abstehender Backenbart und die kleine Fliege unter der Unterlippe waren silberweiß, aber sein Gesicht war immer rosig und fast faltenlos, und obwohl er ein Glasauge hatte, war in seinem Ausdruck nichts Starres. Er trug bis zu der Stunde, wo er den Soireefrack anlegte, stets eine lange, künstlerisch geknotete schwarze Krawatte und in dem Knopfloch des schwarzen Rockes eine Rose; seiner ganzen Erscheinung war die leichte, liebenswürdige Eleganz aufgeprägt, die so vielen alten Parisern eigen ist, aber diese leichte Liebenswürdigkeit war bei ihm mit einer wägenden, kaufmännischen Bedachtsamkeit gemischt.

Es wird von ihm erzählt, daß er sehr einfach lebte und sehr anspruchslos war; aber es ist schließlich auch einem Milliardär unmöglich, allabendlich zwölf Gänge zu essen. Richtig ist, daß seine Gattin nie, wie andere Damen ihrer Familie und wie die meisten reichen Pariserinnen, die Attribute ihres Reichtums auf sich herumtrug, und man fand sogar häufig Personen, die über diese Schlichtheit die Nase rümpften. Der große Baron besaß, gemeinsam mit seinen Brüdern, einen 187 Rennstall, aber eigentlich nur pflichtgemäß und ohne inneres Verständnis. Er liebte die Blumen, die er in den Gärten und den vierzig Treibhäusern seines Schlosses Ferrières aufzog, und sammelte mit unermüdlichem Eifer Bilder, Bibelots, alte Möbel und alte Porzellane. In seiner Galerie hängen Bilder von Velasquez, von Rubens, von van Dyck, von allen berühmten Meistern, und zwei Gemälde von Raffael, von denen jedes eine Million gekostet, und seine rosa Sèvresvasen und das Service der Diane de Poitiers gelten als die Perlen seiner Porzellansammlung. Er gab seit zwölf Jahren nur noch selten große Feste, und auch in Ferrières, wo er früher so oft den Prinzen von Wales, den Herzog von Aumale, den Grafen von Paris, den König von Portugal und alle Großfürsten bewirtet, war es still geworden. Er war sehr wohltätig, stiftete noch vor kurzem zehn Millionen für die Erbauung von Arbeiterwohnhäusern, gab bei der Hochzeit seines Sohnes all seinen zahllosen Beamten und den Beamten der Nordbahn ein halbes Jahresgehalt und tat wohl auch im stillen sehr viel Gutes. Es wäre beinahe geschmacklos, wenn man ihn deswegen loben wollte.

Die Rothschilds waren, wie alle großen französischen Bankiers des 19. Jahrhunderts, im Grunde ihres Herzens orléanistisch, aber sie begriffen mit klugem Takt, daß ein Haus wie das ihrige mit den politischen Parteien nur platonische Freundschaften und nicht dauernde Allianzen schließen dürfte. Sie beugten sich immer vor dem »fait accompli«, und auch Alphonse Rothschild verhielt sich trotz seiner Sympathie für die Söhne Louis Philipps politisch neutral. Während der Dreyfus-Affäre haben 188 sowohl die Dreyfusards wie die Anti-Dreyfusards ihn angegriffen: die Dreyfusards, weil er jede Einmischung ablehnte, und die Anti-Dreyfusards, weil er seine Glaubensgenossen nicht von der Kampagne zurückhielt. Mit etwas mehr Berechtigung konnte man bedauern, daß er seinen Einfluß nicht zugunsten der russischen Juden verwertete, und daß er erst in den letzten Jahren der russischen Regierung etwas kühler begegnete. Das war gewiß auch sehr taktvoll, aber für einen so großen Baron doch ein bißchen klein, und es wirkte wie ein unschöner Fleck auf einem Rocke, auf dem sonst kein Stäubchen geduldet wurde.

Der große Baron ist heute vormittag beerdigt worden. Es gab keine Blumen und keine Reden, und das einzige, was den Reichtum des Verstorbenen verriet, waren die vierzehn prachtvoll bespannten Equipagen der Familie mit den florumhüllten, brennenden Laternen und den wehenden Florschleiern an dem Geschirr der Pferde. Der Tote war, wie er es bestimmt hatte, nicht in dem Palais in der Rue Saint-Florentin, sondern in dem alten Stammhause in der Rue Laffitte aufgebahrt, und er zog durch dasselbe Tor hinaus, durch das man seine Eltern hinausgetragen hatte. Er hatte noch auf dem letzten Wege getreu den Spuren seiner Vorfahren folgen wollen, und durch dieses Festhalten an der Tradition, am Glauben und an den Überlieferungen seines Hauses war er, weit mehr als durch seinen Baronstitel, im besten Sinne des Wortes ein Aristokrat. Ich glaube, daß er dadurch auch, trotz seiner Milliardenmacht, den Parisern so sympathisch geworden, und daß die unübersehbare Menge, die heute unter der blendenden 189 Frühlingssonne seine Leiche begleitete oder sie am Wege grüßte, weit weniger den Besitzer eines großen Vermögens ehren wollte, als den vornehmen Hüter einer großen Tradition.

 


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