Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Bal Tabarin

Die meisten der alten, berühmten Ballokale sind seit Jahren verschwunden, selbst das elende »Moulin Rouge« ist tot, nur der »Bal Bullier« im Quartier Latin hat noch seinen besonderen Charakter gewahrt, und wer sonst Pariser Ballhäuser sehen will, muß sich unter die Vorstadtflöhe und die Messerhelden hinauswagen und kommt in jedem Falle gestochen nach Hause. Unternehmende Leute haben dem Mangel jetzt abhelfen wollen, und so ist der »Bal Tabarin« entstanden, der dicht an der Rue Pigalle seine Pforten aufgetan hat und einstweilen sehr beliebt ist. Im Laufe des Winters hat dort eine Anzahl Schönheitskonkurrenzen stattgefunden, Schönheitskonkurrenzen en détail, bei denen es sich abwechselnd um das längste Haar, um den kleinsten Fuß und um andere Zierobjekte handelte. Angeblich war ein »Concours des mollets«, eine Wadenkonkurrenz, sehr heiter, bei der die Bewerberinnen hinter eine Wand traten und nur das betreffende konkurrierende Stück durch eine Öffnung herausreichten, etwa wie der Hänsel im Märchen der Hexe seinen Finger herausstreckt. Die Zuschauer musterten so mit einem Blick und ganz mühelos die untersten Schichten der Bevölkerung.

Ich habe dieser Wadenkonkurrenz nicht beigewohnt, aber ich habe das Vergnügen gehabt, ein Fest zu sehen, das »Grande fête des rosières« hieß, und bei dem es sich nicht mehr um Einzelheiten, sondern gewissermaßen ums Ganze drehte. Der »Bal Tabarin« ist ein kleiner, bunt und grell bepinselter Saal mit Estraden für die 176 verzehrenden Gäste, mit Logen im oberen Rang und einem hoch unterm Himmel thronenden Orchester, und ich muß sagen, daß mein erster Eindruck nicht allzu günstig war. Das weibliche Element bestand aus den Überbleibseln des Moulin Rouge, aus Frauenzimmern, die mit Venus nur noch den Beruf gemein hatten, und die Herren, die im Saale die französische Lustigkeit vertraten und Papierserpentinen durch den Raum schnellten, schienen frisch aus Argentinien, den Balkanländern und anderen interessanten Gegenden gelandet. Mitten im Saale tanzten zwölf schläfrige Bacchantinnen mit sehr zweifelhafter Unterwäsche jenen Cancan, der seltsamerweise unsere braven Großväter in eine angeregte Laune versetzte. Und der einzige wirklich vergnügte Mensch war wieder der Prinz Troubetzkoi mit der schlanken Taille und dem ewig schwarzen Backenbart, der Prinz Troubetzkoi, der seit vielen Jahrzehnten der jüngste Attaché der russischen Botschaft ist, allabendlich die Runde durch sämtliche Lustorte macht und bei dem Damenpublikum dieser Stätten eine beneidenswerte Vertrauensstellung einnimmt.

Nach Mitternacht, nach Schluß der Theater, wurde die Sache etwas besser, und gegen ein Uhr ließ die Stimmung nichts mehr zu wünschen übrig. Das eigentliche Fest begann, und auf einem Podium erschien der Maire mit dreifarbiger Schärpe, um nach der bekannten, in den kleinen Städten noch beliebten Sitte die tugendhaften Jungfrauen mit einem Kranze zu krönen. Eine Schar von Mädchen trat vor ihn hin, und der Maire drückte jeder einen Kuß auf die Wangen und einen Kranz auf die Locken, wie die Vorschrift es 177 verlangt. Es war erfreulich, daß die Damen diesen Kranz erhielten, denn wenigstens der Kopf war nun mit einer leichten Bedeckung versehen, wodurch er von allem übrigen vollständig abstach. Für den Rest behalfen sich die Damen mit einem Fetzchen Trikot, und zwei junge Mädchen, die nicht ohne Strümpfe und Schuhe durchs Dasein gehen mochten, prunkten mit diesen beiden Kleidungsstücken. Als die Zeremonie der Krönung vorüber war, stiegen die Damen auf Wagen, die von Dienern rund durch den Saal gezogen wurden, und bei dieser Rundfahrt gewannen sie Fühlung mit dem Publikum.

Es läßt sich nicht andeuten, was alles bei und nach diesem Triumphzuge geschah, und in wie verschiedenartigen Formen und Umrissen das Leben auf den Wagen sich entwickelte. Man kann das Beispiel dieser Damen nicht nachahmen und muß einiges verschleiern und verbergen. Nach der Rundfahrt stiegen die preisgekrönten Mädchen, mit rosa Bademänteln umhüllt, zum Volke nieder, und wie Göttinnen, die sich unter die Sterblichen mischen, nahmen sie leichtbeschwingt am Tanze teil. Eine frohe Zwanglosigkeit herrschte im Saale, und hier und da war im Gewühl auch ein Wesen zu sehen, das durch seine Grazie die ganze Umgebung verschönte. Eine kleine Kreolin, mit einem Gesicht, wie Toulouse-Lautrec es malte, in einem grünen Kleid und mit schwarzem Bolerohütchen, tanzte mit fremdartiger Anmut.

Diese künstlerische Grazie fehlte den meisten, aber die Gerechtigkeit zwingt, zu erklären, daß selbst in spätester Stunde die Ausgelassenheit nie platt ordinär, nie brutal und verletzend wurde. Die französische Sprache sinkt 178 nie zu großer Schmutzerei herab, sie bewahrt selbst in der Gosse einen Rest von Liebenswürdigkeit, und so wirkt auch das Schlimmste noch erträglich. Wie die weiche Sonnenluft, die über Paris liegt, den Dingen die Härte nimmt, mildert eine angeborene, ursprüngliche Heiterkeit fast immer auch das Häßliche, und die viel hundert Jahre alte Gewöhnung an solche Freiheit hat im Verein mit dem leichten Temperament eine naive Harmlosigkeit geschaffen. Bei dem Triumphzug der Jungfrauen stand auf dem letzten Wagen, ganz allein und sehr stolz, eine Eva, ein entschleiertes Bild zu Sais, das der Menge, die erfreut hinterdreinzog, majestätisch die Rückseite zuwandte. Die Menge machte das Bild, das ihr so auf dem Wagen voranschwebte, zur Zielscheibe kindlicher Witze, aber sie wurde nicht unflätig, und man konnte ihr anmerken, daß sie gewohnt war, der Wahrheit beherzt ins Gesicht zu sehen.

 


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