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Reineke Fuchs war für immer vom Hofe des Königs Nobel verbannt. Jedesmal noch hatte er triumphieren dürfen:
»Ich habe mich wieder
In die Gunst des Königs gehoben, ich werde, wie vormals,
Wieder im Rate mich finden, und unserem ganzen Geschlechte
Wird es zur Ehre gedeih'n. Er hat mich zum Kanzler des Reiches
Laut vor allen ernannt . . .«
Diesmal gab es keinen Triumph, keine gnädige Verzeihung mehr. Mit dem Ton und den Manieren eines »schlecht erzogenen Knaben« hatte Wilhelm II. in dem kleinen Schlossgarten an der Spree den Fürsten Bülow entlassen, er hatte, wie er sich später rühmte, »das Luder weggejagt«. Grenzenlos erbittert schied der ehemals »Adorierte« aus dieser Abschiedsaudienz und in vier Memoirenbänden hat, mit einem unbestreitbaren Talent für solche Aufgaben, das Luder sich gerächt. Einstweilen zog der Gestürzte es vor, Groll und Racheplan zu verbergen, eine heiter-weltmännische Gelassenheit zu zeigen und sich das weitere Treiben der Welt und des Nachfolgers mit gemässigtem Wohlwollen anzusehen. Während der zum Reichskanzler beförderte Herr von Bethmann-Hollweg sich in die ihm fremden, auf seinem Tisch aufgespeicherten Akten der äussern Politik vertiefte, promenierte Fürst Bülow mit wenigen treugebliebenen Freunden – die meisten hatten rasch den Uebergang zum neuen Günstling vollzogen – auf dem Strande von Norderney. Lächelnd, witzig, ohne übertriebene Milde besprach er die Eigenschaften und Taten derjenigen, die in Berlin dazu berufen waren, seine etwas schwierige Hinterlassenschaft zu betreuen. Wenn er diesen »guten Bethmann« liebenswürdig, mit ganz leichtem Druck, abgewürgt hatte, deckte er den Kadaver mit Freundschaftsblumen zu. Ich erinnere mich gern an solche Strandspaziergänge und an die zweifach salzige Luft.
Dies war – der Kanzlerwechsel war im Juli geschehen – der Sommer des Jahres neunzehnhundert und neun. Nach einer Unruhe, die nun fast schon unbegreiflich schien, eine friedliche Zeit. Von den Erregungen und Wirkungen der »Daily-Telegraph-Affäre« blieb keine Spur zurück. Ein Reichskanzler hatte dafür büssen müssen, dass er, in einem Augenblick der Verwirrung und sehr behutsam, zur öffentlichen Meinung statt zum Absolutismus gehalten hatte, und sonst änderte sich nichts.
»Geh'n wir nach Hause«, sagen an der Strassenecke in Brüssel der Krämer, der Schneider und die andern Bewunderer des Grafen Egmont, als sie erkennen, dass die königliche Macht nicht durch ein bisschen 16 Lippenaufruhr, nicht wie der Spatz auf dem Felde durch eine Klapper zu erschrecken sei. Jetter, der Schneider, will nichts mehr von den Privilegien hören, die er sich eben noch, angeregt und wissbegierig, von dreisten Gassenrednern erklären liess. Das deutsche Volk hatte keinen Alba zu befürchten, aber nachdem es in den Tagen der »Daily-Telegraph«-Affäre« vergeblich unter den Fenstern der Majestät gepfiffen hatte, ging es, beschämt über die Vergeblichkeit seiner Aufwallung, wieder nach Hause, zum Mittagessen und zur gewohnten Tätigkeit. Die Windstösse der öffentlichen Kritik hatten keinen Stein von seinem Platze fortbewegt. Es war in der Tat kaum möglich, dem Absolutismus stückweise eine Preisgabe seiner Gewalt abzuringen, und solange dieses Regime nicht in einem Erdbeben zusammenbrach, musste es bleiben, wie es war. Es konnte seinen Triumph auf dem Kapitol fortsetzen oder vom tarpejischen Felsen herabstürzen, aber es konnte nicht allmählich auf gangbarem Wege dem Volke der Ebene näher kommen. Niemand war so vermessen, an Revolutionen zu glauben, und niemand verstieg sich zu dem phantastischen Gedanken, auch das Reich der Hohenzollern könnte nicht ewig, könnte dem Gesetz des Vergehens unterworfen sein. Wie die Alten überzeugt waren, dass am Horizont die Erde aufhöre, nichts dahinter mehr liegen könne, so glaubte man in Deutschland, jenseits des Kaisertums könne es nichts geben und der Endpunkt aller Entwicklung, der Endpunkt der Weltgeschichte sei nun erreicht.
Wilhelm II. hatte sich aus der trüben Stimmung, in die er nach der »Daily-Telegraph«-Affäre versunken war, sehr schnell wieder aufgerafft. Die Mahnungen Bülows waren von graziösen Gesten der Verehrung begleitet gewesen, die liberalen Männersprüche im Reichstag brauchten nicht tragisch genommen zu werden und dafür, dass die Kritik der Ernsthaften als unbeträchtliches Wellengekräusel erschien, sorgte bald wieder der wohlerzogene Untertan. Um den Kaiser, der auch sonst nicht lange sich einer Sorge hinzugeben pflegte, durch Abwechslung aufzuheitern, wurde auf Anregung der Kaiserin ein Besuch in Baden arrangiert. Ganz wie sonst begrüsste eine Menge beglückter Bürger den vorüberfahrenden Monarchen und Wilhelm II. konnte, zu seinem Gefolge gewendet, erleichtert sagen, dass er von seinem Volke geliebt werde, und wirklich glauben, nur eine Anzahl Aufwiegler habe künstlich den Lärm erzeugt. Von dem Augenblick an, wo er entschlossen gewesen war, sich von dem Fürsten Bülow, der die Majestät nicht mit voller Hingebung geschützt hatte, zu befreien, hatte Wilhelm II. sich nach dem geeigneten Nachfolger umgesehen. Diesmal sollte es kein Grandseigneur sein, der durch Anspruch auf Unabhängigkeit unbequem werden konnte, und auch kein Diplomat, der das wahre Gesicht hinter lächelnder Maske zu verbergen wusste, sondern ein preussisch geschulter Beamter, ein zuverlässiger, aus gutem Holz geschnitzter Gehilfe, der nichts anderes sein wollte, als der treue Diener seines Herrn.
17 Zwischen dem Fürsten Bülow und dem Hofbeamten oder Generaladjutanten, der ihm die Mitteilung von der Genehmigung seines Entlassungsgesuches überbrachte, hat vielleicht ein Dialog stattgefunden, wie jener, den man aus Shakespeares »Heinrich VIII.« kennt. Cromwell: »Das Schlimmst' und Schwerste bleibt – dass Ihr des Königs Gunst verscherzt.« Wolsey: »Gott segn' ihn.« Cromwell: »Das nächste, dass Sir Thomas More Lord Kanzler – an eurer Statt geworden.« Wolsey: »Etwas plötzlich – doch ein gelehrter Mann.« Und Fürst Bülow könnte dabei seinem Gesicht jenen ernsten Ausdruck gegeben haben, den er gern wählte, wenn er zeigen wollte, nicht sein eigener Fall, sondern die Zukunft seines kaiserlichen Herrn stimme ihn sorgenvoll.
Herr von Bethmann-Hollweg, der seit drei Jahren das Reichsministerium des Innern leitete, hatte wohlwollende Aufmerksamkeit erregt. Er hielt sein Ressort trefflich in Ordnung, besass Geist, und zwar einen konservativen, und hatte, obgleich er nur einer Frankfurter Bankiersfamilie entstammte, dank seiner grossen Gestalt, seinen blauen Augen und seinen etwas eckigen Bewegungen sogar mit den Nibelungen des Hoftheaters eine entfernte Aehnlichkeit. Uebrigens schadete es nichts, dass er zu diesem Bankierhause gehörte, von dessen einem Sprossen schon Heinrich Heine in den »Reisebildern« gesagt hatte: »Bethmann in Frankfurt ist ein grosser Mann.« Ein anderer Bethmann hatte als Minister des Kultus und des Unterrichtes dem König von Preussen treu und fromm gedient und es war nicht übel, dass im Kreise der bürokratischen oder auf dem Gutshof herangewachsenen Minister, die mit der Verwaltung der deutschen Geistesschätze und der materiellen Angelegenheiten betraut wurden, der Chef der Regierung aus einer Familie mit anerkannten Kulturtraditionen kam. Ein besonderer Vorzug aber war es wohl, dass Herr von Bethmann-Hollweg im Irrgarten der auswärtigen Politik einstweilen als ein Fremdling erschien. Denn es hatte sich gezeigt, dass nur Unheil entsteht und auch das ganze Dogma von der Ueberlegenheit des von Gott beauftragten Monarchen in die Brüche geht, wenn ein Kanzler mehr als sein Kaiser verstehen will.
Fürst Bülow erzählt, er habe es für seine Pflicht gehalten, Herrn von Bethmann-Hollweg nach besten Kräften über die Geschäfte und die Probleme der auswärtigen Politik aufzuklären, und berichtet sehr ausführlich, welche Ratschläge er in zwei langen Unterredungen seinem Nachfolger gegeben hat. Er habe ihn vor allem ermahnt, sich nicht durch Oesterreich in einen Krieg mit Russland verstricken zu lassen, und, als Bethmann auf Bülows »kühne« Haltung bei der Annexion Bosniens hingewiesen habe, ihn mit den Worten »ne bis in idem!« vor der Nachahmung gewarnt. Pikiert habe der andere zugehört. Ein »Abgrund von Empfindlichkeit und Selbstüberschätzung« habe sich aufgetan. Wer kann den Argwohn abwehren, dass Fürst Bülow erst sehr viel später, nach dem Kriegsausbruch, zu der Ueberzeugung gelangt ist, er habe dem »guten Theobald« einen so vorzüglichen Rat erteilt? 18 Das »ne bis in idem« ist jedenfalls ein sehr geschickter Einfall, auch wenn das Zitat dem belesenen Fürsten ausnahmsweise erst nachträglich eingefallen ist. Als Bülow am 26. Januar 1909 auf die »Hohenzollern«, im Kieler Hafen, geholt worden war, um die allerhöchste Entschliessung entgegenzunehmen, hatte er geglaubt, dem Kaiser einen Kandidaten für den Kanzlerposten vorschlagen zu können. Er hatte den Fürsten Wedel, Herrn von Schorlemer und Herrn von Rheinbaben empfohlen, aber Wilhelm hatte erwidert, er habe schon Bethmann gewählt. Bülow wollte dann wenigstens einen in der auswärtigen Politik erfahrenen Staatssekretär anbringen, nannte wieder Kandidaten und hielt einen Vortrag über die Weltlage, den der Monarch, ungeduldig, nervös und häufig auf die Armbanduhr blickend – denn er wurde beim Fürsten von Monaco zum Frühstück erwartet – über sich ergehen liess. Schliesslich beendete Wilhelm II. die Sorgen, die der entlassene Reichskanzler sich über die Personenfrage machte, mit der Bemerkung: »Die auswärtige Politik überlassen Sie nur mir!«
Die Meinung Wilhelms II., der neue Paladin werde in der auswärtigen Politik auf eigenen Willen ganz verzichten und als dankbarer Schüler aufmerksam den kaiserlichen Lehren lauschen, stellte sich indessen als ein psychologischer Irrtum heraus. Herr von Bethmann-Hollweg glaubte nicht, Schüler sein zu müssen, und zeigte eine ausgeprägte Neigung, selber auf dem Katheder zu stehen. Wilhelm II., der in seinen »Gestalten und Erinnerungen« sich den Toten gegenüber keinen Zwang auferlegte, hat auch über Herrn von Bethmann-Hollweg ungemein abfällig gesprochen und mit kaiserlicher Geste alle Schuld auf das Grab seines Kanzlers gewälzt. Er stellt »Bethmanns Unzulänglichkeit« als erwiesen hin. Bethmann »machte Fehler über Fehler«, war »im Grunde seines Wesens Pazifist« und »die Realitäten der Politik lagen ihm fern« . . . »Auch mich belehrte er ständig« und hielt selbst nach Enttäuschungen »an seinen Gedankengängen unverrückbar fest.« Man darf wohl bemerken, dass ein Monarch, der sechs Jahre lang, trotz klarer Kenntnis der Sachlage, das Land einem so unfähigen Kanzler ausgeliefert hätte, sehr tadelnswert wäre, und dass gar nicht besser die Notwendigkeit des parlamentarischen Systems bewiesen werden könnte, das eine als unzulänglich erkannte Regierung wenigstens nicht lange Verderben säen lässt. Aber es ist nicht wahr, dass Wilhelm II. Herrn von Bethmann-Hollweg so lange Zeit nur widerwillig ertrug und duldete, und richtig ist nur, dass zwischen ihm und diesem Reichskanzler niemals jener leichte, in Scherz und Ernst wechselnde, intime Verkehr sich entwickelte, den Bülow geschickt herbeizuführen verstand. Man kennt die Geschichte von dem italienischen Koch, der das Ehepaar Bülow angeblich nur nach Berlin begleitet hatte, weil er es »in der Misere« nicht hatte verlassen wollen, und man weiss, wie der Kaiser, amüsiert und neugierig gemacht durch diese Erzählung, sich nun oftmals, »um auch einmal gut zu essen«, von Monsieur Misère und seiner Herrschaft 19 bewirten liess. Das war nur einer der vielen kleinen Einfälle, durch die Bülow, unterstützt von der anmutigen Gattin, seinen Kaiser an sich zu ziehen, an vertrauliche Gespräche in Salonecken zu gewöhnen, in angenehmem Umgang festzuhalten wusste, und diese Einfälle hatte Herr von Bethmann-Hollweg nicht. Herr von Bethmann-Hollweg liebte den Souverän mit einer Mentor-Liebe, und da er infolge seines Körperwuchses auf den kürzer gebauten Monarchen hinuntersehen musste, entstand mitunter der Verdacht, er masse sich die Rolle des Magisters an. Es fehlte ihm durchaus nicht an höfischer Begabung, und ohne Geschmeidigkeit, ohne ein gutes Ohr und feine Witterung konnte ein kaiserlicher Lehnsmann unmöglich bis zur höchsten Stufe emporsteigen, aber die Gabe, in jeder Stunde zu fesseln und niemals lästig zu werden, war ihm versagt. Seine etwas dickflüssige Vortragsweise, die er durch einen leichten Ton oder durch ein Lächeln zu beleben suchte, hatte keinen Reiz für den Kaiser, der ungeduldig mit seinen Gedanken schon anderswo spazieren ging. Herr von Bethmann-Hollweg langweilte manchmal seinen Souverän.
So kam es, dass er weit weniger als sein Vorgänger Gelegenheit hatte, an allerhöchster Stelle seine Wünsche und Ansichten unamtlich und zwanglos vorzubringen. Seine durch vortreffliche Eigenschaften sympathische, aber gedankenschwere Persönlichkeit eignete sich, trotz der entfernten Aehnlichkeit mit den Nibelungen, nicht für ein vertraulich kaiserliches Du. Bei seinem Amtsantritt nannte man Herrn von Bethmann-Hollweg allgemein einen Philosophen, und er nahm diesen ehrenden Titel ohne Widerstreben an. Aus Frankfurt waren vielleicht schon glänzendere philosophische Denker gekommen, aber man brauchte von einem Reichskanzler nicht Schopenhauersche Genialität zu verlangen. Herr von Bethmann-Hollweg ging nicht wie Bülow, tändelnd und manchmal auch sehr absichtsvoll, im Garten des Epikur spazieren, pflückte nicht die feinen und leichten Blüten der Weltliteratur und hatte eine gewisse Vorliebe für jene eigentümlichen Schnörkel, aus denen die Gelehrsamkeit vieler aktenfüllenden Generationen spricht. Wenn er sagen wollte, dass er in der Frage der Wahlrechtsreform sich nicht gebunden fühle, so sagte er, er habe sich nicht vinkuliert. Das, was man wohl für sein philosophisches System hielt, war ebenso alt. Der Staub einiger Jahrtausende lag darauf. Herr von Bethmann-Hollweg glaubte in jener Zeit an die »gottgewollten Abhängigkeiten«, und »gottgewollt« war unter Wilhelm II., wie schon unter Nebukadnezar, unter den Bourbonen und unter den brandenburgischen Kurfürsten, das, was gerade bestand. Die Tyrannen der ältesten Epoche hatten mit den gottgewollten Abhängigkeiten die Völker geprügelt, in Preussen hatte man im Namen dieser nützlichen philosophischen Idee den Kastenstaat aufrechterhalten, und je nach der herrschenden Mode wurden ja immer diejenigen, die sich mit den gottgewollten Abhängigkeiten nicht ganz zufrieden gaben, gekreuzigt, verbrannt, in Festungskerker geworfen 20 oder als Staatsverbrecher zu einem Abscheu für alle ehrbaren Seelen gemacht. Zu jeder Zeit hat selbst der schändlichste Missbrauch der Macht seine Philosophen gefunden und auf Herrn von Bethmann-Hollweg blickten, als er jene Worte sprach, die tausendjährigen Pyramiden der menschlichen Dummheit herab. Nebenbei liebte es Herr von Bethmann-Hollweg, die Ethik als besonderes Spezialgebiet zu behandeln, und seine Reden waren von einer ethischen Auffassung aller Dinge durchtränkt. Als er viel später einmal im Gespräch dieses Wort gebrauchte, vermochte ich nicht das Vergnügen zu verbergen, das eine solche Wendung leicht in unpathetischen Gemütern erzeugt. »Was wollen Sie«, sagte er freundlich und ein wenig ungelenk, »ich habe nun einmal eine Vorliebe dafür.«
Wenn man von den ersten Amtsjahren des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg, seinen Friedensjahren, spricht, muss man, um kein falsches Bild zu geben, mit deutlicher Betonung hinzufügen, dass nach dieser Periode, in der Kriegszeit, sich eine Wandlung begab. Unter der Last des Unglücks und der Sorgen, von mancherlei Gedanken und Zweifeln, auch wohl von ganz geheim nagenden, gepeinigt, im fortwährenden Kampf gegen den miles gloriosus, fühlte Herr von Bethmann-Hollweg fast den Beglückungswillen des Marquis Posa, sehnte sich nach neuen Ideen, nach einem Anschluss an das Volk, nach der Mission des Gerechtigkeitsbringers, und ich bin gewiss nicht der einzige, dem er während des Krieges gesagt hat: »Wir haben in einer Lüge gelebt.« Die Fehler, die er begangen hatte, trieben ihn, obgleich er sie nie eingestehen wollte, zu einer freieren Entwicklung, und hatte er auch, bürokratisch an das Ueberlieferte gebunden, die rettenden und schützenden Eigenschaften eines wirklichen, richtig organisierten Parlamentarismus nie erkannt, so hielt er doch nicht mehr starrsinnig an dem Prinzip der Bevormundung fest. Nun ragte er durch Klarheit des Urteils und Ehrlichkeit des Wollens über die meisten hinaus, die als Stützen des Staates galten und das deutsche Volk auf seinem Schicksalswege so führen wollten, wie es ihnen gefiel. Damals aber, in seiner ersten Periode, hatte er nur ein Achselzucken für moderne Zeitströmungen, Forderungen und Ideen. Deshalb hatten die privilegierten Nutzniesser des Staates in ihm den geeigneten Anwalt ihrer Interessen gesehen und die Aufmerksamkeit des Kaisers auf ihn gelenkt. Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass dieselben Schichten, die später Herrn von Bethmann-Hollweg mit ihrem Hasse verfolgten, ihn ausgesucht und begrüsst hatten, weil er ihren Besitz und ihre Vorrechte verteidigen, ihnen die lästige Erbschaftssteuer fernhalten, durch Vereitelung der preussischen Wahlrechtsreform und durch Verhinderung einer gerechteren Wahlkreiseinteilung ihre Machtstellung schützen sollte, und weil er bereitwillig solche Aufträge übernahm. Musste der Eindruck auf die Bürgermasse nicht günstig sein, wenn ein so gebildeter Mann die hohen und heiligen Grundsätze der Volksentrechtung und der Kastenherrschaft vertrat?
21 Vor seinem Auszug aus dem Reichskanzler-Palais hatte Fürst Bülow sich mit dem neuen Bewohner über die grossen Aufgaben der Stunde unterhalten und Herrn von Bethmann-Hollweg manchen Rat erteilt. Er hatte ihm empfohlen, sich einen möglichst kräftigen, erfahrenen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes zu nehmen, und hatte auch ihm drei geeignete Persönlichkeiten, den Grafen Brockdorff-Rantzau, den Grafen Bernstorff und Herrn von Kiderlen-Wächter genannt. Von Kiderlen hatte er gesagt, dass er ein Durchgeher und ohne feste Zügel nicht ganz ungefährlich sei. Herr von Bethmann-Hollweg begriff, dass er eines mit der diplomatischen Technik vertrauten Helfers bedürfe, und wählte Kiderlen, der allgemein für eine starke Intelligenz gehalten wurde und auf dessen robuster Erscheinung noch ein letzter Abglanz der Bismarckschen Tage lag. Kiderlen, einst der Liebling und Reisebegleiter Wilhelms II., war in der Blüte der Jahre verstossen worden, als die nachspürende Generaladjutanten-Gruppe aus seinen mit Hilfe der Geheimpolizei erbrochenen Briefen hatte beweisen können, dass er sich über den Kaiser und über den Hof lustig gemacht habe und unwürdig der allerhöchsten Freundschaft sei. Mit diesen Intrigen, mit Spioniererei und Briefdiebstahl beschäftigten sich Herren, bei deren stolzem Herannahen der Bürger bewundernd und ehrfurchtsvoll zur Seite trat. Nach der Vertreibung aus dem Paradiese hatte Herr von Kiderlen-Wächter in Bukarest lange auf dem Wartestuhl gesessen, zeitweilig in Konstantinopel den abwesenden Freiherrn von Marschall vertreten und in den Jahren 1908 und 1909, noch unter Bülow, allmählich aus dem Kreise der Verworfenen zum Kreise der erlösten Seelen gelangend, im Auswärtigen Amte provisorisch den Aushilfe-Staatssekretär gespielt. Er war in den Augen des Kaisers noch immer ein untreuer, unzuverlässiger Geselle und als grober Zyniker und unmoralischer Mensch am Damenhofe sehr unbeliebt. Herr von Bethmann-Hollweg setzte trotzdem seine endgültige Berufung durch. Zufrieden, Bülow los zu sein und die Krise hinter sich zu haben, wollte Wilhelm II. seinem neuen Reichskanzler die erste Bitte nicht abschlagen und gab seine Unterschrift. Freiherr von Schön, bisher Staatssekretär, wurde an Stelle des zornig weichenden, verbittert auf sein Gut ziehenden Fürsten Radolin zum Botschafter in Paris gemacht. Er war ein Mann, dem es an Schulterbreite, aber nicht an gesundem Menschenverstand fehlte, und er nahm den neuen Posten, den ihm kaiserliche Gunst auf Kosten eines einst auch verwöhnten, jetzt entwurzelten Lieblings verschaffte, frohlaunig an. Herr von Kiderlen-Wächter hat dann in den Briefen an seine Freundin Hedwig Kypke sehr bald Herrn von Bethmann-Hollweg, seinen Erlöser aus Bann und Balkan, als »Regenwurm« verspottet, ihn »kläglich« genannt und als einen bezeichnet, der immer dabei sei, »wo etwas zu verpfuschen ist«. Diese Briefstellen müssen einen etwas peinlichen Eindruck auch auf diejenigen machen, die es nicht lieben, dass die historische Kritik durch eine unausstehliche Dankbarkeit verwässert wird.
22 Ernst Jäckh, der bewundernde Freund, Biograph und Nachlassherausgeber, versichert, Herr von Kiderlen-Wächter sei »der Staatsmann von grossem Kaliber aus Bismarcks Kreis und Schule« gewesen, und er sei nur leider »zu spät gekommen und zu früh gegangen«. Er habe die von ihm mit wachsender Sorge gefürchtete Katastrophe durch eine »Europäisierung der Politik«, durch das System eines »organisatorischen Pazifismus«, aufhalten wollen, aber er habe sein Werk nicht vollenden können. Nicht allen wird es möglich sein, in den politischen Handlungen des Herrn von Kiderlen-Wächter Versuche zu einer Europäisierung der Politik oder zu einem organisatorischen Pazifismus zu sehen, und auch die Tatsache, dass er ein Programm für deutsch-englische Verständigungsverhandlungen entworfen und Herrn von Tirpitz samt seiner Flotten-Politik herb und richtig beurteilt hat, genügt noch nicht. Dass Herr von Tirpitz unheilvoll sei, hatten auch viele andere erkannt, die nicht in die Galerie der »Staatsmänner von grossem Kaliber« aufgenommen worden sind. Im April 1912 schrieb mir Graf Monts: »Dass Kiderlen der Einzige ist, der sich mit Tirpitz paukt, ist doch ein Ruhmestitel für ihn.« Gewiss, auch von denen, die Bescheid wussten, haben sich nur wenige mit Tirpitz pauken wollen, aber auch Kiderlen hat sich nicht so selbstvergessen gepaukt, wie der Botschafter in London, Graf Wolff-Metternich. Es mag sein, dass mancher die Kiderlenschen Briefspässe, dieses Naturburschentum, diesen hemdärmeligen Humor, diese angeblich demokratische Gemütlichkeit, nicht in ihrer urwüchsigen Schönheit erfassen kann, die witzige Gewohnheit, in einem ernsten politischen Amtsbetrieb jeden Diplomaten und Minister nur mit einem Spitznamen, »Regenwurm«, »Nilpferd«, »Aal«, »Lederzipfel« zu bezeichnen, nicht zu geniessen versteht und so, griesgrämig und voreingenommen, eine Kraftnatur verkennt, die sich auf ihre eigene Weise offenbart. Es mag auch einem pedantischen Vorurteil entspringen, wenn man es eigentümlich findet, dass ein Staatsmann von grossem Kaliber seiner Freundin geheime politische Schriftstücke zur Begutachtung sendet und seinen »süssen lieben Engel« bittet, »ruhig hineinzukorrigieren«, aber es scheint ja, dass in dem alten Ordnungsstaat vieles, was uns verblüfft, gar nicht unnatürlich war.
Uebrigens, Fräulein Kypke, die »Hausdame«, war, wie Friedrich Rosen – als Gastfreund Kiderlens und als sein Nachfolger in der Bukarester Gesandtschaft gut eingeweiht in das Idyll – mit anmutigem Humor berichtet, ziemlich ungebildet, ohne reges Interesse für die politischen Geheimnisse, wohl aber als treffliche Wirtin, Küchenverwalterin und heitere, widerstandsfähige Zechgenossin des falstaffisch trinkfesten Schwaben sehr schätzenswert. Leider konnte sie ihre wirtschaftlichen Vorzüge nur in kleinem Kreise zur Geltung bringen, denn die feinen Diplomatenfrauen und auch die Damen der deutschen Gesandtschaft rümpften die Nase und vermieden nach Möglichkeit den Verkehr in den Kiderlenschen Salons, und da Fräulein Kypke überdies ein wenig 23 anmassend, eitel und herrschsüchtig war und nicht ganz taktvoll einen Ehrenplatz beanspruchte, gab es viel Zank und mancherlei Stoff für die Bukarester chronique scandaleuse.
Geht sonst aus den von Jäckh so liebevoll zusammengestellten Briefen und Berichten des Herrn von Kiderlen das Genie hervor? Ohne Zweifel war Herr von Kiderlen-Wächter ein Mann über dem Durchschnitt, ein ausgezeichneter diplomatischer Techniker, der nach allen Regeln der Kunst eine Verhandlung zu führen wusste, und sowohl das Verhältnis zu England wie die türkischen Dinge beurteilte er mit klarem Verstand und nicht, wie so viele, nach Wünschen und unbeweglich festgenieteten Meinungen, aber manchmal waren seine Meinungen zu beweglich, sein klarer Verstand hatte Finsternistage wie die Sonne, und im allgemeinen waren seine Erfolge doch geringer als die Zufriedenheit, mit der er sie genoss. Er hat den »Kovalier Berchtold« richtig eingeschätzt, hat im September 1912 geschrieben: »Den österreichischen Satelliten im Orient wollen wir nicht machen« und »wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass die Leitung der Politik von Berlin nach Wien übergeht«. Diese Aussprüche und Absichten verdienen das höchste Lob und die Frage ist nur, ob Herr von Kiderlen zur Abwehr der Gefahr die geeigneten Mittel ergriffen hat. Er war keine Bedientenseele, rächte sich für den erlittenen Zwang im Stillen durch gepfefferte Bosheiten, erstarb auch nicht in Demut und schob den schon mitredenden Kronprinzen kühl auf den richtigen Platz. Er hatte eine klare Auffassung von der Anarchie, die in Deutschland hinter der sogenannten Ordnung das eigentliche Regierungssystem war, und wenn er nicht einmal in seinem Auswärtigen Amte reformierend eingriff, so mag das wirklich auf ein Nachlassen seiner Kräfte zurückzuführen sein. Es hatte ihn, den Spötter, den Humoristen, sehr gekränkt, dass ich ihn nach seinem unglücklichen Debut im Reichstag den »Mann mit der gelben Weste« genannt hatte, und so wurden von keiner der beiden Seiten persönliche Beziehungen gesucht. Diese offiziösen Bande werden ja überhaupt nicht von jedem gern angenommen. Wer den Geist des Staatsmannes nicht in der Nähe gespürt hat, ist darauf angewiesen, nur die Taten zu sehen. Und da ergibt sich die Frage, ob die schwäbischen Landsleute des Herrn von Kiderlen-Wächter nicht doch in ähnlicher Weise dem Heimatduft unterlagen, wie jene Südfranzosen, jene Leute der sonnigen Provence, die in Daudets Roman »Numa Roumestan« ihren grossen Mann, ihren gewaltig tönenden Redner, mit Anbetung und Huldigung umdrängen. Ernst Jäckh und alle Schwaben empfanden vielleicht zu sehr den Zauber der Familie, fühlten sich warm und wohl auf einer Bank mit einem Mann aus dem »Ländle«, der den Dialekt der Heimat beherrschte und etwas davon wusste, wie der Wein der Heimat schmeckt. Und sie fanden in ihm staatsmännische Grösse und sogar demokratische Gesinnung, wie die Provencalen von ihrem grossen Mann sagten: »Diou, qu'es beau!« »Gott, wie ist er schön!«
24 Wenn der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg und der Staatssekretär von Kiderlen-Wächter sich über die Politik Bülows und Holsteins, über die internationale Situation unterhielten, waren ihre Urteile so gleichförmig wie zwei Teller aus dem Dutzend, von denen der eine den andern deckt. Sie sahen alle Fehler, die gemacht worden waren, und begriffen, dass man zunächst einmal umkehren müsse, wenn man die Möglichkeit wiedergewinnen wollte, vorwärts zu gehen. Klar erkannten sie, dass die Strasse für Deutschland gefährlich geworden war, seit man das englische Bündnisangebot abgelehnt hatte, ohne durch diesen Verzicht dem russischen Herzen näher zu kommen. Sie sahen, dass seit der ungeheuren Marokko-Torheit Frankreich sich an England festklammerte und von England umklammert wurde, und dass seit der überflüssigen bosnischen Affäre Russland, oder der russische Chauvinismus, zornig scharrend am Zügel riss. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wohl weniger auf den enttäuschten, irregeführten, in seiner Eitelkeit verletzten Iswolski, der heimlich anfing, an Vergeltung zu denken, und vielleicht schon, statt diplomatischer Dardanellen-Projekte, Pläne zum Umsturz Europas entwarf. Ganz allgemein fühlten sie die Bedrohung, die sich mit einer gewissen Naturnotwendigkeit aus falsch gelenkten Ereignissen ergeben hatte und stetig näher kam. Zum mindesten Kiderlen-Wächter blickte auch ärgerlich und sorgenvoll nach Wien und verkannte nicht, dass fast noch schlimmer als alle Feinde ein Freund war, der schon seit Algeciras und besonders seit der bosnischen Angelegenheit mit dem hochmütigen Bewusstsein der Unentbehrlichkeit auftrat und ganz bereit schien, aus der ihm zu deutlich gezeigten Furcht vor völliger Vereinsamung jeden erdenklichen Nutzen zu ziehen. In einer Denkschrift, die im August 1908 den Wiener Ministerrat beschäftigt und die Zustimmung des Herrn von Aehrenthal gefunden hatte, hiess es, dass man nach dem Refus, den der Kaiser Wilhelm in Kronberg den Flottenvorschlägen des Königs Eduard entgegengesetzt habe, »Deutschlands wohl unbedingt sicher sein könne, da diese Macht jetzt auf Oesterreich-Ungarn allein angewiesen sei«. Das frohe Gefühl, dass man Deutschland an der Gurgel halte und über die Knochen des pommerschen Grenadiers nach Belieben verfügen könne, hatte sich seither noch sehr verstärkt. Man dankte im voraus für die erwarteten deutschen Dienste, indem man die deutsche Politik immer dann, wenn ein Konflikt mit Frankreich auszufechten war, galant hinterging. Um nur ein Beispiel, einen von Freiherr von der Lancken, dem ehemaligen ersten Sekretär an der Pariser Botschaft, in seinen »Dreissig Dienstjahren« erwähnten Vorfall anzuführen: »Bei der Erledigung des Deserteur-Zwischenfalles von Casablanca war es sehr unangenehm, dass der österreichisch-ungarische Botschafter Graf Khevenhüller gerade in dem für uns schwierigsten Augenblick unserer Aktion uns in sehr hässlicher Weise in den Rücken fiel.« Vor allem um der habsburgischen Sportdiplomatie den Dünkel zu nehmen, dass Deutschland ihr, natürlich ohne Anspruch auf Gegenleistung, überall 25 hinfolgen und den »österreichischen Satelliten im Orient« machen müsse, war es nötig, so schnell wie irgendmöglich aus der Isolierung herauszugelangen und Anschluss entweder an England oder an Russland zu gewinnen.
Man stand immerhin noch nicht dicht vor der Gefahr und konnte sich noch drehen und wenden, umsehen und einrichten, denn in England waren nur die Northcliff-Kreise kriegslustig, die grosse Mehrheit des französischen Volkes wollte in Frieden arbeiten und geniessen, Iswolski studierte in Paris einstweilen die Charaktere, in Petersburg phantasierte man sich noch nicht die Unüberwindlichkeit des ewigen Russlands vor. Der Reichskanzler Bethmann-Hollweg konnte die Fehler, die der Kanzler Bülow begangen hatte, noch austilgen, und wenn er einen praktischen Plan verfolgen wollte, so fehlte es ihm zur Ausführung nicht an Zeit. Die Hinterlassenschaft war fatal, aber geschickte und tatkräftige Staatsmänner haben schon sehr verworrene Erbschaften zu ordnen gewusst. Wenn Bülow durch nichts von allem, was gegen Bethmann-Hollweg zu sagen ist, entlastet werden kann, so ist die Schuld Bülows für Bethmann-Hollweg keine Entschuldigung. Konnte man mit Russland nicht wieder zusammenfinden, nicht den Petersburger Zorn besänftigen, die aggressive Stimmung des Panslawismus dämpfen, neue Freundschaftsbande schlingen? Dazu genügten freilich nicht die üblichen diplomatischen Mittel, nicht Fürstenbesuche, nicht Familienbeziehungen, nicht Kasinotoaste, nicht die Entsendung von Hofkavalieren oder Generaladjutanten, nicht die läppische Ueberreichung von Uniformknöpfen und Paradephotographien. Seit der Zar, durch die Ratschläge des schlecht rechnenden und über die japanische Militärmacht schlecht informierten Wilhelm II. zu fernen Eroberungen ermutigt, auf den Schlachtfeldern der Mandschurei seine Armeen verloren hatte, war der russische Ausdehnungsdrang, der ohne abenteuerliche Hast, ohne Heraufbeschwörung des Konfliktes, noch weiter sein Feld in Ostasien gefunden hätte, auf Europa, auf den Balkan, auf Konstantinopel zurückgelenkt. Wilhelm II. hatte den Russen zugeredet, den Pfeil abzuschnellen, und der Pfeil, von der japanischen Rüstung zurückprallend, traf uns selbst. Das Zarentum, in seinem Prestige erschüttert und durch die revolutionäre Bewegung erschreckt, brauchte ein Terrain für aussenpolitische Betätigung. Die Demütigung, die man Russland in der bosnischen Angelegenheit zugefügt hatte, war nur hingenommen worden, weil das Heer nicht kriegsfähig, Frankreich sehr kühl, England in Worten heftig, aber zu keiner Tat bereit gewesen war.
Um die russische Politik aus der Richtung herauszubringen, in der sie sich, diesmal in Uebereinstimmung mit dem Empfinden der mitredenden Schichten, automatisch vorwärts bewegte, musste Deutschland entweder von gewaltsamen österreichischen Balkanbestrebungen sich lossagen, oder sich von dem türkischen Freunde trennen. Es musste, wenigstens 26 soweit das Stück auf dem Balkan spielte, das Wort, das später auch der russische Gesandte Hartwig aussprach: »Lâchez l'Autriche!« befolgen, oder es musste dem russischen Byzanztraum zur Erfüllung verhelfen und zur Auflösung der Türkei entschlossen sein. Obgleich Kiderlen-Wächter die Wiener Balkanpläne ganz richtig bewertete, blinde Gefolgschaft ablehnte und dem schon genügend selbstbewussten und gönnerhaften Bundesgenossen das Lied von der Nibelungentreue nicht zu oft vorsingen wollte, beabsichtigte oder wünschte er doch absolut nicht einen radikalen Wechsel in der deutschen Bündnispolitik und auch nicht irgendeine Drehung, die scharf und entschieden genug gewesen wäre, um Oesterreich tief und dauernd zu verstimmen. Auch er hielt doch, wie er noch im November 1912, während des Balkankonfliktes, vor dem Bundesratsausschuss erklärte, ein starkes Oesterreich für unentbehrlich und sagte, ganz wie Bülow in der bosnischen Krise und Bethmann-Hollweg später: »Muss also Oesterreich, gleichgültig aus welchem Grunde, um seine Grossmachtstellung fechten, so müssen wir an seine Seite treten«, und es schien ihm nur nötig, diese Bereitwilligkeit nicht zu laut zu betonen, mit etwas mehr Zurückhaltung aufzutreten und den Zügel fester anzuziehen. So kühn, der traditionellen Freundschaft zwischen Hohenzollern und Habsburg einen Stoss versetzen zu wollen, war er nicht.
Da bei fortwährender Schonung Oesterreich-Ungarns und der Türkei eine dauerhafte Freundschaft Russlands nicht erreicht werden konnte, blieb, wenn Deutschland aus der gefährlichen Lage herausgelangen sollte, nur noch der nach England führende Weg. Der Verkehr zwischen Berlin und London beschränkte sich, wie Herr von Bethmann-Hollweg in seinen »Betrachtungen zum Weltkriege« sagt, damals »im Grunde genommen auf die Erledigung der Formalitäten, welche die gegenseitigen Beziehungen zweier nicht im Kriege miteinander befindlicher Staaten mit sich bringen«, und die Stimmung war »frostig, und von Misstrauen erfüllt«. Als Herr von Bethmann-Hollweg das Reichskanzleramt übernahm, war er ganz von dem Wunsche beherrscht, auf dieses deutsch-englische Verhältnis erwärmend einzuwirken, sich mit der englischen Regierung zu verständigen und das zurückzugewinnen, was unter seinem Vorgänger verspielt worden war. Herr von Kiderlen-Wächter setzte sich das gleiche Ziel und schilderte schon vor seiner Ernennung zum Staatssekretär, im September 1909, von Bethmann zur Ausarbeitung einer Denkschrift aufgefordert, nüchtern und klar die Vorteile, die sich aus einer deutsch-englischen Wiederannäherung ergeben mussten, und die Gefahrenfülle, die aus anhaltender Spannung entstand. Tatsächlich konnte die englische Politik der Ausgangspunkt für alles Gute und alles Böse und für die Verhinderung alles Guten und Bösen sein. Russischer Ausbreitungsdrang und die Fanfaren französischer Nationalisten waren nur gefährlich, wenn sie durch englisches Wohlwollen begünstigt wurden, und einem mit England befreundeten 27 Deutschland blieb wahrscheinlich sogar Italien treu. Es gehörte wahrhaftig kein staatsmännisches Genie dazu, um das alles einzusehen. Es gehörte nur eine ausserordentliche Verstocktheit dazu, um so einfache Tatsachen zu leugnen und sich gegen den Gedanken, dass eine absolut notwendige Umwandlung der Situation auch einiges Nachgeben erfordere, halsstarrig zu sperren. Der Wunsch Bethmann-Hollwegs und Kiderlens musste, ganz abgesehen von der Unzulänglichkeit der angewandten Taktik, in Rauch aufgehen, weil Herr von Tirpitz, der Flottenverein, der Wehrverein, Konservative, Nationalliberale und sonstige Alldeutsche, die beteiligte Schwerindustrie und die mitschwimmende Presse nicht geneigt waren, der Freundschaft mit England zuliebe auch nur ein einziges Panzerschiff weniger zu bauen. Und weil Wilhelm II. durchaus nicht darauf verzichten wollte, in der Geschichte als der kühne, über alle Hindernisse kaltblütig fortschreitende Flottenschöpfer dazustehen. Denn sehr ausschlaggebend war dieses kaiserliche Bedürfnis, nach dem Grossen Kurfürsten, dem alten Fritz und Wilhelm I. auch noch ein leuchtendes, zur Bewunderung zwingendes Werk zu vollbringen. Und es erschien als unleidlich, dass Störenfriede im Namen der politischen Vernunft Einsprache erheben wollten, während der Monarch sich für sein zukünftiges Denkmal modellieren liess.
Aber wenn es, bei dem Einfluss der antienglischen Kreise, der Machtstellung des Herrn von Tirpitz und der kaiserlichen Liebhaberei nicht merkwürdig war, dass die Absichten des neuen Reichskanzlers und seines Staatssekretärs auf unüberwindlichen Widerstand stiessen, so war es doch erstaunlich, dass die beiden mit der Leitung der auswärtigen Politik betrauten Personen sich ihre Aufgabe selber erschwerten und sich beeilten, die von ihren Vorgängern begangenen Fehler noch einmal zu begehen. Ihr Leitgedanke war, sich England zu nähern, den Zauberkreis zu durchbrechen, und ihre Handlungen verschärften noch die Entfremdung zwischen Deutschland und England und steigerten besonders die französisch-englische Freundschaft bis zur höchsten Intimität, bis zum Verbundensein auf Leben und Tod. Sie wussten genau, was getan werden musste, und sie taten das Gegenteil. Sie hatten die Irrtümer und falschen Züge ihrer Vorgänger fleissig und mit Verachtung studiert und wie die Frauen, die mit zu intensivem Entsetzen eine scheussliche Figur betrachtet haben, setzten sie ein Geschöpf in die Welt, das noch in der kleinsten Einzelheit dem Schreckbilde glich. Goethe erwähnte einmal Eckermann gegenüber die Meinung Gozzis, dass nur sechsunddreissig tragische Situationen denkbar seien. Schiller habe das nicht glauben wollen, habe es aber – trotz allen Bemühungen – nicht einmal auf sechsunddreissig gebracht. Herr von Bethmann-Hollweg und Herr Kiderlen-Wächter scheinen nur die zwei oder drei gekannt zu haben, denen man soeben entgangen war. Sie entnahmen, ohne es zu wissen, ihre Einfälle dem ältern Manuskript, und ihre Einfälle waren tragisch, aber nicht original.
28 Zuerst freilich, und gewissermassen in stürmischem Anlauf, betrieb Herr von Bethmann-Hollweg konsequent die Ausführung seines grossen Programmgedankens und durch Albert Ballin und Sir Ernest Cassel wurde die Sprechverbindung zwischen Berlin und London hergestellt. Der noch von Gunst umwärmte, in seinem Optimismus noch nicht gestörte Reichskanzler gewann in diesem ersten Augenblick sogar den Kaiser für den Plan, durch ein Flottenabkommen von England politische Zusicherungen einzuhandeln, und auch Herr von Tirpitz tat so, als mache er mit. Herr von Kiderlen-Wächter lieferte einstweilen von Bukarest aus taktische Ratschläge und setzte Vertragsentwürfe auf. Im Oktober und im November dieses Jahres 1909 besprach in Berlin Bethmann-Hollweg die Angelegenheit mit dem englischen Botschafter Sir Edward Goschen, in London erörterte sie Graf Wolff-Metternich mit Grey. Man äusserte sich von deutscher Seite nicht genauer über das Abkommen, das die Marinetechniker ausarbeiten müssten, und wünschte von England eine »Erklärung allgemeiner freundschaftlicher Annäherung«, die im Laufe der Verhandlungen gewiss leicht zu formulieren sei. Auf englischer Seite zeigte man viel Interesse für das Flottenabkommen und geringere Eile, auf das Thema der bindenden Freundschaftsformeln einzugehen. Der Gesandte Felix von Flotow, der schon unter Bülow in das Auswärtige Amt berufen worden war, schrieb an Kiderlen, Bethmann nehme »nach seiner ernsten und gewissenhaften Art diese Sache sehr schwer«. Leider müsse man befürchten, den Kaiser und Tirpitz »wieder aus den Händen zu verlieren«, und diese Sorge sei einer langsam fortschreitenden Verhandlungsmethode hinderlich. Man kam zu keinem Resultat. Immerhin wurde die Stimmung in England etwas besser, die Spannung liess anscheinend nach. Am 7. Mai 1910 starb König Eduard. Er war durchaus kein kriegerischer Geist gewesen, hatte keine Explosionen herbeiführen wollen, aber er hatte die familiäre Abneigung gegen den betriebsamen Neffen gehabt, hatte durch Uebertreibung seiner Politik die Gefahr gesteigert und, weil er schien, was er nicht war, allen auf der Lauer liegenden Friedensfeinden Mut gemacht. Im März 1911 hielt Grey im Unterhaus eine Rede, die eine leichte Erwärmung erkennen liess, und in den Berichten der belgischen Gesandten hiess es, der Horizont helle sich ein wenig auf. Baron Greindl, der Gesandte Belgiens in Berlin, schrieb am 20. März, der Augenblick sei »jedenfalls günstig für einen Versuch, die deutsch-englischen Beziehungen zu bessern«, und es stehe »zur Zeit keine zu Reibungen Anlass gebende Frage auf der Tagesordnung, die dem entgegen wirkt«. Im Mai wurden Wilhelm II. und die Kaiserin bei einem Besuch in London sehr freundlich aufgenommen. Baron Laleing, der belgische Gesandte, schilderte in seinen Berichten den herzlichen Empfang, die sympathische Haltung der in den Strassen sich drängenden Menge, erinnerte an frühere Londoner Kaiserfeste und konstatierte einen »merklichen Unterschied«. Der Bericht des Baron Greindl war, wie erwähnt, am 20. März 29 1911 verfasst. Der Bericht des Gesandten in London stammt vom 20. Mai.
Sechs Wochen später war von alledem so viel übrig, wie von einer Hütte aus Zweigen und Palmenblättern, über die ein Tornado dahingegangen ist. Und wenn es wenigstens ein Tornado mit seiner überraschenden Phantastik gewesen wäre, aber das, was sich begeben hatte, war dem Publikum schon so vertraut, wie dem Abonnenten der Grossen Oper in Paris der »Faust« von Gounod und dem Gast des »guten bürgerlichen Mittagstisches« sein Wochenmenu. Von einer Besserung der deutsch-englischen Beziehungen war nichts mehr zu sehen. Die Menge in London war nicht mehr sympathisch gestimmt, ein englischer Minister erklärte öffentlich, dass gewisse Aktionen der deutschen Regierung den Frieden gefährden müssten, und die deutschen und die englischen Zeitungen stürzten sich mit Todesverachtung in das Wortgefecht. Wilhelm II. sah sich, auch diesmal gegen seinen Wunsch, von seinen neuen Männern in einen Konflikt hineingezogen, den man mit einiger Voraussicht hätte vermeiden können. Während Bethmann und Kiderlen mit der einen Hand ihre Verständigungsvorschläge nach London schickten, warfen sie mit der andern das Tintenfass um und die schwarze Flut ertränkte das Projekt. Sie taten genau das, was Bülow und Holstein vor ihnen getan hatten, aber die aufeinanderfolgenden Axtschläge üben eine immer stärkere Wirkung aus. Jedesmal pflegt die Axt tiefer einzudringen und schliesslich schwankt der Baum. 30