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Und das deutsche Volk? Das deutsche Volk glaubte vielleicht noch weniger als das französische an einen nahen Krieg, denn obgleich es viel über Einkreisung und ähnliche Machinationen gehört und gesprochen hatte und gleichfalls dann und wann die Redensart von der »Unvermeidlichkeit« des Krieges im Munde führte, lebte es im Grunde doch in einem Sicherheitsgefühl, das nach dreiundvierzig Friedensjahren, beim Anblick einer ausserordentlichen wirtschaftlichen Entwicklung und einer anscheinend unüberwindlichen Armee, zu tief eingewurzelt war, um bei einer Gewittermeldung ins Schwanken zu kommen. Hatte es Ursache, so vertrauensvoll zu sein? Ungefähr soviel wie ein kleiner Rentner, der sein ganzes Vermögen einem ihm unbekannten Bankier übergibt und mit seinem letzten Pfennig in Spekulationen verstrickt wird, von denen er nichts weiss. Seine Geschäfte wurden von dem Kaiser und einigen Personen, die dem Monarchen aus irgendeinem Grunde genehm waren, ohne jede Kontrolle geführt und die Kundschaft, deren Besitz und deren Leben dort auf dem Spiele standen – das ganze Volk, fünfundsechzig Millionen Menschen – hatte keine Möglichkeit, in die Bücher hineinzusehen. Es gab einen Reichstag, aber er war nichts als ein Automat der Steuerbewilligung, ein Chor, der von fernher die Handlung mit Reden, mit langen und tapfern Reden sogar, begleiten durfte und an der Handlung nicht teilnahm, niemals wusste, was vorging, und einen Schlag auf die Nase erhielt, wenn er versehentlich einmal die ihm gezogene Grenze überschritt. Wilhelm II. behandelte dieses ohnmächtige Scheinparlament mit der ganzen Verachtung, die ein von seiner Allwissenheit überzeugter, mit einigen Erziehungsmängeln behafteter Autokrat gegenüber solchen unsympathischen Einrichtungen empfinden muss. Er titulierte die Volksvertreter in seinen Marginalien »Ochsen von Reichstagsabgeordneten«, erklärte in markiger Schrift, dass Angelegenheiten der auswärtigen Politik, wie zum Beispiel ostasiatische Erwerbungen, »die Affenbande« gar nichts angingen, sprach auch in Telegrammen an Bülow von diesen »Affen« im Reichstag, und bevorzugte im allgemeinen bei gelegentlicher Beschäftigung mit den Erwählten der Nation jene urwüchsige Sprache, die nach einer Konversation über Bibel und Babel, über griechische Statuen und nordische Mythen, nichts anderes war als eine Rückkehr zur Natur. Schon Bismarck war im März 1890 von der jungen Majestät scharf abgekanzelt worden, weil er den greisen Zentrumsführer Windthorst, der ihn besucht hatte, nicht hatte »hinauswerfen lassen« und sich auch sonst das Recht, Abgeordnete zu empfangen, vorbehalten wollte, und bekanntlich hat dieser Vorgang bei seiner Verabschiedung mitgewirkt. Es war ganz selbstverständlich, und übrigens in der rein 216 dekorativen, das Volk gänzlich schutzlos lassenden Verfassung klar ausgedrückt, dass der Kaiser allein, ohne das Parlament irgendwie zu unterrichten oder zu befragen, Krieg erklären konnte und durfte, und dass den Vertretern der fünfundsechzig Millionen dann nur, wenn die Kriegsmaschine schon rollte, das Recht, die Kriegskredite zu votieren, vorbehalten blieb.
Der damalige belgische Gesandte in Berlin, Baron Beyens, hat in einem Buche über »Deutschland vor dem Kriege«, das 1915 erschien, gesagt, dass Wilhelm II. sehr nervös und reizbar geworden war. Die Auffassung, dass die kaiserliche Reizbarkeit noch zugenommen hatte, dürfte, obgleich solche Messungen bei fortwährend schwankender Temperatur nicht leicht sind, wohl zutreffen, und dazu trug auch die Situation bei, die sich aus dem Verlauf der Balkankriege ergab. Auch Jules Cambon konstatierte wachsende Nervosität. »In dem Masse, wie die Jahre mehr auf Wilhelm II. lasten, gewinnen die Familientraditionen, die reaktionären Gefühle des Hofes und vor allem die Ungeduld der Militärs stärkere Gewalt über seinen Geist.« Beyens sagt, das Jahr 1913, in dem das Regierungsjubiläum und die Hundertjahrfeier der Völkerschlacht von Leipzig zusammentrafen, sei »la date fatale« gewesen, nun habe Wilhelm II. seine Friedensmission für beendet angesehen und den Krieg geplant. Und Jules Cambon meldete gegen Ende des Jahres 1913, er habe seit einiger Zeit den Eindruck, dass die Feindschaft gegen Frankreich sich verstärke und der Kaiser aufgehört habe, ein Anhänger des Friedens zu sein.
In dem Bericht Jules Cambons vom 22. November 1913, der diese pessimistische Aeusserung enthielt, wurde dem französischen Aussenminister Stephen Pichon von einer Unterredung Wilhelms II. mit dem König der Belgier, der vierzehn Tage vorher in Berlin geweilt hatte, Mitteilung gemacht. Dieses Telegramm des französischen Botschafters ist als ein besonders wertvolles Stück und als Beweis der seit langem gehegten deutschen Kriegsabsichten in das Gelbbuch aufgenommen worden, das die französische Regierung unmittelbar nach dem Kriegsausbruch herausgegeben hat. Der König der Belgier, hiess es in dem Bericht Cambons, »meinte bisher, wie alle Welt, dass Wilhelm II., dessen persönlicher Einfluss sich in vielen kritischen Augenblicken für die Erhaltung des Friedens geltend gemacht hatte, noch immer in der gleichen Stimmung sei. Diesmal habe er ihn vollständig verändert gefunden: der Kaiser ist in seinen Augen nicht mehr der Champion des Friedens gegen die kriegerischen Tendenzen gewisser deutscher Parteien. Wilhelm II. glaubt jetzt, der Krieg mit Frankreich sei unvermeidlich und es müsse über kurz oder lang dazu kommen. Er glaubt natürlich an die erdrückende Ueberlegenheit der deutschen Armee und an ihren sichern Erfolg«. In der Unterhaltung habe der Belgierkönig den Kaiser dann von der Ansicht, dass Frankreich den Krieg wolle, abzubringen versucht. Er habe ihm gesagt, dass man die Absichten der französischen 217 Regierung entstelle, und dass man aus dem Lärm exaltierter Chauvinisten nicht auf die Gefühle der Nation schliessen dürfe, aber alles Gutzureden habe nichts genützt. Baron Beyens schildert in seinem Buche den Vorfall ungefähr ebenso, nur mit dem einen Unterschiede, dass nach seiner Darstellung der Generalstabschef von Moltke sich dem König gegenüber in einer besondern Unterredung über den kommenden Krieg und die deutsche Siegesgewissheit äusserte, während er dem Berichte Cambons zufolge bei dem Monarchengespräch anwesend war und mit militärischer Bestimmtheit die Worte seines obersten Kriegsherrn unterstrich. Diese Differenz in den beiden Erzählungen ist nicht sehr wesentlich. Ein wenig sonderbar ist es nur, dass der belgische Gesandte in Berlin, Baron Beyens, nach dem 6. November 1913, an dem diese Unterhaltung stattfand, in seinen Berichten – soweit sie wenigstens in der deutschen Sammlung der belgischen Dokumente sich befinden – auf kriegerische Ideen des Kaisers gar nicht anspielt und nichts dergleichen erwähnt. Am 12. Juli 1914 erwog er in einem langen Bericht sogar, »ob nicht das Kabinett Barthou und der Präsident der Republik übereilt gehandelt haben«, als sie die dreijährige Dienstzeit durchsetzten, und er erklärte, »die Herren Barthou und Poincaré hätten vielleicht besser daran getan, die Frage mit grösserer Kaltblütigkeit zu prüfen, ob es kein besseres Mittel zur Wahrung des Friedens zwischen Frankreich und Deutschland gab«. Wenn er erkannt hatte, dass seit 1913, »date fatale«, der »Friedenskaiser« sich in einen Kriegskaiser verwandelt habe, so hätte doch irgend etwas im Inhalt und im Ton seiner diplomatischen Mitteilungen Kunde von solchen Beobachtungen geben müssen, aber nichts steht in und nichts zwischen den Zeilen, was davon zeugt. Erst 1915, als er sein Buch schrieb, fiel ihm ein, dass Wilhelm II. »monatelang den Angriff vorher überlegt« habe, aber im Jahre 1915 wollten viele Diplomaten ihr Renommé reinigen, indem sie nachträglich das Verbrechen konstruierten, und jeder war nun ein hinterherkommender Conan Doyle.
Möglicherweise hat Wilhelm II. zu dem König Albert so gesprochen, wie es in dem Bericht Cambons und in dem Buche des Baron Beyens zu lesen ist. Das erscheint noch unerheblich, wenn man weiss, was er sonst, in zahlreichen Fällen, sagte und schrieb. Schon am 31. Dezember 1905, während der Marokko-Krise, hatte er in einem Brief an Bülow dekretiert: »Erst die Sozialisten abschiessen, köpfen und unschädlich machen – wenn nötig per Blutbad – und dann Krieg nach aussen!« und 1908 hatte er mit dem Vermerk »Wenn es doch erst losginge!« ein Aktenstück versehen, das die Annexion Bosniens betraf. Dabei war er eigentlich gegen die Marokko-Politik gewesen und auch das österreichische Vorgehen in der bosnischen Angelegenheit hatte er anfangs abfällig kritisiert. Genauer betrachtet, beweist der Brief vom 31. Dezember 1905, in dem er behauptete, dass er erst die Sozialisten abschiessen und köpfen und »dann Krieg nach aussen« machen wollte, nicht kriegerische Absicht, sondern gerade das Gegenteil. Es gab Leute, 218 die ihn auf die kriegerische Bahn drängen wollten, und er wehrte sich gegen diese Zumutungen, indem er theatralisch und in der ihm eigenen Ausdrucksweise behauptete, zunächst einmal müsse er die Sozialisten niedermetzeln und erst nach dieser Bartholomäusnacht dürfe der blutrote Sonnenaufgang kommen. Aber wenn diese Aeusserungen ans Licht hinausgedrungen wären, und wenn alles bekanntgeworden wäre, was er während der Balkankriege schrieb, wünschte und befahl – oder beispielsweise die Weisungen, in denen er während der Agadir-Affäre Satisfaktion von Caillaux begehrte –, so hätte die öffentliche Meinung der zivilisierten Länder schon damals, sehr irrtümlich, einen Attila in ihm gesehen. Er war ebensowenig nach dem »fatalen Datum« ein Attila, wie vorher. Während andere in den reifern Mannesjahren bedächtig werden, hatte bei ihm das Bedürfnis, jede Gemütserregung möglichst laut von sich zu geben, noch zugenommen. Auf ihn passte nicht der Satz aus der ersten Epistel an die Korinther: »Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und hatte kindische Anschläge, da ich aber ein Mann war, tat ich ab, was kindisch war.« Er brauchte dieses Ventil. Sobald das Ventil funktioniert hatte, war der Höhepunkt der Erregung überstanden und der Rest verpuffte nach und nach. Er spielte besonders seiner militärischen Umgebung diese kleinen Komödien vom kriegerischen Kaiser vor. Sie kamen niemals über die erste Szene hinaus. Es stand mit Wilhelm II. ungefähr, trotz allen Verschiedenheiten des Charakters und der Persönlichkeit, wie mit dem Kaiser Augustus, von dem Guglielmo Ferrero, der italienische Historiker Roms, gesagt hat: »Er wusste wohl, dass der Kern dieses Nimbus, seine ganze eigenartige Stellung und all die Bewunderung, die man ihm darbrachte, im Grunde auf einem grossen Missverständnis beruhten« – auf dem Missverständnis, er sei der Mann, um die Welteroberung, die Alexander, Cäsar und Antonius erträumt hatten, zu unternehmen, den Orient bis nach Indien hin zu unterwerfen und Wundertaten zu vollbringen. In Deutschland freilich hielt niemand Wilhelm II. für einen neuen Alexander und mit Ausnahme der Alldeutschen hatte auch niemand Sehnsucht nach solchen Taten, aber im Auslande schufen da und dort Naivität und Berechnung dieses Legendenbild.
Nur mit einem Lächeln liest man, wie der Baron Beyens aus Wilhelm II. einen still überlegenden, stark entschlossenen, auf weite Ziele konsequent losgehenden, mit eiserner Ruhe seine Gedanken verbergenden Herrscher, gewissermassen einen Ludwig XI. macht. Er stellt ihn auf ein Postament, um ihn besser am Pranger zeigen zu können, und vergrössert ihn, um ihn zu verdammen. Gewiss sprach der Kaiser jetzt noch mehr als in frühern Jahren vom kommenden Kriege und besonders auch von der französischen Revanchelust. Sicherlich gab er sich angesichts der »Renaissance latine« und ihrer Manifestationen häufiger dem Gedanken hin, dass das alles zu einem Zusammenstoss dränge, und er war eine Sphinx, die ihre Geheimnisse nicht bei sich behielt. 219 Wilhelm II. hatte nicht weniger Gründe, besorgt zu sein, als beispielsweise Poincaré. Indessen, die Sorge war bei ihm kein unablässig andauernder Gemütszustand, seine Stimmungen wechselten und derjenige schmiedet nicht Monate hindurch geheime Pläne, dessen am Mittag bekundeter Wille oft nur bis zur Abendröte lebt. Wilhelm II. war, wie die Chorführerin im zweiten Teil des »Faust« schilt,
»Vom Augenblick abhängig, Spiel der Witterung
Des Glücks und Unglücks, keins von beiden wisst Ihr je
Zu besteh'n –«
Er kam schneller von einer Stimmung zur andern, als ein Eichhörnchen im Käfig von einem Ende zum andern rennt.
In der Schilderung, die der belgische Baron entwirft, fehlt auch nicht die Tatsache, dass Wilhelm II. ein eifriger Förderer der Bildhauerei und der Baukunst war. Auch jetzt interessierte er sich lebhaft für die Neuschöpfungen seiner auserwählten Künstlerschaft. Er wollte ein grossartiges Opernhaus bauen, und als die Berliner Architekten im Februar 1914 das von ihm günstig beurteilte Projekt ablehnten, trat er temperamentvoll für seinen Baumeister ein. Er liess sich von der Stadt Berlin als Jubiläumsgabe ein grosses Terrain schenken, gegenüber dem neuen Messelschen Museum, und es ist mindestens nicht unwahrscheinlich, dass er mit Bleistift und Zirkel die Umrisse dieses Kaiserforums entwarf. Gleichfalls im Februar ordnete er an, dass beim Hofball im Weissen Saal die Zivilherren, denen ein trauriges Schicksal Uniform und goldbetressten Amtsrock versagt hatte, in weissen Kniehosen, weissen Strümpfen und schwarzen Lackschuhen erscheinen müssten, und mit demselben Sinn für das Erhabene wurde der Ausschnitt der Damenkleider vorn und hinten reguliert. Gewaltige Baupläne und Kriegspläne lassen sich schlecht miteinander vereinigen und jedenfalls war der Kaiser nicht, wie seine Ankläger behaupten, ganz in kriegerische Vorbereitungen vertieft. All diese Behauptungen sind falsch, künstlich konstruiert. Aber obgleich sie falsch sind, Wilhelm II. in kritischen Momenten oft vorsichtiger war als seine Ratgeber, den Krieg nur aus der Ferne mit Wohlwollen betrachtete und in der Nähe weit mehr scheute als irgendein anderer, bestand jene Unsicherheit, die sich aus seiner Natur und aus dem Fehlen jeglicher Kontrolle ergab. In dem Liede des Dichters Justinus Kerner ist der reichste Fürst derjenige, der sein Haupt jedem Untertan kühnlich in den Schoss legen kann. Sollte das reichste Volk dasjenige sein, das berechtigt ist, sein Haupt ruhig in den Schoss seines Führers zu legen, so muss man sagen, dass das deutsche Volk gewiss nicht das reichste war.
Es mag den Monarchen entschuldigen, dass die Mehrheit des Volkes die Notwendigkeit einer Systemänderung gar nicht empfand. Man widmete sich eifrig den eigenen, privaten Angelegenheiten und überliess die öffentlichen, allgemeinen, gleichmütig den Vormündern, ohne daran 220 zu denken, dass der allgemeine Bankrott sich aus dem Ruin aller Einzelinteressen zusammensetzen musste, und da die Geschäfte gut gingen, war man überzeugt, sie würden immer so gehen. Parlamentarismus wie in den andern Ländern, Kontrolle der schicksalmachenden Staatsleitung, Mitbestimmungsrecht der Volksvertretung bei der Entscheidung über Krieg und Frieden? – das alles war doch die reine Utopie. Das alles lag so fern, und um so ferne Dinge kümmerte man sich nicht. Die Parteien des Reichstags, bis über den Nationalliberalismus hinweg, nahmen es, von Ausnahmefällen abgesehen, geduldig hin, dass andere die Verantwortung des Regierens trugen, und ihrem Ehrgeiz genügte es, hinterher in den Debatten klug zu sein. Allerdings konnte es fraglich erscheinen – doch selbst bis zu dieser Frage verstieg man sich nicht –, ob ein parlamentarisches Königtum möglich gewesen wäre in einem Lande, wo es nicht, wie in England, eine politisch erzogene Aristokratie, sondern nur ein Junkertum gab, das sofort, als Triariergarde um seinen Herrn geschart, versucht hätte, das parlamentarische Gitterwerk wieder umzurennen. Weder diese Kaste noch die ihr benachbarte und verbündete Bürokratenschicht, noch der Kaiser selbst hätten auf die Dauer eine Teilung der Regierungsgewalt ertragen und sich dem Ueberwachungswillen einer Volksvertretung gefügt. »Die Hoffnung«, sagt Macaulay, »ist eitel, dass Gesetze, wie trefflich sie auch sein mögen, fortwährend einen König zügeln werden, der, nach seiner Meinung und nach der eines grossen Teiles seines Volkes, eine Autorität von unendlich höherer Natur hat, als die Autorität, welche diesen Gesetzen gebührt«.
Hatte Wilhelm II. seine Ratgeber so ausgewählt, dass man darauf vertrauen konnte, sie würden in einer ernsten Stunde genug Klugheit, Kaltblütigkeit und Charakterstärke haben, um Unheil zu verhüten, vor der Gefahr zu bremsen und das Volk halbwegs unbeschädigt über brechendes Eis hinüberzubringen? Rund um ihn herum waren, als tägliche Gesellschaft, die Generaladjutanten, deren Einfluss nicht überschätzt werden darf, aber bei der Erzeugung höfischer Stimmungen, der »Atmosphäre«, sich doch wohl gelegentlich verwerten liess. Einer von ihnen, der körperlich hervorragende General von Plessen, soll während des Burenkrieges, dem Freiherrn von Eckardstein zufolge, zu dem verblüfften Admiral von Bendemann gesagt haben, man brauche nur eine Division hinüberzuwerfen, dann würde England erledigt sein. Als der Admiral sein Erstaunen äusserte, schlug ihm Herr von Plessen ein Bündnis mit Russland und den gemeinsamen Marsch »nach Aegypten und Indien« vor. Die Phalanx dieser hochgewachsenen Generaladjutanten hielt dem Kaiser unerfreuliche Mitteilungen und andere Unannehmlichkeiten des Lebens fern, wie eine Pappelallee den Obstgarten gegen rauhe Winde schützt. Zusammen mit den Herren vom Hofdienst, unter denen nur Lucanus, der Chef des Zivilkabinetts, und der sehr kluge, viele Familienkonflikte ausgleichende, aber auf 221 politische Einwirkung verzichtende Oberhofmarschall August Eulenburg etwas bedeuteten, sorgten die militärischen Wächter der kaiserlichen Ruhe nach besten Kräften für gute Stimmung und rosiges Licht. Ueber diese Vorzimmermentalität erhaben, übte Herr von Tirpitz, obwohl es nie zu einer freundschaftlichen Intimität zwischen ihm und dem Kaiser kam, einen starken und dauernden Einfluss aus. Die Wärme der Beziehungen fehlte, aber das gemeinsame Ziel verband. Tirpitz, viel zu klug, um einen Krieg zu ersehnen, der sein Werk nicht nur unterbrechen, sondern auch auf die Probe stellen musste, wirkte doch wesentlich bei der Schaffung der psychologischen Voraussetzungen mit. Worte, die Heinrich von Sybel im neunten Bande seiner »Geschichte der Revolutionszeit« schrieb: »Man sieht, wie leicht diese rauhen Seehelden, einmal mit hoher Politik befasst, zu Virtuosen einer hinterhältigen Diplomatie wurden«, waren zunächst auf Nelson gemünzt, aber es scheint, dass sie nicht für die rauhen Seehelden eines einzelnen Landes gelten, sondern ganz allgemein anzuwenden sind.
Eine ganz andere Natur war Herr von Moltke, der Generalstabschef. Ein gern in geistige Probleme sich vertiefender Mann, wohl im geheimen Zwiespalt zwischen seinen idealistischen Neigungen und den Gesetzen eines Berufes, an dessen letztem Ende nun einmal die Vernichtung des Menschenlebens steht. Zwischen ihm und dem Kaiser bestand wirklich eine freundschaftliche Bindung, und ihn hatte, zu seinem, und nicht nur zu seinem Unglück, diese Freundschaft auf die rauh umwehte Höhe geführt. Er hatte die Verantwortung zu schwer für seine Schultern gefunden, aber in jener falschen Auslegung der Pflicht nachgegeben, die gewöhnlich die schlimmste Pflichtverletzung ist. Im Jahre 1904 war zum ersten Male der von vielen als neuer Apostel verehrte Theosoph, Soziologe, Lebensveredler Rudolf Steiner in sein Haus gekommen. In einer polemischen Auseinandersetzung hat der General von Haeften gesagt, nur Frau von Moltke habe sich für die Lehren Steiners interessiert, der Generalstabschef habe bis zu den Tagen seiner Erkrankung sie immer abgelehnt, aber Steiner hat erwidert, auch der Gatte habe oft stundenlang mit ihm über Weltanschauungsfragen diskutiert. Immerhin ist die viel herumgetragene Erzählung, der Generalstabschef von Moltke habe sich in die Reize des Uebernatürlichen verstrickt, nur eine Legende, und nur törichter Klatsch hat ihn als eine Art Gesundbeter hingestellt. Im Juli 1908 schrieb er von einer Nordlandfahrt, auf der er den Kaiser begleitete, an die theosophische Gattin: »Wenn ich nicht auf allen Deinen Wegen mitgehe, so liegt es daran, dass ich eben einen sehr realen Beruf habe und mit beiden Beinen auf dieser Erde stehen muss, wenn ich ihm gerecht werden will.« Bei seiner Ernennung sagte er zu Bülow: er sei für die Rolle des Feldherrn im Kriege zu schwerblütig und bedenklich, ihm gehe die Fähigkeit des wahren und grossen Feldherrn ab, unter Umständen alles auf eine Karte zu setzen – das Temperament zum Hasardieren habe er nicht. Hielt 222 er es für nötig, das Fehlende zu erzwingen? Wie viele, die innerlich unsicher sind und ihre Schwäche empfinden, wollte er sich gewaltsam, gewissermassen in Pflichterfüllung, zu der Rolle des stark und zielbewusst Handelnden emporrecken, und dadurch, durch dieses Ankämpfen gegen das eigene Selbst und durch den Wunsch, es dem Amte, dem »Dienst« zuliebe zu überwinden, wurde er, in manchen Augenblicken wenigstens, auf schiefe Gedankenbahnen gedrängt. Er nahm dann die Lieblingsidee anderer Strategen an, die Idee, mit der und von der sie lebten: im Konfliktsfalle müsse Oesterreich den Krieg anfangen, oder der Krieg müsse Oesterreichs wegen ausbrechen, denn nur dann mache es mit. Diese Idee verführte Herrn von Moltke dazu, sich im Jahre 1909 auf Verhandlungen mit Conrad von Hötzendorff einzulassen, die unbestreitbar auf eine Entstellung des Bündnisgedankens und auf eine völlige Abirrung von dem Bismarckschen Standpunkt hinausliefen, und an Conrad jenen Brief zu schreiben, in dem ein Bedauern über das Unterbleiben des kriegerischen Konfliktes mit Serbien zum Ausdruck kam. Ein militärischer Aesthet machte sich, da zum hohen Posten der Adlerblick gehörte, eine gefährliche politische Theorie zurecht. Herr von Moltke war auf seiner Höhe sehr empfindlich gegenüber absprechender Kritik – die ihn, klagte er seiner Frau, »als Trottel« hingestellt habe – und dankbar für eine »gute Presse«, für gesprochenes oder gedrucktes Lob. Von Natur bescheiden, war auch er einer von denjenigen, die nicht gepanzert waren gegen den Spott polemischer Sticheleien. Aber er erlag nur anfallsweise, sein Brief an Conrad von Hötzendorff vom Jahre 1909 war nur ein solcher Anfall, und es ist zu beachten, dass er damals das Scheitern der österreichischen Kriegshoffnung erst bedauerte, als die gefährliche Periode vorüber war. Man hat gesehen, wie er es während des Balkankrieges, in der Affäre von Skutari – als man ihm den Brief des Herzogs Albrecht von Württemberg vorgelegt hatte –, als eine Hauptaufgabe bezeichnete, »österreichische Torheiten zu verhüten«, und wie sorgenvoll er nun wieder die Abhängigkeit von Wien empfand. Dies war die soldatische Umgebung Wilhelms II. – die andern, die kommandierenden Generale und der Kriegsminister, wurden im allgemeinen nur zu Vorträgen empfangen, bei Paradediners und im Manöver begrüsst. Die meisten riskierten, strammstehend, keinerlei freie Aussprache und, in den kurzen Unterhaltungen, noch weniger eine Einmischung in politische Angelegenheiten, nahmen die huldvollen Ansprachen dankerfüllt entgegen, lachten über die kaiserlichen Scherze, würgten allerhöchsten Tadel hinunter und kehrten dann wieder in ihre Provinzen zurück. Es ist also nicht richtig, dass es etwas wie eine Militärpartei, eine in der Aussenpolitik mitredende Militärkamarilla gab. Es gab, über das ganze Land ausgebreitet, eine Militärkaste, die nicht einen direkten Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben konnte, deren Vorherrschaft aber der auffälligste, für Fremde sonderbarste Zug im Leben Deutschlands war.
223 Unter den Mitarbeitern des Kaisers, die am Alltag den Zivilrock trugen und nur bei Hoffesten durch Anlegung einer Uniform zu Rittmeistern oder Oberstleutnants wurden, gab es auch keine Kraftgenies. Auf der obersten Stufe glaubte Herr von Bethmann-Hollweg, bald entsetzt über österreichische Treibereien und bald durch eine forsche Geste sich selbst künstlich vortreibend, den Zügel zu halten, der fortwährend seiner Hand entglitt. Seit dem Tode Kiderlen-Wächters teilte Herr von Jagow – nicht ohne geistige Feinheit, aber zu feinfädelnd – mit ihm die Geheimnisse der Akten und der auswärtigen Politik. Neben der grossen und schweren Gestalt Bethmanns, neben der »philosophischen«, professoralen Natur des Reichskanzlers, der ein frischer Tatmensch sein wollte, schlich schmächtig, kaum hörbar, und mit den Manieren früherer Diplomatengenerationen der Staatssekretär behutsam durch die Räume an der Wilhelmstrasse und verbarg, wie es in der Zeit des Wiener Kongresses Mode gewesen war, in kritischen Stunden seine innere Bewegung hinter dem Lächeln der Sphinx. Eigentlich wurde nur wenigen Personen im Auswärtigen Amte eine Mitwirkung bei wirklichen hochpolitischen Entscheidungen gegönnt. Einfluss hatte Wilhelm von Stumm, weil er als Englandkenner galt, und mehr noch, weil seine auch nur stossweise funktionierende und nicht immer echte Bestimmtheit andern eine Rückgratsstärkung gab. Dazu kamen noch, aber schon in zweiter Reihe, der Unterstaatssekretär Zimmermann, seines Fleisses und mancher Sachkenntnis wegen trotz unadliger Abkunft brauchbar gefunden, unverwüstlicher Korpsstudent selbst in Gichtanfällen, und auch Hammann, dem die Aufgabe zufiel, Kanzlerreden zu entwerfen und mit seinen Vertrauten die öffentliche Meinung auf den richtigen Weg zu bringen. Ein kleiner, intimer, geheimnisvoll waltender Kreis, immer, solange das Werk noch im Werden war, siebenfach verriegelt nach aussen hin. Diese ganze Gruppe litt unter der Erinnerung an die diplomatischen Misserfolge und Enttäuschungen, die mit Algeciras begonnen hatten und zu denen nun, nach der Katastrophe von Agadir, auch noch der Zusammenbruch der Türkei gekommen war. Sie litt unter dem gesteigerten Selbstgefühl der Diplomaten in Frankreich und Russland, sie litt unter dem Widerstande und den ablenkenden Vorwürfen derjenigen, die immer noch die falsche Marinepolitik, die schuldige Ursache der Entente cordiale, verteidigten und propagierten, und unter der gereizten Unzufriedenheit, die ihr im Kasino, im Klub, in den Reichstagshallen, bei alldeutsch durchwehten Nationalliberalen und Konservativen entgegentrat. Sie bestand nicht aus entschlossenen Draufgängern, nicht aus trotzigen, rücksichtslos auf das Ziel hinmarschierenden Anhängern gewaltsamer Lösungen, sondern, zum mindesten in ihren Hauptfiguren, aus Nervenmenschen, die irgendein Morphium brauchten, um sich Mut zu machen und sich in Schwung zu bringen. Es fehlten die unbeirrbar sichere Hand, die unverwirrbare Klarheit der Intelligenz, das untrügbare Urteilsvermögen, die schöpferische Phantasie, die 224 Geistesgegenwart, die Geistesgelenkigkeit, mit der auch noch Bülow, auf der äussersten Kante, den Absturz vermied.
Fast alle hatten sie brauchbare Qualitäten, konnten sie lesbare Berichte abfassen, bearbeiteten sie die »laufenden Geschäfte« so, wie es vorgeschrieben und überliefert war. Für die schweren Fälle reichte das, was man gelernt hatte, nicht aus. Jules Cambon schrieb nach dem Tode Kiderlens, es fehle »Deutschland zu seinem Unglück an Männern« – und Kiderlen war auch nur gross gewesen, weil es keinen Grössern gab. Woher sollten die Talente nachwachsen, da ja aus dem Reservoir der Volksintelligenz, aus so vielen gebildeten, denkenden, schaffenden Schichten der Nation kein Zuzug kam? Jules und Paul Cambon waren von unten her aufgestiegen, Barrère, Frankreichs glänzender Botschafter in Rom, war revolutionärer Journalist gewesen, Poincaré und Briand hatten in der Advokatenpraxis ihren Verstand geschärft und in England hatte man Disraeli gehabt und auch seither ohne Vorurteil die Talente, die sich darboten, für den Dienst des Reiches genützt. In Deutschland wachten die Adelskaste und die konservativen Beamtensippen darüber, dass kein Unbefugter den heiligen Hain ihrer Privilegien betrat. In den Volkskreisen, die man die untern nannte, war eine ganz andere geistige Entwicklung vor sich gegangen, hatten Lerntrieb und das Streben, den Horizont zu erweitern, ganz anders zugenommen als in Oberschichten, in denen für korrekte Mittelmässigkeit die Laufbahn keine Schwierigkeiten hatte, die Geister eine Uniform trugen und man sich nur nach dem Schema zu richten brauchte, um des Erfolges sicher zu sein. Das Gymnasium, mit unlebendigen Lehrmethoden und byzantinischer Entstellung der Geschichte, lieferte dem Staat keine Führer mehr, bereitete nicht zu selbständigem Denken und verantwortungsvollem Handeln vor. Von den Bänken der Volksschule kamen, mit kritischer Auflehnung gegen alte Formeln, weit mehr Kraft und Regsamkeit. Erfreulicherweise brauchte man Emporkömmlinge nicht zu fürchten, da einwandfreie konservative Parteigesinnung die erste Vorbedingung jeder Staatskarriere war und nicht einmal der zahmste Liberale die Möglichkeit hatte, auf einen einigermassen ansehnlichen Posten in den Regierungsämtern zu gelangen. Immerhin war es doch ratsam, dem unsinnigen Gedanken, dass es eine staatsbürgerliche Gleichberechtigung geben könne, energisch entgegenzutreten, und da Bismarck in einer Unglücksstunde das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht für den freilich machtlosen Reichstag bewilligt hatte, musste man um so entschiedener das Klassenwahlrecht in Preussen aufrechterhalten, musste um so unantastbarer die Einteilung in Herrschende und Untertanen, der Staat der Klassen und Kasten weiterbestehen. Und es war ein Kastenstaat nach dem Herzen aller Mandarine: zuerst die Hoffähigen, dann diejenigen, die es mit steigendem Rang und höherem Orden zu werden hofften, und dann das gewöhnliche Bürgertum und schliesslich der Prolet.
225 Wenn man sagen muss, dass das Regierungspersonal und die Beamtenschaft infolge der Schranken, die sie um sich herum aufgerichtet hatten, geistig dürr, unschöpferisch geworden, und für Kapitänsaufgaben in stürmischen, ungewöhnlichen Zeiten unzureichend waren, so muss man auch sagen, dass diese Bürokratie im allgemeinen ehrbar, pünktlich, mit Fleiss und Pflichtgefühl ihren Dienst versah. Es gab Unterrichtsminister, die von ihrer Zeit, von neuerer Kunst, Literatur und der Arbeit in andern Kulturwerkstätten sicherlich weniger wussten als mancher Fortbildungsschüler, aber die Ordnung in ihrer Verwaltung war musterhaft. Die stetige Abwicklung der Geschäfte wurde in den höchsten Regierungsregionen nur dadurch erschwert, dass einzelne Ressorts, und manchmal auch in den einzelnen Ressorts die einzelnen Personen, gern gegeneinander regierten und bei dem Durcheinander der Kompetenzen und der fortschreitenden Verwischung aller Machtgrenzen die für eine Entscheidung verantwortliche Stelle sich kaum herausfinden liess. Es bestand kein Zusammenhang, keine Fühlung zwischen den für die grosse Politik wichtigsten Regierungsgebieten, aber um so mehr das Bestreben, sich selbständig zu machen und ohne Wissen und jedenfalls ohne Zustimmung des Reichskanzlers und seiner Umgebung auf fremde Felder vorzudringen. Wilhelm II. war Kaiser und oberster Kriegsherr, höchste Instanz in der Politik und im Heere, aber während er als Schiedsrichter, dem die einen und andern ihre Angelegenheiten vortrugen, die Harmonie, die Uebereinstimmung zwischen den einen und den andern hätte pflegen, für einen Austausch und eine Annäherung der Ideen hätte sorgen müssen, hielt er die einen von den andern fern. Obgleich er auch ihre Vertreter nicht immer gnädig behandelte, hatte er einen grossen Respekt vor der Militärkaste und Ministern, die er eigentlich erst aus dem Staube erhob, indem er sie zum Leutnant ernannte, und Diplomaten, die doch, auch wenn er sie selbst ausgewählt hatte, nichts Gescheites zustande brachten, war das Hineinreden und sogar das Hineinschauen in militärische Dinge streng verwehrt. Tirpitz drängte sich, unter dem Beifall des Monarchen, auf das Terrain der Politik. Wenn Bethmann, deutscher Reichskanzler, sich ein Urteil in Marinefragen erlauben wollte, bedeutete man ihm, er sei ein ahnungsloser Zivilist. Bismarck, der immerhin den ältern Moltke gekannt, Königgrätz und Sedan miterlebt hatte, sah nicht, wie Faust Helenen in jedem Weibe, ein besonderes Wesen in jedem General. Unter der Gunst Wilhelms II. stieg die Autorität der mit immer neuen Tressen und Knöpfen geschmückten Armee ins Ungemessene, und ihren Anbetern und Anbeterinnen erschien sie als das Unnachahmliche, das Wunder, das Ideal.
Diese Verhimmelung galt eigentlich nicht der Armee, denn der gemeine Mann zählte dabei gar nicht mit, sondern das Wunder begann erst beim Offizier. Den preussischen Leutnant, wurde versichert, mache uns niemand nach – und ob man ihn nachmachen wollte, fragten seine 226 Verehrer nicht. Der Respekt vor jedem Offizier, der die Abzeichen eines höhern Ranges oder an den Hosen die Generalstabsstreifen trug, war nur mit der gläubigen Anbetung zu vergleichen, die früher orientalische Fürsten umgab. Bürger, die auf der Strasse aus Versehen den Aermel einer Offiziersuniform streiften, waren so erschüttert, als hätten sie fahrlässig das schlimmste Verbrechen begangen. Im Generalstab sass – man durfte nicht daran zweifeln – an jedem Schreibtisch ein stiller Meister der Strategie. Wie nach dem Tode Friedrichs II. war man überzeugt, in Preussen sei Feldherrenbegabung erblich, und eigentlich sei sie eine echt preussische Eigenschaft. Aber wie in dem Zivilbeamtentum die Geisteskraft an der Geheimratsgrenze erlosch, gab es im deutschen Generalstab mehr fleissige, gewissenhafte, kein Detail vergessende Organisatoren als Führertalent. Wie Kunsthandwerker, die mit unendlicher Sorgfalt ein altes Muster nachbilden, arbeitete man in strenger Pflichterfüllung nach überlieferten Ideen. Böse Ketzer sind ja ganz allgemein der Ansicht, die geistige Leistung des Feldherrn werde überschätzt, und Tolstoi hat sogar den Kranz Napoleons zerpflückt. Paul Louis Courier hat, nachdem er als Offizier an einigen Feldzügen teilgenommen hatte, höhnisch geschrieben, bei der Lektüre Plutarchs krepiere er nur noch vor Lachen und an die grossen Männer glaube er nicht mehr. So weit in der Lästerung zu gehen, hat in Deutschland natürlich kein Schriftsteller gewagt. Indessen, man muss doch hinzufügen, dass die Verherrlichung der Epauletten und Tressen, ebenso wie der sonstige Byzantinismus, vor allem eine Religion für eine gutsituierte und loyal gesinnte Bourgeoisie, für Pastoren, Professoren und Oberlehrer, für Industriekreise mit machtpolitischen Instinkten, für höherstrebende Bankiersfamilien und für die genügsamere Mittelstandsschicht der Schützenfeste und Bannerweihen war. In andern Volksregionen amüsierte man sich über die Bilder im »Simplizissimus«, genoss die Lieder, in denen Ludwig Thoma die Heldenpomade besang, und hatte, wobei man manche Tüchtigkeit verkannte und Unerfreuliches zu sehr verallgemeinerte, für die Gesten des militaristischen Uebermenschen gar keine Sympathie. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass gerade das Schauspiel eines peinlichen Hochmutes erzieherisch auf die bessern Naturen in der Armee wirkte, und dass hinter den Figuren, die allzu vordringlich ihr schneidiges Benehmen zur Schau stellten, eine grosse Mehrheit von Offizieren ernst, einfach, bescheiden ihren Dienst versah. Es ist sehr wahrscheinlich, dass mancher von ihnen für die Kritik, die im Volke sich äusserte, Verständnis besass. Indessen, auch die weitaus meisten derjenigen Deutschen, die von Abneigung gegen den Standesdünkel erfüllt waren, konnten sich die Führung der Wehrmacht nicht anders als überlegen und siegreich denken und meinten, sie müsse im Alleinbesitz einer besondern Geheimwissenschaft sein. Nur sehr wenige gaben sich nicht solchen mystischen Vorstellungen hin.
227 Wahrscheinlich – das lässt sich nicht mit der Juwelierwaage abwägen – hatte die Idee, dass ein Krieg etwas sehr Schönes wäre, in dem deutschen Offizierskorps nur gerade soviel begeisterte Anhänger, wie unter den Offizieren der französischen Armee. Vielleicht sogar auch etwas weniger, da das eigentliche treibende Motiv der französischen Militärs fehlte – die Begierde, den verlorenen Ruhm wieder herzustellen. Indessen, Abenteuerlust, Langeweile, Wunsch nach schnellerer Beförderung und Auszeichnung, unklare Begriffe von Kriegsromantik und noch unklarere von Weltpolitik, die Lust, auf weitem Felde zu kommandieren, Massen zu entwickeln und richtige Strategie zu treiben, und jene Instinkte, die im Schiessen und Stechen ihre Befriedigung suchen, drängten und spornten natürlich manchen auch hier. Solange es eine Kriegerkaste gibt, muss man sich damit abfinden, dass Leute zu ihr gehören, deren Herz nicht gerade für Frieden, Volksglück, Heiligkeit des Menschenlebens und ähnliche Bürgerideale erglüht. Der Generaloberst von Seeckt hat in seinen »Gedanken eines Soldaten« geschrieben, die Figur des säbelrasselnden, kriegshetzenden Generals sei eine Erfindung skrupellosen politischen Kampfes, geistloser Witzblätter, und der Offizier, der »erfahrene und wissende Soldat«, der »dem Krieg tief in die blutunterlaufenen Augen gesehen hat«, fürchte den Krieg weit mehr als der Phantast, der von dem Grauen der Schlachtfelder nichts weiss. Was die Generale betrifft, so könnte man allenfalls das Zeugnis Bismarcks anführen, der im zweiundzwanzigsten Kapitel seiner »Gedanken und Erinnerungen« gesagt hat, »dass sich der Generalstab und seine Chefs zur Zeit der Luxemburger Frage, während der von Gortschakow und Frankreich fingierten Krise von 1875 und bis in die neueste Zeit hinein zur Gefährdung des Friedens haben verleiten lassen«, und Conrad von Hötzendorff hat in ausserordentlich umfangreichen Memoirenbänden sehr aufrichtig von seinen Bemühungen, den Krieg herbeizuführen, erzählt. Die jüngern Offiziere hatten dem Krieg noch gar nicht in die Augen geblickt. Sie lebten in der Freude an buntkolorierten heroischen Bildern und mancher bürgerliche Phantast ahnte die Wahrheit besser als sie. Dass die Generalität, mit Ausnahme ihrer höchsten Spitzen, im allgemeinen wenig Gelegenheit hatte, einen Einfluss auf die Politik auszuüben, ist schon gesagt worden, und weiter unten fehlte zu direkter Einwirkung erst recht jede Möglichkeit. Immerhin wird die Stimmung, die von einer Armee ausgeht, niemals, in keinem Lande, und besonders dann nicht, wenn nervöse, innerlich unsichere und nach aussen hin gern mutig erscheinende Persönlichkeiten den Staat leiten, ein ganz gleichgültiger Faktor sein.
Hoffnung derjenigen jüngern Offiziere, die im Kasino und beim Ball gern eine heroische Konversation führten, und eine als brauchbar erachtete Karte in den Händen aller, die einer »schwachen« Politik ein Ende machen wollten, war seit längerer Zeit schon der Kronprinz, der nun von Danzig nach Berlin versetzt worden war. Die Schmeichler 228 versicherten, dass sein Gesicht eine grosse Aehnlichkeit mit den Zügen Friedrichs II. habe, aber er war weder Friedrich noch Louis Ferdinand. Das literarische Interesse, das er mit beiden gemein hatte, bekundete er, indem er Bücher, auf deren Titelblatt er als Autor genannt war, unter Mitwirkung liebenswürdiger Schriftsteller entstehen liess. Man kann zu seinen Gunsten sagen, dass auch bei ihm das übliche Popularitätsbedürfnis der Kronprinzen stark mitspielte und sein oft inkorrektes Benehmen sich durch eine gewisse Naturburschenfrische von der unpersönlichen Automatendürftigkeit anderer, korrekterer Prinzen angenehm unterschied. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte er öffentlich seinen Unwillen über die Schlappheit der Regierung kundgegeben, Bethmann-Hollweg hatte sich über ihn beschweren müssen, Kiderlen-Wächter, in diesen Dingen erfreulich rücksichtslos, hatte ihn genötigt, das ewige Telegraphieren auf Staatskosten einzustellen. Jetzt eben, im Jahre 1913, hatte er in einem »Wort zum Geleit«, das einem Bilderbuch »Deutschland in Waffen« als besonderer Schmuck beigegeben wurde, sich gegen das ungestörte Geldverdienen ausgesprochen, für das man Frieden, Frieden um jeden Preis, brauche und das darum »die alten Ideale« schädige, und als wäre er ein Spartaner – aber er war keiner –, hatte er erklärt, Komfort und Luxus seien »ein Ueberflüssiges, das wir lachend in die Ecke werfen, in dem Augenblick, wenn der Kaiser uns ruft und wenn wir die Hände freihaben müssen für das Schwert«. Als er sich von seinen Leibhusaren in Danzig verabschiedete, sagte er in einem Regimentsbefehl: »Wenn einmal der Krieg ruft und das Signal ›Marsch marsch!‹ wird geblasen, so denkt an den, dessen sehnlichster Wunsch es stets war, diesen Augenblick des höchsten soldatischen Glücks an eurer Seite miterleben zu dürfen«, und offenbar sah er sich an der Spitze seiner Reiterscharen in Schönheit sterben wie Max Piccolomini und Schill. Diese Glücksträume haben sich dann nicht erfüllt. Wie alle frühern Kundgebungen seiner militärischen Begeisterung, wurde auch der Danziger Trompetenstoss von den trockenen Geistern der Linksparteien und einem Ruhe liebenden Publikum ungünstig kritisiert. Für die andern, die den Mut und die Entschlossenheit des Vaters gering bewerteten, war er das verheissungsvolle neue Reis am alten Hohenzollernstamm.
Diejenigen, die entweder den Krieg wünschten oder den Gedanken an die Möglichkeit eines Krieges doch ohne allzu grosses Widerstreben angenommen hatten, waren in Deutschland eine in der Masse verschwindende Minderheit. Und was konnte das deutsche Volk, in dem die meisten, unbewusst Bismarck folgend, nicht an der Koloniemanie litten und auch keineswegs von Weltherrschaft träumten, von einem Kriege erwarten, und warum hätte es in einem furchtbaren und dunklen Abenteuer ein nützliches Unternehmen sehen sollen? Nach einer statistischen Aufstellung, die gegen Ende 1913 erschien, nahm die Bevölkerung Deutschlands alljährlich um achthunderttausend Menschen 229 zu, und man berechnete, sie werde spätestens im Jahre 1930 auf 80 Millionen angeschwollen sein. So wurde, während anderswo die Wiegen leer blieben, auf dem friedlichen, angenehmen und natürlichen Wege der Zeugung eine stetige und gewaltige Machtvermehrung erreicht. Zum Regierungsjubiläum des Kaisers entwarf Karl Helfferich in seiner Schrift »Deutschlands Wohlstand 1888 bis 1913« von der Entwicklung des deutschen Volksvermögens ein überaus rosiges Bild. Er schätzte es auf 290 bis 320 Milliarden – gegen 200 um die Mitte der neunziger Jahre – während er für England 230 bis 260, für Frankreich 232 angab und nur den Amerikanern, mit 500 Milliarden, einen Vorsprung vor Deutschland liess. Allerdings musste er konstatieren, dass bei Berechnung des Durchschnittes auf den einzelnen Deutschen nur 4500 bis 4900 Mark entfielen, ungefähr 1000 Mark weniger als auf das Einzelindividuum in England, Frankreich und Amerika. Aber musste sich nicht auch das schnell zugunsten Deutschlands ändern, wo der Unternehmungsgeist fortwährend neue Möglichkeiten schuf, das Wirtschaftsleben den starken, jugendlichen Elan hatte, der von Saft strotzende Baum immer mehr Früchte gab? »Stärker noch als die in grossen Zahlen klingenden Erfolge«, schrieb Helfferich, »wirkt auf den Beschauer das Gefühl der elementaren Lebenskraft, die in den Adern des deutschen Volkskörpers schlägt und alle seine Glieder dehnt und reckt.« Sein Buch war eine Festgabe, eine Huldigung für den Monarchen, aber auch wenn man all das abzog, was Jubiläumsschaum und höfische Finanzwirtschaft war, blieben die Resultate bewundernswert. Ein Volk, das so den Erfolg unablässiger und ungestörter Arbeit sah, war gewiss nicht kriegerisch. Helfferich selber freilich war ein sehr zweifelhafter Erzieher, denn seine Schrift sollte dazu beitragen, »das deutsche Selbstvertrauen auf die Höhe der deutschen Volkskraft zu bringen«. Andere Beobachter waren der Meinung, es sei gar nicht nötig, durch eine etwas übertreibende Anpreisung der eigenen Stärke den Irrtum zu befestigen, die andern Nationen ringsherum seien gebrechlich, altersschwach, ausgedörrt.
Otto Hammann verstand von Finanzen natürlich nichts. Eher etwas von Volkspsychologie. Sein Urteil, »ein Hang zum Prahlen und Auftrumpfen, ein gönnerhaftes Verhalten gegen andere Kulturnationen« sei »als eine von zu raschen Erfolgen in Industrie, Technik, Handel, Schiffahrt wohl unzertrennliche Begleiterscheinung gelegentlich in fast allen Schichten« hervorgetreten, traf nicht nur für die Schichten zu, die sich ganz besonders im Glanz der zu raschen Erfolge sonnen konnten – auch viele derjenigen, denen nur aus dünnen Nebenröhren etwas von dem Segen zutröpfelte, waren vom stolzen Wahn erfasst. Man reiste, da man Geld hatte, noch mehr als vorher schon ins Ausland, glaubte sich weit gründlicher als die durch alle Museen geschleiften Amerikaner, und allzu viele kamen, ohne viel von dem Wesen anderer Völker verstanden zu haben, mit noch erhöhter Selbstbewunderung wieder heim. Moralische Eroberungen für Deutschland machten diese Reisenden im 230 allgemeinen nicht. »Es fehlte«, sagt der Tadler Bülow, »einem nicht kleinen Teil der Gebildeten unseres Volkes das Verständnis für die Notwendigkeit weltmännischer Formen im internationalen Verkehr.« Die deutschen Reisenden pflegten auch zu erzählen, die andern hätten keine Ordnung, keine Organisation, ihre Einrichtungen wären veraltet, ihre Postämter liederlich. Kaum einer von ihnen bemerkte, dass der Postbeamte in dem unfreundlichen, nicht mit dicken Ornamenten geschmückten Raum Briefe und Geldsendungen sehr schnell expedierte, und dass eine langsam und sorgfältig aufgebaute Organisation sich im entscheidenden Moment durch flinke Intelligenz ersetzen, Fehlendes sich bei richtiger geistiger Beweglichkeit improvisieren liess. Ebenso wie man darauf schwor, dass in all diesen Dingen nur Deutschland etwas leisten könne, war man überzeugt, dass die deutsche Kultur die einzige wertvolle sei. Ueber Pasteur, der die Tollwut überwunden hatte, erheiterten sich die Witzblätter, die deutsche Wissenschaft marschierte andauernd auf allen Gebieten an der Spitze, obgleich in dieser Epoche doch nur Technik, Physik, Chemie und die Arbeit des Arztes glänzende Resultate hervorbrachten und sonst von der grossen Generation der Forscher und Denker nur eine kleine Zahl überragender Erscheinungen übriggeblieben war. Die herrliche, nie genug bewunderte Tat Röntgens machte es möglich, die Körper zu durchleuchten, das Verborgenste aufzuspüren, bisher ungeahnten Prozessen der Bildung und Zersetzung nachzugehen. Sie reihte sich ruhmreich an die grössten lichtbringenden Taten an, aber der Geist des Prometheus, der die Geheimnisse der Materie enthüllte, überschritt die Schwelle des allgemeinen Gedankenlebens nicht oft. Auch dort, wo Bildung eifrig gepflegt wurde, war Goethe sehr vielen nur ein Name, und in einem pedantischen Studium wurde der Geist nicht erweitert, sondern der Horizont beschränkt. Schon Nietzsche hatte von Goethe gesagt: »Für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst.« Nietzsche hatte, in »Menschliches, Allzumenschliches«, auch über den »deutschen Jüngling« und die »deutsche Tugend« einiges geschrieben: »Damals gewöhnte man sich daran, zu verlangen, dass beim Worte ›deutsch‹ auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde« – und es gab eine besondere »deutsche Treue«, wie angeblich die Eiche gleichfalls nur auf dem deutschen Boden wächst. Indessen, man muss sich daran erinnern, dass für die Lavisse und Barrès alle Tugenden französisch waren, und es ist kaum zu bestreiten, dass ganz ähnlich der Engländer sich für ein auserwähltes Wesen hielt.
Das deutsche Bürgertum war nicht eine Ansammlung ausgeprägter Einzelindividuen, sondern hatte eine Massenphysiognomie, ein Normalgesicht. Das trat schon im Aeussern hervor, und einem Maler, der die Teilnehmer einer Herrengesellschaft malen wollte, ging es sehr oft ungefähr wie dem Franz Hals und den andern Niederländern, deren Kunst allein jeder Gestalt auf den Gildenbildern ein besonderes Antlitz 231 verlieh. Man hatte gelernt, den Smoking zu tragen, und es war wieder eine Uniform. Um so mehr versuchte – und das nahm in einem Lande mit neuem Reichtum noch auffälligere Formen an als bei den schon lange an Besitz gewöhnten Nationen – jeder, der einigermassen in sich solche Fähigkeiten verspürte, sich von der Menge zu unterscheiden, aus ihr herauszukommen. Die niedere Beamtenschaft hatte ihre Rangstufen, ihre Ehefrauen konnten sich mit »Unter« und »Ober« behängen, und der Mittelstand und der Kleinbürger hatten das Vereinswesen, wo man Vorstandsmitglied, Schriftführer wurde, oder sogar Präsident. Die höher gelangten Bürgerschichten brauchten anderes und mehr. Wilhelm II. machte, um die Museen füllen, Ausgrabungen ermöglichen und Laboratorien einrichten zu können, das Grosskapital mobil. Er zog, oft mit kräftig nachhelfendem Zerren, Stifter und Mäzene herbei. Je weniger man seine Fehler verschweigt, desto entschiedener muss man zugeben, dass er für diesen Teil seiner Tätigkeit Dank verdiente, und desto bereitwilliger muss man es loben, dass er rührig und ungeniert, um ideelle Zwecke zu fördern, hartnäckige Geldschränke zu öffnen verstand. Aber die Widerspenstigen wurden mit Hilfe von allerlei Verlockungen gezähmt, erzwungenes Mäzenatentum wurde mit Titeln und Ehren bezahlt. Daraus entstand ein weit durch das Land dringender Geschäftsbetrieb, der unangenehm roch. Wenn der Geschäftssinn des Kaisers, einer guten Sache wegen, die Eitelkeit und die Dummheit auf der bürgerlichen Pfauenwiese gründlich ausnutzte, so übertrumpfte der spekulative Eifer vieler Landesfürsten ihn noch. Es gab in Deutschland kaum noch einen Titel, der nicht käuflich war. Vor den mit Geldsäcken beladenen Eseln öffnete sich das Tor. Die preussische Generalordenskommission forderte im Etat für 1914 statt der 300,000 Mark, die im Jahre vorher für die Anschaffung von Ordensinsignien nötig gewesen waren, 450,000 Mark, der Ordenssegen vermehrte sich um fünfzig Prozent. Im Oktober 1913 veröffentlichte die »Frankfurter Zeitung« Schriftstücke, aus denen man den Umfang des Titelhandels und die Marktpreise ersehen konnte: der preussische Kommerzienrat kostete 75,000 Mark, der gleiche Titel, von kleineren Bundesstaaten verliehen, 30,000, die Ernennung zum Hofrat, zum Baurat, zum Professor, alles war zu haben, alles wurde angeboten, für jeden Geschmack war gesorgt, jedes Stück in diesem Bazar hatte seine Liebhaber und gewandte Vermittler beschäftigten sich mit dem Vertrieb der Ware, setzten die Bittschriften auf und regelten den Barverkehr. Marie von Bunsen, gewiss keine perfide Umstürzlerin, erzählt in ihren Erinnerungen, die unter dem Titel »Die Welt, in der ich lebte« erschienen, dass eine einflussreiche Palastdame, eine kleine verwachsene Person, blutarm zur damaligen Prinzessin von Preussen kam und am Ende ihres Lebens ein beträchtliches Vermögen besass. Sie »befürwortete Adels- und Ordensauszeichnungen sowie Kommerzienratstitel«, und vor allem »blühte ihr Weizen am Rhein, dort war sie eine Macht«.
232 Wie in allen Ländern, waren das Gute und das Schlechte eng verknüpft, verschlungen, ineinandergewebt. Die Tüchtigkeit und die überhebliche Unterschätzung fremden Wertes, der Fleiss und die Vergnügungssucht, der Studiereifer und die Vorliebe für Kulturschminke, das Selbstbewusstsein und der Verzicht auf Selbständigkeit, der kritische Zweifel an den höchsten Mächten und die Unterwerfung unter jeden Machtspruch, die solide Ehrlichkeit und die brutale Erwerbsgier, der Scharfsinn in der Verfolgung der privaten und die gedankenlose Gleichgültigkeit in der Behandlung der allgemeinen Interessen, der starke Drang nach dem »Grosszügigen« und die Kleinlichkeit, die dem Nachbarladen nichts gönnt. Auch all die üblen Instinkte waren schon vorhanden, die dann, durch die plötzliche Umwälzung aller Verhältnisse hervorgerissen und unter der Herrschaft der Gewalt angeblich legalisiert, sich betätigen, wenn der Krieg über die Erde rast. Aber so vieles im Denken und Fühlen, im Tun und Wollen des Volkes auch durcheinanderging – der ungeheuren Mehrheit lag jede kriegerische Neigung fern, war der Friede ein teuerstes Gut, die Möglichkeit, dass jemals der Orkan losbrechen könnte, ein bedrückender, atemraubender Traum. Gab es neben dieser grossen Majorität Personen und Kreise, die zielbewusst zum scheusslichen Massenmord drängten, ihn laut verherrlichten, ihn ungeduldig herbeiriefen, ihre Hoffnung auf ihn setzten, Glück und Seligkeit in ihm sahen? Sie waren vorhanden, wie ziemlich überall. Die Dummheit, die keine Ahnung hatte, was ein moderner Krieg bedeutete, existierte ebenso wie das kaufmännische Talent betriebsamer Heereslieferanten, die den Gewinn blutiger Geschäftsjahre im voraus berechneten und hinter der immer wehenden Flagge des Patriotismus Kanonen und Gewehre mitunter den fremden Regierungen billiger verkauften als der eigenen Armee. Wie in Frankreich, wie überall, ersehnten auch hier den Krieg abenteuerlustige, unstete, problematische Naturen, überdrüssig der eintönigen Friedensarbeit, begierig nach Veränderung oder auf der Flucht vor mahnenden Gläubigern, vor einer langweiligen Ehe, einer zu dauerhaften Liebelei. Diese Elemente malten sich einen »frisch-fröhlichen Krieg« aus, andere, gesetztere, weniger zerfahrene Leute zitierten lieber das Wort vom »Stahlbad« und meinten, die Kur würde einem schon zu aufsässig gewordenen Volke durchaus bekömmlich sein. Man konnte aus dem Munde solcher Herrenmenschen, von denen viele sich in Sicherheit, versichert gegen Kriegsstrapazen, wussten, die Ansicht hören, das Volk müsse einmal »tüchtig an die Kandare genommen« werden, ein kleiner Aderlass sei nötig, der lange faule Friede habe die Bande frommer Scheu schon viel zu sehr gelockert, den ehemals fügsameren Untertan nur auf verderbliche Gedanken gebracht. Für die härteren Naturen, und auch für Schwächlinge, die sich bei solchen Aussprüchen für starke Politiker hielten, war dies ein ganz besonderes Motiv. Sogar im Reichstag stellte man bisweilen prahlerisch eine frohe Kriegslust zur Schau. Man brüstete 233 sich mit ihr, rief sie laut durch die Fenster hinaus. Als am 10. November 1911 der freisinnige Abgeordnete Wiemer in einer Rede bemerkte, der Pariser »Eclair« habe geschrieben, dass in Deutschland eine starke Kriegspartei bestehe, verzeichnete der stenographische Bericht den Zuruf rechts: »Gott sei Dank!« Unter grossem Lärm der Rechten sagte Wiemer: »Von diesem ›Gott sei Dank‹ nehme ich Akt.« Kerntruppe und Vorhut der Kriegsbereiten waren die alldeutsch Gesinnten, wobei es schwierig war, die Gattung genau zu umgrenzen, denn die Gesinnung des Alldeutschen Verbandes hatte befruchtend gewirkt. Nicht nur jene Zwischenrufe im Reichstag bewiesen, dass auch bei den Konservativen einige alldeutsche Verwandtschaft sass, und vielleicht hatten die alldeutschen Samenkörner sich noch besser in der Nationalliberalen Partei entwickelt, die ein weicher Boden war. Wie die »Renaissance« in Frankreich ihre Fanfarenbläser hatte, die das Signal der Erhebung hinausgellen liessen, so schmetterten hier Spielleute, aber doch zumeist unansehnlichere, mehr abseits stehende, ihre Weise durch den Weltenraum. »Ins erhobene Horn – bläst Heimdall laut.«
Schriftsteller von Ruf und Rang übernahmen hier nicht dieses Amt und die Kriegsposaune galt der deutschen Literatur nicht als ein vornehmes und von Apoll geweihtes Instrument. Es gab hier nicht unter den Grossen der Literatur aktive Antimilitaristen, keinen Anatole France, keinen Octave Mirbeau. Es gab unter ihnen auch keinen, der einem kriegerischen Militarismus Kränze wand. In Frankreich rühmten die gefeierten Modedichter der Akademie, vereinigt mit den berühmten Historikern, die Schönheit des Krieges – in Deutschland musste man, um einen solchen Hymnensänger aufzuspüren, die Winkel kleiner Familienblätter durchsuchen oder in entlegene Literaturprovinzen gehen. Auch keiner der angesehenen Professoren lehrte, wie Lavisse, auf dem Katheder und in Büchern den herrlichen Völkermord. Und selbst die Begeisterung eines Roethe flog nicht ganz so weit. Die Gelehrten blieben in dieser Zeit noch zumeist in ihren Studierstuben und waren, obgleich man unvorsichtigerweise ihre Weltfremdheit tadelte, damals sehr viel gescheiter als in den spätern Perioden, wo angeblich vaterländische Pflicht oder ein verlockender Rat manchen drängte, auf den Markt hinauszutreten und seine politische Unkenntnis öffentlich auszustellen. Sucht man nach bekannten deutschen Namen, die für die Kriegsidee in die Waagschale geworfen wurden, so verweilt man bei dem General Friedrich von Bernhardi, der in seinem Buche: »Deutschland und der nächste Krieg« zu beweisen versuchte, dass »die Erhaltung des Friedens niemals der Zweck der Politik sein kann und sein darf«, und der, seinen Lesern »die Pflicht zum Kriege« einprägend, alles von dem Grundsatz ableitete: »Das Wesen des Staates ist Macht.« Mit einer Wahrung der bereits vorhandenen deutschen Macht wollte er sich nicht begnügen und stellte die Zaghaften vor die Wahl: »Weltmacht oder Niedergang.« Sein Buch, mit starker schriftstellerischer Begabung geschrieben, hatte 234 im Jahre 1913 die sechste Auflage erreicht. Es wurde in Offizierskasinos und einigen konservativen Familien als Offenbarung hochgehalten, drang nicht in grössere Publikumskreise und war im übrigen frei von jener Schmähung des Gegners, die anderswo den meisten Verfassern von Kriegspredigten zur Erwärmung der Gemüter unentbehrlich schien. Wenn man den Deutschen die Schriften Bernhardis vorwarf, so hätten sie wohl auf die französische Erweckungsliteratur hinweisen können, die genau die gleichen Gedanken aussprach und zu einer grössern Leserschaft ging. Erheblich weiter als die Lehren des Kavalleriegenerals drang der Einfluss zweier Persönlichkeiten, die man als die einzigen erfolgreichen Schriftsteller der alldeutschen Gedankenwelt bezeichnen kann, des übergesiedelten Engländers Houston Stewart Chamberlain und Maximilian Hardens, der dann während des Krieges, ungefähr um 1916, aus einem Saulus sich in einen Paulus zu verwandeln begann.
Neben Houston Stewart Chamberlain ist bisweilen Paul de la Garde gestellt worden, auch ein Vorkämpfer der Rassentheorie, der die »grosse Internationale des Liberalismus« hasste und dessen unabhängigen Geist der Gegner doch noch bewundern kann, selbst wenn die Funken Brandwunden verursachen und der Freimut mit Vorurteilen schwer belastet ist. Aber Chamberlain hatte dem Kaiser für alle Zukunft den Namen »Wilhelm der Deutsche« prophezeit und selbständig verliehen und La Garde hatte geschrieben, dass »der jetzt unter dem Namen Patriotismus gepflegte Vertrieb gewisser politischer und historischer Ansichten geradezu Vergiftung junger Seelen« sei, und die »Bedientenseele erzeugt«. Man stockt noch mehr, wenn man Harden zusammen mit Houston Stewart Chamberlain nennt. Aber diese Nebeneinanderstellung wird gewiss nicht den Eindruck erwecken, als wären sie zwei gleichartige Doppelfiguren an einem Monument. Ein solches Nebeneinander wird auch keinem von all denen passend erscheinen, die nach Jahren des Verkehrs immer wieder sich von Harden lossagen mussten, weil es unmöglich war, dauernd mit einer so empfindlichen Eitelkeit, mit einer so überraschenden Wandlungsfähigkeit, mit einer oft selber fehlgreifenden und immer unfehlbar anklagenden Richtergeste und mit Eigenschaften sich abzufinden, die zwischen Glänzendes und Bestrickendes sich drängten und irgendwoher aufstiegen, wie trübe Wasser aus einer dunklen Verborgenheit. Harden verirrte sich, bald hierin und bald dorthin, aber nie nach Byzanz. Er fühlte sich immer zurückgesetzt, und weil er nie zum Handeln berufen wurde, ertrug er den Aufstieg anderer nicht. Dazu veranlagt, Menschen und Dinge polemisch anzusehen und seine wechselnden Meinungen jedesmal zu überspitzen, reizbar und unbeständig, hätte er, zu einer politischen Aufgabe berufen, schnell versagt und niemals eine Aktion bis zum Ende geführt. Aber alles vollzog sich in dem Feuerschein eines Temperamentes, dessen Ursprung zwischen Himmel und Hölle lag. Unbegreiflich war nur, dass ein so ruheloser Geist sich 235 allmählich immer mehr dazu bequemte, allwöchentlich auf vielen Seiten einer Zeitschrift gesammelte Lesefrüchte lehrhaft auszubreiten, und dass ein so kunstverständiger, ein in Unterhaltung und im mündlichen Vortrag so sehr durch Prägnanz und witzige Treffsicherheit fesselnder Mann in dem Augenblick, wo er sich zu dieser Wochenarbeit niedersetzte, gegen die stilistische Geschwollenheit, die Ausschöpfung des nordischen Göttervokabulariums oder der Bibel, die Verrenkung der Sprachglieder offenbar keinen Widerwillen empfand. In der Sammlung seiner »Köpfe« findet man Essays, denen die deutsche Literatur nur wenige von gleichem Werte an die Seite stellen kann, aber auf seiner Polemik lasten die sprachlichen Verschnörkelungen und der Bildungswust. Mühsam, verzagend windet man sich hindurch.
Abwechselnd die Asen, die Apostel und die preussischen Patrioten anrufend, zürnte er über die schwächliche Friedensgenügsamkeit, mahnte er zu tapferer, starker Tat. Er fühlte sich als Vorkämpfer des echten Preussentums, das er nicht wie Rathenau mit etwas femininer Sehnsucht anbetete, mit dem er kokettierte und in das er sich auf genommen glaubte, seit er das Vertrauen des gestürzten Bismarck genossen hatte und bald der Bismarck-Gegner Holstein, bald ein anderer »Echter« mit heimlichen Informationen und Anliegen zu ihm kam. Wie es in dem Teutoburger Dickicht seines Stils oftmals ungemein reizvolle Lichtungen gab, sprach er zwischen Schwertgeklirr und Wogenprall bisweilen auch mit der Stimme friedlicher Vernunft, und beispielsweise bot er im Mai 1914, nach den französischen Wahlen, den Franzosen, deren Votum er mit Recht als Abwendung vom Nationalismus deutete, »eine ehrliche Probe, die letzte«, an. Uebrigens beschimpfte er niemals andere Völker, auch gegenüber ihren feindlich gesinnten Führern wahrte er einen angemessenen Ton, und der chauvinistische Jargon der Bierbänke war nicht nach seinem Geschmack. Aber von wenigen und kurzen Pausen abgesehen, pries er immer das höchste Heil, das letzte, das im Schwerte liegt. Vor Algeciras, im bosnischen Annexionskonflikt, bei allen diplomatischen Zusammenstössen, hatte er die von Holstein ersonnenen oder gelobten Unternehmungen mit Heilruf begrüsst. »Im Bereich der Politik«, sagte er, zu kriegerischer Entscheidung in der Marokko-Krise treibend, am 1. April 1905, »herrscht nicht Individualsittlichkeit, hämmert von jeher Macht sich das Recht«, und er spottete darüber, dass man finden könnte, das wäre »Brigantenpolitik«. Im Konflikt wegen der bosnischen Annexion war ihm sogar Bülows Haltung zu lau, nur ein Tropf könne einem vom Osten kommenden Kriege zaghaft ausbiegen, und »für Deutschlands Lebensinteresse darf der höchste Preis nicht zu hoch sein, auch der mit dem Blute deutscher Menschen zu zahlende nicht«. Nach dem Agadir-Streit verlangte er, dass Frankreich »zur Wahl gezwungen« werde, sich für den Krieg oder ein festes Bündnis mit Deutschland entscheiden müsse, und rechnete den Franzosen die ihnen drohenden Verluste vor. »Nicht nur zwanzig 236 Milliarden, auch karlingisches und altburgundisches Land und die Freiheit im Mittelmeer« – denn er sah schon »ein deutsches Gibraltar bei Toulon«. Jetzt, in der Periode der Balkankriege, hatte er, wie damals, zornig das Zwerggeschlecht gescholten, das den Echec hinnahm und froh, wieder einmal den Frieden gerettet zu haben, vom Felde der Unehre nach Hause ging. Weihnachten 1912 legte er, unter der altgermanischen Ueberschrift »Julfeuer«, den Wunsch »unter die Weihtanne«, dass dem Deutschen Reiche Männer beschert werden möchten, die »noch im Sturm zu wollen wagen« und »sich schämen, aus einer Zeit, die Reichsgeschäfte höchsten Ertrages verheisst, mit der Kunde heimzukehren: wir hielten uns hinten und kein Haar ward uns gekrümmt«. Da ihm wieder die Friedensliebe Wilhelms II. Sorge machte, griff er, wie so häufig, in den Kasten der historischen Reminiszenzen und schrieb, an unrühmliche Erlebnisse Friedrich Wilhelms IV. mahnend: »Das wurde Ereignis, als einem Preussenkönig nicht mehr der Mut zur Waffenwehr zuzutrauen war.« Etwas früher schon hatte er, nicht zum ersten Male, mit Napoleons Wort: »Von Preussen ist nichts zu fürchten«, die Trägen zu stacheln versucht. Die Jahrhundertfeier, mit der man das Gedächtnis an die Freiheitskriege erweckte, bot ihm besonders günstige Gelegenheit zu manchem giftigen Vergleich. »Wer mit Fritzenmut das Schwert zieht, kann Beträchtliches auf Preussens Tenne heimbringen« – aber Friedrich Wilhelm III. war, und der Finger deutete auf den Urenkel, von keinem Fritzenmut beseelt. Er führte, wie Thimme in einer Flugschrift ihm vorhielt, den Kampf gegen »Wilhelm den Friedlichen« mit ätzendem Hohn. Jules Hurets Wort: »Guillaume le Timide« musste wirken, wenn Harden es ins Publikum warf. Er heftete sich an die Sohlen Bethmann-Hollwegs, verspottete ihn, forderte unablässig die Beseitigung des schlappen Friedensglöckners, dessen »dürren Seelenboden nie eine Vision wärmend bestrahlt hat«, und sein Witz wurde flink und sehnig, stählte und belebte sich in diesem Spott. Mit dem Triebe der Menschen, die zum Leiden geboren sind, suchte und fand der Reichskanzler an jedem Freitag in der oft schwer aufnehmbaren Speise sein Pfefferkorn.
Diejenigen, die sich selbst als Alldeutsche bezeichneten und im Verband beieinander sassen, waren ein besonderer Stamm, der nach eigenen Sitten seine eigenen Sonnenwendfeiern beging und sich durch seine Sprache, sein immer wogendes Gefühlsleben und seinen Götterkultus auch von denen, die ihm am nächsten standen, deutlich unterschied. Wieder muss Ungerechtigkeit vermieden, muss zugegeben werden, dass in den Reihen der Alldeutschen, wie in denen des nicht zu Odin betenden Nationalismus, ehrbare Gemüter von nicht unbegründeter Sorge bedrückt waren, aber weil sie sich aufs Meer der grenzenlosen Phantasie hinaustreiben liessen, glichen sie dem Helden Grimmelshausens – »dem teutschen Helden, der die ganze Welt bezwingen und zwischen allen Völkern Frieden stiften wird«. Einige alldeutsche Führer – nicht 237 alle – haben später, als der militärische Zusammenbruch sich ankündigte, heftig bestritten, dass ihr Verband den Krieg gewünscht habe, und zwischen ihnen und mehreren Historikern, die ihnen die Unhaltbarkeit eines solchen Leugnens bewiesen, ist es zu scharfen Federkämpfen gekommen. Martin Hobohm, Hans Delbrück, Otto Baumgarten, Thimme und andere hielten ihnen in ihren Broschüren zahlreiche frühere Aussprüche vor. Es wäre leicht, an vielen Aeusserungen zu zeigen, welche grossartigen Eroberungsprojekte damals in den alldeutschen Gehirnen ausgebrütet worden sind. Als später einmal festgestellt wurde, dass die »Alldeutschen Blätter« am 3. August 1914 erklärt hatten: »Die Stunde haben wir ersehnt«, entstand eine publizistische Fehde mit dem Hauptgeschäftsführer des Verbandes, dem Freiherrn von Vietinghoff-Scheel, der behauptete, alles sei ein Missverständnis und niemals hätten die Alldeutschen den Krieg gewollt. Friedrich Thimme trat auf den Kampfplatz und richtete in einem »Offenen Briefe« an den Freiherrn die Frage, ob er zu bestreiten wage, dass »die Alldeutschen den Krieg herbeigewünscht, herbeigesehnt haben, und zwar ganz wesentlich aus dem Grunde, weil sie in ihm den grossen Jungbrunnen sahen«. In einem abschliessenden Artikel sagte Thimme: »Mögen die Alldeutschen sich damit entschuldigen, dass ihr Rat bei der Regierung keinen Eingang gefunden habe, mögen sie sich auf ihre sittlichen Beweggründe berufen, die einfache, klare, unumstössliche Tatsache wird sich immer tiefer in das Volksbewusstsein eingraben: die Alldeutschen haben zu dem furchtbarsten aller Kriege geraten, in dem ganz Europa in Blut und Tränen vergeht.« Die Nationalisten des einen Landes sind nicht erfinderischer als die des andern, überall wird dieselbe Ware produziert. Dem französischen Volke wurde von seinen Akademikern, dem deutschen wurde von seinen Barden der »Jungbrunnen« verordnet, und ohne Verabredung gab man dort wie hier dem Blutbad diesen Namen voller Poesie.
Ganz ebenso wie anderswo wurden in Deutschland den nationalistischen Geistern schon vor dem Ausbruch des Orkans kräftige Lektionen erteilt. In den wichtigsten der grossen liberalen Zeitungen wurde der Kampf gegen ihre Ausschweifungen geführt. In den »Preussischen Jahrbüchern« wies der Konservative Hans Delbrück auf die Kriegsgefahr, die aus den »fortwährenden Drohungen und Reizungen, oft geradezu Verhetzungen« entstehen müsse, mit der schönen Gradheit seines Charakters und seiner Sprache hin. »Was wunder, dass die Besorgnis vor den Erfolgen der alldeutschen Agitation weite Kreise ergriffen hat . . .« Wie dieser Historiker, forderte ein anderer, Wilhelm Oncken, in einer Vorlesung in Heidelberg, eine Politik der Verständigung, besonders England gegenüber, und sagte, die Alldeutschen arbeiteten durch ihr ewiges Geschrei, der Krieg werde und müsse kommen, unmittelbar am Zustandekommen des Krieges mit. Aehnliches hatte Lloyd 238 George im Jahre 1910 den englischen Chauvinisten zugerufen: »Leute, die von unvermeidlichen Kriegen sprechen, machen den Krieg.«
Dem, der zurückblickt, erscheinen alle auffälligen Ereignisse des Jahres 1913 und der ersten Hälfte von 1914 als Prolog. Als Prolog der Tragödie, die dann begann. Prolog die grosse Wehrvorlage, deren Ergebnis sein sollte, die deutsche Heeresziffer von 531,000 auf 669,000 und zu Anfang des Jahres 1917 auf 770,000 Mann zu bringen. Prolog: das Regierungsjubiläum des Kaisers, die Weihe auf dem Kapitol. Prolog die lange Reihe der Feste und Feiern, der Reden und Gesänge zur Erinnerung an 1813, das Befreiungsjahr. Prolog die Affäre von Zabern, mit dem vollständigen Triumph des Militarismus, mit dem Hervortreten des unversöhnten und aufgereizten Elsass, mit der Verkettung von herausfordernder Verständnislosigkeit und tiefem Hass.
Im März 1913 wurden die Vorlagen über die Heeresverstärkung und die dafür nötigen Steuern fertig und eine grosse einmalige Vermögensabgabe wurde für notwendig erklärt. Die Vermögensabgabe war das Neue, das Sensationelle, zu einem solchen Mittel hatte man auch in Gewitterstunden noch nie gegriffen, und es lag nahe, eine Verbindung zwischen dieser Opferidee und der Erinnerung an die Freiheitskriege herzustellen. Am 7. April übergab Herr von Bethmann-Hollweg dem Reichstag die Wehrvorlage, mit einer Rede, in der er aus diplomatischen Gründen viel Vertrauen zu der Friedfertigkeit der Welt äusserte und daneben, da man eine gewaltige Heeresvermehrung nicht nur mit dem Hinweis auf die allgemeine Friedensliebe begründen konnte, eine pessimistischere Unterstimmung durchklingen liess. Er befolgte ein in solchen Fällen vielfach angewandtes Rezept, lobte die Regierungen, die alle den besten Willen hätten, und befürchtete Gefahren von der Aufhetzung der öffentlichen Meinung, die offenbar hinter dem Rücken aller Regierungen geschah. Meinungsverschiedenheiten offenbarten sich in der Reichstagsdebatte, als man von der Bewilligung der Heeresvorlage zu der Frage der Kostendeckung kam. Zu dem Besitzsteuergesetz, das die Regierung eingebracht hatte, gehörte die Erbanfallsteuer, die den Konservativen als ein unerträglicher Eingriff in ihr Familienleben galt. Graf Westarp widersetzte sich im Namen der sozialen Ordnung und des Gemütslebens, und der konservative Widerstand, der freilich am Schlussergebnis nichts ändern konnte, blieb unerschütterlich. In der Schlussabstimmung waren für das Besitzsteuergesetz 280, dagegen 63 Abgeordnete, 29 stimmten nicht mit. Den konservativen Kreisen, und ihnen allein, erwuchs unbestreitbar einiger Vorteil aus einer Heeresvorlage, die so viel neue Offiziersstellen schuf. Gegenüber der Behauptung, die Parteien der Linken hätten nicht genug Verständnis für die Wehrkraft bewiesen, darf man wohl feststellen, dass mitunter die eifrigsten Armeewerber nicht geneigt waren, für die Verwirklichung ihrer Forderungen das Notwendige zu tun. In diesem Jahre 1913 wurde den Gymnasiasten, den Mitgliedern spalierbildender Vereine und den Lesern jener 239 Zeitungen, die sich als Hüter des heiligen Feuers fühlten, häufig die Geschichte von den Jungfrauen erzählt, die sich beim Ausbruch des Freiheitssturmes die damals noch nicht von der Mode preisgegebenen Haare abschnitten, um mit dem Erlös die Not der Kriegskassen lindern zu können. Die Anekdote rankte sich liebenswert um die Realität.
Vierzehn Tage vorher, zwischen der zweiten und der dritten Lesung der Wehrvorlage, wurde das Kaiserjubiläum festlich begangen. Die Tatsache, dass der Monarch in diesem Vierteljahrhundert keinen Krieg geführt hatte, wurde auch dort, wo man an der höfischen Begeisterung nicht teilnahm, hervorgehoben und anerkannt. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte der Günstling Graf Waldersee in sein Tagebuch geschrieben: »Fast hätte ich Grund, übermütig zu sein. Meine Widersacher habe ich glücklich überwunden, die Kaiserin Viktoria ist unschädlich, der Kanzler nebst Sohn hat seinen Frieden gemacht, kleinere Feinde sind in ihr Nichts zurückgesunken und geben das Rennen auf.« Aber die Erwartung Waldersees, dass er den neuen Herrn zur Entfesselung eines Krieges würde bewegen können, hatte sich nicht erfüllt. Man war, manchmal wie der Reiter über den Bodensee, in ungestörtem Frieden bis hierher gekommen. Im Reichstag erinnerte sich der Präsident Kaempf, ein Freisinniger und ein mit vielen Ehren geschmückter Patriarch des Bürgertums, »mit Stolz und Freude an die jugendfrische Gestalt unseres Kaisers, wie er im Vollbesitz seiner Jugendkraft und mit der Begeisterung seines idealen Strebens vor fünfundzwanzig Jahren die Regierung übernahm«. Herr Kaempf feierte Wilhelm II. als die Verkörperung des kategorischen Imperativs der Pflicht. Noch einmal, am Geburtstag des Monarchen im Januar des nächsten Jahres, verwendete Herr Kaempf, wie Aufgewärmtes vom vorigen Diner, den gleichen Gedanken: »Unser Kaiser, von dem Geiste des grossen Königsberger Philosophen erfüllt«, präge unablässig die Lehre vom kategorischen Imperativ der Pflicht den Deutschen ein. Ein Redner, dem man nicht vorwerfen konnte, er bleibe seiner Idee nicht treu.
Die Jahrhundertfeier, die den Freiheitskriegen galt, dauerte das ganze Jahr hindurch. Der Kaiser leitete sie mit der Rede ein, die er, am 9. Februar, in der Universität vor Professoren und Studenten hielt. Indem er seinem Vortrag die These zugrunde legte: »War das Menschengericht? Das war Gottesgericht«, steuerte er seinen Beitrag zur historischen Forschung bei. Am 16. März ritt Wilhelm II. aus dem Schlossportal heraus und begab sich mit einem glänzenden Gefolge von Uniformen zum Lustgarten, zum Denkmal Friedrich Wilhelms III., wo er, hoch zu Ross, vor den fehlerlos geraden Linien der im Paradeputz aufmarschierten Truppen einen Tagesbefehl verlas. Er erinnerte an die Stunde, »da mein Ahnherr in den herzbewegenden Worten des Aufrufs ›An mein Volk‹ den Krieg verkündete« – in diesen herzbewegenden Worten, deren Verfasser freilich nicht der Ahnherr, sondern ein Regierungsliterat, Theodor Gottlieb von Hippel, gewesen war. Am 240 18. Oktober wurde in Leipzig das Völkerschlachtdenkmal eingeweiht, und mit dem Kaiser nahmen die meisten deutschen Fürsten und Erzherzog Franz Ferdinand an diesem Festakt teil. Zur Erinnerung daran, dass man einmal gemeinsam gegen Frankreich gekämpft hatte, war aus Russland auch der Grossfürst Kyrill gekommen. Die gigantische Steinmasse des Monumentes, von der ein Hellene sich verständnislos abgewendet hätte, entsprach dem Geschmack jener Kreise, in denen man sich Grösse nicht anders vorstellen konnte, als in der Verkörperung durch einen Koloss. Auf dem Denkmalplatz ereignete sich ein nur von wenigen bemerkter Zwischenfall. Wilhelm II. unterhielt sich lange mit Conrad von Hötzendorff, und diese Auszeichnung des österreichischen Generalstabschefs verstimmte den empfindlichen, nicht vorher befragten Franz Ferdinand. In den offiziellen Festreden wurde niemals Scharnhorst erwähnt. Von ihm hatte, mit einiger poetischer Uebertreibung, das Lied gesagt, dass näher dem König keiner gestanden habe, aber es hatte in den Kranz seines Ruhmes auch die kompromittierende Verszeile geflochten: »Doch dem Volke schlug sein Herz.« Von diesem Reformator des preussischen Heeres, dessen geistige Erscheinung etwas peinlich Demokratisches hatte, sprach man nicht. Auch vor der Figur des Freiherrn von Stein warf man nur hastig einige vom Fürstenfest übriggebliebene Lorbeerblätter hin. Die Hohenzollern hatten Napoleon verjagt. Die Fürsten und ihre Edelleute hatten bei dieser Erinnerungsfeier Anspruch auf den Ehrenplatz. Viele verschollene Bücher und Schriften, aus denen es anders klang, lagen in den Berliner Bibliotheken – Fichtes 1813 geschriebene »Fragmente eines politischen Vermächtnisses« und Görres' »Deutschland und die Revolution«. Bei den längst gedruckten Briefen Napoleons befanden sich die Notizen, mit denen der »Korse« die ununterbrochen eingehenden Bittschriften der deutschen Landesväter erledigte: »An Herrn Talleyrand gewiesen, damit er zur Kenntnis gebe, was man für diesen Fürsten tuen kann.« Als auf Befehl Napoleons Talma in Erfurt vor einem »Parterre von Königen« den »Oedipus« Voltaires spielte, flog den zur Huldigung herbeigeeilten gekrönten Häuptern der deutschen Staaten der berühmte Vers zu: »L'amitié d'un grand homme est un bienfait des dieux.« An dergleichen musste bei der Jahrhundertfeier mancher denken, der aus der Ferne das Schauspiel sah.
Die Nachrichten über die Affäre von Zabern, deren erster Teil im November sich abspielte, fielen wie Wasser aus dicken Schläuchen auf die etwa noch glimmenden Funken der Begeisterung. Am 10. November kam die Meldung, dass in Zabern das Militär mit geladenem Gewehr gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen sei, und gleichzeitig erfuhr man, dass der Anstifter, der Leutnant Freiherr von Forster vom 99. Infanterieregiment, den Soldaten in der Instruktionsstunde gesagt habe, sie sollten die »Wackes« gehörig abstrafen, und »wenn dabei solch ein Kerl über den Haufen gestochen werde, so schade das nichts«. Dieser Leutnant 241 hatte jedem Soldaten, der nach Befehl handeln würde, zehn Mark versprochen, und die Wirkung zeigte sich bereits. Ein Wind der Fronde wehte durch das Elsass, das Schimpfwort »Wackes« wurde mit Spottworten erwidert, die Spatzen pfiffen respektlos von jedem Baum. Die militärischen Vorgesetzten liessen vom ersten Augenblick an ihr sympathisches Einverständnis mit dem Leutnant erkennen, nur gegen die Indiskreten, die dem unberufenen Zivil von den Instruktionen und den zehn Mark des Herrn von Forster erzählt hatten, richtete sich ihr Zorn, ein Regimentsbefehl rief den Soldaten die Pflicht der Verschwiegenheit ins Gedächtnis und die elsässischen Rekruten wurden verhaftet, weil man sie für die Verräter des militärischen Geheimnisses hielt. Am 28. November erklärte der neue Kriegsminister von Falkenhayn, diese Soldaten hätten die Dienstpflicht verletzt, und was den Herrn von Forster betreffe, so sei das – wer wollte da nicht alles verzeihen – ein »sehr junger Offizier«. In der Bevölkerung von Zabern und bei den »Wackes« im Elsass wuchs die Erregung und bei den von oben her angespornten jungen und alten Offizieren die Kampfesfreudigkeit. Am 28. fühlte sich Herr von Forster durch Strassenbuben beleidigt, ein hilfreich herbeieilender Kamerad liess, da die Schuldigen entwischten, zwei unbeteiligte Personen zur Wache schleppen, auf dem Kaiserplatz ertönte Trommelwirbel und fünfzig Infanteristen, in zwei Gliedern schussbereit kniend und stehend, führten exakte Manöver aus und gingen dann mit gefälltem Bajonett gegen kreischende Frauen und Kinder vor. Am nächsten Tage waltete die Militärherrschaft, Soldaten drangen in die Häuser ein und durchsuchten die letzten Kabinette, dreissig Personen wurden verhaftet und in den Kasernenkeller eingesperrt. Dass man versehentlich auch einen Landgerichtsrat und einen Staatsanwalt festnahm, war ein kleines Malheur. Machtlos, von der Militärgewalt beiseitegeschoben und an die Wand gedrückt, musste der kluge, einsichtige, bei der elsässischen Bevölkerung beliebte Statthalter, der alte Graf Wedel, die Dinge mit ansehen und alle seine Beschwerden, Warnungen, Proteste wurden abgelehnt. Fürst Hohenlohe hatte als Statthalter in Strassburg Aehnliches erlebt.
Es war durchaus begreiflich, dass nicht nur jede Zumutung, die eroberten Provinzen zurückzugeben, sondern auch jeder von französischen Pazifisten unternommene Versuch, eine Unterhaltung über Elsass-Lothringen anzubahnen, in Deutschland mit der Bemerkung zurückgewiesen wurde, eine elsass-lothringische Frage gebe es nicht. Nachdem man diese Provinzen annektiert, selbst Bismarck in keinem Streitpunkt etwas erreicht, der schon mit der Miene der Hoffnungslosigkeit geäusserte Zweifel des Kronprinzen Friedrich Wilhelm und des Grossherzogs von Baden gar keinen Eindruck gemacht hatte und Vorschläge, wie sie ein Kenner des elsässischen Wesens, der Freund und blondbärtige Doppelgänger des Kronprinzen, der später zum Generalkonsul in Genua ernannte August Schneegans, in Denkschriften 242 niederlegte, als Erzeugnisse einer kosmopolitischen Ideologie geringschätzig verworfen worden waren, konnte wirklich nicht erwartet werden, man werde in Deutschland im Frieden freiwillig zugestehen, Elsass-Lothringen sei noch ein Problem der internationalen Politik. Kein Staat hätte ein solches Zugeständnis gemacht, jeder hätte geglaubt, dass ein solcher Schritt mit seinem Prestige unvereinbar sei. Als die Engländer, deren politische Klugheit von den regierenden Kreisen Deutschlands immer anerkannt und niemals nachgeahmt wurde, den besiegten Buren schnell eine Selbständigkeit innerhalb des Reiches verliehen, war das nur noch eine häusliche Angelegenheit. Aber die allzu heftige Behauptung, dass eine Frage gar nicht existiere, lässt gewöhnlich erkennen, dass da eine Wunde vorhanden ist, die man zu verbergen wünscht. Elsass-Lothringen war eine Wunde, die unter keinem Verband, unter keiner Salbe und nach keinem operativen Eingriff sich schliessen wollte und sich anscheinend weder durch Milde noch durch harte Methoden heilen liess. Deutschland hatte mit den eroberten Volksteilen kein Glück. Ueberall, wo es die fremden Elemente mit den heimischen verschmelzen wollte, misslang das Experiment. Gregorovius hat zustimmend die Bemerkung Gibbons zitiert, die Welt habe Rom schliesslich freiwillig gehorcht. Deutschland war weniger begünstigt als Rom.
Der erste Statthalter von Elsass-Lothringen, Manteuffel, hatte nach 1870 die französische Bevölkerung der besetzten Gebiete mit väterlicher Güte behandelt und auch den Konflikt mit dem über solche Sentimentalitäten ergrimmten Bismarck nicht gescheut. Thiers hatte ihm ein Exemplar seiner »Histoire de l'Empire«, das heute ein Berliner Sammler besitzt, mit einer Widmung übersandt, die dankbar den humanen Sinn des Beschenkten preist. Auch die Statthalter, die auf Manteuffel folgten, Chlodwig Hohenlohe, der zaghafter nach Berlin blickende Fürst Hohenlohe-Langenburg und Graf Wedel, waren keine Tyrannen. Unter den Staatssekretären zeichnete sich gerade ein urpreussischer Konservativer, Herr von Köller, durch eifriges Bemühen aus, die Bevölkerung zu versöhnen, und dank seiner energischen Fürsprache wurde den elsässischen Rekruten erlaubt, in den Heimatgarnisonen zu dienen, und der als Belästigung und Beleidigung empfundene Diktaturparagraph abgeschafft. Die Freiheit der Presse und der Versammlungen wurde nur noch von den allgemein geltenden Gesetzen reguliert. Im Jahre 1911 erhielt das »Reichsland«, statt des im Engen wirkenden Landesausschusses, einen gewählten Landtag und seine Wünsche konnten nun von dieser Tribüne in die Oeffentlichkeit dringen. Indessen, die nützliche Einrichtung eines Ventils verhindert noch nicht die Entwicklung der treibenden Kräfte, sondern nur eine Explosion, die übrigens im Frieden nicht zu befürchten war. Und die Bevölkerung sah auch in den wohlwollenden Statthaltern und Staatssekretären schliesslich doch nur abhängige Beauftragte des ihr unsympathischen Berliner Regimes, und sie sah sie nur selten und aus der Ferne, während sie die 243 Masse der untern Bürokratie, die aus allen Gegenden Deutschlands kommenden Einwanderer und das Militär täglich in der Nähe sah. Es lässt sich auch kaum bestreiten, dass sehr viele Elsässer und Lothringer weit eifriger das Schlechte als das Gute konstatierten und weniger auf die Freundlichkeiten achteten, die ihnen mancher hohe Beamte erwies, als auf die bald übertrieben zutraulichen und um Liebe werbenden, bald von der Empörung des gekränkten Stolzes zeugenden Gesten, den häufig sichtbaren Widerstreit zwischen zu viel und zu wenig Selbstbewusstsein bei diesen »Fremden« – auf all die Einzelzüge, denen die Karikaturen der Hansi und Walz eine unberechtigte Allgemeingültigkeit verliehen. Allenfalls konnte durch eine konsequente und geschickte Politik das erzwungene Zusammenleben zu einer erträglichen Vernunftehe werden – die Herzen vermochte das kaiserliche Deutschland weder mit der einen noch mit der andern Methode zu gewinnen. Zwei Beobachter, sehr verschieden in Weltanschauung und Geistesbildung, der pazifistische Prinz Alexander von Hohenlohe, Sohn Chlodwigs, und der ostelbische Junker von Dallwitz, sind in ihren Memoiren ungefähr zu dem gleichen Urteil über die Gefühle des Elsass gelangt. Beide sahen ein Elsass, dessen Grundgesinnung, Jahrzehnte nach der Eroberung, französisch war. Die Schilderung, die der scharfe Ostelbier auf heimlichen Tagebuchblättern entwarf, passte wenig zu der patriotischen und offiziellen Sprache und zu dem schönen Selbstbetrug, der davon lebte, dass Erwin von Steinbach das Münster erbaut hatte und Strassburg vor den Sonnentagen Ludwigs XIV. deutsch gewesen war. Alexander Hohenlohe, der Idealist, und Dallwitz, der »Realist«, täuschten sich über die Gefühle des Elsass weniger als die Liebhaber deutscher Anekdoten – aber keiner konnte das alles so verstehen, wie der Dichter des »Hans im Schnakenloch«, René Schickele, mitleidend am zwiespältigen Leben, es verstand.
Eine willkürliche staatsrechtliche Fassung, entstanden aus der Verlegenheit, hatte Elsass und Lothringen zu einem Verbande aneinandergefügt. Zwischen diesen beiden Volksteilen lag weit mehr als ein Bindestrich. Weder durch Geschichte noch durch Stammesart und Charakter gehörten sie zusammen. Die Lothringer, rein französisch, waren einst die Rasse der Guisen, und in der Natur der Elsässer trat das Alemannische deutlich hervor. Es war unmöglich, von Deutschland den Weg zu den Lothringern zu finden, deren Nationalismus auch dann, wenn er sich in Paris, in der politischen Luft des Palais Bourbon, entklerikalisierte, immer etwas von den dunklen Zügen der Bartholomäusritter behielt. Die meist noch ihr eigenes Deutsch sprechenden Elsässer schienen durch Verwandtschaft, Temperament und Geistesgaben zur Rolle des Dolmetsch, des vermittelnden Fürsprechers bestimmt. Aber die elsässische Bourgeoisie, das wohlhabende alte Patriziertum wie der gewerbetreibende Mittelstand, die Intellektuellen, Professoren, Aerzte, Advokaten, schlossen sich nach 1870 vollständig von jeder gesellschaftlichen Berührung mit den Deutschen 244 ab. An der Universität in Strassburg hatten die im Elsass Geborenen ihre eigenen, den Einwanderer zurückweisenden Sportverbindungen, ihre literarischen Vereine, ihren verriegelten »Cercle des Etudiants«. Der elsässische Landmann, politisch weniger bewegt, dem Einfluss von Paris weniger unterworfen, wollte auch nicht »Schwob«, nicht »Preusse«, sondern Elsässer sein. Allenfalls ein paar adlige Grossgrundbesitzer empfanden eine solche Abneigung gegen die republikanische Herrschaft in Frankreich, dass ihnen die deutsche Beamtenschaft beinahe sympathisch erschien. Im Grunde war es gleich, ob man sich »Protestler« nannte und wie viele Abgeordnete im Reichstag und im Landtag offen das Schild des Protestlertums auf der Brust trugen, denn unter jedem Namen und unter jedem Schilde blieb bei den meisten der Wunsch nach der Loslösung von Deutschland bestehen. Man wusste, dass diese Sehnsucht ihre Erfüllung nur in einem Kriege finden könnte, und wollte den Krieg nicht, fürchtete ihn und verwarf ganz aufrichtig, auf der Rednertribüne und in Kundgebungen, jede kriegerische Aufhetzung, aber irgendeine unbestimmte, auf das Unwahrscheinliche begründete Hoffnung sass in den Gemütern fest. Dieses Durcheinander und Nebeneinander der Stimmungen zeigte sich gerade in diesen Jahren vor 1914: der Widerstreit zwischen Wunsch und Wollen und das Verzichten, das doch kein Verzichten war. In dieser Zeit konnten Jaurès und Marcel Sembat, ohne Abirrung von der Wahrheit, erklären, dass das Elsass die Idee der Revanche und der Befreiung durch Waffengewalt ablehne, nur noch die Autonomie erstrebe, und Alexander Hohenlohe und Dallwitz konnten zu der Ueberzeugung kommen, die Stimmung habe sich noch verschlechtert, der Wunsch nach »le retour à la mère patrie« sei noch erstarkt. War das alles nur auf die Bewunderung zurückzuführen, die nach der Meinung des Herrn von Dallwitz die elsässischen Bürger für die in Paris thronende »Macht des Geldes und der Hochfinanz« empfanden, und auf den Siegeszug der Pariser Moden, die das Auge der Elsässerinnen blendeten, und auf die deutschfeindlichen jungen Priester, und auf die sehr rührige, sehr geschickte, unter vielerlei Masken operierende französische Propaganda, die auch dem versöhnlichen Hohenlohe höchst bedenklich erschien? Jedes dieser treibenden Elemente, und der unerreichbare Nimbus von Paris, wirkte für Frankreich, aber noch etwas anderes war da und muss beachtet werden, wenn man sich klarmachen will, warum der Boden des Elsass mehr als vierzig Jahre lang so hart, so widerspenstig, so unempfindlich für deutsche Saatkörner blieb.
Vielleicht macht es manches verständlicher, wenn man den Geist des alten Elsässertums an einer der Stätten zeigt, an denen er aufgestiegen war. Eine solche Stätte war im Oberelsass die kleine Industriestadt Thann. In dieser Stadt hatte Charles Kestner, der Enkel von Goethes Freundin Charlotte, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die von seinem Vater gegründete chemische Fabrik übernommen, sie durch 245 seine Tatkraft grossartig entwickelt und dem ganzen elsässischen Industrieleben neue Werte zugeführt. Er war Mitglied der Parlamente in Paris, leidenschaftlicher Republikaner, protestierte gegen den Staatsstreich, hasste Napoleon III., wurde ins Gefängnis gesetzt, verbannt, begnadigt, und sah sich, als endlich der Usurpator gestürzt war, als Untertan eines deutschen Kaisers, von dem ihm zweifach widerwärtigen Joche der Fremdherrschaft und des Absolutismus gedrückt. Eine seiner Töchter heiratete den Senator Scheurer-Kestner, der dann Präsident des französischen Senats wurde und in hohem Alter von diesem Ehrenposten scheiden musste, weil er als erster den Mut hatte, sich auf der parlamentarischen Rednertribüne zur These von der Unschuld des Hauptmanns Dreyfus zu bekennen. Zu dieser Familie gehörten auch, ihr durch Heirat verbunden, Jules Ferry, zwischen Gambetta und Waldeck-Rousseau der grösste Staatsmann Frankreichs, Charles Floquet, Ministerpräsident, Kammerpräsident, siegreicher Duellgegner Boulangers, der Oberst und Deputierte Charras, wie Charles Kestner nach dem Staatsstreich von Napoleon III. verfolgt, und die Chauffour und Rissler, Deputierte und hohe Beamte der französischen Republik. In dem Stammhause in Thann und in den Wohnungen, die sich um diesen Mittelpunkt gruppierten, war nicht allein jedes Möbelstück, jedes Bild, jedes Buch, jedes Bibelot ein Erzeugnis der alten französischen Kultur. Hier war ein nur gewaltsam abgetrenntes Hauptquartier der französischen Demokratie, hier hatte die republikanische Idee ihre Vorkämpfer, ihre Bahnbrecher, ihre grossen Figuren, hier war sie mit dem Leben verwachsen, hier war alles, Herz und Geist, von ihr erfüllt und durchdrungen. Gewiss, diese Familie der elsässischen Patrizier in Thann hatte durch ihre Verzweigung, durch den Ruhm ihrer Mitglieder, durch die Wege, die von ihr zu den Staatshöhen hinaufführten, eine Bedeutung, die andern nicht zukam, aber aus sehr vielen Häusern des elsässischen Bürgertums und der elsässischen Intellektuellen gingen Verwandtschaftsfäden zu den leitenden oder mitarbeitenden Kreisen des republikanischen Mutterlandes, und wenn diese Fäden fehlten, so waren die geistigen Beziehungen zum republikanischen System nicht minder stark. Man war Kind der Französischen Revolution, Kind der französischen Freiheit, man fühlte sich unselbständigen, von Monarchen behüteten Völkern weit voraus, und es machte dabei einen geringen Unterschied, ob man Rechtsrepublikaner oder Linksrepublikaner, Gemässigter oder Sozialist, Katholik oder Freidenker war. In Strassburg, bei dem Maire de Dietrich, hatte im April 1792 der Hauptmann Rouget de l'Isle unter einer grossartigen Inspiration seine »Marseillaise« improvisiert, dort hatte er sie zum ersten Male vorgetragen, und in den populären bildlichen Darstellungen, denen das Gemälde von Pils als Vorlage gedient hatte, sah man ihn, wie er vor den ergriffenen, hingerissenen Zuhörern sang: »Allons enfants de la Patrie«. Vom Elsass aus war die Marseillaise durch Frankreich, über die Schlachtfelder der Revolution, 246 gestürmt, und nun spielte hier die deutsche Militärmusik: »Heil Kaiser Dir.« Hätte eine vom Kaiser beschlossene Autonomie eine Wandlung gebracht? Vermutlich wären ihre Wirkungen günstig gewesen, besonders bei den Landleuten, aber die Gefühle und die Blicke wären auch dann nicht zu der deutschen Monarchie, sondern immer zu der französischen Republik, nicht zu dem reizlosen Reichstag, sondern zum Palais Bourbon hingegangen.
In der Affäre von Zabern zeigte die Machtlosigkeit aller Zivilgewalten sich schnell, als die Angelegenheit vor den Reichstag kam. Der Kriegsminister von Falkenhayn versicherte, der Leutnant von Forster sei bestraft worden, und verweigerte die Antwort, als man ihn nach der Art dieser Strafe fragte, denn ein Recht, militärische Disziplinarstrafen zu erfahren, stehe dem Reichstag nicht zu. In keinem zivilisierten Lande der Welt gab es einen ähnlichen Brauch. In keinem andern Lande wurde, wenn militärische Vergehen Aufsehen gemacht hatten, die Aufklärung fordernde Volksvertretung nicht für würdig gehalten, die Sühne zu kennen. Herr von Bethmann-Hollweg betonte sein volles Einvernehmen mit dem Kriegsminister, seine lange Gestalt war traurig wie ein entlaubter Stamm, seine professorale Ethik klang niemals so hohl und falsch. Friesshart, der Söldner, der, treu dem Befehl, den Gesslerhut bewacht. Wie die französischen Minister der Dreyfus-Periode, griff der deutsche Reichskanzler in bedauernswerter Hilflosigkeit nach der Phrase von der Ehre der Armee. Der Zentrumsabgeordnete Fehrenbach antwortete unter dem stürmischen Beifall einer gewaltigen Mehrheit: »Wenn wir die Zivilbevölkerung der Willkür des Militärs preisgeben, dann finis Germaniae!« Ein Antrag, der erklärte: »Die Behandlung der Angelegenheit durch den Reichskanzler entspricht nicht der Anschauung des Reichstags«, wurde mit 293 gegen nur 54 Stimmen angenommen. Es schien, als wäre der Reichstag endlich ins Alter der Mannbarkeit gekommen. Als Herr von Bethmann nach einem Besuch beim Kaiser in Donaueschingen am 9. November im Reichstag darauf aufmerksam gemacht wurde, dass er zur Wahrung seiner Selbstachtung nach dem Tadelsvotum hätte demissionieren müssen, antwortete er von oben herab. Das Votum sei ein »Internum des Reichstags« gewesen und gehe ihn gar nichts an.
Wie die Halsband-Geschichte der Königin Marie Antoinette dem Bastillesturm voranging, wie nun in Frankreich vor der allgemeinen Tragödie das Sensationsdrama der Frau Caillaux in vielen Akten sich abspielte, und wie in England der Kampf um Irland alle beschäftigte, so füllte in Deutschland die Affäre von Zabern die letzte Atempause aus. In jedem der drei Länder konzentrierte sich die nervöse Spannung auf die Erscheinung, die einen Mittelpunkt des Lebens bildete – in England auf das Staatsrecht, in Deutschland auf den Leutnant, in Frankreich auf die Frau. In Strassburg wurden die Rekruten, die über die Instruktionen des Herrn von Forster geplaudert hatten, vor ein 247 Kriegsgericht gestellt. Sie erhielten drei bis sechs Wochen Militärarrest. Am 19. Dezember wurde der Leutnant von Forster mit 43 Tagen Gefängnis bestraft. Dieses Urteil wurde vom Volke mit voreiliger Genugtuung aufgenommen, von allen Militaristen und Nationalisten heftig angegriffen, von den höchsten Militärbehörden, die sofort die Revision anmeldeten, nicht anerkannt. Der Polizeipräsident von Berlin, Herr von Jagow, liess in der »Kreuz-Zeitung« einen Brief veröffentlichen, in dem er erklärte, wenn Offiziere verurteilt würden, weil sie »für Ausübung des königlichen Dienstes freie Bahn schaffen«, so erwachse daraus Schande für den vornehmsten Beruf. Nach dieser Fanfare wurde er zum Festmahl der kommandierenden Generale eingeladen, der Kronprinz gab ihm zu Ehren ein Diner und beim Liebesmahl eines Garderegiments trugen ihn die Offiziere im Triumph herum und hoben ihn unter Hochrufen, wie einen Festkuchen, auf den Tisch. Um hinter diesem Helden des Tages nicht zurückzubleiben, schickte der Kronprinz an den Oberst von Reuter und an den kommandierenden General von Deimling Telegramme, von denen eines den kernigen Wortlaut hatte: »Immer feste druff!« Unter solchen ermunternden Begleitumständen begann dann am 4. Januar in Strassburg die kriegsgerichtliche Verhandlung gegen Oberst von Reuter, der seiner strategischen Massnahmen wegen angeklagt worden war. Der Oberst wurde freigesprochen und gleichzeitig wurde von dem Berufungsgericht die Verurteilung des Leutnants von Forster, der nur aus »Putativnotwehr« die Kinder und Krüppel attackiert hatte, für null und nichtig erklärt. Der Verhandlungsleiter im Reuter-Prozess, General von Pelet-Narbonne, teilte dem Kronprinzen, dem Berliner Polizeipräsidenten und dem Führer der extremen Reaktion, Herrn Oldenburg von Januschau, telegraphisch den Freispruch mit. Der Professor Roethe nannte Elsass-Lothringen einen »verlodderten Kleinstaat, der seinen Pöbel nicht im Zaume halten kann«. Ebenso schlecht erging es dem Reichstag, der, wie der Generalleutnant von Wrochem öffentlich versicherte, »eine Rotte« und »eine höchst gemischte Gesellschaft« war. Der Generalleutnant von Pelet-Narbonne erhielt das verdiente Avancement. Dem Oberst von Reuter wurde der Rote Adlerorden 3. Klasse mit der Schleife verliehen. Herr von Bethmann-Hollweg aber wurde dann später während des Krieges durch Erfahrungen belehrt, er bereute vieles, wollte sich aus den Verstrickungen lösen, sich auflehnen gegen die Unvernunft, und ich sehe ihn noch, wie er mir seine Klagen anvertraute und nun den Unterschied zwischen Vaterlandsverteidigung und Militarismus verstand. Tausendmal wiederholter Fall, die Fabel von dem Storch, der bereut, dass er diensteifrig dem Wolf den Knochen aus der Kehle gezogen hat.
In dieser Zeit fanden sich auch Vertreter der von einer kriegerischen Katastrophe bedrohten Länder an Beratungstischen und Festtafeln zusammen. Um die Beratungstische vereinigten sich die Sprecher der Völker, die Festtafeln wurden für die Fürsten gedeckt. Schon in den 248 Pfingsttagen des Jahres 1913 fand in Bern eine »Verständigungskonferenz« deutscher und französischer Parlamentarier statt. Zwölf schweizerische Nationalräte hatten an die Mitglieder aller Parteien in Deutschland und in Frankreich Einladungen geschickt. Aus Frankreich kamen hundertsechsundachtzig Deputierte, darunter sehr viele »Bürgerliche«, aus Deutschland vierzig Abgeordnete, unter denen es nur sechs Mitglieder der Bürgerparteien gab. »Die geringfügige Anzahl Bürgerlicher aus Deutschland«, schrieb Eduard Bernstein, »war kennzeichnend für den Liberalismus, der bis auf einen kleinen Rest dem Imperialismus vollständig verfallen war.« Dieses Urteil ist gewiss nicht gerecht. Viele von denen, die zu Hause blieben, waren nicht Imperialisten, sondern hatten Furcht vor der Schelte, dachten skeptisch über die Wirksamkeit solcher Zusammenkünfte und fanden die Pfingstreise zu unbequem. In einer einstimmig angenommenen Resolution wandten sich die versammelten Parlamentarier »mit aller Entschlossenheit gegen die sträflichen Treibereien, die auf beiden Seiten der Grenze den gesunden Sinn und die Liebe der Bevölkerung zum Vaterlande irrezuführen drohen«. Sie konstatierten, »dass die beiden Völker in ihrer ungeheuren Mehrheit den Frieden wollen«. Ein permanentes deutsch-französisches Komitee wurde eingesetzt. Im Mai 1914 hielt es eine Sitzung in Basel ab. Von den Franzosen waren Jaurès, Marcel Sembat, Albert Thomas, Baron d'Estournelles de Constant mit dabei. Von den Deutschen gehörten zu dem Komitee die »Bürgerlichen« Ludwig Haas und Konrad Hausmann, die Sozialdemokraten Hermann Müller, Haase, Scheidemann und andere, und nur Bebel, der noch in Bern gewesen war, hatte nicht mehr kommen können, denn er war inzwischen in jenen Frieden hineingesunken, aus dem kein militaristischer Engel mit feurigem Schwert die Ruhenden vertreibt. Das Komitee beschloss, einen Nachrichtenaustausch zu organisieren, um fälschende Berichte der brandstiftenden Presse widerlegen zu können. Es sagte in einer Erklärung, die Konferenz habe bei allen vorurteilsfreien Deutschen und Franzosen den Wunsch nach dauernder Annäherung der beiden Nationen bestärkt und den Willen, zu diesem Zwecke zusammenzuarbeiten, erhöht. Der Tag sei nicht fern, an dem die öffentliche Meinung aller Länder Rechenschaft fordern werde von der kriegshetzerischen Presse und ihren Hintermännern, die unaufhörlich bemüht seien, durch Schaffung neuer Missverständnisse die Völker zu entzweien. Noch einmal wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, Schiedsgerichte mit der Regelung von Streitigkeiten zu betrauen. Obgleich über der Versammlung dunkle Schatten schwebten, die Sorge sie umschlich, wie den alternden Faust, und eine drückende Atmosphäre heitere Zuversicht nicht recht aufkommen liess, wurde doch, nachdem Jaurès den Antrag formuliert hatte, der Beschluss gefasst, »noch in diesem Jahre« gleichzeitig zwei Konferenzen auf deutschem und auf französischem Boden zu veranstalten und in München und in Lyon zusammenzukommen. »Noch in diesem 249 Jahre«, im Jahre 1914, in München und in Lyon. Solchen Konferenzen und Beschlüssen herumschwärmender Parlamentarier wurde von den Regierungen und den zünftigen Diplomaten selbstverständlich keinerlei Bedeutung zuerkannt. Die höhere Staatsweisheit zog auf ihrem Wege so unnahbar und unbeirrbar wie die Sonne weiter, – unnahbar und unbeirrbar auf ihrem Wege zum Untergang.
Aber im Mai 1913, als der Frühling die Erde schmückte, war Berlin der Schauplatz einer für das Wohl der Völker sicherlich bedeutsameren Zusammenkunft, einer vom höfischen Prunk umgebenen Monarchen-Entrevue. Die Tochter des Kaisers heiratete Ernst August von Cumberland, Herzog von Braunschweig und Lüneburg, das entthronte Haus der Welfen versöhnte sich mit dem »Räuber«, dem Hause Hohenzollern, und der König von England und der Zar erschienen zur Hochzeit, wozu sie wohl mehr die verwandtschaftliche Sympathie für die Familie des Bräutigams bewog, als das Bedürfnis, der Familie der Braut ihre Gratulationen zu überbringen. Die Verbindung der beiden Fürstenhäuser hatte für Deutschland keine politische Bedeutung mehr. Es waren vierundvierzig Jahre vergangen, seit Bismarck im Preussischen Abgeordnetenhause den abgesetzten König von Hannover beschuldigt hatte, »fortwährend die Rolle eines kriegführenden Fürsten uns gegenüber« zu spielen, ein »verwerfliches Gewerbe der Bestechung und Korruption« zu betreiben, eine welfische Legion zu unterhalten und »für persönliche und kleinliche dynastische Interessen das Glück und die Ehre des eigenen Vaterlandes in Verschwörungen mit dem Auslande zu bedrohen«. Das deutsche Volk kannte andere Gefahren, die Welfen konnten den Frieden nicht mehr stören, dieses Geschlecht war nur noch ein Prunkstück der Vergangenheit, eine für den Geschichtsschreiber ergiebige Ahnengalerie. Obgleich die Vermählung in Leitartikeln als ein sehr glückliches Ereignis dargestellt wurde, war sie doch nur eine dynastische Feier und das Glück war nur ein häusliches Familienglück. Liebesgeschichten der Prinzessinnen hatten für mitempfindende Frauen, Kennerinnen aller Stammbaum-Verzweigungen und aller Brautausstattungen immer einen besondern Reiz. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung interessierte sich weniger dafür. Als der Zar und der englische König ankamen, standen, wie bei all solchen Gelegenheiten, die Schaulustigen am Wege und genossen das höfische Schauspiel mit jener Zurückhaltung, die hinter einem dichten militärischen Spalier und den breiten Rücken strenger Schutzleute selbstverständlich war. Umgeben von einer glänzenden Kavallerie-Eskorte, fuhr der Wagen an ihnen vorüber, in dem Nikolaus II. neben dem Kaiser sass. Die zum Helm gehende Handbewegung, mit der Nikolaus die höflichen Grüsse erwiderte, erschien noch automatischer als sonst diese Dankgeste einziehender Monarchen, und die beiden Cousins sassen so steif und so stumm nebeneinander, als führen sie zu einem Begräbnis und nicht zu einem fröhlichen Hochzeitsfest. Uebermässig zärtliches Vertrauen zwischen den drei Souveränen wurde 250 von den im Schlosse zugelassenen Personen auch im weitern Verlaufe der Feierlichkeiten nicht beobachtet, und die in den Amtszimmern geschliffenen Tischreden enthielten, von einem Kompliment über die »markante Rolle« der Welfen abgesehen, keinen blendenden Effekt. Aber Baron Beyens, der belgische Gesandte in Berlin, berichtete seinem Minister des Aeussern, dass selten eine fürstliche Hochzeit so volkstümlich gewesen sei. Die Berliner Bevölkerung habe der kaiserlichen Familie und ihren Gästen herzliche Ovationen dargebracht und die Freude werde von ganz Deutschland geteilt. Wilhelm II. und der König von England hätten vermutlich miteinander nicht viel von Politik im eigentlichen Sinne gesprochen, aber mit dem Zaren habe der Kaiser sicherlich »interessante Unterhaltungen angeknüpft«. Der Besuch des englischen Königs bestätige die Annäherung, die sich während des Balkankrieges zwischen Deutschland und England vollzogen habe, und die Reise des Zaren beweise, dass trotz Balkankrieg die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Russland unverändert geblieben seien. Frankreich solle die Warnung nicht übersehen. Baron Beyens berichtete das, was er wünschte, denn er hatte ein ausgezeichnetes Herz. Es war das letztemal, dass die drei Monarchen sich sahen. Zwischen ihnen an der Festtafel sass der steinerne Gast.
Blickte man von einem Volke zum andern, so fand man, dass im Grunde überall die gleichen Gefühle, Neigungen, Wünsche, Befürchtungen die Menschen bewegten, und man entdeckte Unterschiede nur im Ausdruck, im Temperament, in den Formen, im Geschmack. In allen Flüssen fliesst das gleiche Element, und nur die einrahmenden Ufer, die Färbung des Wassers und das Tempo der Strömung geben jedem Flusse seine besondere Art. Ueberall waren diejenigen, die den Frieden liebten, eine ungeheure Mehrheit, und diejenigen, die das herrliche Schauspiel eines Weltbrandes geniessen wollten, eine kleine Minderheit. Nimmt man das Volk der Serben aus, das leidenschaftlich hasste und konsequent einem nationalen Ziele zustrebte, so war die Erhitzung überall auf geringe Flächen beschränkt. Die Menschen wollten nicht mehr, wie der Erzvater, ihren Sohn schlachten, weil ein Gott es befahl. Sie lebten in der Ueberzeugung, sie seien menschlicher geworden, und unabhängiger von unverständlichen Geboten als Abraham. Die meisten, die im Bierkeller und im Kaffeehaus die politische Weltlage herb kritisierten, wickelten sich hinterher, sehr froh, das Glück des Friedens zu besitzen, behaglich in ihre Bettdecken ein. Wenn sie dann von Krieg und Schlachten träumten, sagten sie sich am Morgen erleichtert, dass, dem Himmel sei Dank, alles nur ein Traum gewesen sei. Allen hatte man eingeprägt, sie wären entweder die Tüchtigsten oder die Gerechtesten oder auf irgendeine Weise besonders begabt. Fast alle hielten sich für ein wenig verkannt. Dicht bei den Stätten der warmen Heimatliebe, die unvereinbar mit dem Willen zur Zerstörung erscheint, tobten die Besessenen und die Füchse schlichen herum. Im Tempel der Menschheit 251 sassen die Wechsler, die sich schon als Kriegsverdiener fühlten, und Abenteurer würfelten um die Seligkeit der Völker und hatten Durst nach Blut. Da man ihm immer wieder sagte, dass ein Krieg kommen müsse und kommen werde, plapperte der friedliche Bürger das oft Gehörte nach und sprach von dem Schicksal, von dem Unvermeidlichen, aber es waren Worte, an die er selbst nicht glaubte, und Gespenster, unmöglich in einer geordneten und aufgeklärten Welt. Und in der Tat, kein unaufhaltsames Schicksal war unterwegs. Nicht die Parze, die Unabwendbare, hielt die Schere in der Hand. Bei Leichtsinn, Hochmut, Dummheit und Spielerwahnsinn lag die Gefahr. Die Parzen hiessen nicht Klotho, Lachesis und Atropos, wie die Töchter des Zeus. Ihre Namen standen unter den Dekreten der Regierungen, in den Personalregistern der Aemter, in den Diplomatenrubriken des Almanach de Gotha, in den Ranglisten der Armeen, in den Mitgliederlisten der Weltpresse, in den allgemeinen Adressbüchern und in den Verzeichnissen der Philologen-Verbände, der Telephonabonnenten, der Academie, der Shakespeare-Gesellschaften und des Goethe-Vereins. 252