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In dieser Zeit, während die Schwefeldünste nicht aus der Luft wichen, kam eine neue Tanzleidenschaft über die Welt. Plötzlich wurde überall getanzt, in Hotelhallen, Cafés, Bars und »Dielen«, in den Gärten, auf den Dächern und auf dem Schiffsdeck, und der Tanz gehörte schon nachmittags zum Tee, drängte sich sogar in die konservativen Pariser Restaurants ein und raste über noch andere Traditionen hinweg. Nach Onestep und Twostep war das Wunder des Tango gekommen. Die Jungen und auch die Alten gaben sich entzückt dem Studium der exotischen Grazie hin. Um den Damen, die sich damals noch nicht durch Sport und Nahrungseinschränkung die schlanke Linie erworben hatten und auch noch nicht, mit abgeschnittenem Haar, Penthesileen an stählerner Männlichkeit übertrumpften, die neuen Tanzschritte zu erleichtern, wurden merkwürdige, ungewöhnlich hässliche Moden erdacht. Die Kleider waren noch lang und umhüllten wie schwere Decken den Altar und die heiligen Geräte, aber eines Tages gab man ihnen unten in der Mitte einen Schlitz, spaltete sie wie Hosen und allmählich öffnete man sie seitwärts, wo nun bei jeder Bewegung und jedem Luftzug der Blick ins Freie gestattet war. Es war noch nicht die schöne Selbstverständlichkeit einer spätern, leicht hinschreitenden Generation. Es war die Freude am Ueberraschungseffekt. Das alles erzeugte, durch den Reiz der Neuheit, einen gewissen Taumel und man konnte an die Gesellschaft des Boccaccio denken, die sich ihren Belustigungen hingab, um dem Gedanken an die Pest zu entfliehen. Die Pest stand wieder vor der Tür. Wilhelm II. verbot seinen Offizieren, in Uniform Tango und die andern diabolischen Tänze zu tanzen und in Familien zu verkehren, wo man an dieser babylonischen Unzucht Gefallen fand. Es erschien ihm wohl als eine reinere Belustigung, wenn, von dem Applaus seiner Hände und seinen ermunternden Zurufen begleitet, ein Generaladjutant im Gazeröckchen als Balletteuse auftrat und einem gewählten Kreise Proben der höhern Choreographie zum besten gab. In Wien wurden durch das Hofmeisteramt Damen im geschlitzten Rock, der mitunter die Knie sehen lasse, von den Hoffestlichkeiten ausgeschlossen, und in Paderborn erklärte der Weihbischof, viele Damen wüssten nicht mehr, was ehrbare Kleidung sei. Der kluge Papst Pius X. dagegen fand, nachdem ihm ein junges aristokratisches Paar eine Privatvorstellung gegeben hatte, den Tango melancholischer als alle Bussübungen, die ein strenger Beichtvater Sündern und Sünderinnen auferlegt. Weder Spott noch Bannstrahl half. Und mit diesen neuen Tanzschritten kündete eine neue Epoche, kündete der Zusammenbruch der alten Walzerbühne, kündete die Tragödie Wiens sich an. Johann Strauss und seine Nachfolger hatten das Ballorchester der Welt dirigiert. Die meisten diplomatischen 138 Niederlagen hatten eine geringere Bedeutung als die Tatsache, dass nun der populärste Ausdruck des Wienerischen, der Wiener Walzer, achselzuckend abgetan wurde, die schöne blaue Donau nicht mehr auf ihren leichten Wellen die Seelen wiegte, von den »Rosen aus dem Süden« nur noch ein getrocknetes und entfärbtes Blatt, zur Erinnerung, übrig blieb. Wie in den Tagen Marie-Antoinettes wirbelten die Windstösse, die dem Gewitter voranjagen, die bunten graziösen Attribute der Sorglosigkeit vor sich her. Den melodienreichen Kaiserstadtkultus mit seiner weichen Sentimentalität, die rundlich schwebende Anmut, den witzigen Hang zur Selbstverspottung und auch jenen obenhin streichenden Operettengeist, der seine Liebhaber allzusehr verführt hatte, in anderssprechenden Völkern nur Mausefallenhändler und Schweinehirten zu sehen.
Man suchte neue Formen und Steigerungen des Lebensgenusses mit einer Hast, als spürte man schon den Jäger mit dem Totenkopf hinter sich. Zu gleicher Zeit bellte die Meute des Jägers durch die Gassen, rannte von einem Ende zum andern, stürzte sich auf die Friedfertigen, spie den Gestank ihres Höllenatems nach allen Seiten hin aus. Eine allzu hemmungslose Presse erschütterte überall mit ihrem Lärm die Luft und rief jedesmal, wenn eine Ruhepause zu kommen schien, durch noch lauteres Toben das keifende Echo von drüben hervor. Zeitungsschreiber, künstlich sich erhitzend und kalte Berechnung für Leidenschaft ausgebend oder auch an den selbst erzeugten Wahnbildern sich berauschend, schleppten frohlockend jeden armseligen Zank, der zu einer Affäre gemacht werden konnte, auf den Markt. Immer waren sie auf der Suche nach neuem Stoff für das Drama des Hasses, immer erklärten sie die Nation für beleidigt, immer verteidigten sie auf dem eingedrückten Sitz der Redaktionsstühle das bedrohte Vaterland. Ueber ihnen, auf sogenannten geistigen Höhen thronend, verkündeten pathetische Magister der Nation die Doktrin von der Notwendigkeit und der Heiligkeit der Kriege, von der in den Gesetzen der Natur und der Geschichte vorgeschriebenen Gesundung durch periodischen Blutverguss. Planvolle und öffentliche Aufreizung zum Massenmord erschien vielen als eine ehrenhafte Beschäftigung. Die Kriegsindustrie stand überall im Hintergrunde, eine grosse, geldspendende und Gewinn erhoffende Macht. Die Aktien stiegen, wenn die Schale des Friedens sank. In den Tagen der grossen Revolution, als die Volksheere zum Schutz der neuen Freiheit ausmarschierten, wurde, weil das vom schönen, erwachten Nationalgefühl belebte Antlitz schnell entstellt werden musste, der Keim zum Nationalismus gelegt. Aus dem Segen kam der Unsegen, aus der Freiheit die Tyrannei, und die Völkerhirten, deren Vorgänger nur die Kabinettskriege mit gekauften oder gepressten Truppen gekannt hatten, vergrösserten und verbilligten durch geschickte Benutzung der am revolutionären Feuer geschmiedeten Waffe ihr politisches Geschäft. Jetzt, in diesen Jahren, war das Treiben der internationalen Hassliga zur Orgie gediehen. Die einfache, selbstverständliche Vaterlandsliebe wurde 139 zu einem grellfarbigen Lappen erniedrigt, die Bibel wurde, um ein Wort Heinrich des Achten aus der Zeit der englischen Reformation zu zitieren, »in allen Wein- und Bierschenken verfochten, in Reime gebracht, gesungen und gebrüllt«.
In den »Fragmenten eines politischen Tagebuches« bemerkt der sonst in der Beurteilung deutscher Verhältnisse recht wohlwollende Joseph Maria Baernreither im März 1914, nach seinen Besuchen in Berlin, das Selbstbewusstsein sei hier sehr hoch gespannt, man sei sehr absprechend, lasse Meinungen Andersgesinnter schwer gelten, wisse von österreichischen Dingen nicht viel und verfalle darum bei solchen Unterhaltungen in einen lehrhaften Ton. Dem Staatssekretär von Jagow allein rühmt er gründlichere Kenntnisse nach. Es ist sicherlich richtig, dass man in Deutschland nur mit einer gewissen Unlust, und infolgedessen durchaus unzureichend, sich über die Vorgänge in Oesterreich-Ungarn unterrichtete, und es könnte sogar behauptet werden, dass mit Ausnahme einiger Spezialisten niemand sich bemühte, oder dahin gelangte, die Zusammenhänge der innern österreichisch-ungarischen Politik zu verstehen. Aber eine Entschuldigung für diese sicherlich bedauerliche und nachteilige Unkenntnis konnte immerhin in der Tatsache gefunden werden, dass es nachgerade für die grosse Masse der Oesterreicher selber unmöglich war, sich in den Angelegenheiten der unter der habsburgischen Herrschaft vereinigten Nationalitäten auszukennen. Man hatte eine Aera des »Fortwurstelns« nach der andern erlebt, las und hörte seit ewiger Zeit von Ausgleichsverhandlungen, die zu nichts führten, und von Konflikten, die keine Lösung fanden, und das alles schien hoffnungslos verwirrt. Ungarn gegen Deutschösterreicher, Kroaten gegen Ungarn, Serben in Bosnien und der Herzegowina, Slowenen, Dalmatier, Ruthenen gegen Deutschtum und Magyaren, die Tschechen in Prag endlos mit Wien streitend – musste das Interesse des Zuschauers nicht erlahmen, da in diesem komplizierten, durcheinanderlaufenden Schauspiel niemals zur Zwischenpause geläutet wurde, in diesem Labyrinth nirgends der Ariadnefaden sich zeigte, in diesem Kampf aller mit allen die Worte und Forderungen von jeder Seite kamen, aber an keiner entscheidenden Stelle ein klares, zielweisendes Losungswort sich vernehmen liess? Es war leichter und weniger ermüdend, einen Ameisenhaufen zu betrachten und seinen Bewohnern auf ihren Zickzackwegen nachzugehen. Wer die Aufzeichnungen Baernreithers liest, konstatiert, dass die geraden Linien, die dieser ehrliche, vorurteilsfreie, einsichtige österreichische Politiker – gewiss einer der besten und klügsten – in seinen Gedanken durch das Chaos zog, nicht mehr bedeuteten als die Spuren eines ruhig hinfahrenden Schiffes im schaukelnden Meer. Er hatte seit langem begriffen, dass die Behauptung, Oesterreich, das damalige, so vielfach zusammengesetzte, sei deutsch und könne nur deutsch regiert werden, nicht stärkern Wirklichkeitswert habe als eine holde Poesie. Eine Poesie, auf der steirischen Alpenwiese 140 gewachsen, von der Musik Mozarts und Schuberts getragen, von dem Zauber Raimunds silbern durchsponnen, mit dem Wohllaut der Muttersprache gewiegt. In der Liebe zu diesem so ganz im Volkstum wurzelnden Besitz – denn hier stand nicht, wie anderswo, das geistige und künstlerische Erbe ausserhalb des Volkes, war es nicht Professorenstudium und Salonschmuck – vergass man allzusehr, dass auch die andern Nationalitäten ein Recht hatten, ihre Sprache zu lieben, und man fand es anmassend, wenn der Tscheche sich einer alten Kultur rühmte, der Südslawe stolz auf seine Zugehörigkeit zu einem andern Schöpfungskreise war. Diejenigen, die sich lange für zurückgesetzt und unterdrückt hatten halten können und Mengen von Grimm aufgespeichert hatten, frohlockten jetzt bei jedem Siege der serbischen Verwandten, wurden herausfordernd, verbargen nicht mehr ihre Wünsche und Hoffnungen und verübten schon beinahe öffentlich jene Handlungen, die von den nationalen Chronisten unter der Ueberschrift »Der Freiheit Morgenleuchten« verzeichnet werden und von den Zeitungen des gerade noch herrschenden Regimes unter dem Titel: »Nichtswürdiger Hochverrat.«
Der Diplomat, der Deutschland in Wien vertrat, der Botschafter von Tschirschky, war weder in der Heimat noch am Orte seines Wirkens sehr beliebt. Er hatte sich als Staatssekretär im Auswärtigen Amte eines Tages verdient gemacht, denn ihm war während der Erkrankung des Fürsten Bülow die Vertreibung des Herrn von Holstein aus dem Paradiese gelungen, aber da hatte wohl nur ein etwas trockenes bürokratisches Selbstbewusstsein über ein vollblütiges gesiegt. Auf der Liste der Spottnamen, die Kiderlen erfand, war er nicht vergessen, und die Oesterreicher, denen er wohl zu steif und eckig war, liessen durch Szögyényi von Zeit zu Zeit andeuten, ein anderer Botschafter würde ihnen mindestens ebenso willkommen sein. Aber Wilhelm II. protegierte ihn und darum war er gegen die Pfeile von vorn und von hinten gefeit. Bei den Akten befindet sich ein Bericht, in dem Herr von Tschirschky, am 18. November 1912, ein sehr anschauliches Bild von den Zuständen in dem Reiche der Habsburger entwarf. Nachdem er erwähnt hatte, dass man im Generalstab, in der Beamtenschaft und in den Kreisen des Feudaladels sich über die Schwäche und die Nachgiebigkeit der österreichischen Politik schäme, mit Beklemmung und Staunen das Anschwellen der slawischen Welle sehe und sich frage: »Was soll aus Oesterreich werden?« schilderte er die Wirkungen des serbischen Siegesrausches auf die Nationalitäten, für die der morsche habsburgische Zaun seit langem nur ein Objekt des Widerwillens und der Satire war. Bei den Tschechen seien viele Millionen für die serbischen Brüder gesammelt worden, an einen Ausgleich sei nicht mehr zu denken, die Reden, mit denen Masaryk und Kramark öffentlich in den Delegationen für die Serben eingetreten waren, würden in jedem kleinen tschechischen Nest besprochen und man finde sie noch nicht 141 einmal scharf genug. Bei einem Kriege werde man die slawischen Regimenter in die erste Linie nicht stellen können, und in dem Landtage Bosniens und der Herzegowina gehe es bereits vollkommen landesverräterisch zu. In Dalmatien habe es Kundgebungen für Serbien gegeben, in Ragusa werde die montenegrinische Nationalhymne gespielt und in Kroatien lägen die Dinge besonders arg. Dort geniere sich die Landtagsmehrheit nicht mehr, die Lostrennung von Ungarn zu verlangen. Einigermassen normale Verhältnisse beständen nur noch in den kerndeutschen Provinzen, auch in Galizien sei die Lage gespannt, überall schwinde der Gedanke eines einheitlichen Reiches, der Zusammengehörigkeit. Die klerikal-konservative Wochenschrift »Oesterreich-Ungarn« habe treffend gesagt, dass unter den Toten des Balkankrieges auch »der Oesterreicher« zu verzeichnen sei. Zu dem Bericht Tschirschkys bemerkte Wilhelm II.: »Mit Blut und Eisen sind die Kerls nur noch zu kurieren«, und in einer Schlussnotiz: »Oesterreich hat vergessen, dass es weder tschechisch, noch böhmisch, noch polnisch, noch magyarisch regiert werden kann, wie man es versucht hat, sondern deutsch!« Ist es verwunderlich, dass Baernreither fand, man beurteile in Berlin die Angelegenheiten im Nebenhause mit einiger Oberflächlichkeit?
Im Jahre 1913 schwoll in Oesterreich die Zahl der jungen Leute, die sich dem Militärdienst entzogen, auf 193,000 an. Es waren fast ohne Ausnahme Angehörige der nichtdeutschen Stämme, und es gab heimlich arbeitende Agenturen, die solchen Personen halfen, unbemerkt über die Grenze zu gelangen. Gleichzeitig vermehrten sich ausserordentlich die Prozesse und Verfolgungen, die wegen Spionage und Hochverrats eingeleitet wurden, und bei den Gerichten in allen Landesteilen häuften sich die Akten über die Delikte gegen die Staatssicherheit. Es gab darunter gemeine Schurkereien, beispielsweise die Affäre des Obersten Redl, Generalstabschef des Prager Korps und ehemaliger Chef des Spionagedienstes, der von Russland bezahlt war und schliesslich Selbstmord beging, oder die des gleichfalls mit russischen Rubeln gekauften Leutnants Alexander Jandric vom ersten bosnisch-herzegowinischen Infanterie-Regiment, und es gab Attentate wie das in Debreczin, wo die rumänischen Nationalisten zum Protest gegen Tiszas tyrannische Magyarisierungspolitik, gegen den neuen Sprachenzwang beim kirchlichen Ritus die Bischofsresidenz in die Luft sprengten und die geplatzte Bombe des Nationalitätenhaders zahlreiche Tote und Verwundete auf der Walstatt hinterliess. Aber mit dem neurasthenischen Betätigungsdrang der Schwachen und dem geistlosen Autoritätsdünkel der Bürokratie wurden auch Gerichtsschauspiele inszeniert, in denen achtbare, populäre Vertreter der nichtdeutschen Volksgemeinschaften auf der Anklagebank sassen und Gelegenheit fanden, in selbstbewusster Haltung selber ihre Anklagen gegen das herrschende System vorzubringen. In all diesen Prozessen wurde der Gerichtssaal zur Propagandabühne und fast alle diese grossen Aktionen endeten unglücklich für das Habsburger Regime. 142 Immer mehr wurde die Luft von Misstrauen und Argwohn durchsetzt, strich durch die Städte und Dörfer, in denen die Unzuverlässigen wohnten, der gallig herumspähende Verdacht. In dieser Luft entwickelte sich der Geist, der in unschuldigen Bauern und Händlern Verräter vermutete, die Bäume in Galgen verwandelte und, nachdem das Paradies des Friedens zerstört war, sogar noch die Hölle zu schänden verstand.
Nur ein ganz willensstarker, unbeirrbar auf sein Ziel losgehender Staatsmann, ein Reformator von ganz grossem Format, hätte vielleicht noch das auseinanderstrebende Habsburger Reich zusammenhalten und vor dem Untergang retten können. Aber jetzt, nach den Balkankriegen, war es dafür wahrscheinlich schon zu spät. Er hätte den Kampf mit der deutschen Ideologie und mit dem magyarischen Selbstbewusstsein aufnehmen müssen und wäre, auf der andern Seite, vor der Aufgabe gestanden, Nationalitäten, die bereits die Grenzpfähle wanken sahen, für praktische Lösungen innerhalb eines fortdauernden, wenn auch freier gestalteten Verbandes zu gewinnen. Das wäre nur möglich gewesen, wenn er an der serbischen Schwelle die slawische Leidenschaftlichkeit gedämpft hätte, die immer mehr herüberflutete und immer höher schwoll. Der Augenblick, wo man, durch Erfüllung des Hafentraumes, die serbische Eifersucht auf das italienische Gegenüber an der Adria hätte ablenken können, war verpasst. Diejenigen, die in Wien und Budapest das Schicksal lenkten, waren keine vorausschauenden Staatsmänner, sondern im Winde schwankende Mittelmässigkeiten, oder, wie Tisza, Herrennaturen, deren Männlichkeitsallüren den Liebhabern von Ritterromanen gefielen und deren Starrsinn jede Möglichkeit rechtzeitiger Reform verdarb. Von den Völkern unten, die einander nicht verstanden, führten zu den Regierungssphären hinauf nur parlamentarische Scheinbrücken, nach den Methoden der alten Verhinderungstechnik konstruiert. Die Volksvertreter hielten ausgezeichnete Reden, die Minister spendeten die üblichen glatt gefeilten Erklärungen, die grossen Zeitungen gaben das alles mit ausführlichen Kommentaren wieder und in den Wiener Cafés würdigte man es mit jenem behaglichen Skeptizismus, der dort, witzig, ironisch – und Pedanten könnten sagen: ein bisschen destruktiv – an vielen Tischen gedieh. Der Ministerpräsident Stürgkh, der schon seit zwei Jahren das Haupt der Wiener Regierung war, gehörte zu jenen sogenannten Taktikern, die zufrieden schmunzeln und sich sehr gross vorkommen, wenn es ihnen immer wieder gelingt, mit leerem Wortschwall ein zerfahrenes Parlament gefügig zu machen, und denen die Verlängerung des eigenen Ministerlebens, ohne Ideen und Ziele, als höchste politische Leistung erscheint. »Anpassung an alle Wünsche und Strömungen von Schönbrunn, Belvedere, Ballplatz und Budapest«, sagt Baernreither von ihm, »war seine Kunst und Laufbahn vom ersten Tage an.« Am Ballplatz aber, im Ministerium des Aeussern, sass Graf Berchtold zwischen streitenden 143 Ratgebern und war, mit einem Kavalierslächeln und durchaus gewinnendem Aeussern, die achte Grazie, die Grazie der Diplomatie. Er hatte dieses Amt, das Graf Goluchowsky und Graf Khuen-Hedervary abgelehnt hatten, mit einer aristokratischen Liebenswürdigkeit angenommen, auf die kein Schatten eines Zweifels fiel.
Der ehemalige österreichische Gesandte in Athen, Baron von Szillassy, hat in seinem Buche »Der Untergang der Donau-Monarchie« den Grafen Berchtold, dem er, vom Dezember 1912 ab, ein Jahr lang attachiert war, mit sehr feinen Strichen, und sogar mit einer gewissen Liebe, porträtiert. Er spricht von seinem »fast magnetisch wirkenden Charme«, seiner auffallend schönen und eleganten Erscheinung, seiner anständigen Gesinnung, seinem Taktgefühl. Aber Berchtold habe an einer »mit Timidität gepaarten, ganz eigenartigen Charakter- oder Willensschwäche« gelitten, die »seiner vollständigen kindlichen Mentalität« entsprang. Er war, sagt Szilassy, »psychologisch eine ganz ungewöhnliche Erscheinung«, vereinigte mit den Fähigkeiten und gewissen Talenten eines Mannes die Urteilslosigkeit eines Kindes, ahnte nicht im geringsten, was seine Unentschlossenheit anrichtete, und war, nehmt alles nur in allem, ein »Inconscient«. Baron von Szillassy gehörte zu derjenigen Gruppe in der österreichischen Diplomatie, die, ebenso wie der mehr aussenstehende Baernreither und seine Freunde, auf eine Verständigung mit Serbien drang. Den Krieg wollten, nach Szillassys Bekundung, die jüngern Diplomaten am Ballplatz, viele Offiziere, Elemente des magyarischen Adels und der Wiener Christlichsozialen Partei. Tisza hatte, die Nachgiebigkeit Berchtolds ausnützend, seine Vertrauensmänner auf die wichtigsten Posten in Wien geschoben und dafür gesorgt, dass kein Schritt zur Annäherung an Serbien, zu einer Konzession an die Kroaten, zur Versöhnung der südslawischen Reichsgenossen unternommen werden konnte und alles so weitergehen musste, wie es den ungarischen Grossagrariern gefiel. Er hatte zum zweiten Sektionschef im Ministerium des Aeussern einen seiner besonders Intimen, den Grafen Forgach, ernennen lassen, der ein Spezialist des Serbenhasses war, kein anderes Programm hatte als die Vernichtung Serbiens, und es mit Talent und Energie verstand, dem weichen Gemüt des Ministers immer mehr seinen Einfluss aufzuzwingen. Unwillig sahen die ältern, erfahrenen österreichischen Diplomaten, wie der Botschafter Graf Pallavicini in Konstantinopel und der Botschafter Graf Thurn in Petersburg, der dann abberufen wurde, das Treiben dieser Nachkommen, die jede Warnung mit der heiter vorgebrachten Versicherung zurückwiesen, Russland werde bei einem Einmarsch in Serbien ganz stillbleiben, seine Drohungen seien nur ein Bluff. Auch Tisza sagte im Dezember 1913 zu Szillassy, der Krieg mit Serbien sei unvermeidlich und Russland sei »aus innern Gründen« unfähig zu einer Intervention. Während so von den Zivilkriegern um die Kinderseele Berchtolds gerungen wurde, 144 war der alte Conrad von Hötzendorff Abgott der Offizierskreise, Heros aristokratischer Koterien. Er bombardierte einstweilen den Grafen Berchtold mit Denkschriften, die dann Szillassy mit beschwichtigenden Briefen beantworten musste, und der Kriegsminister Krobatin ergänzte die Reihe seiner Argumente, indem er sagte, die Zustände in der Armee seien unhaltbar, der Krieg werde sie regenerieren, ihr – offenbar durch einige Amputationen – die neue Gesundheit bringen. Es lässt sich wirklich nicht leugnen, dass es in Oesterreich-Ungarn eine Kriegspartei gab. Conrad von Hötzendorff hat nie seine Gedanken verschwiegen und nie seine Taten verleugnet, und darum wirkt er beinahe sympathisch, verglichen mit all denen, die ein jungfräuliches Linnen über die Flecken in ihrer Vergangenheit breiten und von der Welt ein Unschuldszeugnis verlangen.
Von den vielen Affären, die man dem Wirken der Kriegspartei oder einzelner Kriegsmacher verdankte, war besonders unvergesslich die Prozessaffäre geblieben, in die der Historiker Friedjung verwickelt gewesen war. Im März 1909 hatte Friedjung in einem Zeitungsartikel Serbien angegriffen und, unter Berufung auf angeblich echte Dokumente, die serbokroatische Koalition hochverräterischer Umtriebe beschuldigt, und infolgedessen hatten die zweiundfünfzig Mitglieder dieser Partei wegen Verleumdung geklagt. Es stellte sich heraus, dass die Dokumente gefälscht und der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft in Belgrad von unsaubern Individuen geliefert worden waren, und dass das Ministerium des Aeussern, damals noch von Aehrenthal geleitet, sie dem angesehenen Historiker übergeben hatte, der dann, mit diesem Material, vertrauensvoll und zu eifrig, seine Verratsgeschichte zusammenschrieb. Der Prozess war ungeheuer dramatisch verlaufen, Friedjung, von einem schwer zu erschütternden Glauben an sich und seine Dokumente erfüllt, hatte eine wenig beneidenswerte Rolle gespielt. Friedjung hat im zweiten Bande seines »Zeitalters des Imperialismus« gesagt, dass es in der Weltgeschichte keinen Sieg des Sittengesetzes gebe, nur die Kraft sich durchsetze und »Siechtum unmoralisch« sei. Manchmal hat man auch mit der Missachtung der Sittengesetze nicht gesiegt, und dem Wort des Historikers Friedjung muss man das Wort des ungleich grössern Historikers Mommsen gegenüberstellen: »Nicht ungestraft treibt ein Staat mit seiner Ehre Falschmünzerei.«
Es war, sagt Szillassy, um Berchtold herum das schrecklichste Chaos, alles mischte sich ein, gab Ratschläge, und oft war es unmöglich, den Ursprung einer Entscheidung festzustellen. Nach dem Ausbruch des Krieges habe ein neutraler Botschafter gesagt: »X. oder N.« – Namen von Ministerialbeamten – »hat ihn gemacht, oder vielleicht auch der Portier.« Die Konfusion im ganzen Staatsbetrieb war um so grösser, da es zwei Hofhaltungen und zwei Sonnen, eine schon fast sagenhaft noch über der Untergangslinie verweilende und eine mit nicht ganz klarem Licht emporsteigende, gab. Man verrichtete noch die 145 Gebetsübungen vor den Gemächern Franz Josephs und man machte seine Reverenz vor der Tür Franz Ferdinands. Kaiser Franz Joseph hatte im Jahre 1913 das dreiundachtzigste Lebensjahr erreicht. Er hatte sehr viele Schicksalsschläge und sehr viele Misserfolge erlebt und man hatte den Eindruck, dass all dieses Ungemach von seiner väterlichen Erscheinung wie der Regen vom Schieferdach abgeglitten sei. Redlicher Fleiss, Einfachheit der Lebensführung, freundliche Züge patriarchalischen Wohlwollens und die Tatsache, dass er so alt hatte werden können, hatten ihm die Zuneigung des Deutsch sprechenden Oesterreich erwirkt und die in den geistigen Schichten Wiens durch leichten Witz gemilderte Sentimentalität sah in ihm das greise Familienoberhaupt. Die Geschichte, das wusste man, konnte ihm nur bescheidene Ruhmeskränze winden, aber seine Popularität war aus zahlreichen Anekdoten gemacht. Er hatte mit Recht zu Theodore Roosevelt, der Wien besuchte, sagen können, dass er »der letzte Monarch der alten Schule« sei. Er war es nicht nur durch manchen äussern Zug seines Wesens, durch seine Pünktlichkeit im Dienst und durch die Schlichtheit seines privaten Lebens, sondern auch durch sein starres Festhalten an einer spanischen Etikette, durch seinen unbeugsamen Glauben an die Heiligkeit der habsburgischen Familientraditionen, durch dieses Habsburgertum, das er mitunter, nach dem Tode des Kronprinzen Rudolf, bei der Bestattung der Marie Vetsera und bei der Beisetzung Franz Ferdinands und seiner Gattin, bis zur grausamen Härte übertrieb. Obgleich er, wie Baernreither bemerkte, »darin ein echter Habsburger, auch das Unglück seiner Völker mit Gleichmut ertragen« hatte, hielt man ihm jetzt Unliebsames fern. Der Oberhofmeister Montenuovo und der Leibarzt verordneten und Stürgkh verwirklichte aufmerksam dieses »hygienische Regierungssystem«.
Der so gut behütete Franz Joseph hätte in der Ueberzeugung leben können, dass seine Völker die glücklichsten auf der Erde seien. Er wollte keinen Krieg haben, er glaubte nicht, dass es einen Krieg geben könne, und wenn man ihn, die Stürgkh und Montenuovo überlistend, durch vertraute Personen wissen liess, wie sein Generalstabschef und die Kriegspartei herumrumorten, bewegte er abweisend den weisshaarigen Kopf und entgegnete müde, das alles sei doch nicht ernst, nur törichte Kinderei. In all den Jahren, in denen Conrad unablässig zum Kriege, bald gegen Italien und bald gegen Serbien, drängte, wies Franz Joseph, ebenso hartnäckig, solche Zumutungen zurück. Er konnte sich von diesem Manne nicht befreien, aber er liebte und schätzte ihn nicht. Schon 1912 verbat er sich in einer erregten Auseinandersetzung mit Conrad die fortwährenden Angriffe gegen seine Friedenspolitik. »Meine Politik ist eine Politik der Friedens – dieser Politik müssen sich alle anbequemen –, solange Italien uns nicht angreift, wird dieser Krieg nicht geführt.« Einige Tage nach dieser Unterredung teilte Franz Joseph dem Generalstabschef mit, dass er ihn von seinem »jetzigen Dienstposten entheben« müsse – »die Gründe sind Ihnen bekannt«. 146 Als Conrad wieder auf den ehemaligen Dienstposten zurückgekehrt war, während der Balkankriege, begann von neuem das Ringen zwischen dem alten Kaiser und dem ruhelosen Strategen, hinter dem nun eine stark angewachsene Kriegspartei stand. Wenn Franz Joseph sich nicht mehr anders zu helfen wusste und, während der Affäre von Skutari beispielsweise, sich einem gemeinsamen Ansturm Conrads und Berchtolds gegenüber sah, schob er mit der abschliessenden Bemerkung: »Ja, aber es muss alles sehr reiflich überlegt werden« die Entscheidungen hinaus. Soviel er auch, Schicksal der Seinigen und Schicksal der Völker, habsburgisch überdauert hatte, einen Krieg wollte er nicht mehr erleben, dieser Gedanke war ihm verhasst. Und obgleich er nie über die Mittelmässigkeit des fleissigen Tagesarbeiters hinausgelangt war, zeugte der Pessimismus, mit dem er die Chancen eines Krieges betrachtete – denn er glaubte nicht an die herrlichen Verheissungen –, von weit mehr innerer Klarheit, als sie ein Draufgängertum besass, das sich mit der Versicherung, dass Russland ruhig bleiben würde, betrog und in falschen und zweideutigen Orakelsprüchen seine Beruhigung fand.
Das Herz der deutschen Oesterreicher war gewiss immer gern bereit, seine Fürsten zu lieben, aber es liebte nicht Franz Ferdinand. Diejenigen, die ihn kannten, stimmen darin überein, dass ihm an Volksgunst auch nichts lag. Ihm fehlte völlig jene gnädige Leutseligkeit, die ohne besondere Kosten die Untertanenseele bestrickt. Er erschien schroff und finster, habgierig und händelsüchtig und ohne Verständnis für das Volksgefühl, und man sah, wie er einer Nichtigkeit wegen prozessierte, störrisch seine Herrenprivilegien in die Waagschale warf und, sich selber im Rechte glaubend, fremde Besitzrechte nicht gelten liess. Vielleicht war er so kalt und abweisend gegenüber allen, die ihm fernstanden, weil er seine Unfähigkeit, zu gewinnen und zu erwärmen, empfand. Er litt ungeheuer darunter, dass die Frau, die er liebte, hinter den echten Erzherzoginnen zurückgesetzt wurde und eines Tages nicht als Kaiserin gelten sollte, und wahrscheinlich auch unter der Tatsache, dass er mit seinem Eide, den er halten wollte, den Thronverzicht für seine Kinder hatte erklären müssen, und dass also alles, was er als Monarch würde schaffen können, bestimmt war, einem fremden Erben in den Schoss zu fallen. Die Menschenverachtung war in ihm aufgestiegen, als er im Jahre 1895 an einem Lungenleiden erkrankt war, das unheilbar schien. Damals musste er sehen, dass all die Höflinge und auch fast alle Mitglieder der Habsburger Familien ihn verliessen und nur noch seinen jüngern Bruder Otto mit ihren Freundlichkeiten umgaben, und unter diesem Eindruck änderte er sich, er war leichtlebig und oberflächlich gewesen und wurde nun ernst, bitter, ehrgeizig, pochte eifersüchtig auf seine Rechte als Thronerbe und verzehrte sich in Zorn, wenn man sie ihm vorenthielt. Czernin, der zu seinen Intimen gehörte, hat seine bessern Eigenschaften aufgezählt. Neben dem zärtlichen 147 Familiensinn die Anhänglichkeit an seine wenigen Freunde, einen allerdings von der Aussenwelt nicht geahnten Humor, persönlichen Mut, Abneigung gegen Kriecher und Streber, Kunstverständnis und eine Leidenschaft für Pflanzen und Bäume, die er freilich nach der Manier der römischen Cäsaren befriedigte: mit übermässigem Aufwand und ohne übermässige Achtung vor den Gesetzen, die mitunter sehr lästig der Vergrösserung einer Parkanlage im Wege stehen. Ob auch seine ausserordentliche Geschicklichkeit im Schiessen und sein fabelhafter Jagdeifer ihm als Tugenden anzurechnen sind, kommt auf die Auffassung an. Die Zahl der von ihm getöteten Tiere wurde auf hunderttausende berechnet und schon mehrere Jahre vor seinem Tode hatte er den fünftausendsten Hirsch zur Strecke gebracht. Der Wärmequell, der den Eindruck dieser harten und unfreundlichen Natur mildern konnte, war die Liebe zu der Frau, die er sich gegen den Kaiser, den Hof und die habsburgischen Hausgesetze erkämpft hatte, und zu den Kindern, bei deren Anblick ihm vermutlich der Schwur, der sie vom Throne fernhalten sollte, schwer auf die Seele fiel. Auch Philipp II., der im allgemeinen nur als ein düsterer Gatte und Vater bekannt ist, besass neben der grausamen Strenge diese Weichheit des Gemütes, diesen Zärtlichkeitsdrang, diesen schönen Familiensinn. Er ruhte sich von der Inquisition, der Unterdrückung der niederländischen Freiheit und seinen andern Staatsgeschäften gern in der Kinderstube aus, bekümmerte sich um das Nasenbluten der einen Tochter und schrieb seiner andern, wenn er ihr nicht gerade die Pracht eines Autodafés schilderte: »Madeleine hat grosse Lust nach Erdbeeren und ich nach dem Gesang der Nachtigallen . . .« Alles deutet darauf hin, dass auch Franz Ferdinand auf einer dem Publikum verborgenen Seite ein Lyriker war.
Mit seinen Beziehungen zu dem alten Kaiser stand es schlecht. Franz Joseph fand ihn, die Meinung seines Volkes teilend, im höchsten Grade unsympathisch, der seine allerhöchste Macht zähe hütende Greis war immer bemüht, ihm den Zugang zu den Staatsgeschäften zu versperren, und man vermied nach Möglichkeit, einander zu sehen. Uebrigens hatte die Taktik des Greises, der dem ungeduldigen Jüngern keinen Zipfel der Kaisergewalt ausliefern wollte, durchaus nicht auf die Dauer den gewünschten vollen Erfolg. Der Versuch, den Thronerben mit dem für diese Persönlichkeit am wenigsten geeigneten Amte, dem »Gnadenreferat«, der Verfügung über die Begnadigungsgesuche, abzuspeisen, missglückte, und da er die Akten niemals erledigte, wurden sie ihm auf Antrag des klugen Ministerpräsidenten Koerber bald wieder abgenommen. Aber allmählich richtete er sich ein eigenes Militärkabinett ein. Und da das Militärische oft mit dem Politischen zusammenhing, ergab sich der Schritt über die Schwelle von selbst. Es stärkte die Position Franz Ferdinands, dass ihm Wilhelm II. eine sehr sichtbare Freundschaft widmete und ihm und auch seiner Gattin vielerlei 148 Ehrungen erwies. Der Hof in Wien konnte die Herzlichkeiten des deutschen Kaisers nicht ganz unbeachtet lassen, und sogar einige Erzherzoginnen zwangen sich bereits zu einer anmutigen Artigkeit, wenn die morganatisch angetraute Fürstin Sophie Hohenberg vorüberschritt. Indessen, Schönbrunn, das Schloss des alten Franz Joseph, und das Belvedere, wo Franz Ferdinand mit seiner Familie residierte, lagen, wie Redlich sehr hübsch sagt, auf ihren Hügeln wie die Residenzen zweier rivalisierenden Herrscher einander gegenüber, und aus den Fenstern des einen Schlosses blickte die Eifersucht argwöhnisch zu dem andern hin. Dazwischen lag das schöne Wien, das neugierig hin und her spähte, mit Unbehagen an die Zukunft dachte und sich dann wieder mit einem Witz die Sorgen vertrieb.
Wenn Franz Ferdinand auch keine sehr anziehende Erscheinung war, so muss doch gesagt werden, dass er in manchen grossen Fragen, die für die Zukunft Oesterreich-Ungarns entscheidend schienen, den richtigen Instinkt hatte und die vernünftige Ansicht vertrat. Freilich nicht immer konsequent, denn von dem Ausgleich mit den Tschechen beispielsweise, den er eine Zeitlang dringend wünschte, wollte er dann nichts mehr hören und obgleich er durchaus keinen Krieg, sondern die Verständigung mit Serbien für notwendig hielt, wurde auf sein Betreiben Conrad von Hötzendorff wieder zum Generalstabschef ernannt. Die Politik, die ihm vorschwebte, wäre, wenn er sie hätte verwirklichen können, auch äusserst zwiespältig gewesen und hätte seine Völker nur mangelhaft beglückt. Denn seine vortreffliche Absicht, dem Dualismus ein Ende zu machen, Oesterreich-Ungarn zu föderalisieren, autonome Nationalstaaten mit Vertretungen in Wien zu schaffen, hätte den vollen Erfolg nicht gebracht, weil Franz Ferdinand eben ein ganz autokratisch empfindender Verächter aller Massenregungen war und den demokratischen Geist, der in all den nichtdeutschen Nationalitäten sehr stark lebte, absolut nicht begriff. Er wollte – auch da wieder hatte es ihm während der Balkankriege an Konsequenz gefehlt – die Versöhnung der Serben, und ein Dreikaiserbündnis, Habsburg, Hohenzollern und Romanow Hand in Hand, war sein eigentliches Ideal. Dabei dachte er vor allem an einen Verteidigungswall gegen die wachsenden demokratischen Fluten, an den Kampf gegen den »Umsturz«, nach den Rezepten der Heiligen Allianz. Das waren unsinnige Vorstellungen; Absolutismus und Föderalismus schlossen einander aus. Die befreiten Staaten hätten ein Regime, wie es ihm vorschwebte, sehr schnell in die Luft gesprengt. Ziemlich einheitlich war seine Haltung nur den Ungarn gegenüber, und in seinem Wunsche, die Herrschaft des Magyarentums zu brechen, den Hochmut der Tisza und Genossen zu dämpfen, liess er nicht nach. Er trat stetig als Anwalt der Kroaten, Rumänen, Slowaken und der übrigen in Ungarn lebenden Nationalitäten auf und unterstützte bei jeder Frage die Lösung, die den Magyaren die verhassteste war.
149 In seiner Abneigung, Krieg gegen Serbien führen zu lassen, wurde er oft durch die Ermahnungen seines kaiserlichen Freundes in Potsdam bestärkt. Conrad sah den Einfluss, den Wilhelm auf den Thronfolger ausübte, mit grossem Missvergnügen und beklagte sich im September 1913 bei dem deutschen Kaiser darüber, dass die Gelegenheit versäumt worden sei. Wilhelm II. hörte den unausgesprochenen Vorwurf heraus und antwortete, er habe die österreichischen Soldaten nicht verhindert, vorzugehen. Beide, Wilhelm und Franz Ferdinand, befürchteten von einem Kriege mit Russland den Zusammenbruch der Dynastien, und beide glaubten an einen Plan der »französischen Freimaurer und Antimonarchisten«, den Umsturz herbeizuführen, »die Monarchen vom Throne zu stossen« – beide hatten eine etwas krause und phantastische Auffassung von den treibenden und bewegenden Kräften in dieser Welt. Tschuppik sagt richtig, dass in Ferdinand die Denkweise seiner italienischen Vorfahren nachwirkte, wenn ihm die historische Entwicklung als eine Verschwörung der Freimaurer erschien. Wilhelm II. war nicht mit solcher italienischen Erbschaft belastet, sondern schöpfte aus der eigenen lebhaften Phantasie. Mitunter suchte Franz Ferdinand, ähnlich wie Franz Joseph, durch das Mittel der Vertagung den bohrenden Conrad loszuwerden, der, wie der Geist von Hamlets Vater, immer wieder kam. Im Februar 1913 erklärte er ihm: »Seien Sie versichert, später, wenn unsere innerpolitischen Verhältnisse besser sein werden, dann ja.« Franz Joseph und Franz Ferdinand, so verschieden und einander fremd in ihrer Rivalität, antworteten, wenn die Frage »Krieg?« ihnen klar gestellt wurde, mit einem deutlichen Nein. Leider gibt es, man hat es während der Balkankriege gesehen, Fälle, in denen sich die Frage nicht gleich als Ganzes zu präsentieren braucht, sondern sich gewissermassen bruchstückweise entwickelt, und die Seele, die vor scharf belichteter Klarheit zurückschreckt, gleitet haltlos in die Unklarheit hinein.
In Ungarn ging aus dem feudalsten Kreise der auf ihre magyarischen Vorrechte pochenden Aristokratie ein begabter, in seinem Handeln etwas dilettantischer Prophet hervor, ein Abtrünniger, ein Rebell. Graf Michael Karolyi, auf den Irrwegen seines Lebens gestärkt durch seine energische Frau, die Tochter des kompromisslerisch liberalisierenden, doch auf die wesentlichen Privilegien der magyarischen Oligarchie nicht gern verzichtenden Julius Andrassy, hielt es nicht für möglich und nicht für erlaubt, die andern Nationalitäten, mindestens die Hälfte der Bevölkerung, zu magyarisieren, war für die föderalistische Freiheit und forderte zugleich die Verwirklichung der demokratischen Ideen. Er hatte auch in der Aussenpolitik sein eigenes Programm. Er vertrat den Standpunkt, dass das Bündnis mit Deutschland Oesterreich-Ungarn in einen Krieg hineinziehen werde – auch Czernin behauptet, mit eigentümlicher Rollenvertauschung, Oesterreich-Ungarn sei durch Deutschland »fortgeschleppt« worden – und er strebte die Auflösung des Dreibundes und 150 eine Annäherung Ungarns an Frankreich, Russland und England an. Es lässt sich nichts dagegen einwenden, dass ein ungarischer Politiker, der sein Land durch ein Bündnis gefährdet glaubte, seine Befürchtungen nicht verschwieg. Einige von uns, leider nicht allzu viele, betrachteten und kritisierten mit gleicher Sorge die von Deutschland aufrecht erhaltene Bündnispolitik. Graf Karolyi ging dabei ein bisschen weit. Er schrieb, als Chef der ungarischen Unabhängigkeitspartei, an Poincaré und bat um eine Audienz. Im Januar 1914 wurde er in Paris, wohin er eigens zu diesem Zwecke gefahren war, von Poincaré, dem Präsidenten der Republik, empfangen. »Die Einzelheiten der Audienz waren königlich«, erzählt, ein wenig naiv, Karolyi in seinen Memoiren, und eineinhalb Stunden lang hörte Poincaré, gewiss sehr aufmerksam, sich den Vortrag an. Karolyi sagte – er selbst berichtet all das in seinem Buche – er wolle die Verständigung mit der Triple-Entente und den Balkanstaaten anbahnen und Ungarn dem Einfluss Deutschlands entziehen. Ungarn müsse sich zunächst wirtschaftlich von Oesterreich befreien, in einer Balkanföderation könnte es eine grössere Rolle spielen, darum müsse französisches Kapital in Budapest die mit Deutschland verbandelte Rothschildgruppe verdrängen, und überhaupt, ohne eine finanzielle Aufmunterung könne der ganze Plan nicht gelingen. Ungarn sei »klipp und klar« gegen den Krieg. Wenn Ungarn die Kette zerreisse, werde es für Oesterreich unmöglich sein, einen Krieg gegen die Slawen zu führen, und jetzt schon wäre das, da sechzig Prozent der österreichisch-ungarischen Armee slawischen Stämmen angehörten, äusserst riskiert . . . Poincaré, »hinter einem riesigen, prachtvollen Schreibtisch«, prägte sich diese Schilderung der österreichisch-ungarischen Zustände und das manche Hoffnung nährende Angebot schweigend ein. Die Audienz bot vielleicht den Anlass, der Rubrik »Italien« und der Rubrik »Rumänien« – für die Take Jonescu das Material geliefert hatte – eine Rubrik »Ungarn« anzureihen.
Soviel Strömungen, Kämpfe, Intrigen, ein solches Durcheinander heftiger Wünsche und aufgewühlter Leidenschaften, ein vielsprachiges Babel, wo die einen durch die herabfallenden Steine wild erregt waren, die andern fatalistisch, achselzuckend, dem völligen Einsturz entgegensahen, und in der Mitte von alledem eine bürokratisch unproduktive, ideenlose Regierung und eine aussenpolitische Führung, die hierhin und dorthin lauschte, sich bald hierhin und bald dorthin schieben liess. Man hat auf dem äussern Burgplatz in Wien dem Erzherzog Carl von Oesterreich, dem Feldherrn aus den Koalitionskriegen, ein schönes Reiterdenkmal errichtet, aber man hätte aus der Zahl der Aphorismen, die im sechsten Bande seiner Schriften zu finden sind, die mahnenden Worte als Sockelinschrift wählen sollen: »Wenn Schwache und Unfähige Macht haben und noch dazu träg und leichtsinnig sind, so entscheiden sie sich leicht für den Krieg.«
151 Die südslawische Volksbewegung, die seit der Annexion Bosniens vorhanden war und seit den Siegen der serbischen Heere und der Verweigerung des Adria-Hafens auch die Lauen an sich gezogen hatte, behandelte man nicht mit staatsmännischer Vorsorge, sondern mit subalterner Polizeigewalt. Mit denselben Geheimpolizisten, deren Metternich sich bedient hatte, als die italienische Einigungsbewegung ein Schreckbild geworden war. Aber der südslawische Strom wäre doch, hätte man rechtzeitig das Richtige getan, wohl nicht ganz so unaufhaltsam gewesen, wie die Erhebung Italiens, von dem Metternich hochtrabend gewitzelt hatte, es sei nur eine geographische Bezeichnung, denn hier hätte es Möglichkeiten der Ablenkung gegeben und der Strom floss durchaus nicht einheitlich, breit und ungeteilt. Wenn die südslawische Idee, die Idee eines Gross-Serbien, verwirklicht werden sollte, mussten erst viele innere Gegensätze, Spaltungen, Verschiedenheiten überwunden werden, Verschiedenheiten der Religion, des Charakters, der Stammeszugehörigkeit.
Das serbische Volk hatte, vorgeschobener Posten des christlichen Europa, in Krieg und Kleinkrieg an der Seite der Oesterreicher gegen die Türken gekämpft. Obgleich die serbischen Auswanderer, die vor den Janitscharen geflohen waren und sich auf österreichischem und ungarischem Gebiet angesiedelt hatten, mit Recht oder Unrecht über die Behandlung in diesem Asyl klagten, blieb zwischen dem serbischen Reststaat und dem Habsburger Reiche lange ein Freundschaftsverhältnis bestehen. Unter dem geldbedürftigen Lebemann Milan, der seinen Königstitel Oesterreich-Ungarn verdankte, war Serbien beinahe ein österreichischer Vasallenstaat. Die russische Politik war damit beschäftigt, den Bulgaren ihren Einfluss aufzuzwingen, und Serbien schien die Domäne der österreichischen zu sein. Als im Jahre 1885 Serbien sich leichtsinnig in einen Krieg gegen Bulgarien eingelassen hatte und die serbische Armee bei Sliwnitza besiegt worden war, rettete Oesterreich den Freund vor drohendem schwerem Landverlust. Die Demokratische Partei, die in den Tagen Milans fast ohne Unterbrechung die Regierung stellte, war österreichfreundlich, und die Radikale, die russophile Partei, konnte trotz einer oft äusserst erbitterten Agitation nicht zur Macht gelangen und wurde, als sie ihr Ziel mit Gewalt zu erreichen versuchte, rücksichtslos niedergeschlagen und verfolgt. Die Verhältnisse schienen sich zugunsten der Radikalen zu ändern, als Milan, das Leben in Paris vorziehend, auf die Krone verzichtete und für seinen unmündigen Sohn Alexander ein Regentschafts-Triumvirat, mit Ristic an der Spitze, die Leitung der Staatsgeschäfte übernahm. Die Radikale Partei, die hinter sich die Mehrheit der Bevölkerung hatte, durfte nun mitregieren, bis dann im Jahre 1894 König Alexander, beraten und unterstützt von dem wieder herbeigeholten Vater Milan, sich zu einem kleinen Staatsstreich entschloss. Zank und Misswirtschaft dauerten unter wechselnden Regierungen an. Am 11. Juni 1903 ermordete eine Schar von 152 Offizieren, sämtlich Mitglieder der Radikalen Partei und heisse Russenfreunde, den König Alexander und seine Gattin Draga, und Peter Karageorgewitsch, bescheidener und dürftiger Stipendiat des Zaren, wurde auf den Thron gesetzt. Europa hatte über die phantastische Niederkunftsgeschichte der Frau Draga zu sehr gelacht. Serbien sollte von dieser Schmach gereinigt werden, das Lachen wurde in einer Tragödie erstickt. Jetzt war Serbien, beherrscht von Paschitsch, dem Haupt der Radikalen, ganz an Russland gebunden, die Grenze, die Bismarck zwischen einer österreichischen und einer russischen Einflusssphäre auf dem Balkan hatte festhalten wollen, war fortgeschwemmt. Schwer ist, zu sagen, ob Oesterreich mit etwas mehr Aufmerksamkeit, Voraussicht und Aktivität diesen Umschwung hätte verhindern können. Aber auch unter dem Karageorgewitsch und unter Paschitsch waren noch die Reste der Demokratischen Partei, Fortschrittler und Liberale vorhanden, die, an alten Traditionen hängend, ein freundschaftliches Verhältnis zu Oesterreich für notwendig hielten, eine chauvinistische Politik nicht billigten und mit Unbehagen beobachteten, dass Serbien immer mehr in Abhängigkeit vom russischen Willen geriet. Eine vollständige Einheit der Stimmung und Gesinnung gab es also nicht.
Noch als 1908, in den Tagen der bosnischen Annexion, in ganz Serbien die Ortsausschüsse der Narodna Odbrana, des Verbandes zur »nationalen Verteidigung«, sich bildeten, war, wie es in einer Werbeschrift hiess, das serbische Volk »zwieträchtig, zersplittert, zerstreut«. Die Kapuzinerpredigten von Leuten, die gern die Wichtigkeit ihrer Mission hervorheben, pflegen ja einige Uebertreibungen zu enthalten, aber die immer wiederholten Klagen der Narodna Odbrana über den Mangel an nationalem Zusammenhalt und »nationaler Stärke« dürften in jener Epoche nicht absolut unbegründet gewesen sein. Die jenseits der Grenzen, in Bosnien, Kroatien, Dalmatien wohnenden Stammesbrüder wurden noch mit allerhand Scherznamen genannt, hiessen »Schwaba« oder »Bosniak«, und nicht nur der Bauer, sondern auch der städtische Caféhausbesucher verhielt sich ihnen gegenüber einigermassen indifferent. Das alles änderte sich vollständig nach dem theatralischen Annexionsstreich, der Rest der Gleichgültigkeit verschwand während der Balkankriege, und wenn man fragen wollte, ob es auch in Serbien eine Kriegspartei gegeben habe, so wäre das eigentlich eine törichte Fragestellung, denn das ganze Volk war jetzt eine Kriegspartei und alle gehörten zu ihr, natürlich mit mehr oder weniger Klarheit des Willens, Leidenschaft und Entschlossenheit, und unter der Voraussetzung, dass das mächtige Russland bereit sein werde, mitzugehen.
So, mit dem fragenden Blick auf Russland, war auch die Regierung Paschitsch für den Krieg. Zunächst vielleicht nicht ganz fest in ihren Absichten, nicht mit der Planmässigkeit Cavours, dann, besonders nach dem Scheitern der Hafenwünsche, das Ziel ins Auge fassend, den Augenblick zum Losdrücken mitunter erwartend, aber auch wieder vorsichtig 153 lavierend, weil ein volles Vertrauen zur Entschlussfähigkeit Russlands fehlte und der sehr kluge alte Paschitsch alle Eventualitäten erwog. Vermutlich in der Befürchtung, Russland könnte die Operation des »österreichisch-ungarischen Geschwürs«, von dem Sasonow einmal sprach, noch lange vertagen, hatte Paschitsch im November und im Dezember 1912 eine Unterredung mit dem Grafen Berchtold gewünscht. Baernreither, Masaryk, Redlich und Tschuppik haben diese Tatsache mitgeteilt, über die man weder durch die serbischen noch durch die österreichischen Akten unterrichtet wird. Redlich und Masaryk sprachen in Belgrad mit Paschitsch, der ihnen sagte, er wäre bereit, nach Wien zu kommen. Allerdings blieb er bei der Hafenforderung, aber er bot dafür alle möglichen Garantien, die Anerkennung eines autonomen Albanien und wirtschaftliche Bedingungen an. Als Masaryk am 12. Dezember diese Vorschläge nach Wien brachte, nahm sie Graf Berchtold ohne Wohlwollen entgegen und beantwortete die Frage, ob ihn Paschitsch besuchen solle, mit einem glatten Nein. Vermittlungsversuche Baernreithers hatten den gleichen Misserfolg und weder dem Kaiser Franz Joseph noch dem Thronfolger Franz Ferdinand wurde das Anerbieten des serbischen Ministerpräsidenten mitgeteilt. Graf Berchtold hörte auf die Conrad und Forgach, die ihm rieten, den Gegner nicht zu sehen. Die Burleighs beherrschten »die grosse Seele der Elisabeth«.
Man wird natürlich sagen, der schlaue Paschitsch habe nur beabsichtigt, zunächst einmal den Hafen an sich zu bringen und Oesterreich einzulullen, um dann seine staatsmännische Kraft den weitern Zielen, der Zertrümmerung Oesterreich-Ungarns, der Befreiung der südslawischen Brüder und der Schaffung eines Gross-Serbien widmen zu können. Aber es muss immer wiederholt werden, dass das Glück des Hafenbesitzes Serbien mit Italien entzweit und ihm reichlich viel Beschäftigung gegeben hätte, und es ist auch keineswegs wahrscheinlich, dass Paschitsch im Dezember 1912 den Weg, der zur Auflösung Oesterreich-Ungarns führen sollte, so gradlinig vor sich sah, wie er heute den zurückblickenden Historikern sich präsentiert. Paschitsch hatte mit Russland zuviel Enttäuschungen erlebt. Vielleicht würde Sasonow weiter vergeblich auf eine Ermutigung aus London warten, der Zar noch einmal nach Potsdam fahren – so vieles, so viel Unberechenbares konnte geschehen. Die Vernichtungsidee war auf der österreichischen Seite mindestens so weit wie auf der serbischen gediehen. Darum war der Besuch des Herrn Paschitsch unerwünscht.
Das belastende Material, das Oesterreich im Juli 1914 vor der Welt ausbreitete, um sein Vorgehen gegen Serbien zu begründen, betraf besonders die »Narodna Odbrana«, die Vereinigung »Nationaler Abwehr«, die auch irrtümlich als »Schwarze Hand« in den Anklageakten steht. Die Forschung auf der österreichischen und deutschen Seite hat sich sehr eingehend mit dem Treiben dieser Gesellschaft beschäftigt, in der Zeitschrift Alfred von Wegerers »Die Kriegsschuldfrage« ist im 154 März 1927 zum ersten Male ihr Programm abgedruckt worden, und im April 1928 hat in der gleichen Monatsschrift der ehemalige österreichische Gesandte in Belgrad, Dr. Friedrich Ritter von Wiesener, unter der Gesamtüberschrift »Die Schuld der serbischen Regierung am Mord von Serajewo« den Fall mit kriminalistischem Scharfsinn untersucht und die schon vorhandene Anklageliteratur durch neue Angaben ergänzt. Als Verteidiger der Narodna Odbrana ist, unter anderen, der serbische Universitätsprofessor Stanoje Stanojewitsch aufgetreten, Verfasser einer Geschichte des serbischen Volkes, und mir scheint, dass derjenige, der die Wahrheit sucht, auch die Aussagen der Entlastungszeugen nicht mit hurtiger Geste beiseiteschieben darf. Man kann die Schuldthese des Versailler Tribunals, die ohne ein geordnetes Verfahren und ohne Anhörung der beschuldigten Partei formuliert wurde, schwerlich wirksam bekämpfen, wenn man die Methoden nachahmt, durch die sie zustande kam. Im Oktober 1908, am Tage nach der Proklamierung der bosnischen Annexion, lud der serbische Minister des Aeussern, Milovanovitsch, mehrere aktive und frühere Minister und andere angesehene Persönlichkeiten zu einer Besprechung der Lage ein. Es wurde beschlossen, am nächsten Vormittag im Rathaus eine Protestversammlung abzuhalten, und bei dieser Zusammenkunft gründete man, nachdem der Schriftsteller Branislav Nusic den Plan vorgetragen hatte, den nationalen Abwehrverein. Studenten- und Schützenkompagnien wurden gebildet und in einem Laboratorium der Komitadschi-Abteilung lernten »auserlesene Freischärler«, wie man Bomben fabriziert. Die »Narodna Odbrana« selber berichtete glaubwürdig, sie hätten sich in dieser interessanten Tätigkeit mit »unsäglicher Freude« geübt. Als dann Russland nicht mitmachen wollte und Bosniens wegen der ersehnte Krieg nicht entbrannte, schien die »Narodna Odbrana« ihr Geschäft liquidieren zu wollen. Aber schon nach einiger Zeit trat sie, ein wenig umgewandelt, mit neuen Aufgaben wieder hervor. Sie widmete sich nun »der Agitation in den breitesten Volksschichten«, erklärte, dass sie durch Versammlungen und Vorträge das Nationalgefühl beleben, Schützenwesen und Turnerei pflegen, einen ritterlichen Geist züchten, den innern Hader überwinden, die Volksgesundheit stärken, »jedes serbische Haus zu einer kleinen serbischen Burg machen«, die Verbindung mit den Brüdern jenseits der Grenzen aufrechterhalten werde, um »an dem grossen Tag der Abrechnung« »dem Feinde« mit einem Serbenvolk, das gesund, nationalbewusst und innerlich versöhnt sei, gegenübertreten zu können. Es sei ihr nicht um den Hass zu tun, sondern um die Freiheit, aber sie betrachte Oesterreich als den »hauptsächlichen und grössten Feind«. Stanojevitsch erklärt, er sei selbst als Sendbote der »Narodna Odbrana« in Serbien herumgereist und habe viele Vorträge gehalten, und die Agitation des Verbandes sei absolut nicht so gewesen, wie das amtliche Oesterreich-Ungarn sie dargestellt hat. Gewiss ist dieser Professor ein ehrlicher Zeuge, aber es verhielt sich mit der »Narodna Odbrana« 155 offenbar ganz ebenso, wie es sich mit so zahlreichen andern Vereinigungen und Verbänden verhielt. Die Bedeutung der heiligen Flamme auf dem Altar wurde in diesen Kreisen verschiedenartig aufgefasst. Dem einen war sie ein reines Licht, der andere zündete eine Brandfackel daran an.
Zwischen der Verteidigerbank, auf der Stanojevitsch, Hermann Wendel und einige andere Platz genommen haben, und den Anklägern und Untersuchungsrichtern, den Boghitschewitsch, Wiesener, Wegerer und ihren Kollegen, besteht im wesentlichen über zwei Fragen Uneinigkeit. Die Ankläger sagen, dass die Regierung Paschitsch alle bösartigen Wühlereien, Komplotte, verbrecherischen Anschläge gewusst, begünstigt und mitgemacht habe, und die Verteidiger behaupten, dass sie an alledem unbeteiligt gewesen sei. Von den Anklägern wird die »Narodna Odbrana« als das grosse Vipernnest bezeichnet, aus dem die Verschwörungen gegen Frieden und Leben, Terrorismus und Mord hervorkrochen, und auch in den diplomatischen Noten der K. K. Regierung las man es so. Die Verteidiger erklären, diese Beschuldigungen beruhten auf einem Irrtum, einer Verwechslung, und nicht die »Narodna Odbrana«, die eine öffentliche Verbindung gewesen sei, sondern eine geheime Gesellschaft, die »Ujedinjenje ili Smrt«, »Vereinigung oder Tod«, habe die Propaganda der Tat betrieben und alle Attentate und sonstigen Gewaltakte verübt. Sonderbarerweise haben tatsächlich die Agenten der österreichischen politischen Polizei von der Existenz dieses Geheimverbandes, der wirklichen »Schwarzen Hand«, nichts gewusst und erst während des Krieges, nach der Besetzung Belgrads, einige Spuren davon entdeckt. Die Geschichte dieser Gesellschaft aber ist so bizarr und voll wilder Kinospannung, dass man sie einen Balkanroman nennen würde, wenn man berechtigt wäre, den Balkan als einzigen Schauplatz der Kinoromantik anzusehen.
Zu der »Narodna Odbrana« gehörten ursprünglich auch die meisten der Offiziere, die an der Ermordung König Alexanders und seiner Gattin Draga beteiligt gewesen waren und deshalb gerechten Anspruch hatten auf die Dankbarkeit der Radikalen Partei, der Nutzniesserin dieser Tat und Erbin der Macht. Diese Offiziersgruppe, die ganz unter dem Einfluss einer sogenannten Führernatur, des Generalstabsoberst Dragutin Dimitrijevitsch-Apis stand, fand den offiziell protegierten Verband der »Narodna Odbrana« zu lahm und zu lau und gründete im Mai 1911, gemeinsam mit einigen Zivilpersonen, die »Ujedinjenje ili Smrt«, »Vereinigung oder Tod« und auch »Schwarze Hand« genannt. Die Statuten dieser Geheimgesellschaft verhiessen jedem treulosen oder ungehorsamen Parteigänger den Tod, jedes neue Mitglied verpflichtete sich ihr durch einen Schwur für den Rest seines Lebens, es gab keinen Austritt und kein Entrinnen, in den Satzungen hiess es, wer in die Organisation eintrete, müsse wissen, dass er dadurch »seine Persönlichkeit verliert«. Der Eid wurde in einem dunklen Raume vor einem schwarz 156 behängten Tische abgelegt, auf dem ein Kreuz, ein Messer und ein Revolver lagen, und die Person höheren Grades, die den Eid abnahm, durfte nicht sprechen, um sich nicht durch den Klang der Stimme zu verraten, und war maskiert. Es kam bald zu Konflikten zwischen diesen Abenteurern, die jede politische Rücksicht verachteten, und dem vorsichtigen Paschitsch, und nach einiger Zeit zog auch der Kronprinz Alexander, der anfangs dem Geheimbund angehört hatte, es vor, sich von diesem rabiaten Verschwörerklub zu trennen. Im Mai 1914 gingen die Regierung und die Offizierspartei der »Schwarzen Hand« offen und heftig gegeneinander los. Die Offiziere, die sich als die Balkansieger fühlten und deren Selbstbewusstsein noch erheblich zugenommen hatte, vertrugen sich in den eroberten Gebieten schlecht mit den Zivilbeamten, denen sie vorwarfen, unfähige und korrupte Kreaturen der Radikalen Partei zu sein. Als die Regierung die Beamten schützen wollte und den Versuch machte, durch Verordnungen die Herrschsucht des Säbels einzudämmen, tobte der militärische Entrüstungssturm so gewaltig, dass der alte und schwache König Peter, eingeschüchtert durch Petitionen und Deputationen, kapitulierte und sich dem Willen der Offiziersklique unterwarf. Am 2. Juli übergab ihm das Kabinett Paschitsch sein Entlassungsgesuch, aber neun Tage später kam es, mit neuer Vollmacht ausgestattet, wieder zurück. Nach weitern zwei Wochen teilte Peter in einer Proklamation seinem »geliebten Volke« mit, er sei durch Krankheit für einige Zeit an der Ausübung der königlichen Gewalt verhindert und habe den Kronprinzen Alexander zum Regenten ernannt. Der Kronprinz hatte die Entscheidung zugunsten des Ministerpräsidenten und gegen die Militärrebellen herbeigeführt und der spät auf den Thron gelangte, unter der Alterslast und der Fülle der Erlebnisse gebeugte Vater, mehr Anchises als Nestor, überliess dem geistig frischern Sohne seinen Platz.
Uebrigens befinden sich zwischen den von Boghitchevitsch herausgegebenen serbischen Akten Dokumente, die man als einen Beweis dafür ansehen könnte, dass Paschitsch auch für die »Narodna Odbrana« keine oder nur ziemlich kühle Sympathien empfand. Sicherlich war für ihn und für die offizielle Politik Serbiens die »Narodna Odbrana« eine Hilfstruppe, deren man sich gern bediente, wenn sie nützlich sein konnte, und die man, je nach den Zeitumständen, protegierte, dirigierte, sich erhitzen liess oder mit etwas kaltem Wasser begoss. Die Anwälte der österreichischen Regierung behaupteten aber auch, dass das Kabinett Paschitsch über die sehr zahlreichen politischen Mordtaten der »Schwarzen Hand« genau informiert gewesen sei . . . Und man hat in der Tat einige verdächtige Andeutungen gehört. Aber selbst wenn man annehmen wollte, dass Paschitsch die Devise »Der Zweck heiligt die Mittel« befolgt und auch die infamsten Mittel erlaubt gefunden habe, muss man doch fragen, welchen Nutzen dieser alte Rechner, der kein Romantiker war, von einer Verbindung mit den Mordgesellen 157 erwartet haben soll. Da seine Kompromissvorschläge nicht angehört worden waren, wartete er auf den Krieg mit Oesterreich – aber konnte er, logisch und nüchtern überlegend, damals wirklich glauben, durch Attentate und Ueberfälle diesem Ziele näher zu kommen? Jede dieser blutigen Affären diskreditierte doch in den Augen der zivilisierten Nationen die serbische Sache, stärkte die moralische Position Oesterreichs, bestätigte die Wiener These von der Unhaltbarkeit solcher Zustände, war für Russland, ohne dessen Beistand die grossen Hoffnungen sich nicht verwirklichen liessen, zum mindesten unbequem. Und der bedächtige Paschitsch sollte sich mit Tobsüchtigen eingelassen haben, die er nicht lenken, zügeln, überwachen konnte, deren wüste Disziplinlosigkeit ihn anwiderte und die jeden Augenblick imstande waren, zum Schaden seiner Politik die sinnlosesten Exzesse zu begehen? Allerdings, Oesterreich-Ungarn konnte durch solche Anschläge gereizt, enerviert, wild gemacht werden, wie der Stier in der Arena, und etwas ganz Dummes tun. Aber liess sich alles vorhersehen, und was konnte, wenn Wien sich mit einer für Russland annehmbaren Aktion begnügte, für Serbien anders herauskommen als eine blamable Demütigung? Und der erfahrene alte Fuchs soll so naiv gewesen sein, diesen Offizieren seinen staatsmännischen Ruf, sich selbst in die Hände zu liefern, ihr Kumpan, ihr Kompagnon und zugleich ihr Sklave zu werden – jedem Verrat, jeder Erpressung ausgesetzt? Er wusste ja sehr genau, dass sie ihn hassten, sich als die privilegierten Retter fühlten und den Politiker verachteten, und dass sie, wenn es ihren Zwecken dienen konnte, ihn genau so brutal opfern würden, wie sie auch sonst über Leichen gingen. Pontius Pilatus lebte und lebt in hundert Abarten, Abstufungen und Nuancen, in einem bestimmten Moment ist er vielleicht zerstreut, anderweitig beschäftigt, blickt zur Seite, hört nur mit halbem Ohr. Er beruhigt sich mit Scheingründen, die er für triftige Gründe halten möchte, und bisweilen ahnt er etwas, ohne es glauben zu wollen. Das Gewissen ist nicht immer wie der höchste Berggipfel, der in schöner Klarheit über den Nebel ragt. Aber es ist eine etwas zu gewaltsame Kombination, und ungeheuer unwahrscheinlich, dass zwischen Paschitsch und dem Oberst Dimitrijevitsch ein stilles Einvernehmen bestand.
Dieser Dragutin Dimitrijevitsch-Apis war das eigentliche Haupt der »Ujedinjenje ili Smrt«, ein verwegener Klopffechter, dabei energischer Organisator, einer jener Soldaten, die ihre Kriegsgewohnheiten nie abstreifen, als Herrenmenschen und Führernaturen durch die Welt gehen und über biblische Gebote, staatliche Gesetze und bürgerliche Sitte erhaben sind. Stanojevitsch schildert ihn als tapfer, ehrgeizig, tatkräftig, faszinierend durch eine starke Ueberredungsgabe, aber auch als eitel, eingebildet und affektiert. »Er liebte Abenteuer, Gefahr, geheime Zusammenkünfte und mysteriöse Tätigkeit.« Er wollte vor allem befehlen und war überzeugt, dass seine Ideen, die übrigens unklar und verschwommen waren, die allein patriotischen seien. Boghitschevitsch 158 dagegen hat für diesen Landsmann – obgleich er ihn »den hauptsächlichen Anstifter des Attentates von Serajewo« nennt und, gerade von seinem Standpunkt aus, als Advokat Oesterreichs, ihn doch eigentlich verdammen müsste – eine merkwürdige Sympathie. Niemals, sagt er, habe der Oberst die Genugtuungen der Eigenliebe oder den Ruhm gesucht. Auf einer Photographie sieht man den Oberst mit vollem Gesicht und aufgedrehtem Schnurrbart, mit beiden Händen sich auf den Säbel stützend, ein wenig zur Beleibtheit neigend, keine Verschwörererscheinung nach der Theorie Cäsars, der nur die Mageren für gefährlich hielt. Er hatte bei der Ermordung Alexanders und der Draga mitgewirkt, dann eine glänzende Karriere gemacht, wichtige Posten im Generalstab erhalten und eine Zeitlang sich der Zuneigung erfreuen dürfen, die ihm der Kronprinz durch mancherlei fördernde Handlungen bewies. Im Frühjahr 1914 war Dragutin Dimitrijevitsch Anführer der Offiziersrevolte, die sich gegen die Zivilverwaltung und das Kabinett Paschitsch erhob. Ein Zorn, der lange schon glühte – Zorn über die Vorherrschaft des Zivils und Zorn über die Zauderpolitik des Ministerpräsidenten –, brach in diesem Augenblick hervor. Der Zusammenstoss zwischen den beiden Gegnern, dem Führer der militärischen Verschwörer und dem Staatsmann, musste eines Tages kommen, und keiner der beiden war überrascht, als er kam. Dann brach der Krieg aus und man hätte annehmen können, dass er auch diese Rivalitäten, Gegensätze und Rankünen verschlungen habe, wie er so vieles verschlang. Aber der Ehrgeiz setzte sich bald über die Parole der nationalen Eintracht hinweg. Als die feindlichen Armeen Serbien besetzt hatten und das serbische Heer, geschlagen, erschöpft und aufgelöst, über die Berge zog, wie einst die napoleonische Garde über die russischen Schneefelder, und erst auf Korfu mit fremder Hilfe neugegliedert, gekleidet und bewaffnet werden musste, begannen Dimitrijevitsch und seine Freunde aufs neue ihre Wühlereien. Sie schmiedeten Komplotte zum Sturz der Regierung und sogar der Dynastie, und in der Verwirrung der Niederlage, auf den Trümmern, sollte ihre Militärdiktatur erstehen. Am 24. Februar 1917 forderte Paschitsch von Korfu aus in einem Telegramm an den Minister des Innern die Auflösung der Geheimorganisation, Erhebung der Anklage gegen die Schuldigen und Entlassung jedes Beamten, der nicht ehrenwörtlich versichere, dass er aus der »Ujedinjenje ili Smrt« ausgetreten sei. Dimitrijevitsch, den man schon einige Zeit vorher aus dem Zentrum des Handelns entfernt und in Mazedonien auf einen für ruhebedürftige Pensionäre geeigneten Posten abgeschoben hatte, wurde verhaftet, einige Tage später wurden noch acht höhere Offiziere, ein Vizekonsul und der von Dimitrijevitsch für den Spionagedienst im Generalstab angeworbene Rade Malobabic, eine ergebene Kreatur des Verschwörerhäuptlings, ins Gefängnis gesetzt. Die Verhafteten wurden dem Militärgericht in Saloniki überwiesen, vor dem am 11. April 1917 der Prozess begann. Zuerst hiess es, sie hätten die 159 Absicht gehabt, ihre Truppen dem Feinde zu übergeben, aber diese Beschuldigung wurde in der Verhandlung nicht weiter berührt. Die Anklage besagte weiter, sie hätten mit der »Schwarzen Hand« den Umsturz versucht, hätten den Kronprinzen Alexander und Paschitsch ermorden wollen und hätten im Kriege »die fürchterlichsten Verbrechen, Mord, Räubereien, Plünderungen und andere Ungesetzlichkeiten an serbischen Mitbürgern und Frauen« begangen, und Dimitrijevitsch und vier seiner Genossen wurden zum Tode verurteilt und füsiliert.
Man hat in dem Prozess von Saloniki Material für die Belastung der Paschitsch-Regierung gesucht. Durch die Anklage und die Verurteilung, heisst es, wollten Paschitsch und seine Umgebung sich der Komplicen, von deren Schandtaten sie profitiert hatten, entledigen, die Werkzeuge, die ihren Dienst getan hatten, wurden weggeworfen, die Mitwisser sollten für immer verstummen. Sicherlich fühlte der Oberst Dimitrijevitsch sich als Opfer der Staatsraison. Aber auch wenn er überzeugt war – und er war wohl überzeugt –, dass jedem seiner Schritte der Ministerpräsident heimlich zugestimmt habe, lässt sich aus solchem Glauben nichts folgern, denn es ist sehr möglich, dass seine Phantasie ihn betrog. Ist es denkbar, dass Paschitsch diesen Prozess gewagt hätte, wenn der Oberst Dimitrijevitsch oder einer der andern zehn Angeklagten mit genügend Kenntnissen ausgerüstet gewesen wäre, um ihm eine Mitwirkung an den Attentaten nachweisen zu können? Obgleich die öffentliche Verhandlung gewiss vor sehr begrenzter und ausgewählter Hörerschaft stattfand, wäre die furchtbare Wahrheit auf Kranichflügeln in die Welt hinausgedrungen. Also rechnete Paschitsch auf die Ritterlichkeit, auf die Diskretion, auf die patriotische Gesinnung der elf, über denen das Richtbeil hing? Auf die schonende Diskretion dieser Leute, die sonst keine Schonung gekannt hatten, und auf die Ritterlichkeit von Verzweifelten, denen er nicht nur politische Verbrechen, sondern Ehrlosigkeiten, Räubereien, Plünderungen und gegen Frauen verübte Schändlichkeiten vorwerfen liess? Man solle meinen, er hätte, wenn sie seine Verbündeten auf dunklen Wegen gewesen wären, sie vorsichtiger behandelt und ihnen auf weniger gefährliche Weise den Mund gestopft. Elf Gesellen von dieser unsentimentalen und nicht zimperlichen Gattung in den Kerker oder auf den Exekutionshügel zu schicken, das ganze Verschwörernest auszuräuchern und doch darauf zu rechnen, dass keiner das Geheimnis hinausschreien, hinausflüstern werde – welch ein Risiko!
Es ist auch wirklich nicht nötig, in der ganzen serbischen Politik nur eine Räubergeschichte zu sehen. Man braucht nicht erst in hundert spannenden Kapiteln die Ritter mit dem Dolchmesser und der Bombe auftreten zu lassen – wir sind durchaus überzeugt, dass in Serbien Regierung und Volk, dieses mit den schon erwähnten und selbstverständlichen Temperamentsunterschieden, nichts mehr von friedlichen Diplomatenkünsten erhofften, dass man auf den günstigen Augenblick, 160 auf den Augenblick Russlands, wartete und dass ein scharf ausgeprägter Kriegswille vorhanden war. Wählt man bei der Abwägung der Schuld die historische Gerechtigkeit zum mitberatenden Beisitzer, so dürften mildernde Umstände nicht von der Hand zu weisen sein. Streng verurteilen können in diesem Falle nur diejenigen, die den kriegerischen Massenmord verabscheuen, aus welchen Motiven er auch entstehen möge, aber zur Nachsicht sollten sich besonders die genötigt fühlen, die das Recht des nationalen Egoismus höher stellen als die Gebote der Menschlichkeit. In schönen und kraftvollen Worten hat Treitschke im Jahre 1869 den Befreiungskampf Italiens gefeiert und, einige Flecken verschweigend, seine Freude darüber ausgesprochen, dass »uns vergönnt war . . . einem fremden Volke die Sühne alter Schuld, die Erfüllung gerechter Wünsche zu bringen«. Er nannte Oesterreich einen »entgeisterten Staat«, in dem »Italiener, Magyaren, Tschechen in die Zügel knirschten«, der »zentralisierende Despotismus, Stolz und Ruhm der Hofburg«, sich nur durch ein »System des Schwindels« aufrecht erhielt. War das serbische Volk so rückständig, so unzivilisiert, so unfähig, und, um alles zusammenzufassen, so minderwertig und so tiefstehend, dass nichts es berechtigte, dieselben Ideale wie andere Nationen zu haben, und dass ein Streben, das man bei andern als nationalen Enthusiasmus pries, bei ihm eine strafwürdige und groteske Anmassung war? Wo sind die Merkmale, nach denen man die zum Aufstieg zugelassenen Völker von den andern unterscheidet, und welche Examina müssen bestanden werden, damit die Prüfungskommission der Geschichtsschreiber den Berechtigungsschein erteilen kann?
Trotz alledem, es ist begreiflich und sehr entschuldbar, dass der Deutsche in Oesterreich, stolz auf den köstlichen Reichtum seiner Kunst und seiner Kultur, in liebendem Gedanken an Mozart und Schubert und Raimund, zwischen alten Palästen wandelnd, sich dem Serben so überlegen fühlte, wie der in Schönheit wandelnde Hellene irgendeinem fremden Stamm. Die Kenner serbischer und kroatischer Literatur sind selten, nur wenige können zu den Quellen hinuntersteigen, vieles Reizvolle und Wertvolle kann dort ruhen, aber das ganz starke Genie wäre doch wohl über die engen Grenzen des Landes und der Sprache hinausgebraust. Die unter einem reineren Götterhimmel Geborenen konnten, auch wenn sie nur Geniesser des Segens waren, mit Genugtuung auf den Unterschied hinweisen, der zwischen ihrer Welt und der nicht so kostbar geschmückten Heimat des südslawischen Nachbarn bestand. Das serbische Volk konnte glauben, aus andern Gründen seinem Gegner überlegen zu sein. Es sah nicht nur die Erweiterung seiner Gebiete und das Wachstum seines Wohlstandes, sondern es genoss eine Freiheit, die der Oesterreicher noch nicht errungen hatte, und fühlte sich als eine Gemeinschaft selbständiger Staatsbürger, während man die Bewohner Oesterreich-Ungarns unter obrigkeitlicher Bevormundung und, wie Unmündige, am Gängelbande hielt. Stanoje Stanojevitsch kann schreiben: 161 »In Oesterreich-Ungarn herrschte im wesentlichen die Feudalaristokratie, in Serbien waltete die vollkommene Demokratie.« Indem er, selbstverständlich vom Standpunkt des serbischen Nationalanwaltes aus, darlegt, was alles die Südslawen in Bosnien und in den andern unter der Habsburger Macht zusammengebundenen Ländern zur Abkehr von Oesterreich-Ungarn und zur Sehnsucht nach dem serbischen Herd bestimmt habe, kommt er zu der Feststellung, dass nicht nur von der nationalen Fahne, sondern auch von dem demokratischen Leben Serbiens die starke magnetische Kraft ausgegangen sei. Den Untertanen der Habsburger »imponierte die legere Art, mit der in Serbien jeder Bauer mit dem König und den Ministern verkehrte«, und sie fanden, »dass in dem freien Nationalstaat der Serben vollkommene nationale und politische Freiheit herrschte, und dass dort das Volk Herr in seinem Staate war und wirtschaftlich vorwärts kam«.
Reizvoll wäre es, die Gefühle zu analysieren, mit denen das offizielle Serbien und der Nachbar Nikita, der Fürst von Montenegro, zueinander hinübersahen. Ein Bericht des serbischen Gesandten in Cetinje, Petkowitsch, vom Februar 1910, abgedruckt in der von Boghitschevitsch herausgegebenen Sammlung, gibt von diesem Verkehr, und von der Person Nikitas, eine sehr geglückte Momentphotographie. Es ist die ungemein pittoreske Schilderung einer Spazierfahrt mit dem »Gospodar« Nikita, eines »Kronrates«, dem der Gesandte beiwohnen musste, und der argwöhnischen Feindschaft, die Nikita für Serbien empfand. Herr Petkowitsch hatte den Eindruck, Nikita und seine Umgebung betrieben gegen Belgrad mit »listiger Eilfertigkeit und Verschmitztheit« ein arges Intrigenspiel. Man bewundert in dieser Augenblicksaufnahme – nur Goya hätte in einem Gemälde die Szene festhalten können – das Gemisch von Ludwig XIV. und von Landesvater und Schmugglerpatriarch, von biblischem Gesetzgeber und Börsenspekulant, von majestätischer Pose und natürlicher Listigkeit. Aber dieser Nikita, der in dem Figurenkabinett jener Zeit eine der am wenigsten wächsernen Fürstenerscheinungen war, litt doch wohl nicht nur an Verfolgungswahn, wenn er den Serben nicht traute und den Freundschaftsbecher nur mit Vorsicht entgegennahm. Seine fürstliche Person, seine Dynastie und der montenegrinische Thron waren Hindernisse auf dem Wege zur Verwirklichung des grosserbischen Machttraumes, Belgrad und die Karageorgewitsch mussten auf seinen Untergang sinnen. Er war ein zu geriebener Spieler, hatte zu viel und zu viele verkauft, um nicht diese logischen Folgerungen zu ziehen. In diesem stillen Ringen glaubte er drei Atouts zu haben: die drei Töchter, die er mit beispiellos glücklicher Heiratspolitik an die grossen europäischen Höfe gebracht hatte und von denen zwei so ehrgeizig waren, wie Lears Töchter Goneril und Regan, aber alle drei wie Cordelia an ihm hingen. Hellena, schön wie ihre klassische Namensschwester, war Königin von Italien geworden, Anastasia und Militza, vermählt mit russischen Grossfürsten, dienten in 162 Petersburg, eifrig politisierend und korrespondierend, dem fernen Familienoberhaupt. Die Tage, in denen einst der Zar Alexander III. den Fürsten Nikita seinen einzigen Freund genannt hatte, waren längst vorbei, Russland hatte inzwischen grössere Freunde gewonnen. Das Eheglück der Töchter blieb noch eine gewichtige Garantie. Als die Revolution das Zarentum vertilgt, der Feldherr Nikolai Nikolajewitsch sich, mit seiner Gattin, der montenegrinischen Anastasia, nur durch schnelle Flucht gerettet hatte, kam für Serbien die Stunde, wo man Nikita beseitigen konnte, und die Operation wurde prompt und geräuschlos ausgeführt. Der Alte hatte an moralischen Hemmungen niemals gelitten, er war ein hartnäckiger Sünder, und es war leicht, ihm aus den Fäden, die er gesponnen hatte, einen Strick zu drehen. Verborgen den Blicken der Unberufenen, verhüllt durch den Rauch der verbrannten Wohnstätten und durch das ungeheure Schauspiel des Kriegsendes, vollzog sich, in einem Winkel der Weltgeschichte, diese politische Episode, von der man, wenn man sie tragisch nehmen will, nur sagen kann, dass sie gewiss eine Familientragödie gewesen ist. Aber als Nikita zu dem serbischen Gesandten, dem Herrn Petkowitsch, auf jener Spazierfahrt geäussert hatte, man werde ihm eine serbische Bombe in die Tasche stecken, hatte er sich nicht geirrt.
Anastasia und Militza, die beiden Montenegrinerinnen, waren allerdings auch schon im Jahre 1913, und vorher, in den Gemächern des Zaren und der Zarin nicht mehr so beliebt wie früher und nun nicht mehr durch eigene Kraft, sondern nur noch durch die verwandtschaftliche Stellung ihrer Männer, Nikolai Nikolajewitsch und Peter Nikolajewitsch, einflussreich. Sie hatten die jung nach Petersburg gekommene, an den Zaren verheiratete hessische Prinzessin, die in der russischen Gesellschaft noch fremd und einsam war, an ihr Herz gedrückt, hatten die mystischen Neigungen des Zarenpaares ausgebeutet, hatten, selbst mit dem dümmsten Wunderschwindel sich abgebend, Nikolaus II. und Alexandra Feodorowna, ehemals in Darmstadt Prinzessin Alix, in ihren Salons mit Geisterséancen unterhalten und sie mit einem Haufen von Gesundbetern, Traumdeutern und sonstigen Scharlatanen bekannt gemacht. Eines Tages brachte dann Anastasia der Zarin einen neuen Wundertäter, den Muschik Grigori Jefimowitsch Rasputin, und man weiss, wie dieser bäuerische Pilger seinen heilkräftigen Segen über den kranken Thronfolger hinfluten liess. Aber Anastasia und Militza wurden durch Rasputin, dem sie zu seinem Glück verholfen hatten, beiseitegeschoben, denn dieser gewaltige Beschwörer wollte keinen Favoriten neben sich dulden und geriet auch in erbitterte Feindschaft mit dem Grossfürsten Nikolai, der ihn mit begreiflichem Missvergnügen in der Stellung eines politischen Ratgebers bei der Zarenfamilie sah. Der Prinz Andronnikow sagte nach dem Sturze des Zarentums vor der Untersuchungskommission der provisorischen Regierung von 1917: »Die Kaiserin lag besonders mit dem Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch 163 und den beiden Montenegrinerinnen, Militza und Anastasia Nikolajewna, in fortwährendem Kampf. Ehemals waren das ihre Freundinnen gewesen, denn sie hatten sie mit Hypnotiseuren versorgt. Dann entstand ein Zwist und die Kaiserin war auf jede Art und Weise bemüht, sie um ihren Einfluss zu bringen. Die Beziehungen zwischen dem Kaiser und Nikolai Nikolajewitsch dagegen blieben immer freundschaftlich.« Der Prinz Andronnikow, eine etwas burleske Hoffigur, hat nichts Falsches ausgesagt. Man findet die Bestätigung all dieser Angaben in den Briefen der Zarin an ihren Mann.
Die Protokolle über die soeben erwähnte Vernehmung vor der revolutionären Untersuchungskommission füllen einen dicken Band, der auch in französischer Sprache erschien. Stenographische Wiedergabe der Aussagen, mit den Fragen, die im Laufe des Verhörs von dem Vorsitzenden und den Mitgliedern der Kommission den verhafteten ehemaligen Ministern, Generalen, Hofbeamten und den gleichfalls mit dem Hofe eng verbundenen und gleichfalls ins Gefängnis gesetzten Polizeispitzeln, Abenteurern und Geschäftemachern vorgelegt worden sind. Die Grenze zwischen der offiziellen Gruppe und dem privaten Schmarotzertum ist nicht immer festzustellen. Die Beziehungen sind oft so intim, dass alles durcheinandergeht. Diese Protokollsammlung enthält – obgleich aus ihr, wie aus allen historischen Quellen, mit Vorsicht geschöpft werden muss – Offenbarungen für jeden, der in das Hoflager von Zarskoje Selo und in die Häuser der Umgebung hineinblicken will. Vollständige und zusammenhängende Darstellungen sind lederne Literatur neben diesen einzelnen Bruchstücken, diesen Fetzen der Zeitgeschichte, diesen frei geäusserten oder mühsam herausgelockten, aufrichtigen oder verlogenen Bekenntnissen, diesem abwechselnd tragischen und grotesken Aufmarsch einer Gesellschaft, die am furchtbarsten Aschermittwoch bleich, fröstelnd, sich im Abgrund wiederfindet und, gedrängt durch ein wissbegieriges Tribunal, von den Tagen ihres Glanzes erzählt. Diese Trümmer des Zarenhofes kamen nicht, wie einst die Freunde und Freundinnen Marie-Antoinettens, aus dem Festreigen Watteaus und Fragonards, sondern aus der muffigsten Stickluft, aus einem Spital, aus einer eng ummauerten Welt, in der es keinen andern Geist als den der Geistlosigkeit, keine andere Romantik als die des Aberglaubens, keine andere Kunst als die des Handauflegens, keine andern Tänze als die gemeinen Bocksprünge Rasputins gab. Einige unter ihnen waren nur gehorsame Diener und brave Soldaten gewesen, andere hatten in Zarskoje Selo gefischt und Fallen gestellt, um in Petersburg auf die Jagd des Vergnügens gehen zu können, manchem haftete der Geruch ordinärer Gelage an. Dieser Protokollband ist das Buch der Bücher, wenn man erforschen will, welcher Sternenchor am Hofe des Selbstherrschers rund um die Sonne stand. Nur darf nicht übersehen werden, dass bis zum Ende des Jahres 1913 in Petersburg wichtige Regierungsgeschäfte noch von einigen Persönlichkeiten erledigt wurden, die ausserhalb dieses 164 Zauberkreises blieben, und dass, repräsentiert durch eine allerdings häufig aufgelöste Duma, viele Millionen Russen vorhanden waren, die nicht mehr eine einzige, kompakte, unbewegte Masse bildeten und von denen immer mehr sich abgewöhnten, mit Hoffnung, Glaube und Liebe die Kinderworte »Väterchen Zar« zu lallen.
Alle Personen, die vor der Untersuchungskommission erschienen, mussten sich äussern über Nikolaus II., über die Zarin, über Rasputin, über den Einfluss und das unmoralische Betragen dieses Seelenlenkers, über die Ernennung der Minister, über die dunklen, im Dunkel einander kreuzenden Wege der zahllosen und oft sehr unsichern Sicherheitsorgane, über das Glück freigebiger Winkelfinanciers, über den Kampf des Despotismus gegen die Duma, und noch viele andere Beiträge zur politischen Geschichte und zur Sittengeschichte wurden ihnen abverlangt. Wo ihr's packt, da ist es interessant. Khostow, Minister im zweiten und dritten Kriegsjahre, erzählt, dass der Zar ihm gesagt habe: »Glauben Sie, dass jemand Einfluss auf mich haben kann? Die Kaiserin und ich sehen niemand, wir fragen niemand um Rat. Wir beide entscheiden alles allein.« Und in der Tat, sie waren immer zusammen, bestätigt Khostov, allein mit der Freundin Wyrubowa, und die Adjutanten und Hofleute, die in ihrer Nähe Dienst hatten, »verbringen ihre Abende mit Damespiel und Schach, könnten reden, aber wagen es nicht«, denn jeder fühlt sich vom andern eifersüchtig überwacht. Der General Voikow: »Der Kaiser sprach mit den Personen seiner Umgebung niemals über Politik. Sie brauchen es mir nicht zu glauben, aber es ist doch wahr, dass das ganze Regime, die Atmosphäre, die es umgab – dass das alles das Reich des Schweigens gewesen ist.« Der General Dubenski: »Er empfand keine Furcht vor einer physischen Gefahr. Ich habe ihn an der Front in Galizien gesehen, und ganz im Gegenteil, die Gefahr zog ihn an. Er ist ein Mann von unbestreitbarer Tapferkeit, und ein Fatalist. Er ist ein solches Problem, dass es nicht nur für Merejkowsky, sondern selbst für Tolstoi schwer wäre, ihn zu beschreiben, seine Natur ist ausserordentlich kompliziert.« Der ehemalige Ministerpräsident Sthürmer, auf die Frage, ob die Zarin nicht Frieden mit Deutschland machen wollte: »Niemals, niemals etwas dergleichen, ich habe niemals eine solche Verachtung für Wilhelm gesehen. Es ist das richtige Wort, Verachtung, nichts als das.«
Im Grunde drehte sich, dreht sich auch in dem Verhör alles um Rasputin. Aber wenn die Verhafteten nur von der Bestechlichkeit, der brutalen Weibergier, den unflätigsten Saufgelagen des grunzenden Ebers sprechen, so hat man den Eindruck, dass da doch etwas Wesentliches, die magnetische Persönlichkeitskraft, allzu wenig beachtet wird. Sogar die dicke Wyrubowa, die uninteressanteste aller Favoritinnen, äussert sich, da Rasputin tot und sie verhaftet ist, nicht mehr sehr nett über ihn. »Er war alt und so wenig verführerisch!« Sie versichert, dass sie niemals für ihn entflammt gewesen sei – er war ein Pilger, den man, 165 wenn jemand krank ist, herbeiruft und beten lässt. Mit plumper Schlauheit plappert sie die Lüge herunter, sie habe nie etwas von einer politischen Einmischung Rasputins bemerkt. Sie selbst war, als Freundin der Zarin, der gute Engel, der dem Allerhöchsten die Bitten der armen Menschen überbringt. »Ganz Russland schrieb mir Briefe, alle wendeten sich an mich.«
Eine andere und bösartigere Nummer aus dem Rasputin-Kreise: Manassewitsch-Manuilow, der vorher, ehe er dem Heiligen sich anschloss, hübscher Liebling des Fürsten Meschtscherski, des »Grashdanin«-Herausgebers, Agent der russischen Geheimpolizei in Paris und Rom, mit der Ueberwachung der fremden Botschafter betrauter Spion in Petersburg, Erpresser von vielen Graden, agent provocateur bei der Herbeiführung von blutigen Zusammenstössen, Aktendieb und Betrüger, Mitarbeiter der »Nowoje Wremja«, Organisator von Judenpogromen und Vermittler von Würden und Straferlassen gewesen war. Als Manassewitsch-Manuilow dann Sekretär beim Ministerpräsidenten Sthürmer und Vertrauter des Apostels geworden war, bediente er, alter Gewohnheit getreu und immer mit gutem Beispiel vorangehend, mit gleicher Tüchtigkeit die Polizeibehörden, die gern über die privaten Angelegenheiten des Väterchen Grigori unterrichtet sein wollten, und den heiligen Rasputin. Aus seinen Erzählungen vor der Untersuchungskommission ist bemerkenswert eine Aeusserung, in der er sich gegen die allgemeine Annahme wendet, dass Rasputin ein Freund Deutschlands gewesen sei. »Die Meinung, die das Publikum von Rasputin hat, ist völlig ungerecht, – er war ein Deutschenfeind.« Aber der Gottesmann hätte, wie er selber sagte, wenn er nicht gerade abwesend gewesen wäre, »den Krieg nicht erlaubt«. Ganz gewiss hätte Rasputin im Juli 1914, wie schon mehrmals in kritischen Tagen, Nikolaus und die Zarin ermahnt, den Krieg zu vermeiden, aber er lag damals, von einer enttäuschten Anbeterin verwundet, in einem fernen Krankenhaus. Er war gewiss nicht der Freund eines ihm gänzlich unbekannten und gleichgültigen Landes, wenn auch, aus den gleichen Gründen, die Behauptung, er sei ein Deutschenfeind gewesen, wahrscheinlich eine starke Uebertreibung war. Mehr als die halbe Wahrheit konnte man von Manassewitsch-Manuilow nicht gut verlangen. Sicherlich, Rasputin, dessen Ratschläge in neunundneunzig von hundert Fällen nur ordinärste Beeinflussung zugunsten der eigenen Interessen, und dessen Sprüche geschwollener Unsinn waren, liebte das Kriegsabenteuer nicht. Er hatte nicht göttliche Eingebungen, verkündete nicht in Wunderträumen empfangene Botschaften, wie seine Freundin, die Zarin, meinte, aber aus seinen unhöfischen, im Befehlston des Busspredigers vorgebrachten Worten sprach, wenn es sich um Krieg oder Frieden handelte, der Instinkt des russischen Bauern, der genau weiss, dass bei jeder Schlägerei sein Buckel am meisten geprügelt wird. Rasputin war mit all seiner Renommisterei, seiner moralischen Versumpftheit, seinen trunkenen Orgien, seinem 166 geldmacherischen Geschäftstrieb, seiner ordinären Erotik nicht nur, wie die Philippe, Badamjew und Konsorten, ein gewöhnlicher Betrüger und Scharlatan. Er war die phantastische, bizarre Verkörperung der ungeheuren russischen Vitalität, er brachte in die ängstlich vor dem Volke gehüteten, dem Volke verschlossenen Prunkgemächer die Naturlaute des Volkes, und nur weil er einen ungebändigten Glauben an sich selbst hatte, suggerierte er den Empfänglichen den Glauben an seine Segenskraft.
Ist es nötig, die Lücken zwischen diesen herausgegriffenen, abgerissenen Bildstreifen durch breite Historienmalerei auszufüllen? Der Eindruck kann dadurch kaum an Lebendigkeit gewinnen. Wenn der Abgeordnete Gutschkow den Zaren Nikolaus »nicht normal« nannte, erscheint dieses Urteil zu pointiert und gerade in dieser Zuspitzung zu grob. Wenn der General Dubenski im Zusammenhang mit der Unbewegtheit des Zaren den Namen Tolstoi nennt, deutet er vielleicht nicht mit Unrecht an, dass hier etwas Allein-Russisches mitbedacht werden müsse, aber die Uebertreibung, in die er verfällt, rührt doch von einem letzten Glauben an die Ungewöhnlichkeit der Herrschernaturen her. Auch die am wenigsten devoten Diener der Monarchie wollen in dem Abkömmling eines Herrschergeschlechtes etwas Besonderes finden, und mag es auch nur eine besondere Art der Schwäche sein. Und es sind meistens Eigenschaften, die ebenso ein Schuhmacher in sich trägt. Das Tagebuch, das Nikolaus geführt und das man veröffentlicht hat, ist weniger das Bekenntnisheft eines Tolstoischen Dulders als das Zeugnis einer etwas dürftigen Seele und einer kleinbürgerlichen Mittelmässigkeit. Während in der Weltgeschichte die Kanonen donnern, seine Flotte in die ostasiatischen Meere versenkt wird, seine Armeen flüchten müssen, Unglück über Unglück hereinbricht, der Wind der Revolution schon den Staub der zerfallenden Macht aufwirbelt, schreibt Nikolaus auf, dass er Tennis gespielt und dass seine Frau musiziert hat, und flüchtet sich, allen Problemen ausweichend, in das Familienzimmer, hinter die verhängten Fenster seiner braven Häuslichkeit. Ohne Zweifel konnte er mit seinen Kindern harmlos lachen, und diesen familiär heitern Nikolaus II. sieht man auch vor sich, wenn man Briefe liest, die sein Vetter, der Grossfürst Dimitri, Sohn des Paul Alexandrowitsch, an ihn geschrieben hat. Dimitri, der dann später, gegen den Wunsch der Zarin, sich mit der ältesten Zarentochter Olga verlobte – es kam, da er während des Krieges krank wurde, nicht mehr zur Heirat – und 1917 bei der Ermordung Rasputins mithalf, schrieb an den Selbstherrscher mit der Ungeniertheit eines liebenswürdigen Barbummlers, mit völliger Verachtung der Orthographie und der höfischen Ausdrucksformen, wie ein amüsantes enfant terrible, das nichts, nicht einmal die Majestät, ernst nimmt und sich alles erlauben darf. Er nannte den Vetter Zar »lieber kleiner Onkel«, schilderte ihm die Ballfreuden von Petersburg und die Kokotte im Hotel zu Palermo, setzte an den Schluss eines Briefes die 167 Höflichkeitsformel: »Dein Dir mit Seele und Leib, den Hintern ausgenommen, ergebener Dimitri« und empfahl in einem andern Briefe mit anspruchsloser Grazie: »Nimm dieses Schriftstück, wenn Du ›aux chi . . s‹ gehst – Du hast dort Zeit dafür und man kann sich im schlimmsten Falle damit abwischen – wodurch Du das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden wirst.« Und da er anderswo schreibt, er habe sehr über einen Brief des kleinen Onkels gelacht, scheint es, dass Nikolaus II. sich in seinen Antworten auch nicht immer streng mit kaiserlicher Würde umgab. Aber der kleine Onkel Dimitris, der sich mit solchen Kinderspielen unterhielt, konnte dann wieder, andern Mitgliedern der Familie, ein kalt abweisender, starrsinniger, unnahbarer Tyrann werden, wenn er glaubte, die Ehre des Hauses Romanow wahren zu müssen, und wenn beispielsweise der Grossfürst Paul Alexandrowitsch den Wunsch hatte, mit seiner Gattin, der geschiedenen Frau des Adjutanten Pistolkors, aus der Verbannung zurückzukehren und nach Petersburg, an den Hof zu kommen. Seine Versuche, die Familiengeschichte rein zu halten, waren noch weit anstrengender als die gleichartigen Bemühungen des hartherzigen Franz Joseph, und sie waren, wie man hinzufügen muss, oftmals aussichtslos.
Dieser Zar, der Welt gegenüber ein Automatenmensch, war ein glanzloser Autokrat von oft herrischer Schroffheit, von auftrotzendem Selbstbewusstsein, eifersüchtig auf die ihm aufgezwungene Duma und auf jeden Minister, der bei ihm in den Verdacht geriet, populär zu sein. Argwöhnisch sah er den Weltruhm, der den Namen Witte umgab. Ueber Stolypin, der ihn, von der Bombe getroffen, noch im Todesröcheln gesegnet hatte, sagte er am Tage nach der Beerdigung, im bösen Tone des Eifersüchtigen: »Er hat mich in den Schatten gestellt.« Nur unterwürfigen Dienern gab er seine Gunst, in Augenblicken der Furcht war er sehr liebenswürdig zu denjenigen, die ihm helfen sollten, und wenn die Gefahr vorüber war, suchte er sich ihrer zu entledigen, und besonders unbeliebt wurde jeder, der ihm die Wahrheit sagte und mit lästigen Warnungen und peinlichen Aufklärungen zu ihm kam. Zu furchtsam oder zu unbeholfen, um einem Minister, dessen Verabschiedung er schon beschlossen hatte, seine Absicht ins Gesicht zu sagen, beruhigte er den Verurteilten durch Worte trügerischer Huld und hinterher folgte dann die Mitteilung, die schnell wie ein Fallbeil die Karriere zerschnitt. Möglicherweise sollte die Starrheit, mit der er missbeliebige Menschen und Ideen abwies, oft nur verbergen, dass der Automat von aussen her in Bewegung gesetzt worden war. Aber er hatte den Trotz des Schwächlings, und die Erfahrung lehrt, dass der Hochmut alter Geschlechter bisweilen noch einmal im letzten dekadenten Sprössling zu einem steilen Aufflammen kommt. Nikolaus II. konnte es nie ganz überwinden, dass er, der Romanow, zweimal gedemütigt worden war – in ihm bohrten diese Erinnerungen, auch wenn er die Maske der Gleichgültigkeit behielt. Die Japaner hatten ihn besiegt, und schlimmer 168 noch, die revolutionäre Drohung hatte ihm eine Verfassung, die Preisgabe seiner Autokratenrechte abgezwungen. Wenn sein Herrscherstolz verletzt war, vergass er nicht, obgleich er sonst ohne Empfindung für die Ereignisse über die Erde zu gehen schien. In den Tagen zwischen Sturz und Tod mag alles der müde, stumpfe Fatalismus zurückgedrängt haben, aber wenn man die Dinge mit einem leuchtenderen Schein umgeben will, mag man auch an das Echtrussische der Tolstoischen Menschen denken, die das Kreuz tragen und schweigsam sind.
Alexandra Feodorowna, einst ein »Sonnenschein« als Alix von Hessen, jetzt in der Mitte der Vierzig, war noch eine schöne Frau, wenn das Herzleiden nicht ihre Züge schlaff machte oder ihr Gesicht nicht in einem plötzlichen Anfall von Beängstigung einen starren Ausdruck gewann. Paléologue, der französische Botschafter, hat sie geschildert, wie sie beim Galadiner, neben Poincaré, und abends nach dem Ball sich gewaltsam zur Konversation zwang und plötzlich, mit leer ins Weite gehendem Blick, versteinerten Wangen, schwerem Atem, gegen den hysterischen Angstzustand ankämpfen musste, der sie befiel. In dem grossen fremden Lande, um dessen Sympathien sie, gänzlich unfähig zu einer Annäherung an die Volksempfindungen, niemals hatte werben können, kämpfte sie, mit Herrschsinn und gar keiner Herrscherbegabung, für den Sohn, den Gatten, für den Thron, für die von Gott eingesetzten Autokraten und für jedes Teilchen ihrer Macht. Sie selber verbaute sich und den Ihrigen den Weg des Entrinnens, trieb dahin, dass die tragische Lösung mit voller Wucht niedersausen musste, weil sie in ihrem Krankenzimmer die Staatsgeschäfte an sich reissen, sie – unter der Leitung des heiligen Mannes Rasputin – leiten wollte und eine erhebliche Willenskraft, die Willenskraft einer blind fanatischen Seele, meistens dazu verwandte, das Richtige zu verhindern und das Falsche zu tun. Sie wollte sich wehren gegen die ungeheure, unübersehbare, rätselhafte, wie der erwachende Riese sich reckende Volksmasse, von der sie nichts wusste, und da sie allen, die für dieses Volk und in seinem Namen sprachen, misstraute, geriet sie immer mehr in die Netze der Intriganten, der Scharlatane, der Himmelsboten, zu denen ihre Natur, ihr Aberglaube und ihre Unbildung sie hintrieben, und endlich an Rasputin.
In ihren Briefen an den Zaren enthüllt ihr innerstes Wesen sich ganz. Wenn man die sympathischen Züge sucht, bleibt zu sagen, dass sie an ihrem Mann mit einer offenbar starken Liebe hing, und dass sie eine ihr Junges verteidigende Tiermutter war. Ihre Liebe zu dem Gatten erscheint als ein Gemisch von Zartheit, Erotik, mystischer Anbetung des Romanowschen Blutlaufes, warmer Bemutterungssucht und unerträglicher Bevormundungswut. Man müsste in Nikolaus II. eine masochistische Veranlagung vermuten, wenn man die – aber wahrscheinlich irrige – Auffassung zulassen wollte, dass er das alles immer mit unbegrenzter Hingabe ertrug. Sie unterzeichnete ihre Briefe: »Deine alte Wify«, »Deine 169 Sunny«, »Deine kleine Frau«, und sie nennt ihn: »Mein Engel«, »Licht meines Lebens«, »Mein kleiner Vogel«, »Meine Sonne, mein Leben, meine Liebe«, »Mein einziger Schatz«. Ihre Briefe sind voll von heissem Liebesgestammel, von Sehnsuchtsseufzern: »Ich drücke Dich gegen mein altes liebendes Herz« . . . »Mein geliebter Liebling, ich küsse abends und morgens Dein Kopfkissen« . . . »Ich möchte Dich eng in meine Arme schliessen, . . . Dir glühende Liebesworte zuflüstern« . . . »Ich halte Dich fest in meinen Armen, presse Dich gegen mich, küsse Dein sanftes Gesicht, Deine Augen, Deine Lippen, Deinen Hals, Deine Hände« . . . und dann wieder küsst die Sechsundvierzigjährige in Ekstase seine »grossen Augen«, seine »herrlichen Augen«, seine »sanften Augen«, seinen »schönen Hals«. Während des Krieges – all ihre Briefe, die gefunden und veröffentlicht wurden, stammen aus der Kriegszeit – stattet sie ihn reichlich mit wundertätigen Amuletten und Schutzheiligen aus. Rasputin hat ihr für den Zaren einen Spazierstock gegeben, der direkt vom Berge Athos kommt, einen Spazierstock in Form eines Fisches, der einen Vogel hält, und sie mahnt den Gatten, er solle diesen Stock tragen und im Salonzug neben den andern legen, den Herr Philippe, der ältere Wundertäter, gestiftet hat. Als der König von England ihn zum Feldmarschall ernannt hat, schreibt sie: »Ich werde jetzt ein schönes Ikon bestellen, das die englischen, schottischen und irischen Heiligen St. Georg, St. Michel und St. Andreas darstellen soll, und Du wirst Dich seiner bedienen, um die englische Armee zu segnen, obgleich eigentlich der Beschützer Irlands der heilige Patrik ist.« Ueber die Heiligen ist sie gut informiert. Sie teilt mit, dass ein gleichfalls von Rasputin geliefertes Ikon mit einem Glöckchen ihr diejenigen Personen angibt, die nicht auf dem rechten Wege wandeln und ihr übel gesinnt sind, und dass auch die Feindseligen in der Familie das wissen und deshalb nicht zu ihr kommen. Unablässig beschwört sie ihren Nicky, Prozessionen zu veranstalten – was kann die fehlenden Heeresverstärkungen besser ersetzen als eine Prozession?
Zwischen den Liebesworten, die oft so verlangend sind wie Julias Seufzer um Romeo, und den Rezepten des Wunderglaubens, die so abgeschmackt sind wie die Einbildungen des blödesten Bauernweibes, stehen in den Briefen die Namen der Generale, Minister, Beamten, deren Absetzung Alexandra Feodorowna wünscht, und der Personen, deren Ernennung, Beförderung oder Begnadigung sie empfiehlt. Immer unter dem Diktat Rasputins. Als sie erfährt, dass der Moskauer Adelsmarschall Samarine Ackerbauminister werden soll, sucht sie diese Berufung zu verhindern, denn »Samarine ist ganz gewiss unserem Freunde feindlich gesinnt«. Ihre Bitten kommen diesmal zu spät und sie schreibt, Grigori sei »ganz verzweifelt« über diese Ernennung, und »jetzt wird uns die Moskauer Bande wie mit einem Spinnennetz umgeben«, da »die Feinde unseres Freundes auch die unsrigen sind«. Sie fordert die Beseitigung des tüchtigen Finanzministers Bark und präsentiert als seinen Nachfolger 170 den Fürsten Tatistchew, »der unsern Freund kennt und tief respektiert« . . . »Die Tatsache, dass er unsern Freund liebt, ist ohne Zweifel eine Gnade Gottes und spricht für ihn.« Ihre Ansichten über die Kandidaten ändern sich, wenn in dem Verhältnis dieser Herren zu Rasputin eine Aenderung eintritt, und nachdem sie auf Geheiss des frommen Mannes dem Zaren Khostow aufgeschwatzt hat, zwingt sie, wieder gehorchend, dem Gatten die Entlassung Khostows ab. Ihr fehlen vollkommen selbständiges Urteil, Fähigkeit zu kritischem Ueberlegen und Menschenkenntnis, alles, was »unser Freund«, Grigori, rät und will, ist das Richtige, alle Menschen, die ihm missfallen, sind Bösewichte, Verräter und Verbrecher, und »es gibt«, schreibt sie, »keinen Segen für Russland, wenn ein Mann, den Gott uns zur Hilfe gesendet hat, verfolgt werden darf«. Dann wieder übermittelt sie dem Gatten göttliche Spruchweisheiten, mit denen Grigori sie telephonisch oder telegraphisch erquickt hat: »Der schlechte Baum wird fallen, welches auch die Axt sei, die ihn niederschlägt« . . . »Ein Tag ist jetzt wie ein Jahrhundert, gute Verwalter sind nötig, man muss schleunigst den Polizeipräfekten absetzen, der viel Uebles tut.« Und: »Seid heilig wie ich selbst, seid tugendhaft wie Gott!« Man möchte gern wissen, bei welcher Gelegenheit Rasputin diese Mahnung verfasste, und in welcher Gesellschaft und an welchem Ort.
Ihr Hass gegen den Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch bricht unablässig hervor. Sie hasst ihn, weil sie weiss, dass er stärker als ihr König Gunther ist, und weil sie seinen Einfluss auf den Zaren fürchtet, und weil er die Vertreibung Rasputins durchsetzen möchte, und weil er ihr selber den Respekt versagt. Sie ist empört darüber, dass Nikolai – »Nikolacha«, wie sie ihn nennt – Oberbefehlshaber der Armee ist, und voll Sorge darüber, dass ihr Nicky im Grossen Hauptquartier bei diesem Feinde weilt. »Da er gegen einen Gottesmann vorgegangen ist, können seine Taten nicht gesegnet und seine Meinungen nicht richtig sein« . . . Sie hasst alle, von denen sie annimmt, dass sie ihre Verbindung mit Rasputin missbilligen – sie müssten alle »geradewegs nach Sibirien geschickt werden« – »warum sind sie frei?« Sie hasst den Oktobristenführer Gutschkow, diese »intelligente Kanaille«, und die Duma, die durch ihre Kritik das Vertrauen zu dem Autokraten und der Kaiserin zu erschüttern wagt. Sie ist für die unverfälschte, unbeugsame Autokratie. Noch nach der Ermordung Rasputins schreibt sie, man habe ihr gesagt: »Wir brauchen die Knute«, und so sei die slawische Natur: grösste Festigkeit, sogar Grausamkeit – dann nur wird man geliebt. »Wenn Du nur streng sein würdest, mein Liebling – sie müssen Deine Stimme hören und die Unzufriedenheit in Deinen Augen sehen. Sie sind zu sehr an Deine Milde und nachsichtige Güte gewöhnt.« – »Sie müssen lernen, vor Dir zu zittern. – Frage nicht – sondern befehle, dies oder das müsse geschehen!« Und als er ihre Gegner nicht bestraft hat: »Mein kleiner Gatte hätte wirklich ein wenig für mich eintreten 171 müssen, denn viele Leute glauben, dass Dir das gleichgültig ist und Du Dich hinter mir versteckst.« Gewöhnlich entschuldigt sie sich, wenn sie ihn so ihre Ueberlegenheit hat fühlen lassen: »Gott wünscht, dass Deine arme kleine Frau Deine Helferin sei. Grigori sagt es immer, und Philippe sagt es auch.« Es unterliegt keinem Zweifel, dass Nikolaus II. schwer geseufzt und gelitten hat. Seine Liebe zu dieser Frau war standhaft, seine Angst vor ihren Tränen und Ausbrüchen war nicht geringer, er erduldete Rasputin, er liess sich träge, auf harten Widerstand verzichtend, Aufregungen und Unbequemlichkeiten scheuend, hineinführen in den Untergang.
Von dem Leben an diesem Hofe, diesem Leben ohne Geschmack, ohne Spuren einer verfeinerten Kultur, ohne künstlerische oder literarische Interessen, zeugen Szenen, die der ehemalige Petersburger Korrespondent des »Temps«, Charles Rivet, in seinem Buche »Le dernier Romanof« geschildert hat. Ein bevorzugter Gast in Zarskoje Selo war der Minister des Innern, Maklakow. Er hatte ein besonderes Talent, die Familie zu amüsieren: er imitierte auf drollige Weise seine Kollegen, und seine Höchstleistung bestand darin, einen Panther darzustellen. »Nikolai Alexiewitsch!« sagte man ihm, »den Panther, machen Sie den Panther!« und Maklakow beeilte sich, den Wunsch zu erfüllen. »Er kroch«, erzählt Rivet, »unter ein Kanapee. Er stiess ein wildes Raubtiergebrüll aus, kam dann auf vier Pfoten unter dem Möbel hervor, tat einen gewaltigen Sprung und fiel in einen Fauteuil.«
Gab es in Zarskoje Selo eine »deutsche« Partei? Man hat geglaubt, in Alexandra sei immer etwas von der hessischen Alix geblieben, ihr Herz sei bei der deutschen Verwandtschaft gewesen, ihr Einfluss habe sich bis zuletzt zugunsten der alten Heimat geltend machen müssen, und so haben alle, die in ihr das Unheil Russlands sahen, und alle, die auf den kriegerischen Konflikt warteten, sie als Agentin Deutschlands verschrien. Aber wie diese Protestantin nach ihrer Bekehrung zur orthodoxen Kirche sich tief hinein in den Weihrauchnebel verirrt und haltlos allen mystischen Verführungen hingegeben hatte, so entfremdete die Deutsche sich ihrer Vergangenheit. Sie fühlte nicht russisch, sie hielt wahrscheinlich das Echtrussische für etwas ziemlich Niedriges, sah auch in Rasputin ein Geschenk des Himmels, nicht das Produkt dieser Erde, aber die Rücken dieses Volkes trugen ihren Thron, sie war Weib des Zaren, war Kaiserin, Mutter des Zarewitsch, und wer die Interessen, die Macht, die Zukunft der Herrscherfamilie bedrohte, war ihr Feind. Eigentlich hätte sie dem deutschen Kaiser dankbar sein müssen, denn er hatte bei einem Familienfest in Koburg ihr den schüchternen russischen Thronfolger zugeführt, der vorher, noch in den Banden einer schönen, zu seiner Erziehung ausgesuchten Tänzerin, keine Zärtlichkeit für sie empfand. Er hatte den jungen Mann unter den Arm genommen, ihm ein paar Rosen in die Hand gesteckt und ihm gesagt: »Jetzt gehen wir und halten um Alix an.« Aber Sthürmer log gewiss nicht, übertrieb 172 höchstens, als er aussagte, sie habe – in späterer Zeit wenigstens – mehr als irgendein anderer »Verachtung« für Wilhelm II. gehegt. Das laute Auftreten des deutschen Kaisers stiess sie ab, die Art, wie er ihren Mann belehren und überglänzen wollte, war ihrem Stolz und ihrer Eitelkeit schwer erträglich, die emporgestiegene Kleinstaatprinzessin wollte den Anmassenden, der gegenüber den Fürsten zweiten Ranges im eigenen Lande den Herrn spielte, auf seinen »Platz an der Sonne« zurückgewiesen sehen, und auch der indiskrete Scherz, mit dem er in seinen Briefen ihr jedesmal, wenn sie einer Geburt entgegenging, sein »Weidmannsheil« wünschte, hatte sie wahrscheinlich in ihrem stillen Mutterempfinden und ihren mystischen Stimmungen verletzt. Die »deutsche Partei« waren nach Ansicht der echten Russen die vor langer Zeit eingewanderten oder von den baltischen Küsten stammenden Adelsfamilien mit deutschen Namen, die vielen, allzu vielen »Deutschen« in der hohen Beamtenschaft, allesamt ehrlich und zuverlässig, mit dem Stolz der Tugend, und tüchtig, mit einer musterhaften und als Muster sich gebärdenden Tüchtigkeit. Sie hatten sich niemals akklimatisiert, ihre Seele hatte sich nicht mit der russischen Seele verschmelzen können, sie konnten in Petersburg wohnen, aber sie konnten nicht in Moskau zu Hause sein. Von ihnen stand dem Zaren und der Zarin am nächsten der Graf Fredericks, seit 1897 Minister des Hofes, ein vornehmer, taktvoller, geistig nicht sehr hervorragender alter Herr, ein noch im weissen Haar schöner und eleganter Edelmann, dessen Stammbaum eigentlich gar nicht in Deutschland, sondern in Schweden wurzelte, und dessen grösstes Talent die Treue war. Bei der Razzia mit aufgegriffen, die nach der Revolution ziemlich wahllos Schuldige und Unschuldige, Gauner und Ehrenmänner zusammentrieb, kam er aus einer schmutzigen Gefängniszelle, in der sogar nachts rüpelhafte Soldaten den alten, an feine Wäsche und gute Manieren gewöhnten Hofmann bewachten, vor jene Untersuchungskommission, durch den furchtbaren Choc gebrochen, greisenhaft klagend, nur noch ein armseliger, bejammernswerter Ueberrest. Die Kommission, die ihn respektvoller und milder als irgendeinen andern behandelte, und ihm auch, für die wenigen Wochen, in denen er noch zum Grabe sich hinschleppte, die Freiheit verschaffte, fragte ihn, ob er wisse, dass ihn das Volk für einen Anhänger Deutschlands hielt. Er antwortete, er habe es gewusst, aber es sei eine enorme Lüge, und bisweilen habe er selber dem Zaren gesagt, dass zuviel Deutsche am Hofe seien. »Die militärischen Kreise waren mir feindlich gesinnt. Das war eine Sünde, die sie da begingen. Habe ich jemals irgendeinem etwas Böses getan? Niemals, keinem Menschen in der Welt.« In der Tat, die echt russischen Militärs hassten diesen alten braven Hofdiener, der wirklich keine politischen Ideen haben wollte – sie hassten ihn, weil er zu den »deutschen Baronen« zu gehören schien. Einer dieser Russen, der General Dubenski, sagte es vor dem Ausschuss rund heraus. »Ich muss erklären, dass ich ein fürchterlicher Gegner der Deutschen 173 bin.« Niemals hätten, das gibt er zu, die Deutschen verraten, alle deutschen Offiziere hätten sich eher in Stücke hauen lassen, aber »sie waren uns unsympathisch, sie waren nicht wie wir«. . . . »Sie unterstützten immer einer den andern, bildeten eine eng verbundene Gruppe, sie erhielten vom Hofministerium Beförderung, sie sind alle Anhänger der deutschen Zivilisation . . . Diese Gruppe war, wie Sie wissen, ungeheuer gross.« Man sieht: nichts war irriger als die Meinung, die Tätigkeit dieser vielen Deutschen im Heere und im Beamtentum könnte ein Bindeglied zwischen Russland und Deutschland sein. Der Anblick dieser »deutschen Barone« reizte die Russen, die Abneigung wurde auf Deutschland übertragen, jeder unangenehme Zug im Auftreten der »Fremdlinge« – gemeinsame Verwandtschaftszüge einer Kaste, die mit all ihrer Tüchtigkeit es nie verstanden hatte, sich bei den andern beliebt zu machen – half den Sämännern der Feindschaft, und jede durch die Rivalität hervorgerufene Verärgerung trug, wenn auch natürlich nur wie ein vom Wind herangewehtes Sandkorn zur Bildung eines Hügels, zur Verschlechterung der Stimmung bei. Durch die ganze russische Literatur geht das Wort des Generals Dubenski: »Sie sind nicht wie wir.« Tolstoi hat dort, wo er in »Krieg und Frieden« die Offiziere der einzelnen Nationen miteinander verglich, über die von keinen selbstkritischen Zweifeln geritzte Bestimmtheit der deutschen Befehlernaturen geschrieben: »Der Deutsche ist der Selbstsicherste und der Unsympathischste, weil er sich einbildet, die Wahrheit zu kennen – die Wissenschaft, die er selbst erfunden hat und die für ihn die absolute Wahrheit ist.«
Es müssen noch zwei genannt werden, mit denen die revolutionäre Untersuchungskommission sich beschäftigte: der ehemalige Ministerpräsident Goremykine, der aus der Haft vorgeführt wurde, und der General Suchomlinow, früher Kriegsminister, der hier nicht persönlich auftrat, schon seine Gerichtsverhandlungen hinter sich hatte und im Oktober 1917 nach Finnland und später von dort nach Deutschland entkam. Von all den Personen, die zur Vernehmung erschienen, oder über die in ihrer Abwesenheit gesprochen wurde, waren nur diese beiden und der Graf Fredericks in hoher Stellung, ehe der Krieg begann. Goremykine, damals bereits so alt, dass es schwer war, die Zahl seiner Lenze nachzurechnen, wurde nach dem Sturze Kokovzows am 30. Januar 1914 Ministerpräsident. Irgendeine der »Koterien« hatte ihn ausgegraben und vorgeschoben, vermutlich weil man ihn schlafbedürftig, schon ein wenig senil und in keiner Weise hinderlich fand. Ueber Suchomlinow äusserte sich ein anderer Schächer, der geschäftige Fürst Andronnikow, der, wie überallhin, auch in das Schicksal des Generals mit fädelnder Hand eingegriffen und, nach längerer Freundschaft, empört über eine Abweisung, im zweiten Kriegsjahr es durchgesetzt hatte, ihn wegen Spionage und Bestechlichkeit ins Gefängnis zu bringen. Von der einen Seite her durch den Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch, der seit 174 langem Suchomlinow hasste, und von der andern her durch Rasputin liess Andronnikow den Zaren bearbeiten, der im Juni 1915 nach einer herzlichen Umarmung den Kriegsminister fallen liess. Seltsamerweise wurde Suchomlinow beim Beginn der bolschewistischen Herrschaft aus der Peter-Pauls-Festung befreit. Nach dem Kriege fand er, der russische Kriegsminister aus den Tagen des Kriegsausbruches, in Deutschland ein Asyl, und in Wandlitz-See in der Mark schrieb er mit nicht ungewandter Feder – er hatte unter dem Pseudonym »Ostap Bondarenko« sich häufig schriftstellerisch betätigt – ein dickes Memoirenbuch. Vom Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch sagt er darin: »Dieser willensstarke Mann mit seiner brutalen Rücksichtslosigkeit hätte der Retter Russlands werden können, wenn zu seinen starken Seiten noch ein Fünkchen Verständnis für die Eigenschaften seines Volkes getreten und er nicht belastet gewesen wäre mit allen Fehlern, die im Gefolge von geistiger Beschränktheit, mangelnder Bildung und schlechter Erziehung zu stehen pflegen – Eitelkeit, Hochmut und Nichtbeachtung seiner Mitmenschen, alles durch ungezähmten Ehrgeiz verschärft.« Gewiss weicht diese Charakterschilderung nicht weit von der Wahrheit ab. Anderes in dem Buche ist mit Vorsicht zu betrachten, und mit Vorsicht sollten die Geschichtsschreiber wohl auch dasjenige aus den im deutschen Asyl verfassten »Erinnerungen des Generals Suchomlinow« verwerten, was gut in den Rahmen ihrer eigenen Anschauungen und Thesen passt. Dass man ihn in Kriegsheften und Kriegsbilderbogen ungefähr wie den faulen, sauffrohen, renommierenden Falstaff abbildete, war eine Verzerrung seiner Person und andere haben mindestens so sehr wie er zum Kriege gehetzt. Aber es ist wohl auch nicht eine ganz einwandfreie Forschungsmethode, dass man ihn dann, ohne Vorbehalt, als Mitarbeiter umarmte, als er seine frühere Umgebung genügend belastete, und dass man aus seinen im deutschen Heim verfassten Erzählungen wie aus klarsten Quellen schöpft.
Die Grossfürstenpartei, der Suchomlinow so viele Schuld zuschiebt, bestand und war vielleicht die stabilste Macht. Die andern schwankten, erhaschten Vorteile am Wege, hatten im Grunde über keine Sache eine bestimmte Meinung, intrigierten für Kleinigkeiten, aber die Grossfürstenpartei, überragt von Nikolai Nikolajewitsch und belebt vom Eifer der Montenegrinerinnen, hatte – soweit ihre Mitglieder einer Aktivität fähig waren – politisches Gewicht. Sie hielt sich, mit einem Achselzucken, abseits von der Zarenfamilie und dem Gesurr der kleinen Schmeissfliegen, und bildete, nachdem einige ihrer Mitglieder der Zarin Rasputin zugeführt hatten, eine einige Front gegen Alexandra Feodorowna und ihren heiligen Freund. Der Mujik Rasputin war den Anständigen widerwärtig und hatte die Ehrgeizigen, die ihn als Instrument hatten gebrauchen wollen, enttäuscht. Es gab natürlich unter den Grossfürsten sehr verschiedenartige Individualitäten, neben den stockreaktionären auch liberal aufgeklärte, neben den ungebildeten, den Gönnern 175 der Geisterseher und jeden Aberglaubens, auch Leute mit feinern Neigungen, europäischer Bildung und besserem Geschmack. Als den Gelehrten unter ihnen nannte man gewöhnlich Nikolai Mikhailowitsch, Enkel des Kaisers Nikolaus I., Historiker, Präsident wissenschaftlicher Gesellschaften, der allerdings in seinen Briefen Luxemburg zu den deutschen Staaten zählte und auch eigentümliche Ansichten über die Zeitgeschichte von sich gab. Der schöne Alexis, kompromittiert durch einige Lieferungsgeschäfte der Marine, dinierte nicht mehr mit der Freundin in den Restaurants, er war schon aus dieser Welt verschwunden, ebenso wie sein Bruder Wladimir, der Chef der Onkelgruppe, und die berühmte »Tournée des Grand-Ducs«, die nächtliche Fahrt zu geheimen Vergnügungsspelunken, wurde nun für andere grossfürstliche Gäste arrangiert.
Ernste Menschen waren Alexander Mikhailowitsch, Schwager des Zaren, und Georg Mikhailowitsch, Sohn des Grossfürsten Michel Nikolajewitsch, »Es gibt«, schrieb Alexander Mikhailowitsch im Jahre 1916 an Nikolaus II., »im Innern Russlands Kräfte, die Dich, und infolgedessen ganz Russland, zu einem Ruin hinführen, der unvermeidlich wird.« In einem andern Briefe: »Die Ernennungen der letzten Zeit beweisen, dass Du endgültig entschlossen bist, eine innere Politik zu befolgen, die völlig im Widerspruch zu den Wünschen Deiner treuen Untertanen steht . . . Ich wiederhole noch einmal: man kann ein Land nicht leiten, ohne die Stimme des Volkes zu hören, ohne seinen Bedürfnissen entgegenzukommen, und ohne anzuerkennen, dass das Volk selber weiss, was ihm fehlt . . .« Die Grossfürsten waren keineswegs immer einig oder befreundet untereinander, und Nikolai Mikhailowitsch, der Geschichtsschreiber, beispielsweise warnte in einem seiner Briefe den Zaren vor dem Ehrgeiz, der Machtgier, der Popularitätshascherei und den Intrigen der Montenegrinerin Militza, die für ihren Gatten, Nikolai Nikolajewitsch, das Volk zu gewinnen suche, »nicht schläft und tätig bleibt«. Sie alle aber sahen in Alexandra Feodorowna, der Kaiserin, Russlands Verderberin und in Rasputin Russlands bösen Geist. Und in entscheidenden Stunden beugten sie sich wohl, zustimmend oder schweigend, der stärksten Willenskraft. Dann brachte Nikolai Nikolajewitsch die meisten der vielköpfigen Sippe zusammen.
Eines der klügsten Mitglieder im Familienkreise aber war zweifellos die Grossfürstin Marie-Pavlowna, Witwe des im Jahre 1909 gestorbenen Grossfürsten Wladimir. Von ihr am ehesten glaubte man und konnte man glauben, sie werfe ihren grossen Einfluss für Deutschland in die Waagschale, denn sie war die Tochter des Grossherzogs Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin. Paléologue fragte sie in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 sehr geschickt über ihre Seelenverfassung aus. Sie sagte ihm, dass sie sich bis ins Innerste geprüft und nichts entdeckt habe als die vollste Hingabe an das russische Vaterland, und dass sie Gott dafür dankbar sei. Sie habe eine absolut russische Seele 176 und nur in einem Punkte sei sie Mecklenburgerin geblieben: sie hasse Wilhelm II. – sie habe seit ihrer Kindheit die Tyrannei der Hohenzollern mehr als alles andere hassen gelernt. »Die Hohenzollern haben Deutschland verdorben, demoralisiert, degradiert, erniedrigt, sie haben in ihm jedes Prinzip des Idealismus und der Grossherzigkeit, des Feinempfindens und des Mitleids zerstört.« Hier, wie in zahlreichen andern Fällen, die man nennen könnte, äusserte sich sonderbar das in den deutschen Fürstenhäusern anerzogene »Deutschgefühl«. Ebenso wie die Feindschaft gegen die Zarin und Rasputin, war die Antipathie gegen die Person Wilhelms II. in den einzelnen Gruppen der Grossfürstenpartei etwas Gemeinsames, und nicht anders als die echten Russen und Russinnen empfand die Mecklenburgerin. Auf den Zaren, dessen am stärksten ausgebildeter Sinn der Familiensinn war, machte alles Eindruck, was von den Grossfürsten und besonders von Nikolai Nikolajewitsch kam. So sehr er bemüht war, seine Frau zu schonen und nicht zu verstimmen – er blieb ein treuer Vetter und Neffe auch dann, als die Verwandtschaft sich von der Zarin feindselig abgewendet hatte, und hier wirkte, mit intimerer Mystik als die Magier, der ehrfürchtige Glaube an die Blutgemeinschaft, die das Geschlecht der Romanow verband. Man muss sogar der Ansicht sein, dass die geliebte Alix in dieser Konkurrenz der Einflüsse nicht immer Siegerin blieb. Wenn die Grossfürsten an Rasputin rühren wollten, unterlagen sie, hatte der Zar die Kraft oder die Schwäche, sie abzuweisen, für das Herzensbedürfnis der Gattin einzutreten und sich so den häuslichen Frieden zu wahren, aber wenn es sich um andere Dinge handelte, entschlüpfte Nikolaus bisweilen dem häuslichen Joch, und in politischen Schicksalsfragen suchte er einen Halt und einen Wegweiser bei der männlichen Energie.
Mit der Grossfürstenpartei, ihrem Anhang und Gesinde, und ebenso mit den »dunklen Mächten«, die um Zarskoje Selo herumlungerten, mit Rasputin, mit einem Andronnikow, einer Wyrubowa, mussten die Minister rechnen, in deren Händen scheinbar die Führung des grossen russischen Reiches lag. Die Unzufriedenheit eines nicht genügend beachteten Cousins konnte ihnen gefährlich werden, in jedem Augenblick konnte ein himmlischer Befehl, von Rasputin der Zarin überbracht, sie stürzen, und Erpresser und Ohrwürmer belauerten in der Ferne ihren Weg. Als Stolypin, entschlossener Reaktionär und mutiger Reformator, Paladin der Autokratie und tätiger Unternehmer sozialer und agrarpolitischer Erneuerung – »die bedeutendste Gestalt in Europa«, behauptete Arthur Nicolson, und Europa war freilich arm an bedeutenden Gestalten – im Jahre 1911 durch jenes furchtbare Attentat, für das die Geheimpolizisten gemeinsam mit den Anarchisten die Bomben fabriziert hatten, zerfetzt worden war, hatte Nikolaus II. den Finanzminister Kokovzow zum Ministerpräsidenten ernannt. Zum zweiten Male unter dem Regime dieses Zaren wurde die Leitung der Staatsgeschäfte einem 177 Finanzmann anvertraut. Kokovzow besass nicht Wittes breitschultrige Kraft. Er war der Typ eines feinen, weltkundigen, kritisch die Dinge wägenden und gewissenhaft von gewagten Spekulationen abratenden Bankiers. So war seine Persönlichkeit, so seine Politik. Dabei hatte er in seinem Wesen bei aller Verbindlichkeit der Formen genug eigenwillige Herbheit, um die Scharen der Abenteurer und Tellerlecker, aber auch die reizbaren Parteimänner, gegen sich aufzubringen. Suchomlinow, der mit dem Ministerpräsidenten in wenig angenehmen Beziehungen lebte, beschuldigt ihn, das Geld für notwendige Heeresrüstungen verweigert zu haben, aber den notleidenden Grossfürsten gegenüber gefällig gewesen zu sein. Es ist sehr möglich, dass Kokovzow, der irgendwo Stützen brauchte, wenn er sich halten wollte, die grossfürstlichen Wechsel einlösen musste, und darin, dass er durch ein System der Sparsamkeit den ausschweifenden Tatendrang des Generals Suchomlinow einzudämmen versuchte, dürften auch jene deutschen Historiker, deren Blick freundlich auf der Persönlichkeit und den »Erinnerungen« des ehemaligen russischen Kriegsministers ruht, keine allzu grosse Sünde sehen.
Der russische Forscher Professor M. Pokrowski hat die Protokolle von drei geheimen Konferenzen, die in den Jahren vor dem Kriege in Petersburg stattfanden, aufgefunden und veröffentlicht. Die erste dieser Konferenzen wurde am 25. Februar 1908 abgehalten, Stolypin führte den Vorsitz, Kokovzow, noch Finanzminister, war anwesend, der Chef des Generalstabes und andere Militärs nahmen teil und Iswolski, damals Minister des Aeussern, schilderte der auf seinen Wunsch einberufenen Versammlung in langem Vortrag die Lage in Persien, auf dem Balkan und in der Türkei. Er zeigte viele »dunkle Punkte« am Horizont. Er wollte wissen, »welche Stellung Russland im Falle eintretender Komplikationen wird einnehmen können«. Sollte es sich bei einer Krise im Orient und auf dem Balkan passiv verhalten, so würde es »keine Grossmacht mehr sein«. Sei Russland wirklich unter allen Umständen zum Verzicht auf eine aktive Politik gezwungen? Nachdem die Vertreter der Militärmacht ihre Ansicht über das, was an Vorbereitungen vorhanden sei, und über das, was fehle, geäussert hatten, sagte Kokovzow, man habe ihn bisher über die komplizierten Verhältnisse im nahen Osten noch niemals informiert. Er sprach gegen ein selbständiges Vorgehen Russlands, empfahl Fühlungnahme mit England und konstatierte zum Schluss, dass der Russisch-Japanische Krieg »den unerhörten Betrag von 2,478,000,000 Rubel gefordert habe und das Finanzministerium immer bereit gewesen sei, alles Notwendige für die Landesverteidigung zu tun«. Stolypin erklärte kategorisch, »dass der Aussenminister gegenwärtig für eine entschiedene Politik auf keinerlei Unterstützung rechnen könne«, denn »eine neue Mobilmachung Russlands würde die Revolution stärken, aus der wir eben erst herauszukommen beginnen«. Eine andere als eine streng defensive Politik wäre »die Fieberphantasie einer 178 anormalen Regierung« und gefährdete die Dynastie. Ganz wie Stolypin wehrte sich Kokovzow, als er Ministerpräsident geworden war, gegen die Propagandisten der Kriegsidee. Der solide, vorsichtige Bankleiter im Getümmel der Spekulanten und Spieler, der nüchterne Direktor der Staatsgeschäfte im Kampfe mit Schlagworten und Phantasien. Sein Ansehen in der internationalen Finanzwelt war gross. In Russland konnte er weder bei der Rechten noch bei der Linken beliebt sein, denn mit seiner Windstille konnten weder die Segel der einen noch die der andern vorwärts kommen. Witte, Stolypin, Kokovzow waren nicht nur die drei letzten Verteidiger einer realistischen Friedenspolitik, sondern auch die letzten, mit deren Persönlichkeiten der Begriff einer Staatsleitung vereinbar war. Als Kokovzow gehen musste, irgendeine Koterie wie zum Hohn noch einmal den senilen Goremykine in den Ratssaal hineinrollte, ihn, wie der erstaunte Greis selbst sagte, »aus seinem Naphthalin« herausholte, gab es nichts mehr, was ernsthaft »Regierung« genannt werden konnte, und der einzige feste Punkt verschwand in der Flut von wallendem Wasser und trägem Schlamm.
Ein Jahr vor der Ermordung Stolypins hatte sein Schwager Sasonow die Erbschaft Iswolskis übernommen. Gleich in den ersten Tagen nach seiner Ernennung musste er den Zaren von Darmstadt nach Potsdam begleiten, wo er dem deutschen Kaiser präsentiert wurde, der ihm, wie Sasonow bemerkt, »mit einem grossen Mangel an Takt« erklärte, Iswolski habe mehr für die fremden Interessen gearbeitet, als für sein eigenes Land. Der deutsche Kaiser freute sich, endlich einmal einen russischen Aussenminister getroffen zu haben, der imstande sei, die Dinge als »wahrer Russe« anzusehen. Nicht viel später, bei der Entrevue in Baltischport, durfte der verblüffte Sasonow aus dem Munde Wilhelms II. jene intime Lebensbeichte entgegennehmen, die mit der Schilderung einer unglücklichen Jugend, mit Anklagen gegen die englische Mutter anfing und schliesslich in den breiten Strom weltpolitischer Orakeleien überging. Der »wahre Russe« Sasonow hat in seinem Buche auseinandergesetzt, welches seine Gefühle gegenüber Deutschland gewesen seien. Er habe keinen Deutschenhass verspürt, er habe die nationalen Ideen den allgemeinen Grundsätzen der christlichen Kultur untergeordnet, und er habe, frühzeitig vertraut mit der deutschen Sprache und der deutschen Zivilisation, das deutsche Volk immer sehr geschätzt. Offenbar war er auch zunächst wirklich kein Deutschenfeind. Aber sehr bald sah er in Deutschland den treuen Kameraden Oesterreichs, den selber über die Dardanellen hinausstrebenden Konkurrenten, das ewige Hindernis, an dem all seine Pläne und Bemühungen scheiterten, und da verloren die »Grundsätze der christlichen Kultur« ihre wundersame Kraft. Während der Balkankriege hielt Sasonow die empörten Serben vor törichter Uebereilung zurück. Er nötigte sie, vor der österreichischen Drohung zurückzuweichen, half ihnen nicht in der Hafenfrage, unterstützte Nikita nicht in Skutari, ertrug die Verachtung und die Pfiffe der Panslawisten, 179 tröstete im geheimen alle mit dem Hinweis auf eine schönere Zukunft und glaubte, wie alle, die eine solche Lösung wünschten und den andern die Verantwortung lassen wollten, an den kommenden »unausbleiblichen« Konflikt. Wieviel der festere Friedenswille des Ministerpräsidenten Kokovzow dazu beitrug, dass der Minister des Aeussern in dieser Periode vom Wege einer vorsichtigen Politik nicht abwich, ist unbekannt. Schwerlich hat sich Kokovzow über Sasonow getäuscht, unmöglich konnte ihm verborgen bleiben, dass der anfangs friedfertig gesinnte Mitarbeiter bald ein Opfer böser Träume, ein abseits wandelnder Pessimist geworden war. In seinen »Années fatales« verstrickt Sasonow sich oft in Widersprüche, und wenn er, die Tage vor dem Ausbruch des Balkankrieges schildernd, Wien den Hauptherd der Gefahren nennt, vergisst er, dass er ein paar Seiten vorher zugegeben hat, der unter seiner Mitwirkung zustande gekommene Balkanbund habe, mit seinem Wissen, den Krieg mit der Türkei gesucht. Er greift gelegentlich zu ganz klobigen Unwahrheiten und sagt beispielsweise, Wilhelm II. – der eigentlich die Serben begünstigen wollte – und Deutschland – das für Tolstoi und Dostojewskij schwärmte – hätten alle slawischen Völker gehasst. Er war keine Spielernatur wie Iswolski und gehörte zu der damals besonders umfangreichen, in vielen Ländern dominierenden Gruppe der Korrekten, die, auf den schiefen Weg geraten, sich aus Groll oder Sorge einen gefährlichen Rausch antrinkt. Aber wie für Iswolski, war für ihn Konstantinopel das grosse Ziel. Sehr weitgehend in seinen Entwürfen, oft heftig aufschäumend, aber zurückschreckend vor der Tat. Den »Temps«-Korrespondenten Rivet, der ihn zu schwach fand, herrschte er an: »Was Sie auch anstellen mögen, Sie werden uns nicht mit Deutschland entzweien!« Er versprach den Serben und allen slawischen Brüdern die alles umwerfende Explosion. Er wünschte nicht selbst zu handeln, aber blickte so auf die Gegner, als hätte er ihnen die Tat suggerieren wollen. Es gibt eine phantastische Geschichte von einem zauberhaften Ring, den sein Besitzer dreimal am Finger herumdreht, wenn er einen Menschen weit in der Ferne zu einem Morde zwingen will. Sasonow spielte, wie mancher seiner Spezies, ein bisschen mit dem Ring.
Seit 1912 war die vierte Duma da. Sie hatte einen Teil der Popularität zurückgewonnen, die in wechselreichen Schicksalen den frühern Versammlungen verlorengegangen war. Die erste Duma hatte man bei ihrer Geburt mit Liebe und Begeisterung begrüsst. Nach den Streiks und Emeuten, die hinter dem Schauplatz des unglücklichen Ostasienkrieges sich abgespielt hatten, war zur Beruhigung des erregten Volkes das dem Zaren von Witte aufgedrängte Manifest vom 17. Oktober 1905 erschienen, Russland hatte eine Verfassung erhalten, die Macht des Herrschers war nicht mehr »unbegrenzt«, am 27. April 1906 konnte die erste Duma ihre Beratungen beginnen. Die Revolutionäre hatten auf Weisung Lenins an den Wahlen nicht teilgenommen, aber die erste 180 Duma war vom Geist der Revolution durchdrungen. Vom Geist der grossen Französischen Revolution, denn die »Kadetten«, die ausschlaggebende Partei, lebten infolge ihrer literarischen Bildung ganz in der historischen Erinnerung. Diese talentvollen Redner wollten alle Szenen wiederholen, die uns aus dem Kampf zwischen der französischen Konstituierenden Versammlung und Ludwig XVI. noch heute vor Augen stehen, und wurden von dem damals schon altersschwachen, aber noch fuchshaft schlauen Goremykine – den Urheber des Manifestes, Witte, hatte der schnell enttäuschte und verärgerte Nikolaus ungnädig entlassen – durch ein raffiniertes bürokratisches Verfahren ausgehungert und lahmgelegt. Es folgten dramatische Kampfperioden, immer wieder wurde die Duma verfolgt und aufgelöst. Auch ein reaktionäres Wahlgesetz verhinderte nicht, dass die im Jahre 1912 gewählte vierte Duma dem Zarenregime sehr unfreundlich gegenüberstand. Die Geschichten von Rasputin, dem heiligen Unfug und den »Koterien« in Zarskoje Selo beschäftigten das Publikum, der Geist der Kritik war überall rege, in der Gesellschaft, den »Sphären« sprach man wie in den Stuben des untern Volkes, der letzte Rest von Respekt verschwand. In dieser vierten Duma wurde der gemässigte Liberalismus durch die Partei der Oktobristen, unter Gutschkows Führung, repräsentiert. Sie nannten sich Oktobristen, weil nach ihrer Meinung das Manifest vom 17. Oktober 1905 die richtige Grenze zwischen den Rechten des Herrschenden und denen der Volksvertretung zog. Kokovzow verkehrte mit der Duma zunächst geschickter als seine Vorgänger und vermied scharfe Krisen – bis er sich eines Tages in Unmut und Reizbarkeit zu einer Herausforderung hinreissen liess. Man achtete ihn wegen seiner Anständigkeit, seiner Kenntnisse, seiner Stellung in der Welt, seiner Autorität in allen Finanzfragen, aber hinter seiner Gestalt sah man die Hofmagier mit Stundenglas und Hippe, wie man auf Dürers Kupferstich hinter dem nachdenklich reitenden Ritter den Tod und den Teufel sieht.
Wie gesagt, Kokovzow vermied die offenen Krisen, aber er konnte nicht vermeiden, dass sich ganz Russland in einer Krise befand. Es hatte nichts genützt, dass Nikolaus in Anfällen von Verärgerung und Eifersucht immer wieder die Duma hatte vertreiben lassen, dass man die unbequemen Abgeordneten verhaftete und ihre Wiederwahl verbot. Der Kampfgeist stieg vom »Berg« der Jakobiner hinunter bis in die Ränge der gar nicht umstürzlerisch geborenen Bourgeoisie. Am 23. September 1913 sagte Gutschkow in einer Rede vor der Konferenz der Oktobristen, die gesamte russische Bürokratie sei korrumpiert. Ihre Auffassung der inneren Lage sei eine Herausforderung und ein offener Hohn, es müsse zu einer schweren Katastrophe kommen. »Wir Oktobristen haben sieben Jahre lang ruhig auf die Verwirklichung des Manifestes über die Verfassung gewartet, aber jetzt müssen wir erklären, dass unsere Geduld zu Ende ist.«
181 Es mag sein, dass in der Duma ein lauter Chauvinismus, ein kriegerisches Wortgetöse nur bei seltenen Gelegenheiten hörbar war. Aber man kann auch nicht behaupten, dass sie ein starker Wall des Friedens gewesen sei. Die Rechte, die »Nationalisten«, hatte, wie überall, eine Vorliebe für heroische Gedankengänge und mancher auf dieser Seite wünschte auch, wie Gleichgesinnte in andern Ländern, offen oder heimlich die Heilung des revolutionär erkrankten Volkskörpers durch eine gründliche Eisenkur. Es war eine so angenehme Vorstellung, dass an der Front alle Revolutionäre totgeschossen werden würden, während zu Hause der echte Patriot durch Lieferung oder Nichtlieferung von Proviant und Heeresmaterial sehr viel Geld gewann. Die Oktobristen, die über die Interessen des reichen Bürgertums wachten, fürchteten wohl Risiko und Störung der Geschäfte, aber standen bei der Wahrung der russischen Ehre nicht gern hinter den Rechtsparteien zurück. Gutschkow träumte gewiss schon frühzeitig davon, einmal Kriegsminister und wie Lazare Carnot, dem er sich wohl auch politisch verwandt fühlte, der »Organisator des Sieges« zu werden – ein Traum, von dem nur der erste Teil, und auch dieser zu spät, in Erfüllung ging. Die Kadetten, die in der ersten Duma die Französische Revolution hatten kopieren wollen, waren mit ihren Sympathien bei Frankreich, der Mutter der Freiheit, wohltätiger Spenderin des Lichtes und der Kultur. Gerade sie waren auch nicht unempfänglich für das panslawistische Ideal, und manche dieser »Westlichen«, wie Miljukow, begegneten sich in dem Glauben an die allrussische Mission, in dem Gedanken an Konstantinopel, mit Dostojewskij, dem Widersacher westlich-parlamentarischen Geistes und europäischer Neuerungssucht. Im Januar 1913 reiste Miljukow auf dem Balkan herum, hatte Unterredungen mit Ferdinand von Bulgarien, berichtete darüber an Paschitsch, wollte zwischen Sofia und Belgrad vermitteln und wendete, um der slawischen Sache zu dienen, alle Künste seiner Beredsamkeit an. Alle Linksparteien der Duma empfanden auch eine Abneigung für die Kaiserreiche Deutschland und Oesterreich, weil dort die Adlerhorste der Reaktion waren, der moderne Staatsgedanke von scheinbar unwiderstehlichen Mauern abprallte, das Autokratentum, kaum belästigt durch einige konstitutionelle Seidenfäden, unbeschränkt schaltete, der Volkswille nichts galt. Auf sie wirkte die Anwesenheit der »baltischen Barone« besonders abschreckend, und wenn sie diese strammen, preussisch steifen Wächter und Helfer langer zaristischer Willkür trafen oder an sie dachten, richtete sich ihr Unwille gegen Deutschland, die Zuchtanstalt solcher Gesinnungen und Allüren, das Exportland, aus dem seit den Zeiten Peters und Katharinas Russland die regelmässige Lieferung die wie Bleisoldaten gleichmässig gegossenen Figuren empfing. Paléologue rechnet mit heiter zufriedener Miene die Ursprünge des Hasses auf: »Der baltische Adel hat dem autokratischen Absolutismus durch Niederwerfung des Aufstandes vom Dezember 1825 zum Triumph verholfen, bei jedem Erwachen des liberalen oder 182 revolutionären Geistes die Unterdrückungsmassnahmen geleitet und am meisten dazu beigetragen, dass aus dem russischen Staat eine grosse Polizeibürokratie wurde, in der sich, seltsam vermischt, das Verfahren des barbarischen Despotismus mit den Methoden der preussischen Disziplin kombiniert.« Das ist ein wenig übertrieben, denn das Polizeiliche brauchte in Russland nicht erst durch ausländische Lehrmeister entwickelt zu werden und die Ochrana war eine echt russische Spezialität. Aber die Linksparteien und ihre zahlreichen Anhänger im Lande sahen die Dinge so und es ist ja eine menschliche Gewohnheit, jede mit fremdländischem Namen getaufte Epidemie für ärger zu halten als die einheimische Pest.
Natürlich verspürte das russische Volk, dieser breite Unterbau, der die Pyramide der Gesellschaft trug, verspürten der Bauer, der Arbeiter in der Stadt, der kleine Kaufmann und der dürftige Beamte nicht die geringste Begierde, ihre Wohnungen, Frauen, Kinder oder Eltern zu verlassen und in den Krieg gegen Deutschland und Oesterreich zu ziehen. Wahrhaftig, bei dem Gedanken, dass man die russischen Menschen wieder, wie vor ein paar Jahren, zur Schlachtbank schleppen könnte, wurde ihnen übel, und sie bekreuzigten sich vor ihren Heiligenbildern oder liefen in die Schenke, um einer so grauenhaften Angstvorstellung zu entrinnen. Sie spürten noch den Krieg, der über die endlosen Ebenen der Mandschurei hingerollt war, in den Knochen, soweit sie ihre Knochen behalten hatten, und sahen noch die Haufen von Leichen, das Elend des Rückzuges, die in den Lazaretten stöhnenden Verwundeten und den Arzt, der das Messer schwang. Was gingen Serbien, der Balkan, der Kaiser Wilhelm, Wien und der Zank der Diplomaten sie an? Sie hatten erlebt, wie die berühmten Generale sie sinnlos in das mörderische Feuer trieben, wie man an der Dummheit der Schlachtpläne krepierte, wie die Vorbereitung, die Munition, die Gewehre fehlten, wie der Hunger noch schlimmer als die Granaten wüten konnte, wie die Heereslieferanten stahlen, betrogen und sich bereicherten, und sie wussten, es würde wieder so kommen. Sie hatten kein Vertrauen zu den Leuten dort oben, der Zar hatte nur schlechte Ratgeber, die Schmeissfliegen sassen überall, die Duma hatte keine Macht, üble Dinge begaben sich, man wusste auch im letzten Dorfe einiges davon. Sicherlich waren die Agitatoren, die sozialistischen und sozialrevolutionären, dem Kriege weniger abgeneigt, denn aus ihm am ehesten konnte der Umsturz entstehen. Aber sie hüteten sich wohl, das den Massen zu erklären, die den Preis zu hoch gefunden hätten, und nur in den engen Konventikeln der Eingeweihten sprach man sich freier aus.
Zum Unglück für das Volk gab es auf keiner der höhern Stufen und nirgends dort, wo die Stimmen Gewicht haben konnten, zuverlässige Kräfte, die fähig und bereit gewesen wären, gegenüber einem starken Ansturm der Kriegsdränger die Wahrung des Friedens zu erzwingen. Ein klarer Wille war nur bei Kokovzow erkennbar, aber Kokovzow war 183 ein Schiff ohne Anker zwischen den Klippen, im nächsten Augenblick konnte er verschwunden sein. Rasputin, vielleicht – obgleich sein züchtigendes Prophetentum in historischen Stunden schwächer auf den Zaren wirken konnte als die Mahnungen des Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch, der alle Geister des Hauses Romanow heraufbeschwor. Die den Krieg fürchtende Zarin, das Familienglück, die paar ehrlich besorgten Hofbeamten, die, wie der als »Deutscher« verdächtige Fredericks, nicht viel zu reden wagten – nichts von alledem bot Sicherheit und Schutz. Es steht fest, dass die Zarin – und man findet auch in ihren Briefen aus der Kriegszeit einen gelegentlichen Hinweis darauf – vom Kriege abgeraten hat. Aber während des Krieges ist sie im Grunde russische Nationalistin, nur an Sieg und Ruhm denkend – alle Anklagen gegen die »deutsche Verräterin« werden durch diese Dokumente widerlegt. Während die starken Naturen unter den Grossfürsten, die Generale, die Panslawisten und Nationalisten der immer bestochenen »Nowoje Wremja« – einen »Mistkasten« soll sie ihr früherer Herausgeber Suworin in hübscher Selbstironie genannt haben – und ähnlicher trüber Organe auf den Krieg hinsteuerten, fanden der Minister des Aeussern und die »Intelligenz« sich mit dem Gedanken ab, er werde nicht zu vermeiden sein. Nochmaliges Ausweichen, abermaliger Rückzug vor einer Drohung erschien dort, wo man das russische Nationalbewusstsein betonte, als eine Unmöglichkeit. Man hatte nicht losgeschlagen, als Oesterreich-Ungarn die Annexion Bosniens vollzog. Man hatte den offenkundigen Spott, mit dem Aehrenthal die Hoffnung auf die Oeffnung der Dardanellen enttäuschte, knirschend hingenommen. Man hatte, um den Krieg zu vermeiden, die serbischen Freunde zum Verzicht auf den Hafen gezwungen. Man hatte der Forderung Oesterreichs, das den albanischen Staat haben wollte, nachgegeben, hatte Nikita, den Vater der Grossfürstinnen, zum Rückzug aus Skutari genötigt, hatte, weil Wien anders nicht zu beruhigen war, in Belgrad energisch auf schnelle Räumung des für Serbien verlorenen Gebietes gedrungen. Jetzt sagte man, sagte nicht das Volk, aber die politische und politisierende Oberschicht: noch einmal? – nein! Man wartete, ohne es sich immer klar zu gestehen, auf die Gelegenheit zur Abrechnung, auf die günstige Gelegenheit. Die Balkankriege hatten das seltsame Resultat, dass jede der beiden feindlichen Grossmächte, Oesterreich und Russland, überzeugt war oder sich einredete, sie habe mehr als die andere an Macht und Prestige eingebüsst. Während nach einer Schlacht oft beide Parteien versichern, dass sie gesiegt haben, erklärten sich hier beide für besiegt. Sie wühlten in ihren Wunden und riefen die Welt zum Zeugen für ihre Geduld und das Uebermass ihrer Friedensliebe an. Bemüht man sich, ihre Verluste gerecht abzuwägen, so kommt man zu dem Schlusse, dass der Machtzuwachs Serbiens die innern Schwierigkeiten Oesterreich-Ungarns steigern musste, aber der russische Stolz mindestens ebenso empfindlich 184 wie der österreichische gedemütigt worden war. Man mag entscheiden, welchen Stoss man für den gefährlicheren halten will. Dort war ein Staatsinteresse verletzt, hier das Gefühl.
Als das grosse Morden begonnen hatte, fragte ich den aus Petersburg heimgelangten deutschen Botschafter, den Grafen Pourtalès, welche Leute seiner Meinung nach in Russland Kriegsschürer gewesen seien. Er sagte, es seien eigentlich nur wenige gewesen, die Montenegrinerinnen mit ihren Gatten, die »Nowoje Wremja« und noch andere Zeitungen dieser Sorte, die panslawistischen Vereinsbrüder und ehrgeizige Militärs hätten gehetzt. Es besteht ein Unterschied zwischen offenem Kriegsgeschrei und stiller Zustimmung, wie es einen Unterschied zwischen Fordern und Annehmen gibt. Aber Graf Pourtalès war wohl auch über den Kreis derjenigen, die forderten, nicht ganz genau informiert. Man versicherte in Berlin, im Auswärtigen Amt, er sei »vielleicht unser bester Diplomat«. Seine Verdienste und Fähigkeiten wurden um so mehr hervorgehoben, je mehr sich der Wunsch verriet, die Leistungen anderer herabsetzen zu können. Am 1. August 1914, nach der russischen Mobilmachung, schrieb er in einem Briefe an den Grafen Fredericks, den er anflehte, ein Unglück zu verhindern: »Ein Krieg wäre eine enorme Gefahr für alle Monarchien.« Von den Völkern, die in einem Kriege wohl auch in Gefahr gerieten, sprach er nicht. Graf Pourtalès war ein das Beste wollender, erfahrener, kunstsinniger älterer Herr mit feinen, liebenswürdigen Manieren und, wie gesagt, in Berlin Persona gratissima. In Petersburg waren seine Beliebtheit und sein Einfluss nicht ganz so stark. Vielleicht hatte er sich durch ein Versehen, das man auch eine Unachtsamkeit nennen kann, Schaden zugefügt. Eines Tages nämlich hatte er in einem Geheimtelegramm an das Auswärtige Amt empfohlen, den Bruder Stolypins, einen angesehenen Publizisten, mit einer bestimmten Summe zu kaufen, und dieses Telegramm wurde im Petersburger Ministerium des Aeussern, ganz wie die meisten deutschen und französischen Geheimdepeschen, dechiffriert. Der Botschafter wusste nicht, dass das Ministerium den deutschen Chiffernschlüssel besass. Als Mann mit anständiger Gesinnung und reinen Händen konnte er nicht ahnen, wie rücksichtslos die russische politische Polizei mit fremden Geheimnissen verfuhr. Der Ministerpräsident Stolypin wurde in den offiziellen Kreisen Petersburgs nach seinem Tode sehr verehrt und man war verstimmt darüber, dass Graf Pourtalès es für passend gehalten hatte, diesen Namen in Verbindung mit einem Geldgeschäft zu bringen. Ganz abgesehen davon, dass dem russischen Ministerium auch die Natur des Vorschlages missfiel. So kam es, dass Graf Pourtalès nicht oft genug die Möglichkeit zu vertraulichen und freundschaftlichen Gesprächen fand. Ob er und das Auswärtige Amt jemals den Grund dieser Zurückhaltung erfahren haben, ist mir nicht bekannt. 185