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Als Alexander Petrowitch Iswolski im Jahre 1906 mit der Leitung des Ministeriums des Aeussern betraut wurde, hatte er, wie er wenigstens in seinen Aufzeichnungen versichert, durch einen erfolglosen Rat und auch durch eine erfolgreiche Tat die diplomatischen Kollegen übertrumpft. Er hatte von dem Kriege gegen Japan abgeraten und hatte, als Gesandter in Kopenhagen, »in langen Unterhaltungen« dem König Eduard VII., der als Gast am dänischen Hofe weilte, die Möglichkeit eines russisch-englischen Abkommens über Persien und Afghanistan dargelegt. Nach seiner Ernennung zum Minister schaffte er durch den Vertrag vom Juli 1907 die Reste der Streitfragen, die den russisch-japanischen Krieg verursacht hatten, aus dem Wege und im gleichen Jahre wurde, dank der eifrigen Unterstützung Arthur Nicolsons, damals Botschafter in Petersburg, der Vertrag mit England, dessen Hauptstück sich auf Persien bezog, zustande gebracht. Unverkennbar zeigte sich das Bestreben, die ostasiatische Politik zu liquidieren und den englischen Beistand für andere russische Aufgaben zu erlangen. Iswolski hatte die auf ein Zusammengehen mit Deutschland abgestimmte Politik seines Vorgängers, des Grafen Lamsdorff, nur ungern, nur in einem Gefühl der Furcht vor dem mächtigen Nachbar, erduldet, und die Freundschaft mit England schien ihm nach der Niederlage in Ostasien unentbehrlich zu sein. Unentbehrlich, wenn Russland Kompensationen für alles das finden sollte, was im Fernen Osten verspielt worden war. Aber nachdem er zuerst geschickt operiert hatte und auch vom Glück begünstigt worden war, erlitt er, als dann diesen Vorbereitungen der erhoffte Gewinn folgen sollte, einen ungewöhnlich gründlichen Echec. Aehrenthal nahm die bosnische Beute, bevor der düpierte Iswolski als Gegengabe den Schlüssel zu den türkischen Meerengen in der Hand hatte, und die Engländer begnügten sich damit, sehr laut das österreichische Vorgehen zu verurteilen, und speisten den verzweifelten Freund, der ihnen in London seinen Wunsch, die Dardanellen zu öffnen, vortrug, mit vielen vortrefflichen Ausreden und Gegengründen ab. Es wurde kein englisches Pflaster auf die Wunde geklebt. Bald darauf, im September 1910, wurde die Führung der auswärtigen Angelegenheit in Petersburg Herrn Sasonow übertragen, und Iswolski liess sich zum Botschafter in Paris ernennen.
Es ist nur selbstverständlich, dass Iswolski mit brennender Wut an Aehrenthal und die triumphierenden Wiener Staatsweisen dachte, die ihn mit ihrer Taschenspielerkunst überlistet hatten – »Schuft« und »Schurke« waren die mildesten seiner Polyphem-Grüsse – und dass er auch für die Leute in Berlin nichts Freundschaftliches empfand. Die Torheit der Wiener Prestigehascherei hatte nicht nur ihn, sondern 86 alle an politischen Vorgängen interessierten Russen ergrimmt, und da man sich in Berlin selbst als Helfer bei dem Spiel gefeiert hatte, war gänzlich unnötig die Meinung verschärft worden, alles Böse geschehe nur, weil Deutschland der hässliche Zauberer sei, der die Schlangeneier bewacht. Man darf nicht behaupten, Iswolski, der mit einer deutschen Gräfin Toll verheiratet und mit vielen deutschen Aristokraten vervettert war, habe Deutschland immer gehasst. Allerdings hatte er, wie die ganze russische Diplomatengeneration, zu der er gehörte, vom Berliner Kongress bittere Eindrücke zurückbehalten, aber er war doch schliesslich nicht der alte Horatius des Corneille, mit der unmenschlich starren, unbeugsamen römischen Tugend, sondern hatte sich, wie der Curiatius, der den Göttern dafür dankt, dass er nicht Römer ist, durchaus »noch etwas Menschliches bewahrt«. Sein schmiegsamer Charakter hätte ihm einige Schwenkungen erlaubt. Jetzt war die Ranküne frisch gepfeffert worden, und während er den Aerger über die englische Weigerung abschüttelte, fühlte er sich durch das laut den Sieger spielende Deutschland persönlich verletzt. Sicherlich hoffte Iswolski auf eine Gelegenheit zur Wiedervergeltung, auf eine glückliche Karte, und gewiss fuhr er im September 1910 mit dieser Hoffnung nach Paris. Aber ganz bestimmte Ideen, einen halbwegs fertigen Revancheplan brachte er schwerlich in das Pariser Botschaftspalais mit.
Der neue Botschafter fand in Paris ein regierendes Personal, das seiner Geistesverfassung fremd war, und eine Stimmung, die ihm ausserordentlich missfiel. Er kam vor der Affäre von Agadir. Die Sozialistisch-Radikalen, nicht gerade die eifrigsten Freunde des russischen Zarismus, waren an der Macht. Alles, was sozialistisch und radikal war, hatte für Iswolski einen unangenehmen Geruch. Iswolski glaubte an die allein seligmachende Kraft autokratischer Regierungsmethoden und war ein aus dem Tatarentum herausgeschälter Gesellschaftssnob, der ebenso auf brillanten Salonverkehr wie auf gut gebügelte Gesinnung hielt. Und was konnte er in seiner ehrgeizigen Sehnsucht nach Erfolg mit Politikern anfangen, die sich nur damit beschäftigten, die letzte klerikale Hochburg in Frankreich niederzuzwingen? Er fühlte sich einsam und allein. Delcassé, jetzt Marineminister, war für ihn die einzige fühlende Brust und der einzige Tröster in dieser ersten Leidenszeit.
Trotz allem hatte Iswolski, beim Beginn und in der ganzen Periode des Agadir-Konfliktes, grosse Furcht vor einer Erhitzung der nationalistischen Leidenschaften und vor einer Zuspitzung des deutsch-französischen Zwistes, und in seiner Besorgnis hätte er gern eine russische Vermittlung herbeigeführt. »Gott gebe«, schrieb er bereits am 31. August an Sasonow, »dass mein Pessimismus nicht durch die Wirklichkeit gerechtfertigt wird!« Die Gefahr, klagte er schon vorher, sei erheblich, denn Herr Cruppi lasse »sich von verschiedenen Strömungen treiben« und Deutschland habe sehr geschickt operiert. Pichon habe wenigstens gewusst, was er in Marokko wollte, »und unterlag nicht dem Einfluss 87 der Chauvinisten, die hier wie überall vorhanden sind«. Eigentlich war für den russischen Botschafter, wenn er planvoll eine Entzweiungspolitik treiben wollte, diese ganze Situation doch sehr vorteilhaft? Er, der die Pazifisten verabscheute, musste doch darüber entzückt sein, dass nun eine neue Herrschaft des Chauvinismus begann? Wenn er, wie deutsche Beurteiler meinen, mit dem fertigen Projekt, den französischen Nationalismus als Vortrupp auf dem Kriegspfad zu gebrauchen, nach Paris gereist war, konnte er doch nicht so ungeheuer nervös und aufgeregt sein, als nun, endlich, das schon etwas eingeschlummerte Nationalgefühl wieder in heftige Wallungen geriet. Er musste in der Berliner Politik nicht eine Gefahr sehen, sondern eine wunderbare Hilfeleistung erkennen. Die Wahrheit ist offenbar, dass Iswolski die Bedeutung der Agadir-Affäre und die Bedeutung, die sie gerade für seine Wünsche und Bestrebungen haben müsste, nicht gleich verstand. Er begriff nicht, dass dies der grosse Wendepunkt war. Er sah nicht voraus, dass hier der französische Pazifismus einen Zusammenbruch erleiden und ein Regime folgen würde, das mehr Sinn für weitreichende Unternehmungen besass. Er war in ein fremdes Milieu hineingekommen, ging unsicher herum, hatte kein Vertrauen zu diesen französischen Republikanern, und man kann durchaus annehmen, dass er in dieser Stimmung bei dem Gedanken, es könnte nun plötzlich losgehen, ein ganz richtiges Grauen empfand. Er war auch, wie Arthur Nicolson in einem Briefe schrieb, »nervös und ärgerlich«, und »das führte unvermeidlich zu einem Mangel an Folgerichtigkeit«. In seinen Hang zur Intrige mischten sich immer zwei Aengste, die Angst vor der Kritik und die Angst vor Deutschland, hinein. Wenn man nicht zugeben will, dass Iswolski damals noch solchen Gefühlen zugänglich war und darum aufrichtig seine Regierung zur Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich drängte, übersieht man allzusehr, dass erst mit dem Beginn des Regimes Poincaré eine entscheidende Wandlung eingetreten ist. Sicherlich würde ein so hervorragender, umsichtiger, nichts unterlassender Advokat wie Poincaré in einem Prozess gegen Poincaré und Genossen die Frage aufgeworfen haben: »Wie kommt es, dass der Mitangeklagte Iswolski selbst bei einer besonders günstigen Gelegenheit, wie dem Agadir-Konflikt, noch die Friedensflöte blies und einige Monate später zum Trompetenblasen überging?«
Das Regime Poincaré also begann im Jahre 1912, nach dem Sturz des Kabinetts Caillaux. Der neue Ministerpräsident übernahm auch die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, Millerand wurde Kriegsminister, Delcassé behielt die Marine, der reiche elsässische Familiensohn Klotz die Finanzen, Briand, der eigentlich hatte Minister des Innern werden wollen, begnügte sich mit der Justiz. Wenn man sich mit Poincaré, seinem Wesen und Charakter zu beschäftigen hat, findet man die besten Fingerzeige in den Bänden, in denen er selbst unter dem Gesamttitel »Au Service de la France« sich und sein Wirken 88 beschreibt. Viele französische Literaten haben Poincaré porträtiert, aber einige entscheidende Züge finden sich doch am besten in seinem Selbstporträt. Um gleich nur eines zu erwähnen: aufschlussreich ist die Arbeitsmethode, die Poincaré bei der Abfassung seiner Bücher befolgt. Man sieht einen Mann, der alles, das Grosse und ebenso sorgsam das Kleine, aufgeschrieben, verwahrt, eingereiht hat und in jeder Stunde sagen kann: »Mein Leben und meine Taten liegen aufgeschlagen vor euch, in meinen Akten herrscht Ordnung!« – und immer zieht er aus seinen Akten Belege hervor. Ein in die intimen Gemächer blickender französischer Politiker hat mir erzählt, an jedem Abend vor dem Einschlafen habe Poincaré im Bett gewissenhaft sein Tagebuch ergänzt. Jedes »Vive Poincaré«, das ihm in Paris oder bei einer Reise in der Provinz zugerufen wurde, ist mit dem Datum notiert und die Honoratioren des Departements, die ihn auf einem Bahnhof empfangen haben, werden regelmässig aufgezählt. Ganz besonders kostbar aber wird ihm seine peinlich saubere Registratur, wenn er sich gegen seine Gegner und Kritiker wehrt. Immer fühlt man, wie er triumphiert, wenn er, dank dieser musterhaften Verwaltung, in der Lage ist, ein den Widersacher belastendes Papier hervorzuziehen.
Mancher findet es sonderbar, und auch sehr viele Franzosen bezeichnen es als eine Seltsamkeit, dass die Eigenschaften, die Poincaré besitzt, genügen konnten, um ihn zu dieser Höhe aufsteigen zu lassen und nach jedem Abstieg wieder hochzubringen. Hier fehlte der Persönlichkeitsglanz, der die so ganz französischen, reizbaren und reizvollen, immer etwas beunruhigenden und immer interessierenden Erscheinungen Clémenceaus und Caillaux' umgab. Diese beiden sind von der Rasse der starken Romanfiguren, zu der auch der General de Gallifet gehörte, und sichtbarer wird das Mass Poincarés vielleicht, wenn man ihn mit einem bürgerlichen Staatsmann, der auch ein Advokat war, mit Waldeck-Rousseau vergleicht. Aber Waldeck-Rousseau, dem der kühle Stolz des Patriziergeschlechtes aufgeprägt war und dessen Festigkeit im Sturm die Republik gegen den revoltierenden Militarismus schützte, hat niemals die Vivatrufe gezählt. Wenn er, von Leidenschaften umtobt, das Getümmel überragte und die innere Erregung hinter der Maske der Unbeweglichkeit verbarg, drangen seine Worte hart, schneidend, gänzlich unpathetisch durch den Raum. Die Rede Poincarés, sonst kultiviert und gepflegt, steigerte sich, wenn sie anklagen, drohen oder beschwören sollte, zu einem Pathos, das bisweilen als populäre Massenware erschien. Französische Autoren haben behauptet, er sei im Grunde impressionabel und schwach. Sie haben ihn geschildert als einen innerlich keineswegs sichern, vor dem Entschluss zaudernd herumschauenden Eroberer, der noch mehr sich selbst als der Galerie konsequente Willenskraft und Herrschernatur vortäuschen möchte, sich in diesem Bestreben eigensinnig versteift, sich mit juristischen Formeln wie mit einem Stacheldraht umgibt und in schwere Erregung gerät, wenn sein 89 Misstrauen ihm sagt, irgend jemand habe einen Fehler in seiner Rüstung erkannt. Aber dieser Unsichere hat es fertiggebracht, so stolze und gefahrvolle Wege zu gehen? Man hat freilich auch unter denen, die das Matterhorn besteigen, viele Neurastheniker festgestellt.
Aber irgendeine Erklärung muss es dafür geben, wenn ein Mann, der weder als Persönlichkeit durch den grauen Alltag leuchtet, noch durch die Wärme seines Wesens die Herzen zu gewinnen vermag, einer grossen Anzahl seiner Volksgenossen doch immer wieder als der geeignete, fast unentbehrliche Geschäftsführer erscheint. Ein Ersatz für all das, was vermisst wird, muss da sein, ein Ausgleich muss vorhanden sein, der über das Unromantische, die Empfindlichkeit und über so viel anderes hinwegsehen lässt. Albert Thibaudet hat in einem Buch »Les Princes Lorrains« auf den Faden hingewiesen, der das französische Volk, oder doch die französische Bourgeoisie, mit Poincaré verknüpft. Dieser ungemein fleissige Arbeiter, dieser in den Finanzheften emsig korrigierende Schutzwächter, dieser mit Paragraphen vollgestopfte, alles auf einen Paragraphen zurückführende Jurist ist in einem Lande, das seit der grossen Revolution, und einige Male schon vorher, die Gesetzesausleger an seiner Spitze sah, ihnen im öffentlichen und privaten Leben einen so grossen Einfluss einräumt, ein Repräsentant allgemeinen Durchschnittswesens, ganz bestimmter, dem Bürgercharakter anhaftender und vertrauter Züge, und wie Thibaudet sagt, »stark wurzelnd in einem Boden, in jahrhundertealten Gewohnheiten, in einer Tradition«. Clémenceau ist »die Legende«, aus der Linie der spottlustig herausfordernden, witzigen, zähen, tapfern Phantasiegestalten, und Caillaux ist ein fesselndes Gemisch von Staatsmann, Finanzgenie und Romanfigur. In dem ihm enger verwandten Poincaré glaubt der nüchterne und sparsame französische Familienvater, nach Ausflügen auf die Höhen eines andern Ideals, die Zuverlässigkeit zu finden, die er, mitunter irrend, im Grunde doch sucht.
»Prince Lorrain« – lothringischer Fürst? Thibaudet, selber an dem Fürstenmantel ein wenig respektlos zerrend, bringt ihn mit Barrès zusammen, dessen Nationalismus gleichfalls auf der lothringischen Erde geboren ist. Man hat Poincaré den Titel »Der Lothringer« wie eine Ehrenschärpe oder einen Ritterorden umgehängt. Aber die lothringischen Ritter waren in der französischen Galerie immer eine besondere Spezies, und auch wenn sie nicht, wie die in Ränken, Rachsucht und Falschheit geübten Guisen, eine Bartholomäusnacht veranstalteten, und auch wenn sie zu einer antiklerikalen Partei gehörten, schien in ihrem Blut ein dunkler Zusatz enthalten zu sein. Der Lothringer galt bisweilen seinen französischen Nachbarn als ein Mensch, der nicht gerade ein unbegrenztes Vertrauen verdient. »Lorrain, vilain, traître à Dieu et à son prochain . . .« »Verräter an Gott und seinem Nächsten«, sagten die Elsässer von ihm. In Balzacs »Cousine Bette« kann man lesen: »Lisbeth war vor allem eine Tochter Lothringens, das will sagen: zum 90 Täuschen bereit.« Dies war, je nachdem, eine nützliche Begabung oder ein in den Tiefen der Natur nistendes Laster, das gewissermassen mechanisch funktioniert.
Poincaré verteidigt sich, meist mit den schon geschilderten Mitteln und Methoden, gegen eine Anklageliteratur, die ebenso in Frankreich wie in Deutschland zu einer breiten Front angewachsen ist. Wer ihm, wie allen andern, Gerechtigkeit widerfahren lassen will und ohne Voreingenommenheit seine Argumente abwägt, muss zugeben, dass er in seinem Plädoyer, in den Bänden seiner Verteidigungsschrift, einigen Behauptungen seiner Gegner nicht ohne Erfolg entgegentritt. Es bleibt immerhin noch einiges übrig, wenn man sich in diesen Fällen zu solcher Anerkennung entschliesst. Fabre-Luce hat hier und da ein amtliches Dokument zu flüchtig gelesen, mitunter auch seine Schlussfolgerungen zu sehr pointiert oder die Tatsachen ein wenig künstlich seiner These angepasst. Trotzdem ist sein Buch »La Victoire« eine scharfe Angriffswaffe, und es zeigt oft einen Instinkt, der hinter die Vorhänge dringt und sich ein überzeugendes Bild von Unsichtbarem macht. Am besten wehrt sich Poincaré gegen die Anklage, er habe im Bunde mit Iswolski, unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten der Republik und vor seinem offiziellen Einzug in das Elysée, den Botschafter Georges Louis aus Petersburg abberufen lassen, weil dieser Diplomat zu friedlich, den Wünschen der russischen Kriegspartei und ihrer Pariser Komplicen zu abgeneigt gewesen sei. Er kann beweisen, dass er als Minister des Aeussern Louis nicht preisgab, obgleich Sasonow mindestens ebenso wie Iswolski seit längerem auf die Abberufung hindrängte, und im übrigen war es das gute Recht einer französischen Regierung, den Botschafter heimzuholen, der abseits von der politischen Gesellschaft lebte und, weil er mit Antipathie betrachtet wurde und angeblich die Aeusserungen des Herrn Sasonow ungenau wiederzugeben pflegte, die wichtigsten Vorgänge nicht mehr erfuhr. Georges Louis war kein Freund jener »politischen Aktivität«, die in dieser Zeit beliebt wurde, und das erleichterte auch gewiss dem Präsidenten Poincaré den Trennungsschmerz. Aber neben diesem Motiv, das nicht eingestanden wird, bleiben die Gründe, die angeblich allein entscheidend waren, und ihr Gewicht muss man anerkennen.
Es ist klar, dass Poincaré, wenn er die Friedfertigkeit seiner Handlungen und seines ganzen Denkens beweisen will, vor allem den Eindruck, den die aufgefundenen und veröffentlichten Berichte Iswolskis hervorgerufen haben, zerstören muss. Aus diesen Briefen und Depeschen der russischen Botschaft haben all seine Ankläger wichtiges Material geschöpft. Aus diesen Dokumenten scheint hervorzugehen, dass Poincaré als Ministerpräsident und dann als Präsident der Republik bei geeigneten Gelegenheiten Russland weit eher zur »Entschlossenheit« anspornte als von Abenteuern zurückhielt, und hier sind die Spuren einer von Poincaré vorgenommenen Verschärfung der französischen 91 Balkanpolitik. Hier hört man die unablässige, die russische Seele ermutigende Betonung einer Bereitschaft bis zum Aeussersten, hier sieht man die Hoffnungen, die auf den absolut unentbehrlichen Mann gesetzt wurden, und hier offenbart sich eine Rubeloperation, die mit Zustimmung der höchsten Regierungspersonen dazu diente, die öffentliche Meinung Frankreichs vorzubereiten, kriegsfremde Bürgerseelen in Schwung zu bringen. Welche Mittel wendet Poincaré zur Widerlegung der schriftlich vorliegenden Beweisstücke an? Er bestreitet ihre Richtigkeit und ist, wie jeder geschickte Advokat, bemüht, den Zeugen zu demolieren, möglichst viele dunkle Stellen in seinem Charakterbilde zu zeigen, seine Glaubwürdigkeit zu bestreiten, wobei es ihm unverkennbar zum Vorteil gereicht, dass Iswolski, allzufrüh in den grossen und tiefen Frieden versunken, ihm nicht mehr zu antworten vermag.
Mit ausserordentlicher Sorgfalt, Strich neben Strich setzend und immer wieder vor das Modell tretend, entwirft er das Bildnis des Mannes, dem er seine intimen Gedanken offenbart haben soll. Im ersten Band eine schon abgerundete Skizze: trotz seiner tatarischen Physiognomie die geistige Beweglichkeit eines sehr kultivierten Slawen und keiner jener Diplomaten, die ihre Gedanken mit Schweigen umhüllen, sondern einer, der sie in einer Wortflut ertränkte – und einer, der in seinen Berichten den Personen, mit denen er sich unterhalten hatte, gern seine eigenen Worte und Pläne unterschob . . . Immer wieder fügt Poincaré, als könne er sich von dieser künstlerischen Aufgabe nicht trennen, dem Bildnis neue Züge hinzu. »Selbstzufrieden, mehr eitel und ruhmgierig als in edlerem Sinne von Ehrgeiz durchdrungen.« Iswolski, der in seinen Berichten an Sasonow mit seinen gesellschaftlichen Verbindungen, seiner Beliebtheit »bei den upper threehundert« prahlte, täuschte sich ein wenig über seine Popularität. »In der gastfreiesten Stadt hatte er das Problem gelöst, ungefähr alle Klassen zu verstimmen.« Und man behauptet, diesen Mann habe er, Poincaré, in sein Herz und in seine Ideenwerkstatt blicken lassen und zu seinem Vertrauten gemacht? Es ist doch klar, »dass es zwischen uns niemals eine Intimität oder ein uneingeschränktes Vertrauen gab«. Allerdings, dann und wann – das ist nicht abzustreiten – war die Unterhaltung nicht allzu kühl. Aber wer konnte das tadelnswert finden, da Iswolski trotz seiner Schwächen »weder ein Abenteurer noch ein Kriegsheld« war und niemals kriegerische Absichten erkennen liess? All jene Aussprüche Poincarés, die nun von den Anklägern aus seinen Berichten herausgesucht und ausgebeutet werden, hat Iswolski falsch wiedergegeben, teils erfunden und teils entstellt. Eine »pittoreske Schilderung« hat er von einer Unterredung geliefert, die er am 12. September, nach einem zu Ehren des Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch im Elysée veranstalteten Frühstück, mit Poincaré gehabt haben will. Beim Kaffee soll ihm der Ministerpräsident gesagt haben: »Wenn der Konflikt mit Oesterreich eine bewaffnete Intervention Deutschlands nach sich ziehen sollte, erkennt die 92 französische Regierung im vornherein an, dass das ein casus foederis wäre, und sie würde nicht eine Minute zögern, ihre Verpflichtungen gegenüber Russland zu erfüllen.« Poincaré konstatiert, die Wahrheit sei »weit weniger tragisch«, er habe sich nicht nach einem Frühstück zwischen hundert Gästen ein kühnes Versprechen entreissen lassen, habe erklärt, dass Frankreich einen allgemeinen Krieg für Balkaninteressen nicht verstehen würde, und auf eine Frage Iswolskis nur zugegeben, dass Frankreich seiner Allianzpflicht wegen marschieren müsste, wenn Deutschland geneigt sein sollte, für Oesterreich den Degen zu ziehen. Der Unterschied zwischen den beiden Lesarten ist nicht allzu erheblich, die Erregung scheint übertrieben, da Frankreich, wenn es seinem Alliierten Treue gelobte, nur dasselbe wie Deutschland tat. Hier strengt Poincaré in seinem Eifer, Iswolski zu entlarven, sich eigentlich ohne zwingende Not und zu heftig an.
Es ist nicht möglich, alle psychologischen Tiefen eines so verschiedenartig geschilderten Verhältnisses aufzuhellen. Die Partie zwischen dem Toten und dem Lebenden ist ungleich und während jeder, der aus eigenem Wissen unsere Kenntnisse bereichern konnte, ein Interesse daran hatte, für Poincaré zu zeugen, war ein Eintreten für den in fremder Erde ruhenden Iswolski ein gänzlich unlohnendes Geschäft. Es ist indessen wahrscheinlich, dass Iswolski die Worte Poincarés nach eigenem Geschmack hergerichtet, zu dick unterstrichen, in ein zu grelles Licht geschoben hat. Warum soll dieser Diplomat, der tatsächlich – die Angaben Poincarés sind in diesem Punkte zutreffend – mit einer nicht vorhandenen gesellschaftlichen Beliebtheit renommierte, nicht ebenso gut, um sich selbst zu erhöhen, einige Uebertreibungen verübt haben, wenn er seine Gespräche mit dem französischen Staatsmann wiedergab? Vielleicht hat Poincaré ihn in jedem Zuge seines Charakters und Geistes naturgetreu gemalt. Vielleicht war dieser Iswolski in seinem Verkehr mit dem Alliierten völlig unzuverlässig, ein Mann, dem man kein Vertrauen schenken konnte und vor dem man das Silberzeug der Gedanken versteckte, wenn er ins Zimmer trat.
Nicht ganz verständlich ist nur, dass eine so wenig geschätzte, eine so ungern gesehene, eine als so zweideutig erkannte Persönlichkeit viele Jahre hindurch in Paris Botschafter, Botschafter des befreundeten Russland blieb. Diesen Mann, dem gegenüber man sich nicht offen und ehrlich aussprechen konnte und wollte, ertrug man mit nicht endender Geduld. Das ist, könnte mancher finden, ein wenig sonderbar. Es ist um so schwerer zu verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass die französische Regierung auf Wunsch des Herrn Sasonow ihren Botschafter Louis aus Petersburg abberufen hat. Ihren Botschafter Louis, wie schon früher die Botschafter Bompard und Touchard, deren Tätigkeit gleichfalls den Russen missfiel. Und ein Verschwinden des in allen Kreisen unbeliebten, zu jeder Vertrauenssache unbrauchbaren Iswolski forderte und erreichte Poincaré im Austausch für dieses Entgegenkommen nicht?
93 Ich habe hier, im Gegensatz zu allen, die aus der Affäre Louis nur die unfriedlichen Absichten Poincarés herauslesen, die Meinung vertreten, dass man zur Abberufung eines Diplomaten, der an dem Orte seines Wirkens, in einem befreundeten und verbündeten Lande, sich keine Sympathien und kein Vertrauen erworben hatte, berechtigt gewesen sei. Aber wenn man das zugibt, muss man sich auch darüber wundern, dass Iswolski, der von Poincaré geschilderte Iswolski, seinen Pariser Posten behielt. Was warf der russische Minister Sasonow dem französischen Botschafter Louis vor? Sasonow behauptete – Poincaré zitiert diese Worte aus einem Bericht des russischen Ministers an den Zaren –: »Herr Georges Louis übermittelte nach Paris den Sinn meiner Unterredungen mit ihm in so wenig exakter Weise, dass sich häufig, wie Herr Poincaré sich selbst erinnert, daraus ein höchst unerwünschtes Missverständnis ergab.« Es ist genau der gleiche Vorwurf, den Poincaré gegen Iswolski erhebt. Aber in seinen eigenen Aufzeichnungen über seine Begegnung mit Sasonow, über Unterredungen in Petersburg und in Paris findet sich niemals ein Anzeichen dafür, dass er auch nur in einer höflichen Nebenbemerkung auf die Notwendigkeit, Iswolski zu entfernen, angespielt hat, während der russische Minister fortwährend auf die Abberufung des Herrn Louis drängt. Allerdings, bei seinem Besuch in Petersburg, im August 1912, hat Poincaré, immer nach seinen eigenen Aufzeichnungen, sich in einer Unterredung mit dem Ministerpräsidenten Kokovzow über die »Ungeschicklichkeiten Iswolskis, seine Intrigen mit Tittoni, und über unüberlegte Aeusserungen der Frau Iswolski« beklagt. Iswolski habe in Paris die Aristokratie, die Republikaner, die Presse, alle Welt gegen sich aufgebracht. Kokovzow antwortete, Iswolski und seine Gattin seien Snobs und Tölpel und er glaube auch, dass Iswolski für finanzielle Beeinflussungen nicht ganz unempfänglich sei. Ihm scheine es am richtigsten, vorläufig in Petersburg und in Paris von einem Botschafterwechsel abzusehen. Aber das war im August 1912, Poincaré war erst seit einem halben Jahre Ministerpräsident und Minister des Aeussern, verkehrte mit Iswolski noch nicht lange, und als am 19. Februar 1913 Louis abberufen wurde, hielt man in Paris einen gleichzeitigen Abzug des russischen Botschafters nicht mehr für wünschenswert. Kein französisches und kein russisches Aktenstück lässt einen solchen Wunsch erkennen.
Poincaré verspürt, dass in seiner fleissigen Verteidigungsschrift da eine Lücke ist, und dass an ihn die Frage gerichtet werden könnte: warum diese Langmut, dieser Verzicht auf jeden Versuch, einen Botschafter loszuwerden, den soviel Misstrauen umgab? Um das schwer Erklärliche zu erklären, versichert er, Iswolski habe mächtige Gönner und Beschützer gehabt. »Er war der Minister des Kaisers, besass anscheinend bei Hofe grossen Kredit« . . . »Wir mussten uns mit seiner Gegenwart abfinden«, da auch »Sasonow, der unter ihm gedient hatte, ihn, wenn nicht zu fürchten, so doch zu schonen schien.« Andere könnten meinen, dass 94 damals Sasonow gar nichts dagegen gehabt hätte, sich von Iswolski zu befreien. Mit dem »grossen Kredit bei Hofe« ist wohl die Gunst des Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch gemeint. Auf diese Protektion war aber auch kein unbedingter Verlass und der französische Verbündete wäre nicht stark genug gewesen, seinen Willen auch gegen eine grossfürstliche Meinung durchzusetzen, und Poincaré, der in Petersburg geliebte und gefeierte Freund, musste sich damit »abfinden«, dass Iswolski nach der Heimkehr des Herrn Louis unbehelligt in der Pariser Botschaft sass? Und der gründliche Materialsammler besass doch gewiss genug Pulver, um den russischen Gast in die Luft zu sprengen. Ueberdies hatte ihm Kokovzow mit dem Hinweis auf die finanziellen Beeinflussungen sozusagen das Rezept auf den Tisch gelegt. Man hat schon aus weniger Hanf einen Strick, aus weniger Seide die früher im Orient viel benutzte seidene Schnur gedreht. Aber Poincaré hatte sich vermutlich im Laufe der Zeit an Iswolski gewöhnt.
Es gab in den damaligen Beziehungen der Alliierten noch eine andere Seltsamkeit. Auf Grund welcher Kenntnis konnte Sasonow behaupten, dass in den geheimen Berichten, die der französische Botschafter Louis an das Ministerium des Aeussern in Paris schickte, der Sinn der Unterredungen in »wenig exakter Weise« wiedergegeben sei? Die Telegramme der französischen Botschaft wurden in Petersburg aufgehalten und dechiffriert, der russische Spionagedienst hatte sich den französischen Chiffreschlüssel verschafft. »Ah«, schreibt Poincaré bedauernd, »wenn wir die russischen Depeschen hätten dechiffrieren können, wie Herr Sasonow die unsrigen dechiffrierte, wieviel hätten wir entdeckt!« Herr Sasonow fühlte sich, als er dem Gast seine Beschwerde vortrug, nicht geniert durch den trüben Ursprung seines Wissens, den er nicht verbergen konnte und auch nicht zimperlich verbarg. Und der französische Ministerpräsident empfing die Klagen über die Fehler seines Botschafters, ohne seine wohl begreifliche Verstimmung über die Depeschenspionage zu zeigen, die zwischen Verbündeten immerhin nicht ganz einwandfrei war. Zu Anfang des Jahres 1912 überbrachte Iswolski, von Sasonow angewiesen, dem Ministerpräsidenten Poincaré die sehr vertrauliche Mitteilung, dass zwischen Bulgarien und Serbien zwei geheime Verträge abgeschlossen worden seien. Poincaré gab dem nicht eingeweihten Botschafter Louis in einem Chiffretelegramm Kenntnis von dieser politischen Sensation, die Petersburger Büros, »sehr erfahren in der Kryptographie«, läsen seine Depesche und Sasonow war über den Vertrauensbruch, den der Freund begangen habe, sehr aufgeregt. Das Dechiffrieren war kein Vertrauensbruch? Der Einbruch in die geheime Sprache der Alliierten keine Indiskretion? Aber das gehörte, scheint es, zu den Sitten und Gebräuchen im diplomatischen Verkehr. Poincaré tröstete sich mit dem Gedanken, dass man bei ihm zu Hause, wenn auch leider nicht den russischen Chiffreschlüssel, so doch den Schlüssel zu andern Geheimnissen besass. Im 13. Kapitel seines zweiten 95 Bandes erzählt er – indem er hinzufügt, die Enthüllung könne nicht mehr schaden –, man habe am Quai d'Orsay gleichfalls durch Dechiffrierung die Absichten und Verabredungen des Dreibundes durchforscht. Ueberall waren die Staatsgeheimnisse gut behütet, überall thronten selbstbewusst und sicher die Schlauen auf ihren versiegelten Depeschensäcken, überall hielt der eine den andern für den Dummen und sich selber für den Listenreichen, überall wurde spioniert und bestochen, oder, wenn die üblichen Methoden versagten, das Brecheisen zu Hilfe genommen.
In den Berichten Iswolskis spielen eine besondere Rolle die Verhandlungen, die er einleitete, um durch russische Subventionen Einfluss auf die französische Presse zu erlangen. Diese Verhandlungen, zu denen – nach Iswolskis Darstellung – im Oktober 1912 Poincaré seine prinzipielle Zustimmung gegeben haben soll, wurden besonders mit dem Finanzminister Klotz geführt, der für seine politischen Freunde viel verlangte und bald sehr ungehalten über die russische Knickrigkeit war. Denn in Petersburg waren Kokovzow und Sasonow von dieser Angelegenheit wenig entzückt. Und der Vertreter des russischen Finanzministeriums in Paris, Arthur Raffalowitsch, schrieb an Kokovzow: »Dieses Gewerbe der Milchkuh passt uns nicht.« Poincaré gibt die zahlreichen bösen Bemerkungen zu diesem Thema, die sich in der russischen Korrespondenz befinden, nicht wieder und sagt nur von Raffalowitsch, dass er in Entstellungen ebenso erfahren wie Iswolski gewesen sei. Er hatte aber in früherer Zeit gern mit diesem Sachverständigen über den russischen Anleihebetrieb verhandelt, und Arthur Raffalowitsch war eine in Paris sehr angesehene und beliebte Persönlichkeit. Ungemein heftig protestiert Poincaré gegen die Behauptung, er oder sein Finanzminister habe zur Unterstützung seiner Präsidentschaftskandidatur russische Rubel empfangen. Diese Behauptung ist auch mehr als töricht, denn selbstverständlich hätte man Iswolski hinausgewiesen, wäre er mit einem solchen Anerbieten zu Poincaré oder zu Klotz gekommen. Eher ist anzunehmen, dass der Botschafter, der am 3. Januar telegraphierte: »Wenn – was Gott verhüten möge! – Poincaré unterliegen sollte, so würde dies für uns eine Katastrophe sein«, pflichtgemäss und selbständig das Seinige zur Verhinderung dieser Katastrophe tat. Ohne Zweifel kam ja auch die nationale Erweckung, für die Iswolski seine Mittel zur Verfügung stellte, nicht der Kandidatur des Senators Pams zugute, sondern nur derjenigen eines Mannes, der im Sinne dieser Politik zuverlässiger war. Man kann diese ganze Rubelgeschichte beiseitelassen, um die sich Poincaré vermutlich weniger kümmerte als Herr Klotz. Festzustellen ist, dass, ganz unabhängig davon, seit dem Januar 1912, wo Poincaré Ministerpräsident und Minister des Aeussern wurde und dem Botschafter Iswolski die ersten amtlichen Audienzen gewährte, sich eine Wandlung vollzog. Beide, er und Iswolski, lernten um. Poincaré, der bei seinem Amtsantritt aus den ihm vorgelegten Akten 96 so Ungünstiges über den »deutsch-freundlichen« Iswolski erfahren hatte und im August 1912 zu Kokovzow so scharf über den Botschafter sprach, beklagte sich bald nicht mehr und ertrug, wenn er die üblen Eigenschaften, die er jetzt schildert, damals schon erkannte, mit grosser Ruhe den persönlichen Verkehr. Iswolski, der sich oft über die »krankhafte Eitelkeit« Poincarés ärgerte, aber nie unterliess, »die Tatkraft, Entschlossenheit und Geschlossenheit« seines Charakters zu rühmen, änderte sich schnell und vollkommen in der Berührung mit dieser »sehr bedeutenden Persönlichkeit«. Nachdem er beim Beginn der Agadir-Krise und noch während dieser Krise wie Kassandra gejammert, den deutsch-französischen Konflikt sehr gefürchtet und die russische Vermittlung für dringlich erklärt hatte, sah er bereits einen Monat nach der Bildung des Kabinetts Poincaré den ernstesten Möglichkeiten optimistisch und mit Ruhe entgegen und in seine Gedankenwelt, die dem trüben Geist der jungfräulichen Trojanerin unterlegen war, zog der wagemutige Geist der Jungfrau von Orleans ein. Sein geistiger Organismus verspürte, das ergibt sich aus der simplen Aneinanderreihung der Tatsachen, die Einwirkung einer neuen Luft. Er rankte sich an dem kräftigen Stamm mutig empor.
Poincaré und Iswolski hatten gewiss viel aneinander auszusetzen, aber es war gut, für alle Fälle jemand in der Nähe zu wissen, der gleichsam aus seinem Gefühl heraus die Forderungen der Stunde begriff. »Für alle Fälle« pflegt man zu sagen, wenn man sich einen besondern Fall nicht genau präzisieren will. So stand es sicherlich mit Poincaré. Ein Mann seiner Art wünscht nicht mit klarem Zielbewusstsein einen Krieg, aber er kann sich so lange in die Unvermeidlichkeit eines Krieges hineindenken, bis er fest an seine These glaubt und »für alle Fälle«, um nicht infolge fehlerhafter Vorbereitungen zu spät zu kommen, eine im Grunde doch gefahrvolle Strasse wählt. Mir scheint, dass Alfred Fabre-Luce viel zu apodiktisch bei dem Poincaré von 1912 das Vorhandensein einer Absicht annimmt, wenn er beispielsweise schreibt: »Bei jeder internationalen Auseinandersetzung prüft Poincaré, wie die Chancen stehen. Wenn er widrige Winde antrifft, wartet er auf eine bessere Gelegenheit.« Aber Poincaré meinte, der Krieg lasse sich so wenig verhindern, wie eine vulkanische Eruption. Da die klugen Seher ihrer Sache so gewiss waren, sannen sie nicht auf abkühlende Mittel, sondern bereiteten, »für alle Fälle«, die Stimmung vor.
Und Poincaré liess, zur Genugtuung Iswolskis, die französische Politik auf dem Balkan eine strategische Schwenkung vollführen, durch die man eng an die russische Front heranrückte, und allerdings auch der Gefahr erheblich näher kam. Alles zur Abwehr, zur Verteidigung, selbstverständlich, wie es, bei so festem Glauben an den Kriegswillen der andern, einem leitenden Staatsmann die Pflicht gebot. Und alles auch wegen der Bündnistreue, in Beachtung der Verträge, in denen, so übel die diplomatische Moral sonst duften mochte, jeder Buchstabe heilig 97 war. Es gab – man muss, um Irrtümer zu vermeiden, immer das eine neben das andere rücken – in Deutschland und Oesterreich in dieser Periode die gleichen Erscheinungen, die gleichen Ideen. Alle dachten und taten ungefähr das gleiche, und derjenige von ihnen, der den andern verurteilt, trifft mit diesem Verdikt ganz ebenso sich selbst.
Die Verse, die in Ferdinand Raimunds »Verschwender« der dienstbare Geist Azur spricht:
»Kein Fatum herrsch' auf seinen Lebenswegen,
Er selber bring' sich Unheil oder Segen«,
müssten über der Tür jedes Ministeriums des Aeussern stehen. Die Diplomatie kannte sie nicht und hatte auch ähnliche Lehrsprüche nicht gelernt. Poincarés Fatalismus war eigentlich nicht in voller Reinheit jener orientalische Fatalismus, der sich gelassen in das Unabänderliche ergibt. Es war schon etwas von der europäischen Nervosität, von der westlichen Unfähigkeit, auf das Schicksal beim bläulichen Rauch der Zigarette zu warten, hineingemischt. Man kann nicht übersehen, dass die bei vielen, wenn auch vielleicht nicht bei ihm, sehr dünnlinige Grenze zwischen Warten und Erwartung sich im Laufe der Zeit zu verwischen schien. Nicht zu bezweifeln ist, dass bei Iswolski der Zustand der Erwartung sehr bald in den benachbarten Zustand der Hoffnung überging. Gleichfalls bei einem der Minister im französischen Kabinett, bei Delcassé. Bei Poincaré war das Psychologische komplizierter, ging allerlei durcheinander, gab es auch aufrichtige Abneigung gegen die letzten Gedanken, flackerte die Seele hin und her. Wo endet die Tugend, wo fängt der Fehler an? Mitunter ist es der hingebungsvolle Glaube an das Schicksal, der erst das Schicksal schafft.
»Nachgeholfen?« – fragt Poincaré – und er versichert, er habe, trotz seinen Befürchtungen, unermüdlich Deutschland »avec autant de bonne grâce que de franchise« von den friedlichen Absichten Frankreichs zu überzeugen versucht. Die »bonne grâce« wurde leider nur in spärlichen Tropfen dargereicht. Bethmann-Hollweg, der gewiss einen angenehmen Verkehr mit Frankreich wünschte, berichtet in seinen »Betrachtungen zum Weltkrieg«, er habe die veränderte Tonart, die die französische Presse nach dem Machtaufstieg Poincarés anschlug, vom ersten Tage an bei seinen Unterredungen mit dem Botschafter Cambon »deutlich klingen« gehört. »Bis dahin hatte der Botschafter wiederholt das Thema variiert, dass persönliche Fühlungnahme der leitenden Staatsmänner, die er selbst gern vermittelt hätte, dazu beitragen könne, die Beziehungen beider Länder in die von ihm selbst gewünschte Bahn gegenseitigen Verstehens überzuleiten«, und von nun an sei der Botschafter sichtlich verändert gewesen und »die Weise von den persönlichen Beziehungen wurde nicht mehr angestimmt«. Hat Bethmann-Hollweg zufälligen Eindrücken eine übertriebene Bedeutung beigelegt? In einem 98 Telegramm Delcassés vom November 1913 wird auf Grund von Mitteilungen Sasonows berichtet, Bethmann habe sich zu dem russischen Aussenminister über die gemeinsame offene, direkte Aussprache, die in Berlin stattgefunden hatte, sehr erfreut geäussert und dabei gefragt: Warum ist das gleiche nicht mit Frankreich möglich, warum können wir nicht zu einer allgemeinen Aussprache mit Frankreich kommen? Was schrieb Poincaré im April 1912, als die deutsche Regierung eine solche Aussprache zur Besserung dieser Beziehungen herbeiführen wollte, an Jules Cambon? »Wir würden alle Vorteile der Politik verlieren, die Frankreich seit langen Jahren verfolgt.«
Bisweilen zeigt sich in Kleinigkeiten sein misstrauischer Geist. Wie Wilhelm II. hatte er, ein so scharfsichtiger Jurist, eine Vorliebe für dunkle Komplottgeschichten, und auch hinter harmlosen Bemerkungen glaubte er Schändliches zu erspähen. Er erzählt, dass ein »Hofrat« René mit einem Projekt, das sich auf Elsass-Lothringen und die Gewährung der Autonomie bezog, in die französische Botschaft kam. Viele von uns haben diesen Mann gekannt, der mit Ordenskram handelte und zahlungsfähigen Toren den glitzernden Brustschmuck besorgte, und nicht ohne Bewegung kann man lesen, dass Jules Cambon mit diesem Lieferanten der Eitelkeit in mehreren Audienzen grosse Probleme erörterte und Poincaré sich auf drei Seiten ernsthaft mit dem, natürlich heimtückischen, Manöver eines redseligen Hausierers befasst. Einmal, während des Balkankrieges, sagte der deutsche Botschafter von Schoen zu Poincaré, wegen der Ausfuhr der serbischen Schweine dürfe doch nicht schliesslich noch ein europäischer Brand entstehen. Poincaré wollte in dieser Bemerkung, die eine uns allen vertraute Wirtschaftsmeinung wiedergibt, ein »Wortspiel«, eine Verspottung der kleinen Nationen sehen. Poincaré hatte beim Gedanken an einen Krieg ganz gewiss einen gewaltigen Stein auf der Seele, der fleissige französische Vermögensverwalter musste Hemmungen und Beklemmungen empfinden, in Zielklarheit arbeitete er nicht auf die gewaltsame Entscheidung hin. Diejenigen, die meinen, dass er nur heroisch und nicht auch oft sehr unruhig geträumt habe, verstehen nichts von Psychologie. Iswolski gehörte – und das ist wohl die denkbar mildeste Auslegung seines Wesens – zu einer Gattung von Volkshirten, die man am richtigsten mit einem berühmt gewordenen französischen Romantitel benennt. Sie waren »Demivierges«. 99